Brummer - Michael Adler - E-Book

Brummer E-Book

Michael Adler

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Beschreibung

Die Geschichte steht in der Tradition von den Erzählungen von Kenneth Grahame oder Michael Bond (erzählendes Kinderbuch). Die Rahmenhandlung ist sehr einfach. Ein (Teddy-)Bär wird mit auf eine Reise genommen und geht verloren. Er wird weit von zu Hause weg gefunden und tatsächlich, auch wenn es fast unmöglich erscheint, findet er wieder zurück nach Hause. Das verdankt er den Menschen, für die er nicht irgendein ersetzbares Spielzeug ist, sondern die wissen, dass ein Kind oftmals eine emotionale Bindung zu seinem Lieblingsspielzeug aufgebaut hat. Und er verdankt es den Menschen, auf die Verlass ist. Spannend ist das innere Erleben und die Perspektive der jeweilig Betroffenen, die eben oft ganz anders ist, als man es von außen erahnt. Kinder müssen bereits lesen können, wenn Sie diese Geschichte interessiert. Vielleicht ist es aber auch eine Geschichte für Erwachsene, die Kinder manchmal schreiben würden, damit die Erwachsenen verstehen. Am ehesten eignet sich die Geschichte zum Vorlesen, so wie früher.

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Für Lilly und Rüdiger, wo immer sie heute leben und für alle anderen, auf die Verlass ist.

Die Ereignisse und Personen in diesem Buch sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Inhaltsverzeichnis

Zurück treten!

Er hatte es kommen sehen

Ein Aufsitzbär

Sitzen gelassen

Der Zug ist weg

Hoffnungslos

Wenn man einen Freund hat

Dunkelhaft

Ein großartiger, starker Bär

Alles viel zu weiß

Weltenbummler

Apfelsaft und Kekse

Suchkommando

Recht passabel

Rüdiger

Eine Million

Dolly

Nicht Wegwerfen!

Zentrale Gepäcksuchstation

Karussellfahrt

Wichtig

Überraschungen

Petra Troll

Büroabfall

Feuerwerk

Suchauftrag im Fundbüro

Kleine Brötchen

Bärenseufzer

Warum Tante Maud Autobahnen hasste

B 54

Auf geht’s

Alles ist noch da

Zurück treten!

„Warte einen Augenblick!“ Lilly verschwand mit einem Klappern der Abteiltür. Der Rucksack schlug gegen die halb aufgeschobene Scheibe und sie lief den Gang hinunter. Sie waren im zweiten Abteil nicht weit von der Wagon Tür.

Die Tante stand falsch. Lilly hatte es am Fenster gesehen. Sie musste nun schnell hinaus und die Tasche und den Rucksack rausstellen, dann konnte sie schnell wieder zurück und die Tüte und Brummer holen.

Direkt vor der Tür ging es nicht weiter. Eine ältere Dame in einem langen, dunklen Mantel hatte ihren Rollkoffer mit ihrem Gehstock daran abgestellt und versuchte die Wagon Tür zu öffnen. Sie drückte den Hebel hinunter, doch offensichtlich reichte ihre Kraft nicht aus. Sie versuchte es ein weiteres Mal. Der Hebel ging ohne Wirkung langsam wieder nach oben.

Lilly schaute sich um, ob sie vielleicht vorbeikommen konnte, aber aus dem gegenüberliegenden Gang kamen ebenfalls Reisende mit Gepäck und mit Kindern und benutzten die andere Tür. Hinter ihr hatten die Fahrgäste bereits den Gang zugestellt. Es gab kein Durchkommen.

„Hallo, können sie mal helfen“, Lilly hatte eine kräftige, junge Frau entdeckt, die an der Tür zu Gegenfahrbahn stand. Die junge Frau schaute etwas abwesend drein, fast finster. Lilly wiederholte: „Wir kriegen die Tür nicht auf“. Die junge Frau reagierte immer noch nicht, offensichtlich weil sie diese kleinen Kopfhörer im Ohr trug, die Mama so schrecklich fand und Lilly immer verboten hatte. Lilly trat einen Schritt vor und zupfte sie am Ärmel und deutete auf die Tür. Die junge Frau schien zu verstehen, was Lilly wollte. Endlich sprang die Tür auf. Die junge Frau hatte sich beherzt über die ältere Dame gebeugt und hatte mit einem kräftigen Ruck den Hebel gedrückt und dann mit einem leichten Stoß die Tür geöffnet.

