Bruder Benedikt und die schöne Leich - Christoph Frühwirth - E-Book

Bruder Benedikt und die schöne Leich E-Book

Christoph Frühwirth

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Beschreibung

Großstadt trifft auf Provinz: Was verschlägt das Wiener Rotlichtmilieu nach Purbach? Bruder Benedikt traut seinen Augen kaum, als er am Christtag aus dem Fenster des Pfarrhauses blickt: Vor der Kirche liegt ein Toter! Bei dem heimtückisch Erschlagenen handelt es sich um den schönen Jean. Er war kein Braver, sondern ein echter Strizzi aus Wien-Leopoldstadt und ein alter Bekannter aus Bruder Benedikts Zeit als Gefängnisseelsorger. Doch warum hat ihn ausgerechnet hier, im verschlafenen Purbach im Burgenland, sein jähes Ende ereilt? Um dem Rätsel auf die Spur zu kommen, nimmt der Mönch kurzerhand selbst die Fährte auf – sehr zum Leidwesen der eigentlich zuständigen Kriminalinspektorin. - Puff-Besitzer und Gefängnis-Ministrant: Wer wollte den schönen Jean beseitigen? - Herrlich schräger Regionalkrimi: Wenn Rotlichtmilieu und barmherziger Bruder aufeinandertreffen - Lustiger Burgenland-Krimi: Die perfekte Urlaubslektüre! - Eine Leiche am Christtag: Mörderisches Weihnachts-Geschenk für Krimi-Fans - Der erste Heimatkrimi aus der Feder von Christoph Frühwirth Spannender Heimat-Krimi aus Österreich mit originellen Charakteren Vom barmherzigen Bruder mit großem Bekanntenkreis unter den Wiener Strizzis bis zur nur langsam ermittelnden Kriminalinspektorin: Der Regionalkrimi aus dem burgenländischen Purbach ist gespickt mit schrägen Vögeln. Wird es ihnen gelingen, den Mord am schönen Jean aufzuklären? Ist ihm seine dunkle Vergangenheit aus Wien gefolgt oder hat er sich in seiner kurzen Zeit im Burgenland bereits Feinde gemacht? Bruder Benedikt setzt jedenfalls alles daran, den Täter zu finden: Christoph Frühwirth hat mit ihm einen wunderbar unkonventionellen Ermittler geschaffen. Perfekt für alle Fans von Regionalkrimis mit dem gewissen Etwas!

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Seitenzahl: 245

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Christoph Frühwirth

BRUDER BENEDIKT UND DIE SCHÖNE LEICH

Ein Strizzi-Krimi

Diese Geschichte ist frei erfunden. Tatsächlich existierende Personen und Firmen wurden verändert und/oder von dem Autor ausgedacht, Geschehnisse anderen und/oder fiktiven Personen zugeordnet. Verbleibende Übereinstimmungen mit etwaigen realen Personen wären somit rein zufällig und sind nicht gewollt.

Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger

Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung des Autors und des Verlages ist ausgeschlossen.

1. Auflage 2023

Copyright dieser Ausgabe © 2023 Servus Verlag bei Benevento Publishing Salzburg – München, eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg.

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:

Red Bull Media House GmbH

Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15

5071 Wals bei Salzburg, Österreich

Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT

Gesetzt aus der Palatino, Courier, Bauer Bodoni

Umschlaggestaltung: www.b3k-design.de, Andrea Schneider, diceindustries

Umschlagmotive: © Gerhard Wild/picturedesk.com; © Andre Bonn/shutterstock.com

ISBN: 978-3-7104-0302-6

eISBN: 978-3-7104-5059-4

INHALT

PROLOG

Schöne Leich, gerichtsmedizinisch

KAPITEL 1

Bluatiger Thomerl

KAPITEL 2

Bruder Benedikt und seine Hawara

KAPITEL 3

Schau schee, Jean

KAPITEL 4

Mords-Bahö

KAPITEL 5

Kerzerl-Mitzi, Strizzi-Fritzl

KAPITEL 6

Zimmermann, die G’schmierte

KAPITEL 7

Schwoazze Luft

KAPITEL 8

Siaß-sauer

KAPITEL 9

Schmähstad

KAPITEL 10

Kraut und Ruam

KAPITEL 11

Es ist ein Ros’ entsprungen

KAPITEL 12

Fischer-Silvester

EPILOG

Schöne Leich, gesellschaftlich

Rezept »Purbacher Bohnenstrudel«

ZU GUTER LETZT: DANKE

GLOSSAR DER BURGENLÄNDISCHEN UND WIENER MUNDART

PROLOG

Schöne Leich, gerichtsmedizinisch

Frau Inspektor Zimmermann stellte in der Teeküche des Kriminalbüros Wasser zum Kochen auf. Sie freute sich nach einer unruhigen Nacht auf dem schmalen Feldbett auf ein Ei im Glas. Endlich war das ihr verhasste Wiegenfest vorbei. Von ihr aus konnte das neue Jahr bereits heute, am Christtag, beginnen. Sie holte drei Eier aus dem Kühlschrank, als ihr Diensthandy läutete. Vor lauter Schreck fielen ihr beinahe die Eier aus der Hand. Sie klemmte sich das Handy zwischen Schulter und Wange.

»Zimmermann, Büro Eisenstadt«, schnarrte sie.

