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Der erfolglose Schriftsteller Bastian Buck führt ein biederes Familienleben. Unverhofft schreibt er einen Bestseller, der seine geordnete Welt über Nacht ins Wanken bringt. Zwischen Reichtum und materiellen Verlockungen scheitert er bei dem Versuch, seinem Umfeld Normalität vorzuspielen. Buck verliert die Kontrolle, gerät in kriminelle Machenschaften und driftet dem Absturz entgegen.
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Seitenzahl: 423
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Originalausgabe:
Die dargestellten Charaktere sind allesamt fiktiv und Parallelen zu real existierenden Personen rein zufällig.
In Zukunft wird jeder
für 15 Minuten berühmt sein.
Andy Warhol
(Stockholm, 1968)
Basti und Lena
Annalena ist attraktive 36. Mit ihrem rotblonden Long Bob immer noch ein Hingucker. Ihre Figur weckt Phantasien und ihr selbstbewusstes Auftreten birgt etwas Unnahbares. Bastian schaut sie immer noch gerne an. Auch nach 11 Jahren Ehe kann er sich ihrer Anziehungskraft nicht verschließen. Ihr Gang, ihre Bewegungen, ihr mit den Jahren seltener gewordenes Lächeln, das alles lässt ihn trotz der Untiefen der Alltagsroutine immer noch an den Zauber der Ehe glauben.
Seit ihrem ersten Aufeinandertreffen auf einer Studentenparty waren sie ein Paar. Aus einem One-Night-Stand wurde eine Beziehung, die zwei Jahre später geräuschlos in den Zustand der Ehe überging. Annalena wurde schwanger und die Familie brauchte ein Nest. Man bezog eine Zweizimmerwohnung, die man nach der Geburt von Tochter Josephine in eine Vierzimmerwohnung im gleichen Haus eintauschte. Diese bewohnen sie bis heute.
Der smarte Bastian, 3 Jahre älter, war in den letzten Zügen seines Germanistik-Studiums und jobbte bereits in einem lokalen Verlagshaus. Schriftsteller wollte er werden. Seine lyrischen Liebestexte hatten Annalena gefangen und ließen die angehende Verwaltungsfachwirtin an eine „gute Partie mit Esprit“ glauben. Lena, wie er sie liebevoll nannte, war eine Taffe, beendete ihr Studium zügig und hatte die Perspektive, als Chefsekretärin Fuß zu fassen. Den gemeinsamen Sohn Jelle bekam sie quasi im Vorbeigehen. Annalena wurde zur tragenden Säule des gemeinsamen Lebensunterhalts und ließ Bastians hoffnungsvolles Literatenansehen zunehmend in den Hintergrund treten.
„Basti“ nannte sie ihn zu Beginn ihrer Beziehung. Im Laufe der Jahre war der Kosename zunehmend durch die korrekte Langversion ersetzt worden. Basti war mit seinen dunklen Locken, der sonoren, unaufgeregten Stimme und der poetischen Ader ein Charmeur par excellence. Als sein Nebenjob durch die Pleite des Verlagshauses verloren ging, setzte er voll auf die Karte des selbstständigen Romanautors. Annalena glaubte an sein Talent und verbrachte unzählige Abende mit dem Gegenlesen von Manuskripten. Der Deal, dass Basti Haushalt und Kinder versorgte, während Lena den Unterhalt heranschaffte, hielt eine Weile, ging jedoch zu Lasten seiner schriftstellerischen Kreativität. Erst als die Kinder größer wurden, begann er das Ziel zu verfolgen, mit dem Schreiben zum Familieneinkommen beizutragen.
Annalena träumte von einem Haus, freistehend, mit Terrasse und Garten. Bastian, für den materiellen Besitz sekundäre Bedeutung hatte, war der klassische Wohnungstyp. Er brauchte das höhlenartig Fokussierte, um seine innere Welt zu Papier bringen zu können. Fontane, Brecht, Mann, Hesse, Böll, keiner von denen war ein Terrassenschreiber. Die besten Romane waren in dunklen Schreibstuben entstanden. Bastians Sorge, dass ihm in einem lichtdurchfluteten Haus so gar nichts mehr einfallen würde, hielt sich hartnäckig. Nachdem seine ersten drei Romane über den Status des Ladenhüters nicht hinausgekommen waren und keine einträglichen Einnahmen abwarfen, kam es zur Aussprache.
„Es wird langsam Zeit, dass Du Dir nen geregelten Job suchst und mit dem Hirngespinst des Romanautors aufhörst. Ich habe keine Lust mehr, mit Dir und den Kindern in dieser dunklen Hütte zu sitzen. Die Miete frisst uns auf, die Nachbarn nerven, während andere auf der Terrasse ihren Prosecco trinken. So geht’s nicht weiter“, waren Annalenas ultimative Worte.
Bastian verstand ihre Ungeduld, ein sie Zeit ihrer Beziehung auszeichnender Wesenszug. Doch bei ihm kam regelmäßig das Gefühl auf, mit dem nächsten Roman den Durchbruch schaffen zu können. Auf Hoffnung folgte Enttäuschung. Die Stimmung wurde angespannter und Annalenas Interesse an den schriftstellerischen Betätigungen ihres Mannes erlosch. Nach dem dritten erfolglosen Roman interessierte sie sich nicht mal mehr für die Titel der kommenden Werke, geschweige denn für die Inhalte, die der werte Gatte so zu Papier brachte. Freunde und Bekannte belächelten den Hobbyliteraten und traten der Ernährerin in einer Mischung aus Bewunderung und Mitleid gegenüber. Allen voran war es ihr Vater Jürgen, der Bastians Literatenspleen missbilligte und das Charakterbild eines „verträumten Nichtsnutz“ schnell gefällt hatte. Die regelmäßigen Abendessen mit den Schwiegereltern zwangen Bastian dazu, gegen den Kugelhagel der Kritik argumentative Schützengräben zu errichten. In einer Mischung aus äußerer Selbstrechtfertigung und stiller Ignoranz war er versucht, die teils hinterhältigen Attacken gesichtswahrend zu überstehen. Dank seiner sensiblen Wortgewandtheit gelang es ihm – unbemerkt von der grobschlächtigen Egozentrik seiner Schwiegerfamilie – den ein oder anderen Giftpfeil zu platzieren.
Schwiegervater Jürgen, seines Zeichens gut erhaltener Mittsechziger, war als Abteilungsleiter einer Verwaltungsbehörde vor kurzem in den Ruhestand getreten. Um der migränebedingten Launenhaftigkeit von Ehefrau Erika zu entgehen, verbrachte er seine Zeit tagsüber vornehmlich auf dem Golfplatz sowie beim abendlichen Herrendoppelkopf. Annalena war Einzelkind und Jürgens ganzer Stolz. Zwischen die Beiden passte kein Blatt, Ausdruck einer innigen Vater-Tochter-Beziehung. Bastian nannte Jürgen in dessen Abwesenheit „Gekko“, weil er ihn in seinem Habitus und seiner rechthaberischen Arroganz an den von Michael Douglas verkörperten „Wall-Street“-Broker Gordon Gekko erinnerte. Annalena zischte ihm ob der vermeintlichen Parallele nur ein knappes „Du spinnst“ entgegen.
Das Verhältnis von Annalena zu Mutter Erika war dauerhaft angespannt. Seit ihren Teenagertagen verspürte sie eine unterschwellige mütterliche Missgunst. Annalenas Attraktivität und Selbstständigkeit hatten die Bewunderung ihres Vaters befördert, während Erika die Geringschätzung ihres Ehemanns regelmäßig zu spüren bekam. Erikas pferdeartige Gesichtsform mit einer talgglänzenden Warze auf der Stirn waren dem Selbstwertgefühl einer frustrierten Hausfrau keineswegs förderlich. Ihr keifiger Tonfall in Verbindung mit plötzlichen Stimmungsumschwüngen machten ihre Gesellschaft regelmäßig zu einer Belastungsprobe. Als Ass in der Küche zauberte sie im Gegensatz zu ihrer eher unhäuslichen Tochter Gourmetgerichte aus dem Ärmel. Für Bastian als notgedrungenen Hobbykoch eine zusätzliche Herausforderung. Dennoch war Erika an guten Tagen die Einzige, die Bastians Literatendasein etwas abgewinnen konnte und dies mit der gebetsmühlenartigen Floskel „Der Junge wird es schon schaffen“ unterlegte. Immer dann, wenn Annalena verkündete, „Mama und Papa kommen am Wochenende zu uns“, spürte Bastian ein Gefühl des kalten Unbehagens in sich emporkriechen.
Josie und Jelle
Kinder sind das Familienglück und die Vollendung inniger Zweisamkeit. Zumindest theoretisch. Das nicht seltene Phänomen einer Ehe, die nach der Geburt der Kinder in unruhigeres Fahrwasser gerät und zu partieller Entfremdung führt, machte auch vor dem Familienleben der Bucks keinen Halt.