Langsam, Stufe für Stufe stieg die alte Dame hinunter, nachdem sie ihren Rollkoffer an den Rand der Stufen gestellt hatte. Lilly wurde nervös. Sie war selber bepackt und musste noch die Tüte und Brummer holen. Sie hatte geglaubt, dass es so einfach gehen würde, wie in Braunschweig beim Einsteigen, als Mama sie in den Zug gesetzt hatte. Lilly hatte zunächst Brummer und die Tasche an den Platz gestellt und Mama hatte ihr den Rucksack und die Tüte durch das Fenster hineingereicht. Aber Tante Maud stand falsch, hinten am anderen Ende des Zuges, und so wie sie stand, konnte sie ihr nichts abnehmen. Wahrscheinlich hatte sie sie noch nicht einmal gesehen.

Durch die rechte Tür drängte sich immer noch die Menge der Reisenden. Jetzt endlich hatte die alte Dame den Bahnsteig erreicht. Sie griff nach oben und zog ihren Koffer hinterher. Er polterte Stufe für Stufe hinunter und um ein Haar wäre auch der Stock aus seiner Halterung gerutscht und auf den Bahnsteig gefallen.

Endlich konnte Lilly hinaus. Sie blickte sich schnell um und hielt Ausschau nach einem geeigneten Platz, wo sie das Gepäck hinstellen konnte. Ihr Blick fiel auf eine Bank, die einige Schritte entfernt stand. Dort war ein guter Platz. Lilly drückte sich an den anderen Reisenden vorbei und setzte den Rucksack und die Tasche neben der Bank ab. Dann hastete sie zurück. Wieder kamen ihr Leute entgegen. Sie wurde an die Seite gedrängt und mit Mühe konnte sie sich den Weg zurück zum Wagon bahnen. Gerade als sich die Menge teilte und sie hindurchschlüpfen konnte, schloss sich die Tür. „Nein“, entfuhr es ihr.

Mit zwei Sätzen war sie an der Tür, von der ein vernehmliches „Klack“ kam. “Halt!“ rief sie. “Halt!“ Sie fasste die Klinke und zog an der Tür. Nichts bewegte sich. Die Klinke ging ins Leere. Dann bewegte sich der Zug. „Nein“, stieß sie hervor. „Nein“, ein zweites Mal, aber dieses „Nein“ war schon fast erstorben bevor es richtig zu hören war.

Lilly stand für einen Augenblick wie gelähmt. „Halt!“, rief sie jetzt lauter. Sie konnte ihre eigene Stimme kaum hören, denn im selben Augenblick schrillte das Geräusch einer Trillerpfeife über den Bahnsteig und über ihr knackte ein Lautsprecher. Eine Stimme hämmerte drohende Worte in die Luft: „Zurück treten! Treten sie zurück!“

Der Zug zog an. Sie ließ die Klinke los. Ihre kleinen Hände rutschten von der Tür ab und hinterließen eine Schweißspur. „Brummer“, rief sie, „Brummer!“ Noch einmal reichten ihre Hände zu den vorbeigleitenden Fenstern, hoch zum zweiten Abteil.

Er hatte es kommen sehen

Er hatte es kommen sehen. Er hatte es kommen sehen! Die Vorbereitung, die Aufregung, Lilly war den ganzen Tag damit beschäftigt gewesen Koffer zu packen und wieder auszupacken und wieder einzupacken. Sie war mindestens einhundert Mal die Treppe hinunter gerannt und ebenso oft wieder heraufgerannt, entweder weil sie etwas vergessen hatte oder weil ihr etwas Neues eingefallen war oder weil sie ihre Mutter dringend etwas fragen musste. Und ebenso oft musste sie prüfen, ob sie die Adresse der Tante behalten hatte, für den Notfall, falls etwas passieren würde. Den Notizzettel mit der Anschrift und der Telefonnummer hatte sie in ihre kleine Handtasche gesteckt und die Fahrkarten für den Zug griffbereit dazu gelegt.

Er hatte es kommen sehen. Je näher der Augenblick rückte, als sie endlich aufbrachen, desto aufgeregter waren alle. Lilly, die Mutter, der Vater, Rubi die alte Labrador Dame, die schon lange die Treppen nicht mehr hinaufkonnte und natürlich auch er. Und beinahe wäre es ja auch schon eher passiert, in dem Augenblick, als er beim Einsteigen ins Auto fast auf die Straße gestürzt wäre. Jetzt, für einen Augenblick, war dieser Schrecken wieder ganz nah und bestärkte die missliche Lage, in der er sich befand.