»Fräulein Zimmermann! Vor meiner Kirchentür liegt ein eidottergelber Pepi …«

Die sich überschlagende Stimme ließ sie zusammenzucken. Bruder Benedikt. Ihr persönlicher Gottseibeiuns. Er klang verwirrt: »… und ein zerbrochener Eierschädel.«

Frau Inspektor Zimmermann traute ihren Ohren nicht: Konnte der Mönch hellsehen? Sie starrte auf die drei Eier in ihrer Hand: Was faselte er da von Eidotter und zerbrochenen Eierschalen? Rhetorisch setzte sie in dienstlichem Tonfall zu ihrer Frage an: »Mit wem spreche ich!?«

»Benedikt.«

»Kenne ich nicht. Familienname?«

Stottern am anderen Ende der Leitung: »Bruder Benedikt.«

Sie musste schmunzeln und wechselte in einer Sekunde der Unachtsamkeit das Handy in die andere Hand – platsch machte es. Die Eier fielen zu Boden.

»Scheiße!«, entfuhr es ihr.

»Das können Sie laut sagen …«

»Vorname! Nachname!«, bellte sie wütend ins Handy.

»Benediktus … Benediktus … Fräulein Zimmermann, Bruder Benedikt am Apparat!«

»Mein Frühstücksei klebt am Boden!«

»Genauso sieht er aus, der Tote: der Eierschädel eingeschlagen, die eidottergelbe Perücke daneben.«

»Was faseln Sie da, sind Sie betrunken?«

»Höchstens schlaftrunken. Vor meiner Kirche liegt einer, dem sie den Schädel eingeschlagen haben. Ich fürchte, ein alter Bekannter aus früheren Tagen.«

Frau Inspektor Zimmermann hatte nach einem Hörsturz unangenehmes Ohrensausen, das ihr Gehirn bei Aufregung wie ein Presslufthammer malträtierte. Sie gab sich kurz dem stechenden Schmerz hin, ehe sie sich sammelte und zusammenfasste:

»Vor Ihrer Kirche liegt ein Toter.«

»Dem ersten Augenschein nach zu schließen: Ja.«

»Rühren Sie ihn nicht an!«

»Ich stehe in der Unterhose da.«

»Keine Details!«

»Ich stehe in meiner Kanzlei: zwischen dem Toten und mir liegt die Kirchenstraße.«

Frau Inspektor Zimmermann gönnte sich eine kurze Nachdenkpause, schließlich gab sie die Order aus: »Rühren Sie sich nicht vom Fleck!« Dann drückte sie Bruder Benedikt weg und holte sich einen Schwamm. Sie hasste Unordnung.

KAPITEL 1

Bluatiger Thomerl

Die Gretl-Tant’ war eine stämmige Frau. Eine, die ihren Mann stand. Sie kannte es nicht anders. War sie doch vom Schicksal verschont geblieben und ging unbemannt durchs Leben. An ihrer Seite nur der jeweilige Pfarrer der Gemeinde. Zeit ihres Berufslebens war die Gretl-Tant’ Köchin im Kindergarten der Gemeinde. Eines Tages hatte sie der erste von mittlerweile sieben Pfarrern angesprochen: ob sie für ihn kochen wolle.

Die Gretl-Tant’ war eine gottesfürchtige Frau. Und sie liebte Kochen über alles. So hatte sich eins zum anderen gefügt. Und als sie in Pension ging, kochte die Gretl-Tant’ nur mehr im Pfarrhaus für Gottes Lohn und ihre eigene Logis.

Je älter die Gretl-Tant’ wurde, umso jünger wurden die Pfarrer, die sie in Kost hielt. Der nunmehr siebte hatte erst vor Kurzem seinen Sechziger gefeiert. Er war der erste Mönch unter den weltlichen Priestern. Sein Ordensname: Bruder Benedikt.

Es war noch kein Jahr vergangen, seit er in der Gemeinde wirkte. Und doch hatte ihn die ein Vierteljahrhundert ältere Gretl-Tant’ vom ersten Kennenlernen an ins Herz geschlossen.

Ein Mann und eine Frau, denen kein Beischlaf im Wege stand. Eine Frau und ein Mann, die Genuss ohne Reue verband. Mit Bruder Benedikt hatte die Gretl-Tant’ im hohen Alter endlich den Sohn bekommen, den sie sich immer gewünscht hatte.

Er hingegen fand in ihr eine mütterliche Freundin.

»Gehen S’ raus zum Holzstoß«, sagte die Gretl-Tant’ zu ihm, »dort klauben S’ mir eine Handvoll Scheit.« Voll beladen mit Holzscheiten kam Bruder Benedikt zurück. Der untersetzte, dickbäuchige Mann schnaufte schwer. »Heben S’ Ihnen keinen Bruch«, sagte die Gretl-Tant’. Mit Kennergriff zog sie ein krummes Scheit aus dem Stapel: »Wenn Sie am Heiratsmarkt wären, täten S’ jetzt eine krumme Holde abkriegen.«

Bruder Benedikt seufzte: »Nehmen S’ mir lieber die Last ab.«

»Seien S’ froh, dass Sie nicht verheiratet sind.«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Was glauben S’, welche Last Sie da erst zu tragen hätten.«

»Sprechen Sie aus Erfahrung?«

»Ich weiß, was ich weiß«, sagte die Gretl-Tant’.