Josephine war kein Wunschkind. Mitten in ihrer Bachelorarbeit stellte Annalena fest, dass sich bei ihr etwas tat. Übelkeit morgens, tagsüber Hitzewallungen waren erste Indizien, die sich postwendend bestätigten.
„Haben wir zwei Idioten nicht aufgepasst“, schimpfte sie wie ein Rohrspatz. „Erst verlierst Du Deinen Job, dann werde ich schwanger…als nächstes gibt bestimmt unser klappriges Auto den Geist auf. Es kommen ja immer drei Unglücke zusammen“, fuhr sie erbost fort. Mitten im Karriereaufstieg ausgebremst. Ein dicker Bauch gegen den Wohlstand. Nun würden sie die nächsten Jahre finanziell auf der Stelle treten. Die Lebensplanung der taffen Annalena sah weiß Gott anders aus.
„Leben ist das was passiert, während Du dabei bist, andere Pläne zu schmieden“, versuchte Bastian beschwichtigend einzuwirken.
„Geiler Spruch“, Lena verdrehte die Augen, „wo hast Du den Kitsch schon wieder her?“
„Ist kein Kitsch. Da steckt ne Menge Leben drin. Ist von John Lennon.“
„John Lennon ist tot. Erschossen mit 40. So viel zum Thema Leben“, Lena blieb in ihrer ablehnenden Haltung unbestechlich. „Außerdem ist unsere Wohnung zu klein für drei. Verrate mir, wie wir ohne Job und Kohle mit schreiendem Blag eine größere Bude finden sollen.“
Bastian blieb zuversichtlich und sah den kommenden Nachwuchs von Beginn an als Bereicherung. „Schatz, das mit der Bachelorarbeit kriegen wir zusammen hin. Die redaktionelle Feinarbeit mache ich für Dich. Und wenn die Kleine da ist, halte ich Dir mit allem anderen den Rücken frei.“
„Basti, das ist ja süß von Dir. Aber Stillen und nachts aufstehen, wirst Du mir kaum abnehmen können“, stellte Lena achselzuckend fest. „Schließlich habe ich schon die Jobzusage. Zwei Monate nach dem ausgerechneten Termin. Diese Geburt verhagelt uns alles.“
„Und wenn Du etwas später anfängst?“, gab Bastian vorsichtig zu verstehen.
„Soll das ein Witz sein? Der Job ist fest terminiert. Eine Vollzeitstelle in der Chefetage. Wenn ich denen sage, „Nee doch lieber n halbes Jahr später“, bin ich raus. Aber diese weltlichen Zwänge kommen in Deiner kleinen, heilen Literatenwelt offenbar nicht vor“, konstatierte sie angefressen.
„Schatz ich verspreche Dir, dass Du pünktlich den Job antreten kannst und tue tags wie nachts alles dafür. Vielleicht ist es ja unser Glück, dass ich den Verlagsjob nicht mehr habe und ich dadurch flexibler geworden bin“, wirkte Bastian beruhigend auf sie ein. „Auch aus Steinen, die einem in den Weg gelegt wurden, kann man etwas Schönes bauen“, hielt er ermunternd fest.
„Ist das wieder so n kaputtes Musikerzitat aus dem „wahren“ Leben“, antwortete Annalena genervt.
„Schatz, das ist Goethe“, stellte Bastian korrigierend fest.
„Ach ja, natürlich. Der große Frauenversteher. Hat seine Mätressen geschwängert und dann fröhlich weitergeschrieben“, schoss sie zurück.
„Goethe hat monogam gelebt. Glaube, Du verwechselst ihn mit Schiller“, korrigierte er sie.
„Ooh, das tut mir leid. Habe ich die Lichtgestalt der deutschen Literatur in Deiner Gegenwart beleidigt?! Apropos: Wo viel Licht ist, ist auch Schatten. Ist das nicht auch so n Goethe’scher Phrasendrescher?“, legte Annalena einmal in Fahrt gekommen nach.
„Korrekt. Das Zitat ist sogar belegt und stammt aus dem Götz von Berlichingen“, wies Bastian zustimmend hin.
„Das andere Götz-Zitat läge mir jetzt deutlich näher“, gab Lena sarkastisch zu verstehen, „aber Du hast recht, irgendwie werden wir das schon packen.“
Nach einer turbulenten Schwangerschaft mit reichlich Aufs und Abs sollten sich die Wogen mit der Geburt von Tochter Josephine glätten. Den Vorschuss für die Kaution und die ersten Mietzahlungen der neuen Vierzimmerwohnung konnte Annalena ihrem Vater Jürgen mit reichlich Augenklimpern abringen. Bastian wirbelte im Haushalt und stand des nachts für die Babyfütterung mit der Flasche parat, so dass Annalena ihren Chefsekretärinnenposten pünktlich antreten konnte. Die Rolle des Hausmanns und Kindsversorgers war kräftezehrend und untergrub Bastians literarische Schaffenskraft.
Josephine war ein hübsches Kind. Fortan wurde sie ob ihrer Niedlichkeit nur noch Josie genannt. Ein Name, der sie bis ins Teenageralter begleiten sollte. Annalena entdeckte in ihr vieles von sich und war auf der Stelle schockverliebt. Ein Umstand, der sich durch den Reiz der neuen, beruflichen Aufgabe nach und nach relativierte. Josie war lebhaft und wusste in frühstem Alter, ihren Wünschen Nachdruck zu verleihen. Bastian war als alltägliche Bezugsperson der launenhaften Vitalität seiner Erstgeborenen gnadenlos ausgeliefert. Nach Feierabend, wenn die Pflichten der Erziehungsarbeit getan waren, fand Annalena Gelegenheit, den Rahm des Elterndaseins abzuschöpfen und ihre Rolle als bespaßende Freizeitmutter wahrzunehmen.
Bastian war berufsbedingt ein guter Beobachter. Josies ungezügeltes Temperament, die mitunter herrische Art und eine schon fast chronische Ungeduld ließen Wesenszüge aufkommen, die auch bei Annalena in kritischen Situationen zum Vorschein kamen. Von seinem ruhigen Wesen und der schöngeistigen Ader hatte sie offenbar nichts mitbekommen. Vorlesen war für Josie ein Graus. Bücher taugten allenfalls als Flugobjekte. Dafür wurden Puppen bereits im Kleinkindalter angemalt, frisiert und auf Optik getrimmt. Bastian glaubte, bei ihr Ansätze von ADHS zu entdecken. Ein Vorwurf, den die entsetzte Annalena mit den Worten „Vielleicht liegt’s an Deinem Umgang. Schau doch, bei mir ist sie ruhig.“ umgehend entkräftete. Durch die Strapazen des Nannydaseins entfremdeten sich Vater und Tochter zusehends. Für beide Seiten war das Miteinander ein Job, den es abzuwickeln galt.
Während dieser Phase fand Bastian nur gelegentlich Zeit, mit ein paar kleinen Zeitungskolumnen zum Unterhalt beizutragen. Josie saugte ihn mit ihrer Omnipräsenz nahezu aus. Jegliche Inspiration als Romanautor war zum Erliegen gekommen. Erst mit der Anmeldung in der Kita fand er wieder etwas Boden unter den Füßen. Doch zu dem Zeitpunkt war das nächste Großereignis bereits auf dem Weg. Annalena war erneut schwanger, dieses Mal durchaus gewollt. Ihr Leben funktionierte, die Wertschätzung im Job, der geregelte Haushalt und die netten Abendstunden mit ihrer Prinzessin machten einen erfüllten Wochentag aus. Auch die Wochenenden zu dritt funktionierten, zumindest so lange wie Bastians Joblosigkeit nicht zum Thema wurde.
Bastian setzte auf die Geburt seines Sohnes große Hoffnungen. Lena und Josie hatten sich zu einem Team verschworen und bildeten eine Front, die ihm nur selten Zugang gewährte. Er, mit seiner kleinen Literatenwelt im Kopf, fühlte sich ausgeschlossen, ausgegrenzt, unverstanden, unerwünscht. Sein Sprössling sollte etwas von ihm haben und so setzte sich Bastian bereits bei der Namensfindung für seine Interessen ein.
„Pelle? Bist Du wahnsinnig? Wir werden zum Gespött der Leute. Mit diesem alternativen Bullerbü-Quatsch nimmst Du dem Jungen alle Chancen, im Leben irgendetwas zu werden. Aber wem sag ich das?“, brauste Lena ungezügelt auf. „Und außerdem denke ich dabei unweigerlich an Fleischwurst.“
„‘Pelle zieht aus‘ war als Kind mein Lieblingsbuch. Außerdem ist Astrid Lindgren zeitlos und pädagogisch unumstritten“, gab sich Bastian kämpferisch.