Er hatte es kommen sehen. Wie naiv musste er gewesen sein, als er annahm, dass es ihn wohl doch nicht treffen würde, nachdem er das Ereignis mit dem Auto überstanden hatte. Wie naiv! Er machte sich selber Vorwürfe, die Zeichen nicht erkannt zu haben. Nichts war überstanden gewesen, nichts. Im Gegenteil! Es war lediglich eine Vorwarnung gewesen. Eine Vorwarnung, die Lilly und er nicht ernst genommen hatten und nun ...?

Er hätte ja noch rufen können, aber der Zug ruckte an und überhaupt, er konnte ja nicht einfach rufen. Jemand hätte ihn auf den Rücken legen und wieder aufrichten müssen, aber es war niemand mehr da. Die Tür war ohnehin bereits geschlossen. Es hätte ihn niemand mehr gehört.

Der Zug ruckte ein zweites Mal und Brummer hatte plötzlich Mühe aufrecht sitzen zu bleiben. „Oh“, dachte er zunächst. Lilly hatte den kleinen Rucksack mitgenommen, der ihm so schön den Rücken gestützt hatte. Und jetzt war dieser Halt verschwunden.

Brummer balancierte etwas und er fing sich wieder, auch wenn er sich dabei ein wenig drehen musste. Jetzt blickte er direkt zum Fenster. Unter anderen Umständen hätte er es als einen Vorteil empfunden, denn die Sicht nach draußen war besser als zuvor. Er blickte direkt auf das vorbeigleitende Schild: „Osnabrück Hbf“. Doch er bekam keine Gelegenheit darüber nachzudenken, denn der Zug ruckte ein weiteres Mal und nun passierte es: Das, was er unbedingt hatte vermeiden wollen. Für einen Augenblick hoffte Brummer, er könne sich dagegen stemmen und sein Gleichgewicht behalten, denn diesem Rucken war ein kurzes Stocken vorausgegangen, das ihn in Richtung auf die Rückenlehne geneigt hatte und beinahe wäre auch eine seiner Tatzen so nahe an die Lehne gekommen, dass er sie berührt hätte. Aber dann gab es einen Gegenruck und nun konnte er sich einfach nicht mehr halten. Der vorbeigleitende Bahnhof verschwamm vor seinen Augen. Er stemmte sich mit aller Kraft dagegen, doch dieser Ruck, der die Beschleunigung des Zuges auf ihn übertrug, war einfach zu stark. Mit einem seufzenden, brummigen „Nein“, fiel er um. Im Fallen wandte er noch einmal alle Kräfte auf, so dass er sich drehte und gottlob nicht auf der Seite oder auf seiner Nase landete, sondern auf den Rücken rollte.

Brummer seufzte tief. Wie hatte er auch nur eine Sekunde lang glauben können, dass er, ein kleiner Teddybär, in der Lage sein würde, einem 400 Tonnen schweren Ungetüm von einem Zug Widerstand leisten zu können. Die Anstrengung war sehr kurz gewesen, nur wenige Sekunden vielleicht. Er hatte nicht darüber nachgedacht, dass er ja vielleicht gar keine Chance gehabt hatte gegen diesen Ruck, aber er war entschlossen gewesen, entschlossen nicht umzufallen.

Ein Aufsitzbär

Brummer war ein Aufsitzbär. Aufsitzbär sagte Lillys Vater immer über ihn. Das klang sachlich, korrekt. „Aufsitzbären sitzen auf den Hinterläufen oder auf dem Po und stützen sich auf den Vorderläufen ab, damit sie nicht umfallen“, so sagte es Lillys Vater. Es klang aber auch irgendwie abschätzend, beinahe entschuldigend. So nach dem Motto: „Er kann nicht aufrecht stehen oder gehen, aber dafür sitzt er ziemlich stabil.“ Wenn Lilly es sagte, dann klang es anders, dann klang es fast bewundernd. Wenn Lilly es sagte, dann klang Aufsitzbär nach: „Egal was passiert, er sitzt immer wieder aufrecht, so stabil und stark ist er.“