»Warum so schnippisch?«, fragte Bruder Benedikt, »Eifern Sie gar?«

»Ich und eifern! Froh bin ich, dass dieser Kelch an mir vorübergegangen ist.«

»Ich bin gern verheiratet«, sagte Bruder Benedikt und rieb den Ring an seinem Finger.

»Das gilt ja net«, sagte die Gretl-Tant’, »das ist ja eine Josefsehe.«

»Dann gehen wir’s an«, sagte Bruder Benedikt.

Die Gretl-Tant’ lachte: »Sie mit Ihre zwei linken Händ’?«

»Sehen S’ einen anderen Handlanger?«

Die Wintersonnenwende fiel mit dem Thomastag zusammen. Drei Tage vor Weihnachten wurde geschlachtet, gewurstet, geselcht. Es war ein Hochfest des Fleischlichen. Zumindest im Burgenland. Früher war an jedem Hof eine Sau geschlachtet worden. Unter Mithilfe der Nachbarn wurde das Fleisch vor Ort verarbeitet. Da ging es hoch her. Die Kinder durften die Blutsuppe für die gleichnamigen Würste anrühren. Die Erwachsenen schwitzten die Leber im Schmalz an. Das ganze Dorf schlug sich die Bäuche voll. Der selbst gebrannte Schnaps sorgte für ausgelassene Stimmung. Abends dann, wenn die Kinder zu Bett gegangen waren, räucherten die Alten die Stallungen. Die Jungen schauten in die Zukunft. Sie griffen sich ein Holzscheit und nahmen Maß an der Liebe. War es dick, so bekamen sie gut genährte Geliebte, war es dünn, waren auch die Geliebten von magerer Figur. War das Scheit schließlich krumm … nun, dann waren auch die Geliebten von krummer Gestalt.

Der Sautanz, an dem die winterliche Vorratskammer gefüllt worden war, war längst zur Brauchtumsveranstaltung verkommen. Geblieben waren allerdings das Selchen und Räuchern. Im hinteren Bereich des Pfarrhofes stand ein Holzkasten mit Eisenverschlägen. Er sah aus wie ein Kleiderschrank. Öffnete man jedoch die beiden Türen, offenbarte sich einem das rußige Innere einer Räucherkuchl. Es war, als blickte man in die schwarzen Abgründe der menschlichen Seele.

Zur Wintersonnenwende produzierte die Gretl-Tant’ die traditionellen Bratwürste für den Heiligen Abend. Bruder Benedikt durfte sich sein eigenes Paar Würste machen. In der Küche, die sich im ehemaligen Weinkeller des Pfarrhofes befand, war bereits alles für das Wursten vorbereitet. Die Fleischstücke von Schweineschulter und Bauch lagerten in der Kühltruhe. Einige Blechschüsseln standen am Arbeitstisch. Daneben, in großen Plastikdosen, die verschiedenen Gewürze. Die Gretl-Tant’ vermengte das Fleisch mit den Gewürzen. Sie knetete das Gemenge kräftig mit beiden Händen. Bruder Benedikt bot seine Hilfe an, was forsch abgelehnt wurde: »Da müssen S’ zupacken, sonst wird die Wurst bröselig.«

»Zweifeln Sie an meinen Fähigkeiten?«

»Zweifeln … ich kenn Sie.«

»Und wie Sie zweifeln, liebe Gretl.«

»Das ist nicht persönlich gegen Sie, aber Sie sind halt doch mehr ein Theoretiker.«

»Ihr Wort in Gottes Ohr.«

»So!« Die Gretl-Tant’ wischte sich die Hände an der Küchenschürze ab. Sie deutete auf den Fleischwolf, ein Ungetüm aus Metall, der unter dem Arbeitstisch stand: »Zeigen S’, ob Sie Schmalz haben!«

Bruder Benedikt hievte das Gerät neben die Schüsseln. Dabei fluchte er innerlich. Inzwischen hatte die Gretl-Tant’ die Därme zurechtgelegt. Sie schraubte den Füllstutzen auf den Fleischwolf. Dann gab sie den ersten Teil Fleisch in den Aufsatz. Das Gerät hatte bereits bessere Zeiten erlebt. Es war beinahe so alt wie seine Besitzerin. Sie hatte es als junge Frau geschenkt bekommen. Zu einer Zeit also, als sie auf eine baldige Hochzeit vorbereitet und demgemäß in die Geheimnisse der Hausfrauenküche eingeweiht worden war. Eine Handkurbel erinnerte sie schmerzlich an diese Zeit.

»Sie können drehen oder füllen«, sagte sie und drängte Bruder Benedikt in Richtung der Kurbel.

»Wursten möcht ich.«

»Haben Sie schon einmal einen Darm in der Hand gehabt?«

»Nichts Weltliches ist mir fremd.«

Sie schlug die Augen auf, als sie das listige Blinzeln ihres Gegenübers bemerkte. Dann stellte sie sich an die Kurbel und ließ die Masse langsam durchlaufen. Bruder Benedikt verhielt sich nicht ganz so geschickt. Er nestelte mit dem hauchdünnen Häutchen am Auslaufstutzen herum, bis er es schließlich über das Rohr gezogen hatte.

»Straff halten«, kam die Order.