„Bitte, Schatz, lass uns nach was Anderem suchen. Vielleicht irgendwas mit J. Dann hätten wir eine Verbindung zu Josie“, zeigte sich Lena kompromissbereit.
„Jelle klingt doch nett. Damit hast Du Dein J und ich meinen Lindgren-Bezug“, lenkte Bastian ein.
„Ist das n‘ Name. Heißt irgendjemand so?“ Lenas Widerstandskräfte gerieten nach einem langen Arbeitstag an ihre Grenzen.
„Klar. Kommt aus dem Niederländischen. Du magst doch Holland. Es gibt einen Autor, der in Köln lebt, mit dem gleichen Vornamen. Hat in Südamerika ein Kinderhilfswerk gegründet.“ Bastian spürte leichtes Oberwasser. Dass besagter Autor sich als Anhänger der Waldorf-Erziehung einen Namen gemacht hatte, ließ er unerwähnt.
„Ja. Keine Ahnung. Zumindest mal ein kleiner Fortschritt und ich hab‘ das Bild mit der Wurst aus‘m Kopf. Lass uns weiter dran arbeiten, ok?“ Annalena war offensichtlich darauf aus, das Thema zu vertagen, bevor ihr noch weiteres Terrain in Sachen alternativer Namensfindung abgerungen werden würde. Bastian fühlte sich in jenem Moment als Etappensieger und genoss im Innern das selten gewordene Gefühl des persönlichen Triumphes.
In den folgenden Wochen bis zur Geburt entwickelte Bastian eine Art Terrierverhalten und ließ seinen Namensvorschlag immer wieder mit dezenter Selbstverständlichkeit einfließen. „Fühlst Du Jelles Tritte in Mamas Bauch?“ Er wusste, wenn er Josie auf seine Seite gezogen hatte, war der Bann gebrochen.
„Mama, gefällt Dir der Name?“, kam deren postwendende Antwort.
„Eigentlich ist der Name ganz süß. Aber ich finde ihn für einen Heranwachsenden etwas zu verniedlichend. Wir brauchen einen zweiten Vornamen, mit dem man auch in der Erwachsenenwelt überleben kann. Ich finde Simon zeitlos schön“, war Annalenas salomonischer Konter.
6 Wochen nach jenem Gespräch wurde Jelle Simon geboren. Bastian hatte sich durchgesetzt und wie ein Wadenbeißer um seinen Namensvorschlag an der ersten Stelle gekämpft. Bei der Geburt platzte er vor Stolz. Während Josies Neugeborenenhaupt mit zartem, rotblondem Flaum bedeckt war, kam Jelle mit dunklen Strähnen zur Welt. Haare, die im Klein-kindalter dem Lockenkopf des Vaters nahekommen sollten. Jelle war ein stilles Kind ohne übermäßige Ansprüche an seine Umgebung, selbstzufrieden in sich ruhend. Vom Aktivitätsdrang seiner großen Schwester um Lichtjahre entfernt. Bastian hatte sein Ebenbild. Nun herrschte zu Hause Waffengleichheit. Der Familienproporz war hergestellt.
Im Kinderzimmer herrschte hingegen Krieg. Jelle, der schon als Kleinkind von Büchern fasziniert war, wurde regelmäßig zur Zielscheibe seiner Schwester, die sich einen hässlichen Spaß daraus machte, Pixibücher mit der Schere zu bearbeiten. Als Gegenreaktion wurde der Kopf von Josies Lieblingsbarbie Gegenstand einer heimtückischen Bissattacke. Bastian, der diese Konflikte zum Teil hautnah mitbekam, fühlte die Opferrolle seines Sohnes leibhaftig mit, bemühte sich jedoch um des Familienfriedens willen um Fairness und Neutralität. Jelle, dem die kindliche Grundfähigkeit des Protestweinens fehlte, saß stundenlang stumm im Schneidersitz, bis Bastian ihm den Grund seiner Apathie entlocken konnte. Josie ließ kaum eine Gelegenheit aus, ihre zum Feierabend hereinstürzende Mutter mit den neuesten Ungerechtigkeiten der Vater-Sohn-Bande zu konfrontieren. Der Stell-vertreterkrieg im Kinderzimmer wurde zum Flächenbrand und weitete sich auf die komplette Wohnung aus.
Mit Jelles Einschulung und Josies Wechsel aufs Gymnasium wurde das Konfliktpotenzial wieder beherrschbar. Beide Kinder bekamen ihr eigenes Zimmer. Bastian verlegte seine Schreibstube fortan ins Wohnzimmer. Jelle hatte sich zu einem wahren Bücherwurm entwickelt, während Josie ihre optischen Reize zu entdecken begann. Auseinandersetzungen wurden nun nur noch verbal ausgetragen. Josies spitze Bemerkungen konnte der wortgewandte Jelle problemlos ins Leere laufen lassen.
„Weißt Du eigentlich, dass zu viel Bücher lesen doof macht“, eröffnete Josie den Dialog.
„Warum? Wie kommst Du darauf?“
„Hat Opa gesagt. Schau Dir Mama an. Sie liest weniger als Papa und verdient trotzdem unser Geld. Und das finde ich klug.“
„Wenn Du meinst. Andere für sich arbeiten zu lassen und seinem Hobby nachzugehen, ist auch nicht wirklich dumm…“ Mit derartigen Diskussionen wurden Annalenas und Bastians Rollenbilder auf die nächste Generation übertragen. Während Jelle großes Interesse an der Schreibtätigkeit seines Vaters zeigte, folgte Josie den materiellen Einstellungen ihrer Mutter. Jelle war ein begabter Schüler, während Josie sich mit Tricks und Kniffen durch die Schuljahre hindurchhangelte.
Durch die zunehmende Entlastung in der Haushalts- und Erziehungsarbeit hatte sich Bastians jahrelange Schreibblockade nach und nach gelöst. Sein letzter Roman, „Der Vielflieger“, über einen erfolgreichen Geschäftsmann, der sein Zuhause vernachlässigt und geschäftlich wie privat in die Pleite stürzt, war zwar ein kommerzieller Flop, gab ihm aber immerhin ein gutes inneres Gefühl, dass es in Sachen Kreativität wieder aufwärts geht. Sein Verlagschef, Kilian Krix, ein dynamischer Business-Literat, bat ihn bezüglich eines neuen Buchprojektes um ein Gespräch.
Jostein und Krix
Der Jostein-Verlag war nunmehr seit 5 Jahren Bastians literarischer Hafen. Ein kleines, feines Verlagshaus, das dem freischaffenden Künstler keinerlei inhaltliche Vorgaben auferlegte. Bastian war mit Elan gestartet, hatte jedoch nach den ersten kommerziellen Misserfolgen zunehmenden Druck zu spüren bekommen. Jener Druck kam von allen Seiten. Annalena, die Schwiegereltern, Freunde, der Verlag und nicht zuletzt er selbst hatten die Erwartungshaltung, dass langsam etwas passieren müsse. Der Druck der Erfolgslosigkeit belastete den Schreibenden und führte in eine schier endlose, mentale Abwärtsspirale. Nun stand ein Gespräch mit Kilian Krix an, um diesen Negativtrend zu durchbrechen.
Krix war ein Ehrgeizling, der als Chef des Jostein-Verlages Misserfolg hasste wie die Pest. Und er hasste die Erfolgslosen, insbesondere die Heterosexuellen. Krix bewohnte mit seinem Partner, einem lokalen Szeneclubbesitzer, eine Vorstadtvilla mit Pool, Personal und jeder Menge Pferdestärken. Trotz seiner Lebensführung mochte er den scheuen, statuslosen Buck, dessen offenbar vorhandenes literarisches Talent nur in die richtigen Bahnen gelenkt werden musste. Nach dem Flop des „Vielfliegers“ war ein Gespräch über dessen Zukunft in beiderseitigem Interesse.
„Buck, Sie können schreiben. Das wissen wir beide. Aber Ihren Storys fehlt es an Authentizität.“
Schüchtern saß Buck vor dem großen Nussbaumschreibtisch, hinter dem der Verlagschef wie ein filmreifer Pate thronte. Krix hatte ein Faible für Goldschmuck, Designeruhren, Einstecktücher und Hochglanzsuits. Umhüllt von einer schweren Gaultier-Wolke wirkte sein Antlitz mit der graumelierten Gelfrisur, der zackigen Mensurnarbe und dem großporigen, dunklen Teint wie der klassische Gegenentwurf zu Bucks bescheidener Schreibstubenblässe.
„Noch letztens sagten Sie zu mir, ich beobachte die Leute genau und bringe es dann zu Papier. Das klingt für mich ziemlich authentisch“, warf Buck zu seiner Verteidigung ein.