Papa sagte auch immer, dass Aufsitzbären etwas unpraktisch seien. Meistens sagte er das, wenn er Lilly abends zu Bett brachte. Wenn er Lilly z.B. zudecken wollte, dann musste er die Decke erst einmal hochheben, denn Brummer lag dann auf dem Rücken und streckte seine Beine in die Luft. Jedes Mal sagte er dann: „Brummer, nimm bitte die Beine nach unten, damit ich dich zudecken kann.“

„Dabei ist es ganz einfach Aufsitzbären zuzudecken“, flüsterte Lilly Brummer zu, wenn sie dann alleine waren. „Man muss sie nur auf die Seite legen.“ Dann kicherten sie beide und schliefen Nase an Nase ein

Brummer war ein Aufsitzbär mit graubraunem leicht flauschigem Fell und einer schwarzen aufgestickten Nase. Auch seine Bärenkrallen waren aufgestickt. Seine Augen waren nicht aufgestickt. Sie leuchteten in einer Mischung aus Braun, Schwarz und Bersteinfarben. An ein paar Stellen war sein Fell ein wenig abgeschabt, an der Nase und an einem Ohr.

Jetzt lag er auf dem Rücken und sein Blick fiel an die Decke des Wagons. Es war keine unbequeme Lage. Viele Male hatte er in Lillys Bett so die Nacht verbracht, warm unter ihrer Bettdecke, ihre kleine Nase an seinem Ohr, mit dem Blick auf den Sternenhimmel, der auf einem blauen Tuch über dem Bett verstreut war. Nein, die Lage war durchaus bequem, nur eben ungewohnt, was die Umstände anging, in denen er sich so unvermittelt wiedergefunden hatte.

Das Schlagen der Achsen unter dem Wagon übertrug sich außerdem in kleinen Wellen auf seinen Körper, so dass er leicht hin und her gewiegt wurde, was er ebenfalls unter anderen Umständen als angenehm empfunden hätte. Nur eben jetzt konnte er so nicht empfinden, denn er fühlte sich verlassen – hilflos, und diese Hilflosigkeit wurde durch das ständige Schaukeln noch verstärkt.

Sitzen gelassen

Lilly spürte den Sog, als der Zug jetzt anzog. Die Wagen schoben sich an ihr vorbei, einer nach dem nächsten. Jetzt erst trat sie zurück. „Brummer“, sagte sie ungläubig und drehte sich um. Ein Mann mittleren Alters blieb stehen und sah sie verwundert an. „Brummer“, sagte sie. „Er ist noch drin.“ Der Mann runzelte die Stirn, besann sich dann aber und ging weiter.

Von den Leuten, die zum Ausgang strebten nahm niemand von ihr Notiz. Dann kam eine dunkle Uniform aus einiger Entfernung gestikulierend auf sie zu. „Du musst zurücktreten, wenn der Zug anfährt!“ herrschte der Mann sie an. Er war groß und hager und trug über seiner Brust eine breite rote Lederschärpe. Seine Mütze war etwas verrutscht, denn er hatte sie beim Laufen mit einer Hand festgehalten und sein etwas zu langer, grauer Schnurrbart bebte, so schwer atmete er. „Das ist wahnsinnig gefährlich“, keuchte er und zog Lilly zur Mitte des Bahnsteiges. „Brummer“, sagte sie wieder und schaute den Beamten an. Dieser stockte einen Augenblick und schien etwas ratlos zu sein, dann beugte er sich hinunter. Lilly schaute ihn immer noch entsetzt und fassungslos an: „Brummer – Brummer“, mehr brachte Lilly in diesem Augenblick nicht heraus.

Das Donnerwetter, das der Beamte eigentlich auf das Mädchen hinunterprasseln lassen wollte, blieb plötzlich wo es war. Für einen Augenblick war er vollkommen verwirrt. Wie konnte dieses Kind wissen, wie ihn seine Frau mit Kosenamen nannte? Dann besann er sich und schaute Lilly an. „Brummer“, hatte sie gesagt und er verstand, dass hier jemand Hilfe brauchte und kein Donnerwetter.