Mit einem Flutsch landete die Masse im Darm. Erschrocken ließ Bruder Benedikt vom Füllstutzen ab. Der Darm riss, und die rötliche Masse platschte auf die Arbeitsfläche.

»Alles andere hätt mich gewundert«, kommentierte die Gretl-Tant’ trocken das Ungeschick. »Sie kurbeln, ich fülle!«

Widerspruchslos wechselte Bruder Benedikt die Position. Was Männer alles über sich ergehen lassen mussten, dachte er bei sich. Und er meinte damit nicht das Wursten. Gott sei Dank blieb ihm diese irdische Schmach erspart, und er konnte sich ganz dem überirdischen Vergnügen widmen. Mit einer geschickten Handbewegung verknotete die Gretl-Tant’ die Würste. Eine nach der anderen landete auf der Arbeitsfläche. »Beim Drehen müssen sie immer in die entgegengesetzte Richtung arbeiten. Einmal nach vorn, einmal nach hinten.«

»Verstehe.«

Die Gretl-Tant’ fixierte ihn mit prüfendem Blick: »Sie sind mir ein ganz ein, wie sagt man bei Ihnen in Wien …?«

»Ein Odrahter? Danke für das Kompliment.«

»Kompliment?«

»Wer ›odraht‹ ist, ist gerissen.«

»Haben S’ das bei Ihren Strizzis g’lernt?«

»Eine Grundschläue schadet nicht, sind Gottes Wege doch unergründlich.«

Die Gretl-Tant’ antwortete darauf nicht. Sie kannte die krummen, schätzte jedoch die geraden Wege. Geradeheraus, das war es, was in einem Dorf wie dem ihren noch immer zum Ziel geführt hatte. Zack, zack, zack. Routiniert schnitt sie die Würste an den Enden durch. »Jetzt kommen S’ in die Selch’!«

Sie standen wieder im Freien. Ein kalter Wind blies über den Hof. Die Gretl-Tant’ öffnete die beiden Türen des Kastens. Rauch schlug ihnen entgegen. Der heiße Rauch und der kalte Wind hüllten den Hof in Nebelschwaden. Die Würste hingen auf Eisenstangen. Die Gretl-Tant’ arretierte die Stangen und schloss rasch wieder den Räucherkasten. »Zwei Tag lassen wir sie jetzt drin. Dann sind s’ an Heiligabend gerade recht.«

»Da hängen Sie jetzt im Fegefeuer, die armen Würstchen«, murmelte Bruder Benedikt.

»Sie immer mit Ihren biblischen Vergleichen.«

»Was glauben S’, wie ich meinen Strizzis ins Gewissen geredet hab?«

»Haben S’ Ihnen die ewige Selch angedroht?«

»Nein, ich hab in Bildern zu ihnen gesprochen.«

»Und wurden Sie erhört?«

»Wir haben uns blind verstanden.«

Es dunkelte bereits. Der späte Nachmittag ging in den frühen Abend über. Bei einer Speckjause und Jagatee saßen sie in der gemütlichen Pfarrstube. Der Schwedenofen knisterte vor sich hin. Bruder Benedikt fühlte sich wohl. In Wien, im Kloster seines Stammordens, hätte er nun im großen Refektorium Platz genommen und schweigend mit seinen Mitbrüdern zu Abend gegessen. Er war Barmherziger Bruder. Das Stammkloster hatte seinen Sitz in Wien-Leopoldstadt. Im 2. Wiener Gemeindebezirk. Mit Einbruch der Nacht wandelte sich dieser zum Rotlichtbezirk. Wenn die sogenannte schwoazze Luft, die Dunkelheit, über das Grätzel kam, dann begann einst das Tagwerk der Strizzis. So nannte man die kleinen Zuhälter, die Gelegenheitsdiebe, die Eintänzer einsamer Damen. Arme Seelen allesamt, die ab und an im Gefängnis der Leopoldstadt gelandet waren und sich dem Gefängnisseelsorger anvertraut hatten: Bruder Benedikt. Ihm hatte der Orden diese anspruchsvolle Aufgabe zugeteilt, weil ihm die menschlichen Abgründe schon immer näher waren als die gleichförmige Ebene der Tugendhaftigkeit. Doch die Spezies Strizzi war längt ausgestorben. Brutale Kriminalität hatte sich in der Leopoldstadt breitgemacht. Und Bruder Benedikt war nicht unglücklich gewesen, als er von seinem Orden ins benachbarte Burgenland geschickt worden war. Zuerst als Seelsorger nach Eisenstadt in das von einer Filialstelle des Klosters betriebene Krankenhaus und bald darauf als Pfarradministrator in das idyllische Städtchen Purbach. Die örtliche Pfarrstelle war vakant geworden. Die Suche nach einem geeigneten Hirten gestaltete sich schwierig. Inländische Geistliche zu finden war wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Ausländische Geistliche, so hatte der Pfarrgemeinderat beim Bischof deponiert, aber seien nicht erwünscht. Es war die Gretl-Tant’ gewesen, deren Wunsch hier Befehl war. Dem Argument, sie würde auf ihre alten Tage nicht anfangen, afrikanisch oder »sonst wie exotisch« zu kochen, wollte niemand etwas entgegensetzen. Und den Pfarrer verhungern zu lassen, das wäre den Einwohnern gar gotteslästerlich vorgekommen. Bis zur Bestellung eines neuen Pfarrers war also Bruder Benedikt mit der Leitung der Kirchengemeinde beauftragt.