„Korrekt, Buck. Sie verarbeiten Beobachtungen. Aber nicht aus erster Hand. Sie schreiben über Dinge, von denen Sie nichts verstehen, über Personen, die Sie nicht kennen. Woher wollen Sie, gerade Sie, wissen, wie ein vielfliegender Geschäftsreisender fühlt? Was wissen Sie von einsamen Hotelnächten in fremden Städten, dem Reiz anrüchiger Nachtclubs, dem Hangover nach einer harten Verhandlungsnacht mit Geschäftspartnern? Buck, wie viele Linien Koks haben Sie in Ihrem Leben konsumiert, um im entscheidenden Moment in Form zu sein? Kennen Sie das Gefühl des Triumphes nach einem Deal, der Ihr Unternehmen in neue Sphären bewegt, vielleicht sogar Ihr Leben verändert?“
Krix hielt inne, musterte den scheuen Autor, fasste ihn an die Schulter und zog ihn zu sich heran. „Buck, Sie sind das Gegenteil von alledem. Sie stehen für Misserfolg, Unsicherheit, Biederkeit, Verzagtheit. Das ist Ihre Welt. Im Scheitern sind Sie authentisch.“ Krix ließ die Hand von Bucks Schulter sinken und drehte sich um in Richtung Fenster.
„Schreiben Sie über die kleinen Leute, die ewig Träumenden, die Realitätsfernen, die Unverstandenen. Schreiben Sie über sich“, grinste Krix süffisant, „über einen erfolglosen Schriftsteller, der sich als überforderter Hausmann von seiner Frau aushalten lässt...wenn Ihnen nichts Besseres einfällt.“ Der Verlagschef strich sich eine Strähne aus der Stirn und brach in schallendes Gelächter aus.
„Ich werde über das alles nachdenken“, gab sich Buck desillusioniert.
Krix drehte sich um, setzte eine ernste Miene auf und blickte ihn wohlwollend an. „Buck, wenn ich nicht an Sie glauben würde, wäre unser Gespräch Zeitverschwendung. Sie sind einer der talentiertesten Schreiber, die ich jemals unter Vertrag hatte. Ihre Beobachtungen sind messerscharf, Ihre Bildsprache ist brillant. Aber der Leser spürt, wenn man etwas nicht fühlt.“
„Sieht man nicht manchmal als Außenstehender besser? Ist der Blick aus der Vogelperspektive nicht ehrlicher, objektiver als das Innenleben des von Subjektivität zerfressenen Protagonisten?“, warf Buck zu seiner Ehrenrettung ein. „Karl May hat nie einen Indianer gesehen und konnte Millionen von Jugendlichen mit seinen Wild-West-Geschichten begeistern.“ „Karl May? Buck, ich bitte Sie. Der ganze Winnetou-Kram konnte bei uns doch nur funktionieren, weil kein Jugendlicher wusste, was Indianer überhaupt sind und wie sie leben. Dieser sächsische Scharlatan hat uns in unserer eigenen Unwissenheit einen vom Pferd erzählt - im wahrsten Sinne des Wortes.“, presste Krix ungehalten hervor. „Nehmen Sie Hemingway. ‘Wem die Stunde schlägt‘ wurde ein Welterfolg auf Basis der authentischen Schilderungen aus dem Spanischen Bürgerkrieg. Hermann Hesse hat ‚Narziß und Goldmund‘ durch seine Erfahrungen im Kloster Maulbronn zu einem mitreißenden Werk gemacht. Kerouacs kaputtes Naturell war für den Erfolg von ‚On The Road‘ als Standardwerk der Beat-Generation unverzichtbar.“
„Und Dostojewskis Psychogramm des ‚Idioten‘ wäre ohne seine psychologischen Vorprägungen wohl weniger eindrucksvoll rübergekommen“, gab Bastian klein bei.
„Sie verstehen was ich meine, Buck.“, lächelte Krix wohlwollend. „Der Leser lässt sich nicht bescheißen. Er möchte wahre Gefühle, die ihn bestenfalls sogar an ihn selbst erinnern. Kein Secondhand-Quatsch. Auf der Bühne kannst Du den Leuten etwas vorgaukeln. Auf Papier musst Du echt sein. Buck, seien Sie echt, finden Sie etwas von sich und schreiben Sie darüber.“
Auf dem Heimweg wirkte Buck wie paralysiert. War sein ganzes literarisches Streben ein großer Irrtum? Hatte er sein überschaubares Lesepublikum über all die Jahre getäuscht? Wie viel Bastian Buck steckte wirklich in seinen Romanen? Zu Hause angekommen schnappte er sich seinen „Vielflieger“ und begann zu blättern. Er hatte sie schon immer geliebt, die Geschichten über die großen Helden, die Abenteurer, die Veränderer, die Alpha-Tiere, auch wenn sie durch tragische Umstände als gefallene Helden geendet waren. Auch sein „Vielflieger“ passte in dieses Schema. Er hielt inne. Wieviel von seinen Helden steckte in ihm selbst? Es war immer das Anderssein, das Unerreichbare, Exotische, das ihn fasziniert hatte. Das biedere Alltagsleben der Zweifler, der Unterdrückten, der Gescheiterten, der vergeblich Strebenden hat ihn schon morgens beim Blick in den Spiegel eingeholt und kam als Romanstoff nie wirklich in Frage. War das ganze Schreiben für ihn nicht mehr als eine große Selbsttherapie, ein Ablenkungsmanöver von der realen Nüchternheit des Alltags? Bastian erschauderte innerlich. Es war der Eigennutz, der ihn angetrieben hatte. Schreibtherapie gegen die Nichtigkeit. Er war sein Publikum.
Inmitten seiner Selbstreflektion fiel die Tür auf und Annalena stand im Raum. Geistesgegenwärtig stellte er die in ihm bohrende Frage. „Schatz, findest Du, dass der „Vielflieger“ nicht authentisch rüberkommt?“
„Der was?“, Annalena stand entgeistert im Raum. „Ich bin 5 Sekunden zur Tür rein und Du kommst mit deinem Bücherquatsch um die Ecke! Was weiß ich denn? Tatsache ist, dass das Ding sich nicht verkauft hat und ein weiterer Beleg dafür ist, dass Du Dir einen festen Job suchen solltest.“ Angenervt warf sie ihre Aktentasche aufs Sofa. „Ich hatte einen Scheißtag heute. Nur so nebenbei… Haben die Kinder ihre Hausaufgaben gemacht? Hast Du was Vernünftiges gekocht? Geputzt sieht es hier schon mal nicht aus“, stellte sie resignierend fest.
„Ich dachte wir gehen heute mal was essen. War im Verlag, hatte ein Gespräch mit Krix…über eine Änderung meiner Romanstrategie.“
„Hat die schmierige Tucke Dich wieder belabert?“ Annalena rollte die Augen. Sie konnte Kilian Krix auf den Tod nicht ab und hasste es, wenn er Bastian gönnerhaft von oben herab literarisch beschulmeisterte. Die Krone war, als er ihr im Rahmen der Einweihung der neuen Verlagsräume vorhielt, ihr unsensibles Alltagsverhalten würde der Kreativität seines Autors schaden. ‚Der hat gut reden. Fährt abends nach Hause und feiert mit seinen Boys lustige Poolpartys‘, war ihre seinerzeit erboste Reaktion auf dem Heimweg von der Verlagseinweihung.
„Nein, Krix hat mich auf etwas aufmerksam gemacht, das der Schlüssel zum Erfolg sein könnte“, lenkte Bastian ein.
„Weißt Du was, ich höre diese Leier jetzt zum x-ten Mal! ‚Ooh der neue Roman wird gaaanz anders als der Vorgänger. Ich habe eine zündende Idee, die ich unbedingt zu Papier bringen muss. Es fühlt sich an wie ein Erfolg‘. Bastian, bleib mir weg mit diesen Phrasen und hör auf, mich länger hinzuhalten. Das wird nichts mehr – mit Dir und dem Schreiben. Du bist Germanist, es werden massenweise Lehrer gesucht. Fang endlich an, Dir ein Standbein zu suchen, das uns weiterbringt und aus dem Sumpf dieser Mietwohnung rauszieht.“
„Krix meint, ich sollte über jemanden wie mich schreiben. Das wäre authentischer und käme beim Publikum besser an“, blieb Bastian hartnäckig.