Die dunklen Arme der Uniform streckten sich nach dem kleinen Mädchen aus und drückten es etwas unbeholfen aber behutsam an sich. „Brummer“, sagte Lilly wieder. „Er ist noch drin.“ „Wer ist noch drin?“, fragte der Beamte jetzt, nachdem er Lilly wieder aufgestellt hatte. „Brummer“, antwortete Lilly. „Mein Bär, er sitzt noch auf dem Platz im Abteil.“

„Lilly, Lilly!“ Tante Maud rief von weitem. Sie kam den Bahnsteig heraufgerannt. Aus der Ferne hatte sie beobachtet, wie ein kleines Mädchen auf den anfahrenden Zug zugelaufen war und vergeblich versucht hatte die Tür zu öffnen. Gellende Pfiffe einer Trillerpfeife hatten über den Bahnsteig gehallt und im nächsten Augenblick hatte sie ihre kleine Nichte erkannt – Lilly. Dann kam ein Beamter aus dem Wärterhäuschen herausgestürzt und hatte das Kind vom Zug weggerissen.

„Lilly, Kind, was machst Du?“ Tante Maud war außer Atem. „Das ist doch wahnsinnig gefährlich.“ Es klang erschrocken und ängstlich „Ihr Bär ist noch drin“, mischte sich der Beamte nun ein. Sie sahen sich gegenseitig an, dann schauten beide auf Lilly hinunter.

„Wo bist Du gewesen?“ Lillys Enttäuschung war mit einem Schlag richtiger Wut gewichen. „Wo bist du gewesen? Du hast am falschen Wagon gestanden!“ Lilly war aufgewühlt und zornig. „Welcher Bär? Wieso noch drin?“ Die Tante war jetzt offenbar verwirrt. „Brummer ist noch drin, da.“ Lilly deutete auf die letzte Wagon Tür, die am Ende des Bahnsteigs verschwand. Ihre Stimme klang jetzt hart. „Das Mädchen hat Ihren Bären im Abteil vergessen und hat versucht ihn noch herauszuholen.“ Der Beamte versuchte zu erklären auch wenn er zunächst die offensichtlich gefährliche Situation hatte bereinigen müssen, schien es ihm doch, dass er verstanden hatte, was geschehen war. Ein kleines Mädchen allein im Zug, unbetreut auf einer Reise, dass vor lauter Aufregung ihren Bären hatte liegen lassen und das verzweifelt versucht hatte ihn zurückzuholen.

„Ich hab ihn nicht vergessen. Ich hab ihn nicht vergessen!“ fauchte Lilly ihn an. „Ich würde Brummer niemals vergessen. Tante Maud war nicht da und ich wollte ihn holen, aber das ging nicht mehr. Alles war so voll und der Zug ist sofort wieder losgefahren, obwohl ich noch gar nicht fertig war!“

Tränen sprangen plötzlich aus ihren Augen hervor und alles was sich an Angst, Ärger und Wut aufgestaut hatte, von der Tante Maud schon eine Ladung abbekommen hatte, entlud sich nun in einem lauten Aufheulen und verzweifelten Schluchzen. Tränen liefen über das kleine gerötete Gesicht. „Brummer“, dachte sie nur „Brummer.“ Er konnte doch nicht allein weiter fahren. Brummer kannte sich doch gar nicht aus! Brummer konnte sich nicht alleine helfen. Er war ein großartiger Bär sicherlich, aber eben doch nur ein normaler Aufsitzbär.

Sie war für einen Augenblick beschämt über ihren Gedanken, dass sie „nur“ gedacht hatte. Brummer konnte nicht einfach aufstehen und zum Schaffner gehen und sagen: „Wie komme ich wieder zurück? Ich bin sitzen gelassen worden.“ – Ja so würde er sich jetzt fühlen. Sitzengelassen. – Bei diesem Gedanken brachen die Tränen noch mehr hervor. Brummer war doch völlig hilflos. Er hatte ja nicht einmal die Adresse.

Lilly sah den Beamten starr an. Ihre Gedanken gingen hin und her. Brummer, dachte sie, war er jetzt weg? Nein, nein, nein. Diesen Gedanken schob sie sofort beiseite. Er war natürlich nicht weg. Er war da, da in diesem Zug. Er saß noch auf dem Platz. Er fuhr. Er war nicht weg. Er fuhr jetzt wohin. – Wohin?

Der Zug ist weg

Lilly fixierte den Beamten immer noch, der wie gebannt abwartete, was jetzt passieren würde. „Der Zug muss anhalten“, sagte sie plötzlich. „Der Zug muss anhalten!“ Sie sah den Beamten an. Sie wiederholte es noch einmal. Es war klar! Ihre Worte kamen jetzt langsam, eines nach dem anderen aus ihrem Mund, bestimmt und ohne jeden Zweifel: "Der Zug muss anhalten!“ Der Beamte schaute sie befremdet an, „Das geht nicht“, antwortete er kurz. Das war völlig unmöglich. In solchen Fällen gab es keine Diskussion. „Das geht nicht“, wiederholte er, obwohl er wusste, dass er es nicht noch einmal hätte bekräftigen müssen.