»Das Brot hab ich selber ’backen, der Speck ist aus dem Räucherofen, das Gemüse aus dem eigenen Garten, und der Schnaps ist ein Hausbrand.« Die Holzplatte vor Bruder Benedikt war ein Augenschmaus. Aus Buchenholz gearbeitet und mit dem Lötkolben verziert, bot sie Platz für feinste Speckröllchen in den Geschmacksrichtungen Chili, Knoblauch und Kräuter. Der Selbstgebrannte zog beim Teeschlürfen scharf in die Nase ein. Die Brotkruste knackte beim Reinbeißen resch. In Wien wäre es mit einem dünnen Fastensüppchen getan gewesen. Die Ordensbrüder hielten sich ausnahmslos an die Regel, nach der der Advent eine strenge Fastenzeit ist. Erst zu Mitternacht des Heiligen Abends, zum Hochfest von Christi Geburt, ging diese karge Zeit über in jene der Völlerei. Doch in seiner Pfarrei war ein Mönch entbunden von den Regeln seines Ordens. Er konnte sie, wie es so schön hieß, nach Treu und Glauben ausrichten.

»Sie führen den Pfarrhof noch wirklich wie einen Hof«, stellte Bruder Benedikt anerkennend fest.

Er hielt es im Sinne eines gedeihlichen Miteinanders mit bodenständiger Auslegung der Ordensregeln: Solange er in Purbach amtierte, hatte sich die klösterliche der weltlichen Praxis unterzuordnen. Während Bruder Benedikt sich den Bauch vollschlug, lästerte die Gretl-Tant’ das Maul: »Eigentlich sind wir ja kein Gasthof.«

»Wie meinen S’ das?«

»Na, wegen Ihrem Gast.«

Dem Pfarrhof gegenüber, im Windschatten der Kirche, stand das ehemalige Mesnerhaus. Es beherbergte unter dem Dach eine Schlafkammer mit Kitchenette und Nassraum. Meist stand das Mesnerhaus leer, doch seit Anfang Dezember wohnte hier ein Schönling aus Wien. Binnen kürzester Zeit hatte er sich im Ort eingelebt. Er sprühte über vor Lebensfreude und hatte immer ein Augenzwinkern für die Damenwelt bereit. Bereits nach den wenigen Wochen seiner Anwesenheit war der Schöne Jean, wie er ob seiner eidottergelben Perücke genannt wurde, den Purbacher Männern ein Dorn im Auge.

»Ich hab das Gelübde der Gastfreundschaft abgelegt.«

»Des können S’ so oder so auslegen.«

»Ich leg’s mir lieber für mich zurecht«, sagte Bruder Benedikt ausweichend.

»Aber müssen S’ grad einem Strizzi die Decken richten?«

»Die Strizzis kommen eher in den Himmel als die Pharisäer.«

»So einen Schmarrn können S’ in Wien predigen. Der da drüben …«, sie räusperte sich, »Ihr Gast, der fällt unangenehm auf.«

»Meinen S’ wegen seinem Pepi?«

»Geh, eitel sind alle Mannsbilder.« Sie legte ihr Besteck zur Seite und verschränkte die Arme: »Bearad ist er. Des alte Mesnerhaus ist kein Sündenpfuhl.«

»Gretl! Falsche Verdächtigungen sind eine Sünd’.« Nun legte auch Bruder Benedikt sein Besteck zur Seite. Mit Nachdruck holte er aus: »Ich kenn unseren Gast schon mein halbes Leben lang. Ich weiß, er war kein Guter. Im Gegenteil. Aber was ich spür, ganz tief drin in mir: Der Johann ist geläutert. Jeder Mensch hat das Recht auf eine zweite Chance. Wer bin ich, ihm diese vorzuenthalten?«