„Na, Prost Mahlzeit. Dein Leben auf 400 Seiten? So viel Frust und Tristesse führt Deine wenigen Leser noch in die Klapse.“ Annalenas Make-Up hatte sich im Angesicht ihrer Erregung fast aufgelöst. Ihre Augen schimmerten feucht. „Weißt Du was? Mir ist es scheißegal, worüber Du als nächstes schreibst. Ich will davon nichts mehr hören. Aber eines weiß ich. Dass ich so nicht weiterleben möchte und kann.“ Augenblicklich schossen ihr die Tränen die Wangen herunter. Bastian nahm sie in den Arm. „Schatz, ich verstehe Dich ja. Aber verstehe auch mich. Ich kann meinen Traum vom Schreiben nicht so einfach aufgeben. Gib mir noch dieses eine Buch. Wenn das nicht läuft, ist danach Schluss - definitiv.“
Annalena schaute ihn hilflos an. „Wir haben mit Deiner Schreiberei so viel Zeit vergeudet. Es zieht mich runter. Ich kann kaum noch eine Buchhandlung betreten, ohne dass ich einen Kloß im Hals spüre.“ Gefasst fuhr sie fort. „Ok. Schreib noch dieses eine Buch. Meinetwegen. Aber ich will davon nichts wissen, nichts hören. Und bitte…wenn Du über Deinesgleichen schreibst, lass mich und die Kinder raus.“
„Versprochen. Ich setze mich heute noch hin und fange mit dem Entwurf an“, gab er eifrig zu verstehen.
Aufbruchstimmung
Annalena war erleichtert, fast schon beschwingt, als sie das Bad betrat. Sie spürte, wie sich die Schlinge um ihren Hals langsam löste. Das Ende des piefigen Alltagslebens war in Sicht. Sie hasste die balkonlose Mehrfamilienhausidylle. Während die Kinder ihrer Freundinnen sich im heimischen Garten austobten, zog es sie an den freien Tagen mit Picknickkorb auf die städtischen Spielplätze. Dort wo die Bäckereifachverkäuferin und die Klempnerhausfrau ihr prekäres Sozialleben schamlos vor ihren Augen ausbreiteten. Bastian würde sicher einen Job finden, der ihr die Perspektive für den sozialen Aufstieg ermöglichte. Lehrer wurden gesucht und wenn es nur Berufskolleg war. Deutsch für Ausländer war doch ein Riesenmarkt. Ihr Berater von der hiesigen Sparkasse würde ihrem Traum vom Eigenheim bei zwei geregelten Einkommen sicher nicht weiter im Wege stehen. Und wenn Paps sieht, dass Bastian einem geregelten 9-to-5-Job nachgeht, würde er ihnen finanziell sicher unter die Arme greifen.
Annalenas Gedanken schweiften in die Ferne. Wie würde es sein, das gemeinsame Leben mit Haus, Terrasse, Garten, einem standesgemäßen Auto und einem Berner Sennenhund, der sie schwanzwedelnd nach der Arbeit begrüßte? Wie würde es die Statik ihrer Beziehung zu Bastian verändern? Annalena hatte gerne das Sagen, hasste Kontrollverlust und verachtete all jene, die sich im Schatten ihres erfolgreichen Partners profilierten. Was wäre, wenn er künftig mehr verdiente als sie? Und vielleicht noch eine Führungsposition übernahm? Wer wusste schon, was so ein neuer Job mit Bastians anspruchsloser Lethargie anstellte? Vielleicht schlummerte in ihm ein Karrierist, der nur darauf wartete, geweckt zu werden? Eventuell würde er aufmüpfig, eigensinnig, stellte Forderungen? Würde sie überhaupt zu ihm aufschauen können, wenn er sich als erfolgreich entpuppte?
Annalena wurde nachdenklich. Wenn ihr eine gute Fee einen großen Sack Geld vor die Tür stellen würde und ihr Traum sich dadurch realisieren ließe, könnte alles andere so bleiben, wie es war. Dann könnte Bastian bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag erfolglos Romane schreiben und sie würde dies ohne Druck zu machen nonchalant hinnehmen. Die Angst vor Veränderungen außerhalb ihrer Einflusssphäre entpuppte sich als immer wieder aufflammendes Problem. Ihr Familienleben hatte gelitten über die Jahre. Die vertraute Zweisamkeit zwischen ihr und Bastian war nahezu eingeschlafen. Die Beziehung zu den Kindern deutlich optimierbar. Während Josie ihr kaum Luft zum Atmen ließ und sie spiegelbildlich idolisierte, blieb Jelle ihr emotional fern. Mit verschlossenen Menschen, die in sich hineinbrüteten, konnte Annalena noch nie etwas anfangen. In seiner reflektierten Introvertiertheit war Jelle klar auf Bastians Linie. Ohnehin hatte sie den Eindruck, dass Bastian seinen Sohn instrumentalisiert hat, um eine Front gegen Josie und sie aufzubauen. Mit ein bisschen mehr Geld würden sich auch diese Spannungen lösen und man könnte den Kindern etwas Gemeinsames, etwas Einendes bieten. Anstatt ihr klappriges Gefährt bis aufs letzte durch Deutschland zu quälen, eine schöne Flugreise mit Hotel, Apartment oder Finca? Griechenland, vielleicht Mallorca, statt immer nur Kühlungsborn und die Xantener Südsee.
Noch wenige Monate, dann würde Bastian seinen letzten erfolglosen Roman veröffentlichen. Der Startschuss in ein freies Leben. Annalena kräuselte die Stirn. Bastian zu kontrollieren, wenn er nicht mehr in den sicheren Gefilden der eigenen vier Wände weilte, würde ihre neue Aufgabe werden. Kein Fortschritt ohne Opfer. Bis dahin blieb ja noch etwas Zeit und vielleicht kommt die gute Fee ja doch noch um die Ecke. Beschwingt schmunzelte sie in sich hinein.
Euphorisiert schritt Bastian an seinen Schreibtisch. Wieder hatte er Zeit gewonnen. Ein paar Monate hatte er ihr abgerungen. Der Traum lebte weiter und wartete auf seine finale Erfüllung. Dank Annalenas unkontrollierter Emotionalität – die augenblicklich von erbitterter Aggression in traurige Verletzlichkeit umschlagen konnte – hatte er die Oberhand behalten. So war es schon einige Male. Immer wieder gelang es ihm, bei seiner Frau die richtigen Knöpfe zu drücken, um Aufschub für seine Romanvorhaben zu gewinnen. Dennoch spürte er, dass es enger wurde und die Zeit ihm langsam davonlief. Annalena war emotional, ja, aber sie war nicht sprunghaft und würde ihn nicht wegen eines weiteren erfolglosen Romans vor die Tür setzen. Lehrer für Deutsch? Gut, er konnte mit Kindern umgehen, zumindest so lange wie sie seinen logischen Argumentationsweisen folgten. Zwei oder drei Josies im Klassenraum und die Sache sähe anders aus. Bastians Kumpel und Ex-Kommilitone Torben, seines Zeichens Gymnasiallehrer für Deutsch und Geschichte, hatte ihn schon vor einiger Zeit auf Vakanzen in seinem Kollegium aufmerksam gemacht. Aber war es das? Die selbstbestimmte Kreativität des Schreibens gegen das sture Abarbeiten vorgefertigter Lehrpläne einzutauschen? Faktisch war er als Germanist mit Masterabschluss ohnehin überqualifiziert. Sicher, wenn eine Notlage entstünde, würde er zum Erhalt seiner Familie jedweden Job annehmen. Da wäre Lehrer sicher das Naheliegendste. Doch die prekäre Notlage, in einer geräumigen Vierzimmerwohnung sein Dasein zu fristen, existierte nur in Annalenas Kopf.
Bastians Vater war gestorben, als er 12 war. Mit seiner Mutter Eva und der jüngeren Schwester Bianca lebte er bis zum Beginn seines Studiums in einer Mietwohnung auf 58 qm. Gefehlt hatte es ihm an nichts, außer dass sie nie in Urlaub fuhren und er für seinen Führerschein jahrelang Zeitungen austragen musste. Später mit der eigenen Familie eine größere Wohnung zu beziehen, entsprach seinem Gefühl von Genügsamkeit in vollem Maße.
Bastian war kein Terrassentyp. Es schauderte ihn förmlich, wenn sein Schwiegervater selbstverliebt grinsend über das Anwesen stolzierte, die Rosenzüchtung in Form trimmte und fettige Grillwürstchen von links nach rechts drehte. Die darin schlummernde Botschaft, ‚Mein Junge, da wirst Du als armer Literat nie hinkommen‘, bohrte sich wie ein Dolch durch Bastians bescheidenes Autorenherz.
Annalena blühte im Anwesen ihrer Eltern stets auf. Sobald sie die Schwelle betrat, wurde sie augenblicklich zum Kind. An der elterlichen Kaffeetafel zeigten sich bei der dominanten Businessfrau spontane Züge von Ausgelassenheit und Infantilität.
„Papa, wenn Euch das Haus mal zu groß wird, für uns beide und die Kinder wäre es ein Traum, nicht wahr Basti?“, war der Satz, bei dem Bastian spontan an die dralle Brünette dachte, die er für Annalena auf der Studentenparty seinerzeit stehen gelassen hatte. Er liebte Lena immer noch, trotz aller Eskapaden, Marotten und gegensätzlicher Lebensplanungen. Doch ihre Impertinenz in Bezug auf seine Berufsausübung und den damit verbundenen materiellen Aufstieg blieben ein ungelöstes Problem.