„ So etwas geht nicht“, Tante Maud nahm Lilly an der Hand und wollte sie besänftigen, doch Lilly zog die Hand weg und starrte auf den Zug. „Der Zug hält an, nur ganz kurz, dann lauf ich schnell hin und kann ihn holen, dann fährt der Zug weiter.“ Sie atmete tief: „Das geht doch.“ Sie schaute immer noch auf das Paar roter Lichter, das inzwischen den Bahnsteig verlassen hatte.

„Das geht nicht“, antwortete der Beamte. Es war klar, dass es nicht ging. Ihm war klar, dass es nicht ging und zugleich war er erstaunt, dass die Beschreibung des Kindes so einfach war, dass er es selber für einen Augenblick für möglich hielt.

„Es geht nicht mehr“, sagte er ruhig. Ich habe das Freizeichen gegeben und er fährt jetzt weiter.“ Sie schauten nun beide dem Zug nach. Lilly war ebenfalls wieder ruhig geworden. Sie schaute kurz zu ihm hoch und dann wieder dem Zug hinterher. „Es muss gehen“, sagte sie, aber es klang nicht mehr fordernd und verzweifelt, sondern mehr wie eine Klarstellung. „Du musst ihn nur anhalten lassen.“ Der Beamte schaute konzentriert, doch er versuchte keinen weiteren Erklärungsversuch. „Wenn man im Zug ist“, fuhr Lilly fort, „und es ist etwas nicht in Ordnung, dann zieht man die Notbremse und der Zug steht, z.B. wenn ein kleines Kind auf die Gleise läuft. – Das muss auch von außen gehen, z.B. wenn der Fahrer nicht kann oder ohnmächtig wird.“ Lilly schwieg. Der Mann schwieg ebenfalls. Selbst Tante Maud, die am liebsten schon längst verschwunden gewesen wäre, traute sich nicht, sich ein weiteres Mal einzumischen. „Es muss auch von außen gehen“, Lilly hatte sich jetzt dem Beamten zugewandt, „sonst ist etwas nicht in Ordnung.“ Am liebsten hätte er jetzt etwas von Vorschriften und Fahrplänen und Sicherheit gesagt, doch er hielt den Mund, denn er hatte irgendwie das Gefühl, dass es nicht richtig war, schon gar nicht, weil jemand kurz zuvor „Brummer“ zu ihm gesagt hatte und weil dieser jemand ihm soeben einfach und klar erklärte, wie die Welt eigentlich sein müsste.

„Lilly“, Tante Maud machte sich jetzt wieder bemerkbar. „Lilly, ich glaube das Beste ist, wenn wir jetzt gehen.“ Sie blickte auf Lilly hinunter, die immer noch unbeweglich dem Zug hinterher starrte. Lilly antwortete nicht. „Lilly, komm.“ Tante Maud klang versöhnlich. Zunächst war sie zu Tode erschrocken gewesen, als sie ihre kleine Nichte am Bahnsteigrand gesehen hatte, die, wie sie glaubte, um ein Haar vom Zug mitgerissen worden wäre. Doch dann hatte sie begriffen, dass es etwas gegeben haben musste, das Lilly zu diesem Verhalten veranlasst hatte. Nur – es hatte jetzt keinen Zweck, weiter zu warten. Der Zug war weg.

Der Bahnbeamte drehte sich langsam um. „Tja, tut mir leid, ich kann jetzt nur den Zugführer informieren, aber es wird etwas dauern.“ Er hielt inne. Lilly hatte zu ihm aufgeschaut. „An der Endstation geht noch mal jemand durch den Zug und sammelt alles ein, z.B. vergessene Gepäckstücke.“ Tante Maud sprang ein: „Das wäre sehr nett ... .“ „Wo ist das?“ Lilly sah zu dem Mann hoch. „Was meinst Du mit wo?“ „Wo ist die Endstation?“ Lilly fixierte ihn weiter. „Der Zug geht bis nach Duisburg und dann weiter nach Paris. Ein Teil der Wagons bleibt in Duisburg, dann werden weitere Wagen aus Köln angehängt und dann fährt der restliche Zug weiter nach Paris. Ich kann Dir nicht genau sagen, wo Dein Bär jetzt hinfährt.“