»Ihr Wort in Gottes Ohr.«

Einst wurde die Dunkelheit mit Zweifel gleichgesetzt. Der Apostel Thomas war ein solcher Zweifler. Er glaubte erst an Jesu Tod, als er seinen Finger in dessen blutige Wunde legte. Was lag also näher, als den kürzesten Tag mit der längsten Nacht diesem Apostel zu widmen. Gleichzeitig war diese Nacht eine der Umkehr: »Thuma kehrt den Tag uma«, sagte der Volksmund. Man begrub das Gestern und feierte, als ob es kein Morgen gäbe. In den Küchen des kleinen Städtchens brannte überall Licht. Rund um die Tische waren die Familien versammelt, Nachbarn, Freunde und Verwandte. Man hockte zusammen und schaute in die Zukunft: »Glück hinein, Unglück hinaus«. War die Mitternachtsmette ein Hochfest der Kirche, so war der Bluatige Thomerl drei Tage zuvor ein Fest des Genusses. Sein Leben lang hatte der Schöne Jean von der Fleischeslust seiner Mitmenschen gelebt. Die Wiener Leopoldstadt war so etwas wie eine zwischenmenschliche Fleischhauerei. Hier wurde nacktes Fleisch als Lebensmittel feilgeboten. Frauen waren eine Ware. Und die Männer teilten sich diese Ware. Die einen, indem sie dafür kassierten. Die anderen, indem sie dafür bezahlten. Die Prostitution war ein menschenverachtendes Geschäft. Gleichzeitig stellte sie den Menschen in den Mittelpunkt ihres Handelns. Menschen wie den Schönen Jean. Von Kind an war sein Weg vorgezeichnet: Gelegenheitsdiebstähle, Raufhändel. Als Heranwachsender erster Kontakt zum Straßenstrich. Nach abgebrochener Lehre Gesellenprüfung bei einer Rotlichtgröße, für den er als Leibwächter arbeitete, als »Bugl«. Seine Gesellenprüfung war ein Bauchstich, der seinem Herrn das Leben rettete und ihm einige Jahre Schmalz einbrachte, wie es im Häftlings-Jargon so schön blumig hieß. Im Gefängnis lernte er einen jungen Ordensmann kennen. Die beiden Gleichaltrigen mit den so unterschiedlichen Lebensläufen verstanden sich von Anfang an. Der eine, Bruder Benedikt, weil er zuhörte, ohne zu werten. Der andere, der Schöne Jean, weil er dem Mönch ehrlichen Respekt zollte. Der Häfen war wie ein Kloster organisiert: eine verschwiegene Männergemeinschaft im gemeinsamen Interesse zu überleben. Gottesfurcht war eines dieser Überlebensmittel. Das Überirdische galt als Symbol gegen das irdische Böse, das an jeder Ecke, in jeder Zelle lauern konnte. Gott war eine ordnende Größe. Der Ordensbruder als Stellvertreter Gottes war dem Häfenbruder ein willkommenes Gegenüber. Sonntag für Sonntag stand der Strizzi dem Priester bei der Messe zur Seite. Der Schöne Jean frömmelte nicht. Er ging regelrecht in seiner Aufgabe auf. Wie ein Stammkunde im Bordell, der eifrig Bibelstunden besuchte, verstand er sich als Wanderer zwischen den Welten. Hatte nicht bereits Jesus die Hure Maria Magdalena zu seiner Vertrauten gemacht? Der Schöne Jean las die Bibel zum Vergnügen. Und Vergnügen bereitete ihm auch der Gottesdienst. Diesen besuchten vor allem weibliche Insassen. Er kam sich jedes Mal wie der Hahn im Korb vor, wenn er in seinem rot-weißen Ministrantengewand vor die im Einheitsgrau gekleidete Weiblichkeit trat. Im Gefängnis war sein Zugang zu Frauen ein ganz anderer als im wahren Leben. Ein naiver, von kindlichem Eifer getragener. Er himmelte die Unerreichbaren als leibhaftige Mütter Gottes an und schwärmte von ihrer, den Umständen geschuldeten, Jungfräulichkeit. Der Schöne Jean entwickelte in dieser Zeit mit seinem Beichtvater einen Lebensplan für einen Weg der Tugend. Den er verwarf, als ihn bei seiner Haftentlassung eine schwarze Nobellimousine erwartete. Die Rotlichtgröße erwies sich in ihrer Dankbarkeit großherzig. Die ersten Tage und Nächte schienen dem Schönen Jean wie der Himmel auf Erden. Im Schoße der Hure Babylon vergaß er die frommen Wünsche, nicht jedoch seinen Beichtvater.

Die Zeit verging. Der Strizzi stieg selbst zur Rotlichtgröße auf. Der Gefängnisseelsorger wurde zum Fachmann für Seelenkunde. Beider Wirkungskreis blieb die Leopoldstadt. Zwangsläufig liefen sie sich regelmäßig über den Weg. Ebenso regelmäßig wies Bruder Benedikt den alten Bekannten auf seinen Lebensplan hin: »Du hast mir etwas versprochen!«

»Versprochen ist versprochen und wird auch nicht gebrochen«, schmunzelte der Schöne Jean jedes Mal. Sein kindliches Gemüt machte ihn allseits beliebt.

»Noch ist es Zeit«, war die lapidare Antwort des Mönches.

Zu Beginn des Advents schien diese Zeit gekommen zu sein. Bruder Benedikt und der Schöne Jean hatten sich aus den Augen verloren. Umso mehr freute sich der Mönch, als sein alter Bekannter seinen Besuch ankündigte. Die Gretl-Tant’ schaute nicht schlecht, als der Bekannte aus Wien vor der Haustür stand. Man sah ihm den Strizzi von der Sohle bis zum Scheitel an. Die Stiefletten auf Glanz poliert. Die Jeans mit Bügelfalte. Das blütenweiße Hemd bis zur Brust aufgeknöpft. Das schwarze Sakko nach Maß. Doch am augenfälligsten war das Haupthaar. Es war eidottergelb. Und künstlich. Kleider machen Lumpen, dachte die Gretl-Tant’ bei sich. Als Bruder Benedikt von dem Schönling dann auch noch geduzt wurde, verstand die alte Frau die Welt nicht mehr. Nie im Leben wäre es ihr eingefallen, einem Mann Gottes solcherart vertraulich zu begegnen. Sie schob Arbeit vor und löste sich in Luft auf. Die beiden Männer machten es sich im Pfarrbüro gemütlich. Nach anfänglichem Geplänkel kam der Schöne Jean auf den Grund seines Besuches zu sprechen: »Für mich ist die Zeit gekommen.« Er nahm den Pepi ab und präsentierte seine hohe Stirn: »Die Glatze hab ich dem Krebs zu verdanken.«