Gedankenversunken saß Bastian vor seinem PC. Ein leeres Blatt lachte ihn an. Dokument 1. Er hatte weder einen Titel, noch eine Storyline, mit der er seine nächste, womöglich letzte Chance als Schriftsteller in Angriff nehmen wollte. Er konnte unmöglich über sich schreiben, so sehr ihm der Gedanke eines authentischen Persönlichkeitsprofils auch gefiel. Sein Leben gab einfach nicht genügend her, um in irgendeiner Form interessant, geschweige denn unterhaltsam rüberzukommen. Immerhin hatte er sich ein neues Pseudonym überlegt. Um in Anbetracht der erfolglosen Romanvorgänger möglichst unbelastet ins Rennen zu gehen, wechselte er den Autorennamen mit jedem Werk. Berthold Beck gefiel ihm als Name, mit dem er literarische Aufmerksamkeit erzielen könnte.
Bastian dachte an den „Vielflieger“. Eine Heldengeschichte mit tragischem Ausgang. Seine Geschichten endeten meist tragisch, von Happy End keine Spur. Und jene Helden waren Typen, die mit seinem wahren Leben und dem seines Umfeldes wenig gemein hatten. Jegliche Identifikation mit dem Leser war schon mit der ersten Seite Makulatur.
Bastian dachte nach und ließ plötzlich den Stift fallen. „Das ist es“, rief er laut, ohne zu sehen, dass Jelle mit verheulten Augen in der Tür stand.
„Papa, Josie hat meinem Nils Holgersson rosa Flügel gemalt.“ „Zeig mal her, Schatz!“ Bastian durchblätterte das Buch und auf Seite 26 saß der gute Nils mit pink angemalten Flügeln auf seiner Hausgans. Josies Terrormethoden waren mit den Jahren deutlich subtiler geworden. Hatte sie als Kleinkind noch mit Büchern um sich geworfen und ihnen als Grundschulkind Scherenschnitte verpasst, begann sie nun, Jelles Bücher gestalterisch zu „verschönern“. Wohlwollend entdeckte er in Josies Malbeitrag eine erste zarte Annäherung an die Literatur. Ihr destruktives Verhalten gegenüber Büchern hatte sich in eine eigenwillige Kreativleistung verwandelt.
„Josie, kommst Du mal bitte!“ Widerwillig betrat die schuldbewusste Tochter den Raum und blieb vor ihm stehen. „Warum hat Nils Holgersson auf Seite 26 rosa Flügel? Was hast Du Dir dabei gedacht?“ Bastian erwartete keine schlüssige Antwort, versuchte jedoch seiner Tochter zu deren Gesichtswahrung argumentativ die Tür zu öffnen. Eine originelle Antwort und sie könnte auf Strafmilderung hoffen.
„Ich finde, wenn Nils Holgersson Flügel hätte, wäre er frei und nicht auf die Gänse angewiesen“, brachte Josie als Argument hervor.
Uff! Bastian erstarrte innerlich. Er wurde Zeuge einer Premiere, der ersten positiven Auseinandersetzung seiner Tochter mit der Literatur. „Josie, Du hast Dir echt Gedanken gemacht. Das finde ich toll. Aber Du hättest Jelle fragen müssen, ob er mit Deinem Beitrag einverstanden ist. Jelle, was ist Deine Meinung zu Josies Malleistung?“
„Die Geschichte macht ohne die Gänse keinen Sinn. Wenn Nils alleine losgeflogen wäre, hätte er mit Martin niemals Freundschaft schließen können. Uns außerdem hasse ich rosa.“
Bastian war in seinem Element. „Kinder, diskutiert die Rolle der Gänse bitte unter der Fragestellung, welchen Einfluss Nils‘ Freundschaft zu der Hausgans Martin auf seine Charakterbildung hat? Wenn Ihr das getan habt, möchte ich Eure Argumente hören, und wir diskutieren das anschließend gemeinsam zu Ende. Josie, Jelle bekommt ein neues Buch von Deinem Taschengeld, da Du sein Eigentum ohne zu fragen angemalt hast! Da Du Dir aber Gedanken gemacht hast, schenkt Jelle Dir sein Exemplar mit den rosa Flügeln. Haben wir einen Deal?“ Zufrieden nickend zogen beide von dannen.
Bastian fühlte sich großartig. Er liebte den Nils. Eine Geschichte der charakterlichen Läuterung mit Happy End. Die Wendung zum Positiven war das, was seinen Romanen bislang immer gefehlt hat. Warum nicht die Dramaturgie umdrehen, als Normalo starten und als Held enden? Er dachte an sich und an Krix‘ Worte. Ein erfolgloser Schriftsteller und dessen Seelenleben zwischen Hoffnung und Enttäuschung. Niemand würde das besser, authentischer zu Papier bringen können als er selbst. In seiner eigenen Vita fehlte lediglich die Wendung zum Positiven. Warum nicht die bislang unvollendete Geschichte einfach zu Ende schreiben? Ein erfolgloser Schriftsteller landet mit seinem letzten Romanversuch einen Bestseller, wird über Nacht zum Star und beendet sein Leben in der Alltagstristesse. Bastian spürte eine wohlige Wärme in sich aufsteigen. Wortbilder schossen ihm durch den Kopf. Sein Gedankenfass strebte nach Entleerung. Im Hintergrund hörte er die Stimmen seiner Kinder und begann zu schreiben.
Gekko, Roller & Co.
„Buck, das ist es. Wir werden die Geschichte groß machen. Schicken Sie mir Ihre Entwürfe, sobald sie fertig sind. Wir schalten Werbung und machen Ihren „Bestseller“ zum Bestseller.“ Krix war gerne schnell euphorisiert, um dann im nächsten Augenblick doch wieder die Verbalkeule rauszuholen. Doch dieses Mal schien er tatsächlich überzeugt und bot seinem Autor schon vor Veröffentlichung einen Vorschuss an. Bastian, seinerseits ein gebranntes Kind in Sachen Erwartungen, hatte dankend abgelehnt. Er hielt den Ball lieber flach und grub sich mit Begeisterung und Akribie in die Ausgestaltung seines neuen Werkes. Der „Bestseller“ machte Fortschritte.
Annalena merkte Bastian eine innere Zufriedenheit an, die auch den Umgang zwischen ihnen positiv beeinflusste. „Worüber schreibst Du eigentlich jetzt? Doch nicht wirklich über Dich, oder?
„Nein, nicht wirklich. Es ist die Story über einen erfolglosen Schriftsteller, dessen Leben sich über Nacht ändert“, bemerkte Bastian geheimnisvoll.
„Also doch über Dich?!“, sinnierte Lena. „Apropos ändern. Hast Du noch mal mit Torben über den Lehrerjob gesprochen? Schatz, ich weiß, es wird eine große Veränderung für Dich sein, aber es wird uns als Familie guttun. Mach Dir keine Sorgen, wir werden Haushalt und Kinder schon gemeinsam wuppen.“
Bastian verspürte eine innere Unruhe. „Schatz, ich muss erst den Roman zu Ende bringen. Totaler Fokus ist wichtig. Es fühlt sich dieses Mal richtig gut an. Und dieses Gefühl muss ich zu Papier bringen. Wenn der Roman draußen ist, werde ich mit Torben reden. Versprochen.“
Bastian konnte auf Zeit spielen. Es würde noch Wochen dauern, bis das Manuskript vollendet war und an den Verlag zum Lektorat weitergegeben werden konnte. Dann kam erst mal der Sommerurlaub, bevor die ersten Exemplare in den Handel gingen. Erst danach wäre er bereit, mit Torben zu sprechen und seiner Zukunft eine neue Richtung zu geben. Doch zunächst hatte er zwei weitere Klippen zu überwinden, die ihm spürbares Kopfzerbrechen bereiteten.
„Schatz, denkst Du an die Einkäufe für das Essen mit meinen Eltern am Freitagabend? Und Samstag ist die Betriebsfeier mit Partnern in unserer Firma. Roller hat drauf bestanden, dass Du mitkommst“, stellte Annalena als verbale Mahnmale in den Raum.