„Das wäre sehr nett, wenn Sie den Zugführer informieren könnten“, mischte sich Tante Maud erneut ein. „Vielleicht findet ja jemand den Bären und er könnte ja geschickt werden.“ „Ja, das kann man versuchen“, sagte der Beamte. „Sie melden sich am besten am Schalter unten in der Eingangshalle. Ich werde mal einen Funkspruch loslassen.“ Er wollte sich zum Gehen wenden, aber Lilly sagte nur: „Augenblick.“ Sie ging zur Bank, wo sie ihre Sachen abgestellt hatte, zog den Rucksack um und nahm ihre Tasche in die Hand. Für einen Augenblick wurde ihr klar, dass sie das vielleicht vorhin im Zug auch so hätte machen sollen, aber dann war dieser Gedanke wieder verschwunden. Sie lief dem Beamten hinterher. „Ich muss Dir beschreiben, wie er aussieht“, sagte sie und wich ihm nicht von der Seite.

Der Beamte wurde nun etwas unwillig und schaute auf seine Uhr. „Das geht nicht sofort“, sagte er. „Ich muss erst den nächsten Zug abfertigen.“ Lilly war trotzdem entschlossen. Sie blieb stehen. „Ja ist gut, aber mach schnell“, sagte sie und trat wieder einen Schritt zurück. „Ich warte.“

Hoffnungslos

Das Schlagen der Achsen wurde immer schneller. Schon nach wenigen Minuten stellte sich ein sanftes, gleichmäßiges Klopfen ein. Der Zug hatte Fahrt aufgenommen und Brummer war irgendwie klar, dass es kein Zurück gab.

Er starrte zur Decke. Eine Vorwarnung. Wie hatte er das verkennen können und Lilly, hatte sie es nicht erkannt? Seine großen braunen Augen füllten sich mit Tränen. Er fühlte sich so ..., er traute sich kaum dieses Gefühl zu bekennen, er fühlte sich – hoffnungslos!

Nein, das durfte er nicht zulassen. Hoffnungslos gab es nicht, nicht bei Lilly. Lilly war nie hoffnungslos, niemals, - niemals! Lilly lies nicht zu, das etwas hoffnungslos war. Zum Beispiel damals, als Rubi in dieses Loch gestürzt war. Seitdem durfte Rubi auch nicht mehr raus auf die Straße. Rubi konnte schon damals nicht mehr richtig hören und auch nicht mehr richtig sehen. Da war diese Baugrube gewesen, direkt an der Straße und die Kinder und Rubi. Rubi spielte so gerne mit Kindern. Er, Brummer fand das etwas übertrieben. Eine Dame dieses Alters sollte vielleicht nicht so auf der Straße herumtollen, auch nicht, wenn sie eine Hundedame war.

Am Rand der Baugrube war es sandig gewesen und die Sperre konnte sicherlich einen Kinderwagen oder ein kleines Fahrrad aufhalten, aber Rubi war einfach darunter hindurchgerutscht, rückwärts und dann hatte sie festgesteckt. Mindestens einen Meter tief in der Grube und sie konnte nicht vor und zurück. Sie bellte und jaulte, sie strampelte, aber so manövrierte sie sich nur noch tiefer in dieses Loch hinein. Die Kinder schrien oder rannten weg und er, Brummer rechnete schon mit dem Schlimmsten. Aber Lilly hatte zu ihm gesagt: „Du bleibst hier“, und hatte ihn an den Rand der Baugrube gesetzt. „Du passt auf! Ich hole Hilfe!“ Und dann war sie losgerannt und er hatte aufgepasst. Und dann war Lilly wiedergekommen mit Papa, mit Mama und mit Herrn Keller dem Nachbarn und sie hatten dann die Sperre an der Baugrube weggemacht und Papa hatte sich eine langes Seil um den Bauch gebunden und Herr Keller hatte oben gestanden und Papa an dem Seil festgehalten und dann war Papa in die Grube hinuntergestiegen und hatte Rubi an den Beinen gefasst und hochgezogen und dann hatte er sie wieder auf den Rand der Baugrube geschoben und dann war Mama da gewesen und Lilly.

Als alles vorbei gewesen war, hatte Lilly ihn fest in den Arm genommen und gedrückt und sie hatte ihn gelobt, wie tapfer er gewesen war und wie gut er aufgepasst hatte.