»Das tut mir leid.«

»Mir net. Ich hab den Herrgott ein Lebtag lang auf die Probe g’stellt. Jetzt stellt er mich auf die Probe.«

»Du meinst, es ist Zeit für deinen Lebensplan?«

»Wann, wenn net jetzt.«

»Bist du etwa zum Beichten ’kommen?«

»In gewisser Weise. Ich möcht mit dem bissl Leben, des noch in mir ist, ins Reine kommen. Ich hab in Wien alles verkauft. Ich brauch a Luftveränderung.«

»Versteh ich dich richtig: Du willst wegziehen aus Wien?«

»Die Schwoazze Luft is’ schon lang nimma frisch.«

»Und jetzt meinst, frische Landluft tät dir gut.«

»Die Purbacher Landluft tät mir gut.«

»Du wärst ja net der Erste aus euren Reihen, der sich hier ansiedelt.«

Der Schöne Jean lächelte säuerlich. Er wusste, worauf Bruder Benedikt anspielte. War sein Bugl, der Strizzi-Fritzl, doch ebenfalls in der Weinbauidylle heimisch geworden.

»Der Fritzl ist a bissl bös auf mich, wegen dem will ich bestimmt net her.«

»Habts gestritten?«

»Hocknstaad is’ er.«

Jean habe zuletzt ein Zinshaus besessen, das er an Wohnungsprostituierte und Ausländer vom Arbeitsstrich vermietet habe. Der Strizzi-Fritzl habe sich dort als eine Art Hausmeister verdingt. Mit Jeans Rückzug ins Altenteil sei der ehemalige Hawara nun finanziell völlig von seiner Alten in Purbach abhängig.

»Gut, das ist eine Sache zwischen euch zwei. Aber wie kann ich dir helfen?«

»Die Kirche hat doch Grund und Boden.«

»Die Kirche verkauft nicht!«

»Ich kann großzügig sein, wenn’s um die gute Sache geht.«

»Das wirst du auch sein müssen. Zum Sonderpreis gibt’s hier nämlich nix.«

»Wenn wir nicht handelseins werden, müsst ich mich halt a bissl umschauen vor Ort.«

Sie waren noch lange bei einer guten Flasche Wein zusammengesessen. Schließlich hatte Bruder Benedikt dem Stadtflüchtling das alte Mesnerhaus als Quartier für die Dauer seiner Herbergssuche angeboten.

KAPITEL 2

Bruder Benedikt und seine Hawara

Es war seine erste Mette in Purbach. Wenn er es in der Leopoldstadt geschafft hatte, gottlose Strizzis kindliche Gottesfurcht zu lehren, würde er wackere Christenmenschen allemal erreichen. An den Sonntagen im Jahreskreis besuchte nur eine Handvoll Purbacher die heilige Messe. Doch bei der Mette, bei der es auch um Sehen und Gesehenwerden ging, wollte keiner fehlen. Demgemäß war das Kirchenschiff bis zum letzten Platz gefüllt. Bruder Benedikt stimmte es voll Inbrunst an: »Herr, erbarme dich unser.« Und das Kirchenvolk in den Betbänken antwortete aus vollem Halse. Er beendete das Gloria, indem er mit fester Stimme bekräftigte: »Du nimmst hinweg die Sünden der Welt: Erbarme dich unser.« Es hallte im Kirchenraum: »Amen.«

Der Schöne Jean spitzte die Ohren. Er passte nicht so recht in die Reihen der biederen Kirchgänger. Sein eidottergelber Pepi hingegen leuchtete im Halbdunkel des Kirchenschiffes. Mit dem Selbstbewusstsein eines Uraltbekannten saß er aufrecht in der vordersten Kirchenbank, den Rücken durchgestreckt, den Nacken leicht gekrümmt: die Sitzhaltung des Landadels. Er wirkte wie ein vom Himmel gefallener Engel. Bruder Benedikt ging zum Ambo. Er stützte sich auf das Pult, fixierte kurz den Schönen Jean und predigte im tiefsten Wienerisch aus Da Jesus und seine Hawara. Er sprach in den Worten, mit denen er bereits die Wiener Unterwelt erreicht hatte, zur bürgerlichen Landbevölkerung und schlug damit bewusst einen Haken zwischen seiner Herkunft und der Ankunft in Purbach. Der Schöne Jean schwelgte in Erinnerungen. Sein alter Bekannter aus der Leopoldstadt war noch immer der Alte. »Wia da Jesus auf d’ Wöd kumman is’. Sei Mamsch, d’Maria, is’ verhabert g’wesen mit an gewissen Josef – und bevor s’ noch was g’habt hat mit dem, hat’s erfahren, dass an G’schroppen kriagt. Nur woa der vom Heiligen Geist.«

Waren das noch Zeiten, damals, in der Gefängniskapelle. Brüder im Geiste waren sie gewesen, Benedikt und er. Während der eine von der Jungfrau Maria predigte, betete der andere die Jungfräulichkeit der Gefängnisinsassinnen an. Mit keuschen Blicken hatte der Ministrant auf sich aufmerksam gemacht, um bei der ersten Reaktion aus den weiblichen Reihen unkeusche Luftbussis folgen zu lassen. Die sonntäglichen Messfeiern waren, wie es in Wien so schön hieß, »a Hetz« – und kosteten die Damen nicht mehr als ein Lächeln. Der Schöne Jean stellte sich in aller Unschuld vor, wie sie in ihren feuchten Träumen seiner gedachten. Die Sehnsucht war ja doch die befriedigendste aller Süchte.