Bastians Gute-Laune-Feeling verdunkelte sich zunehmend. Die Abendessen mit den Schwiegereltern wurden regelmäßig zum ultimativen Stresstest. Noch während der Vorspeise würde er den ersten verbalen Seitenhieb seines Schwiegervaters erwarten. ‚Naa Junge, was macht die Kunst? Ist unser Vorstadtgoethe wieder kreativ?‘ Bastian hasste diese Attacken fast ebenso sehr wie Annalenas schelmisches Grinsen, garniert mit den Worten ‚Jaa, er hat wieder eine zündende Idee. Basti, erzähl doch mal vom Deinem gescheiterten Möchtegernhelden?‘
Tom-Kha-Gai-Suppe hatte er vorbereitet, Pad Thai als Hauptgang und Klebereis mit Mango zum Nachtisch. Die Flucht nach Thailand bot eine gute Chance, den kritischen Anmerkungen seiner in der mitteleuropäischen Küche versierten Schwiegermutter halbwegs zu entgehen. Zu scharf würde es ihnen ohnehin sein und die Dominanz von Kokosmilch würde ihre auf Kartoffelstärke ausgerichteten Gourmetgaumen beleidigen. Zudem würde Gekko als erklärter Gegner fernöstlicher Kultur den ein oder anderen Giftpfeil abschießen. ‚Warum überhaupt Asien? Wo die Chinesen doch ohnehin schon überall ihre Finger im Spiel haben! Wenigstens auf dem Esstisch sollten wir uns kulturell gegen sie behaupten!‘ Bastian wusste aus Erfahrung, dass seine Verteidigungslinien bis zum Nachtisch halten mussten, bevor der Grauburgunder seine Wirkung entfaltete und Gekko in den Zustand leutseliger Entspannung überführte.
Die nächste Hürde würde am folgenden Tag in Annalenas Firma auf ihn warten. Roller, Lenas Chef und Leiter der Unternehmensgruppe, würde darauf bestehen, mit seiner attraktiven rechten Hand gemeinsam am Tisch zu sitzen und über die große weite Welt des Big-Business zu fabulieren.
Ronald Roller war ein eitler Egozentriker, dem vereinzelt unangemessene Verhältnisse zu seinen Mitarbeiterinnen nachgesagt wurden. Eine Art Womanizer-Variante von Kilian Krix. Als Geschäftsführer eines internationalen Vertriebes von Medizinprodukten war er häufig dienstlich unterwegs. Roller bildete die Vorlage zu Bastians „Vielflieger“, ein Umstand, den Annalena wenig wohlwollend mit dem offensichtlichen Minderwertigkeitskomplex ihres Ehemannes quittierte. Hier und da musste sie mit auf Dienstreise. Bastian war sich sicher, dass da nichts lief. Annalena berichtete von Gesellschaftsdamen, die er sich aufs Zimmer bestellte und den peinlichen Knutschflecken, die bei den morgendlichen Meetings unter seinem gestärkten Hemdkragen hervorlugten. Auf dem Betriebsfest würde Bastian Rede und Antwort stehen müssen, ob seine offensichtliche Erfolgslosigkeit Lenas Leistungsfähigkeit in irgendeiner Form beeinträchtigte.
Freitagabend, Punkt 18:30 Uhr. Doom Day! Bastian hatte den kompletten Nachmittag in der Küche gestanden, um sein thailändisches Drei-Gänge-Menü auf den Punkt hin zu zaubern. Annalena war verspätet nach Hause gekommen und hatte es eben noch geschafft, sich umzuziehen und ihr strahlendes Make-Up zu erneuern. Sie sah wieder großartig aus, würde ihrem stolzen Vater gefallen und ihrer komplexbeladenen Mutter ein schlechtes Gefühl vermitteln.
Es klingelte und Schwiegervater Jürgen lächelte herablassend. Bastian hatte die Kochschürze noch an, die Finger rochen nach Zitronengras und ein Stück von der überreifen Flugmango hatte sich als gelber Stempel auf seinem Fair-Trade-Polohemd verewigt.
Mit den Worten „Na, Herr Hausmann, ist alles angerichtet?“ näherte sich „Gekko“ der gedeckten Tafel. Unbewusst hatte er sich alle Mühe gegeben, dem filmischen Vorbild des legendären Wall-Street-Brokers zu entsprechen. Das gestärkte Leinenhemd und die korrekt sitzende Stromlinienfrisur in Verbindung mit seiner rechthaberischen Ader gaben eine originalgetreue Replik ab. Annalena hätte es Bastian niemals verziehen, ihren Vater trotz bester Eignung als Romanvorlage zu persiflieren.
„Hallo, Paps, hallo Mum. Ich freu mich so auf Euch. Die Woche war brutal hart.“ Annalena wies schon bei der Begrüßung auf ihre Arbeitsbelastung hin und brachte den immer noch beschürzten Bastian spontan in die Defensive.
„Aber Du hast ja Deinen treusorgenden Haus- und Ehemann, der Dir den Rücken freihält“, stichelte Gekko süffisant. ‚Man beachte die Reihenfolge ‚Haus- und Ehemann‘!‘ Bastian war hypersensitiv, was diese Spitzen anging. Offensichtlich war sein Schwiegervater wieder in Bestform. Die Verteidigungslinien mussten weiter verstärkt werden.
„Mama, schick siehst Du aus. Das Schlankere steht Dir gut.“ Annalena hatte die „Gabe“, ohne rot zu werden, haltlose Komplimente zu verteilen. Erika litt unter ihrem hageren Pferdegesicht, dem jeglicher Gewichtsverlust nicht zuträglich gewesen wäre. Ein Blick auf das pralle Hüftgold unter der transparenten Blümchenbluse verriet unmissverständlich, dass sie ihr altes Kampfgewicht zumindest gehalten hatte.
„Anna, es ist schön Euch zu sehen. Kind, Du siehst wirklich abgekämpft aus. Wir hätten auch zu uns einladen können.“ Der Mutter-Tochter-Kleinkrieg nahm langsam Fahrt auf.
„Um Gottes willen nein. Bastian hat sich so viel Mühe gegeben und ein tolles Rezept rausgesucht“, strahlte Annalena demonstrativ in die Runde.
„Was gibt’s denn?“, fragte Erika mit ehrlicher Neugier.
„Thailändisch. Tom-Kha-Gai-Suppe mit Pad Thai-Nudeln und Flugmango zum Nachtisch“, fasste Bastian grob zusammen. Kurze Stille, dann legte Erika, ihres Zeichens Gourmetköchin für klassische Gerichte, los. „Mit diesen Nudeln hast Du Dir in Bangkok mal den Magen verdorben, Jürgen. Drei Tage hast Du flach gelegen und wir mussten unsere Rundreise absagen.“
„Ich glaube, es lag an dem Leitungswasser und nicht am Essen“, fuhr Gekko ihr in die Parade. Bastian atmete durch, nachdem sein Schwiegervater Erikas Steilvorlage an sich vorbeiziehen ließ. Offensichtlich war er hungrig und wollte sich nicht die Blöße geben, den Hauptgang auszulassen.
„Bastian kann thailändisch. Er macht es extra mild und es wird Euch schmecken“, ergänzte Annalena, die spürte, dass Deeskalation angesagt war. Doch Gekko hatte sich wieder gesammelt und ließ die längst erwartete Spitze vom Stapel. „Warum eigentlich immer Asien? Erst kopieren sie unsere Technologie, dann produzieren sie billig im eigenen Land und überschwemmen unseren Markt. Jetzt übernehmen sie auch noch unsere Küche.“
Die im Stile eines Altkolonialisten geäußerte Kritik an der fernöstlichen Küche ließ Bastian mit einem wirksamen Konter auflaufen. „Sei unbesorgt, Jürgen. In unserer Küche ist fast alles Deutsch. Der Herd ist ein echter Seppelfricke. Wertarbeit aus dem Ruhrgebiet. Auch der Koch spricht Deine Sprache, wie Du weißt“, grinste er in die Runde. „Asiatisch ist nur das Rezept. Wenn es Euch zu scharf sein sollte, die Kokosmilch wird Eure Mägen wieder beruhigen.“
Annalena schnappte kurz nach Luft und lenkte die Aufmerksamkeit auf die Getränkewahl. „Wir haben einen leckeren Grauburgunder aus der Pfalz. Südliche Weinstraße. Trocken mit einem tollen Aroma von reifen Äpfeln und Mirabellen. Paps, er wird Dir schmecken. Mama, einen kleinen Schluck wegen Autofahren? Oder bleibst Du bei Sprudel?“
Erika brodelte ob der Spitze ihrer Tochter. Es war innerhalb der Familie bekannt, dass sie gerne ein bis zwei Gläser Wein über den Abend verteilt zu sich nahm und den Wagen samt angetrunkenem Beifahrer sicher nach Hause manövrieren konnte. Dementsprechend saß ihr Konter hart und präzise. „Du könntest mir einen Jasmintee kochen. Passt doch gut zur Essenauswahl.“ Frei nach dem Motto ‚Madämchen, beweg Deinen Business-Hintern in die Küche, anstatt hier die große Sommelière zu spielen‘ dirigierte sie ihre innerlich konsternierte Tochter in die Küche.
Die Küche war für Annalena „Terra incognita“. Der Ort, an dem ihre zur Schau getragene Selbstsicherheit ins Wanken geriet. Vergeblich hatte Erika ihrer heranwachsenden Tochter jahrelang versucht, die Lust und Liebe am Kochen zu vermitteln. Für Annalenas ungewürzte Nudelaufläufe und angebrannte Pfannkuchen hatte die perfekte Hausfrau nur Verachtung übrig.