Da blinkte das Handy des Schönen Jean: eine SMS, Nummer unbekannt. Er las die kurze Nachricht und stutzte: »Ich weiß alles, Saubär. Treffen nach Mitternachtsmette beim Kreuz hinter der Kirche.«

»Der Herr sei mit euch!« Die kräftige Stimme von Bruder Benedikt hallte im Kirchenschiff wider und fuhr dem Schönen Jean in die Glieder. Wer wusste was? Bruder Benedikt bereitete am Altar die Gaben. Die Ministranten brachten das Schälchen mit den Hostien und das Kännchen mit dem Messwein. Er hob beide Arme, sodass er in seinem weiten Messgewand aussah wie eine in liturgische Farben getauchte Fledermaus. »Und mit deinem Geiste«, antwortete die Gemeinde. Er brach die Hostie: »Lamm Gottes, du nimmst hinweg die Sünde der Welt.« Damit lud er zur Kommunion: »Herr, ich bin nicht würdig …«

Zittrig öffnete der Schöne Jean seinen Mund. Als Bruder Benedikt ihm die Hostie auf die Zunge legte, bekreuzigte er sich: auf Stirn, Lippen und Brust. Dann trat er zur Seite und kniete sich in der Betbank nieder zur stillen Andacht. Warum schickte ihm jemand eine Nachricht von einem Handy mit unbekannter Nummer? Wollte ihn jemand erpressen? Doch womit?

Bruder Benedikt säuberte Kelch und Hostienschale und freute sich auf den nächtlichen Spaziergang nach dem Purbacher Weisenblasen. Beides hatte Tradition. Nach jeder Mitternachtsmette ging er mit den Füßen beten. Zum ersten Mal hingegen wohnte er dieser berühmten Brauchtumsveranstaltung bei. Hoch oben am Kirchturm, auf einer schmalen Balustrade, standen vier Trompeter und stimmten in jede Himmelsrichtung Weihnachtslieder an. Unten am Kirchplatz versammelten sich die Kirchgänger und lauschten den Klängen der, wie sie diese nannten, Engelsposaunen. Bruder Benedikt hob die Arme zum Fledermausgruß und sprach den Schlusssegen:

»Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade,

der Herr ist mit dir.

Du bist gebenedeit unter den Frauen,

und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus.

Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder,

jetzt und in der Stunde unseres Todes. Amen.«

Der Schöne Jean murmelte jedes einzelne Wort lautlos mit. Die Lichter im Kirchenschiff gingen aus, und die Menschen in den Betbänken zündeten ihre eigenen Kerzen an. Wie von einem unsichtbaren Marionettenspieler gelenkt, standen sie, jeder seine Kerze in der Hand haltend, auf und nahmen den Mittelgang, der zum hinteren Kirchenausgang führte. Zuerst die letzte, dann die vorletzte bis hin zur ersten Reihe, die sich zum Schluss in die Prozession eingliederte. Begleitet wurde dieser Umgang von der Orgelempore aus. Der Andachtsjodler, angestimmt von Frau Cäcilia Spreizendorfer, sorgte für ein musikalisches Wohlgefühl. Für einen kurzen Moment vergaß der Schöne Jean die Nachricht. Seine Nackenhärchen kräuselten sich, und sein Johannes regte sich: »Tjo, tjo i ri, tjo, tjo i ri, tjo tjo ri ridi, ho e tjo i ri!«

Der Schöne Jean erstarrte in der Bewegung: Bezog sich die Nachricht etwa auf die Jodlerin? Oder auf ihre Konkurrentin? Oder auf beide? Er schüttelte sich, als wollte er damit alle Bedenken abschütteln. Legte es da jemand auf einen Bahö an? Wollte ihm einer der Hiesigen einen Denkzettel verpassen? Wie auch immer, der Nichtsnutz konnte etwas erleben. Er würde die Angelegenheit unter Herren regeln: dezent, aber nachhaltig. Der Schöne Jean fühlte nach dem Schlagring, den er immer bei sich trug. Dann trat er ins Freie und atmete die frische Luft ein. Er brauchte einen klaren Kopf.

»Hast du dich schon eingelebt?«, Bruder Benedikt trat nach ihm vor das Tor.

Der Angesprochene wirbelte herum: »Jessas, hast du mich jetzt erschreckt.«

»Frohe Weihnachten«, sagte Bruder Benedikt, ehe er sich zur Menge gesellte.

»Ja, dir auch«, murmelte der Schöne Jean.

Am Kirchturm, in lichter Höhe, blinkten die vier Trompeten. In jede Himmelsrichtung erklang nun instrumental der Andachtsjodler. Eine Hundertschaft an gereckten Köpfen wandte sich den blechernen Klängen auf der Balustrade zu. So mancher hatte nasse Augen beim Anblick der golden glänzenden Trompeten. Es war eine unbeschreibliche Stimmung: Es wird scho glei dumpa, Aber heidschi bumbeidschi, Still, still, still. Den Abschluss machte: Es ist ein Ros entsprungen. Den Schönen Jean schauderte bei diesem letzten Lied. Er musste endgültig mit seiner Vergangenheit abschließen …