„Schatz, wo hast Du den Tee hin gepackt?“, versuchte Lena ihre Orientierungslosigkeit zu überspielen. „Da wo immer. Zweite Schublade von oben. Das Päckchen Jasmintee steht ganz vorne“, warf Bastian ein, während er die leicht überwürzte Tom-Kha-Gai-Suppe in die IKEA-stylishen Porzellanterrinen füllte.
‚Fuck‘ war Annalenas erster Gedanke. Sie trank nie Tee. ‚Beutel wäre einfacher gewesen als diese dämliche Krümelei aus der Tüte. Wie viele Löffel noch mal pro Tasse? Egal, einfach nach Gefühl. Soll sie doch an nem Koffeinschock verrecken.‘ Lena war außer sich und beruhigte sich angesichts der passablen Vorspeise nur langsam.
„Holla, Bastian, was hast Du denn da an Chili reingehauen? Schaut, dem Jürgen tränen die Augen!“ Erika war bereit und gewillt die familiären Gastgeber mit weiteren Stressattacken zu überziehen.
„Das ist ein Originalrezept. Anderthalb Chilischoten sind drin. Vielleicht ist es auch der Ingwer, der Euch ein wenig scharf vorkommt“, übte sich Bastian in Sachen Verteidigung.
„Für einen Hobbykoch ganz ordentlich“, bemerkte Gekko, der sich den letzten drei Löffeln seiner Terrine zuwandte. Nach einer kurzen Stille bot sich Raum für die lang erwartete Attacke.
„Und, mein Junge, was macht die Kunst? Schreibst Du wieder über gefallene Helden?“ Gekko hatte die fremdländische Suppe unbeschadet überstanden und der Wein hatte seine mildernde Wirkung noch nicht voll entfaltet.
„Paps, er schreibt dieses Mal über erfolglose Schriftsteller, quasi über sich.“ Annalenas Groll war immer noch nicht ganz verflogen und brauchte ein Ventil.
„Das klingt nach Selbsttherapie. Dürfen wir wohl die Hoffnung haben, dass dies Dein letztes Buch sein wird?“, ätzte Gekko seinem Gastgeber entgegen.
Bastian war als Literat sprachgewandt und mit einer naturgegebenen Schlagfertigkeit gesegnet. In Anwesenheit seines dominanten Schwiegervaters kam diese Fähigkeit nur in seltenen Fällen zum Vorschein.
„Schreiben als Selbsttherapie? Jürgen, funktioniert das? Wusste nicht, dass Du da Erfahrungen hast. Erzähl uns mehr...!“ Nach einem kurzen, unangenehmen Moment der Stille legte Bastian nach. „Für mich geht es darum, möglichst authentisch zu sein und nicht in wesensfremde Rollen zu schlüpfen.“
Annalenas Unterlippe bebte. In diesem Moment war Bastian klar, dass diese Nacht eine Ungemütliche werden würde. Einmal angestachelt setzte er noch einen drauf. „Ich habe Lena in der Tat versprochen, dass dies mein letzter Roman sein wird. Es sei denn, ich finde in meinem Umfeld eine neue Heldenvorlage.“
Annalena fiel der Löffel in die leere Terrine. Es gehörte zu ihren bevorzugten Eigenschaften, nach spontaner Emotion schnell die Contenance zurückzuerlangen. Postwendend setzte sie zum Konter an. „Bastian wird übrigens Lehrer. Da kann er seine Blümchen-Erziehungsmethoden an fremden Objekten austesten“, genoss sie grinsend ihr wiedergewonnenes Oberwasser.
„Bereit für den zweiten Gang?“ Bastian ignorierte Annalenas Spitze und hoffte mit seinem Pad Thai auf beruhigte Gemüter.
„Mama, noch einen Tee? Ich hoffe, er war nicht zu stark“, schnippte Lena ihrer Mutter entgegen.
Erika spürte den Migränehammer in ihrem Kopf hochpochen.
„Nein danke, Kind. Ich bin noch versorgt“, grummelte sie beim Anblick der kalt gewordenen Aufgussplörre, während ihr leutseliger werdender Ehemann begeistert das dritte Glas Wein ansetzte.
Bastians Pad Thai war ein voller Erfolg. Sogar sein magenempfindlicher Schwiegervater unterlegte dies mit den Worten ‚Kochen kann er mindestens so gut wie schreiben. Vielleicht wäre das ja ein zweites Standbein.‘ Annalenas aufgestauter Groll wich schluckweise im Verlauf des Abends und brachte sie sogar dazu, ihrer Mutter ein Glas des leckeren Grauburgunders zu kredenzen. Von Gekko waren nach der zweiten Flasche ohnehin keine Widerstände mehr zu erwarten. Mit Bastians Flugmango war der Bann dann endgültig gebrochen und Erika erinnerte sich daran, dass der Thailand-Urlaub vor 15 Jahren – trotz Gekkos Gastritis – auch seine exotischen Reize hatte.
Abgefüllt und abgefüttert verließen Bastians Schwiegereltern kurz vor Mitternacht die Räumlichkeiten. Gekko hatte zuvor noch die Toilette geflutet und Erika gab Bastian den Standardhinweis mit, dass es schon werden würde mit dem Schreiben. Beide bedankten sich für den Abend und überließen die Gastgeber ihrem privaten Schicksal.
Nachdem die Tür ins Schloss gefallen war, baute sich Annalena vor ihm auf. „Wir müssen reden!“
„Reicht morgen früh?“, gähnte ihr Bastian entgegen.
„Nein, jetzt. Sofort!“, insistierte seine aufgebrachte Ehefrau.
„Unmöglich, wie Du Papa angegangen bist. Du hast ihn als Psychopathen hingestellt. Schämst Du Dich eigentlich nicht?“
„Ich hab ihn lediglich nach seiner Therapieerfahrung gefragt. Alles Weitere ist Deine Interpretation. Vielleicht würde ihm die ein oder andere Sitzung sogar helfen, seine Profilierungssucht auf Kosten anderer loszuwerden“, hielt Bastian den Vorwürfen entgegen.
„Ich kille Dich, wenn Du ihn in Deinem Roman in irgendeiner Form erscheinen lässt. Er ist der Grund, weshalb wir uns überhaupt noch zu viert sehen. Er ist der Grund, weshalb ich die neidzerfressene Visage meiner Mutter über mich ergehen lasse. Unmöglich die Nummer mit dem Tee. Sie lässt keine Gelegenheit aus, mich als unfähige Hausfrau vorzuführen.“ Annalenas aggressive Grundstimmung schlug langsam in Selbstmitleid um.
Bastian schmunzelte augenzwinkernd in sich hinein. „Sie wollte einen Tee, nachdem Du ihr Sprudel statt Wein angeboten hast. Und Schatz, mit der Teedosierung hättest Du Tote aufwecken können.“
„Ich weiß, ich bin eine lausige Hausfrau. Aber das ist kein Grund, das demonstrativ zum Thema zu machen.“ Annalenas Augen wurden feucht und das Kajal unter ihren Lidern löste sich langsam auf. „Und Du hättest von Dir aus betonen können, dass es Dein letzter Roman wird, anstatt mich mit dem Deutschlehrer im Regen stehen zu lassen.“
„Als ob ich Dich mit einem Deutschlehrer im Regen stehen lassen würde.“ Bastians treuer Blick in Verbindung mit einer neckischen Haarlocke über der linken Augenbraue tat sein Übriges.
„Du bist doof“, ergab sich Lena lächelnd, „und ein verdammt guter Koch. Du hast uns heute den Arsch gerettet, Schatz.“ Seufzend sank sie in seine Arme. „Lass uns schlafen gehen. Morgen Mittag in der Firma müssen wir wieder einigermaßen fit sein.“
„Ja, die Nacht wird brutal kurz. Ich gehe schon mal ins Bad.“
„Mach das. Ich wische auf dem Gästeklo eben noch Papas Pisslache weg. Wärm schon mal das Bett an!“
Bastian stellte sich schlafend. Angesäuselt robbte Annalena sich an ihn ran. „Na, ist mein kleiner Thai-Boy noch wach?“
Zielsicher langte sie unter seine Bettdecke. Bastian war ob Lenas Spitzen gegen ihn immer noch angefressen. Sich den ganzen Abend auf seine Kosten zu profilieren und dann im Nachhinein mit der billigen „Du hast aber toll gekocht-Masche“ um die Ecke zu kommen, empfand er als anmaßend. Ihn ihrem ohnehin schon kritischen Vater wiederholt als erfolglosen Schriftsteller zum Fraß vorzuwerfen, grenzte an Demütigung. Und dann noch die Sache mit dem Lehrerjob. Ihm nach Jahren des stressigen Nannydaseins Blümchen-Erziehungsmethode zu unterstellen, ging aus seiner Sicht überhaupt nicht.