Buddy Boldens Blues - Michael Ondaatje - E-Book

Buddy Boldens Blues E-Book

Michael Ondaatje

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Beschreibung

New Orleans, kurz nach 1900: Buddy Bolden, Frauenheld, Friseur und Kornettist, gilt als der Mann, der den Jazz erfunden hat. Eines Tages verschwindet er. Sein alter Freund Webb fahndet in Storyville, dem Hurenviertel von New Orleans, und holt Buddy zurück in die Canal Street, den Ort orgiastischer Musikparaden, wo Buddy spielt, bis er wahnsinnig wird.

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Seitenzahl: 179

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Das ist das Cover des Buches »Buddy Boldens Blues« von Michael Ondaatje

Über das Buch

New Orleans, kurz nach 1900: Buddy Bolden, Frauenheld, Friseur und Kornettist, gilt als der Mann, der den Jazz erfunden hat. Eines Tages verschwindet er. Sein alter Freund Webb fahndet in Storyville, dem Hurenviertel von New Orleans, und holt Buddy zurück in die Canal Street, den Ort orgiastischer Musikparaden, wo Buddy spielt, bis er wahnsinnig wird.

Michael Ondaatje

Buddy Boldens Blues

Roman

Aus dem Englischen von Adelheid Dormagen

Carl Hanser Verlag

Für Quintin und Griffin.

Für Stephen, Skyler, Tory und North.

Und in Erinnerung an John Thompson.

Buddy Bolden wurde gleich nach 1900 berühmt. Er war der erste, der harten Jazz und Blues zum Tanzen spielte. Hatte eine gute Band. Eine Band, die ausschließlich nach Gehör spielte. Später dann Armstrong, Bunk Johnson, Freddie Keppard — sie alle wußten, daß mit ihm der richtige Jazz begann. In John Robichaux’ Band konnten die Musiker Noten lesen, aber Buddy stahl Robichaux überall die Schau. Auf Umzügen liefen ihm die Leute die ganze Canal Street nach. Sah immer prima aus. Wenn er sich ein Kornett kaufte, brachte er’s auf Hochglanz, so daß es schimmerte wie das Bein einer Frau.

Louis Jones, 1909

Drei Schalldiagramme — Bilder von Delphinlauten, die von einem Gerät registriert werden, das empfindlicher ist als das menschliche Ohr. Das obere linke Schalldiagramm zeigt ein »Schreien«. Schreie sind verbreitete Gefühlsäußerungen mit vielen Schwingungen oder Tonhöhen, die gleichzeitig vokalisiert werden. Das obere rechte Schalldiagramm ist ein Pfeifen. Bemerkenswert ist die geringe Anzahl der Schwingungen, was einen »reinen« Ton ergibt — nicht einen Schrei. Die Pfiffe sind so etwas wie persönliche Kennzeichen für die Delphine, damit geben sie sich samt Standort zu erkennen. Das mittlere Schalldiagramm zeigt einen Delphin, der zwei unterschiedliche akustische Signale gleichzeitig von sich gibt. Die vertikalen Streifen bedeuten Echo-Standort-Schnalzer (durchdringende Laute mit vielen Schwingungen), und die schwarzen Buckel sind die kennzeichnenden Pfiffe. Niemand weiß, wie ein Delphin gleichzeitig Pfiffe und Echo-Standort-Schnalzer produziert.

1

***

Seine Geographie.

Fahren Sie heute im Auto daran vorbei und sehen Sie sich die Läden an der Ecke an. Die Schilder der Besitzer sind durch Markenzeichen unkenntlich geworden. Tassin’s Food Store, dem gegenüber er eine Zeitlang wohnte, umringt von DRINK COCA COLA IN BOTTLES, BARG’S oder LAURA LEE’S TAVERN, die Schilder sonnengesprenkelt, TOM MOORE, YELLOWSTONE, JAX, COCA COLA, COCA COLA, das ursprüngliche Gelb und Rot inzwischen verblaßt vor den weißen horizontalen Flächen der Holzwände. Dieses Viertel mit seinen Häusern und Läden ist etwa anderthalb Kilometer von den Straßen entfernt, die durch den Jazz verewigt wurden. Es gibt keine Lieder über die Phillips oder die First Street oder die Mount Ararat Missionary Baptist Church, neben der seine Mutter wohnte, bloß die Straßennamen, senkrecht auf die Telefonmasten geschrieben oder als Buchstaben eingelassen in die Bürgersteige, auf denen man geht. GRAVIER. Ein bißchen zu stilvoll für die fast zusammenfallenden Holzhäuser, die Schilder, die Veranden und die durchgebrochenen Treppen, auf denen jetzt niemand mehr sitzt. Weiter weg erst findet man die Rampart Street, noch weiter weg die Basin Street, noch einen Häuserblock weiter die Franklin.

Aber hier ist wenig in die Geschichte eingegangen, wenn uns auch fragmentarische Berichte überliefert sind von dem »Swamp« und der »Smoky Row«, beides berüchtigte Gegenden, wo um die hundert schwarze Prostituierte vom vorpubertären Alter an bis über siebzig zum Freiersfang die Straßen säumten. Hier trug die berühmte Hure Bricktop Jackson ein achtunddreißig Zentimeter langes Messer bei sich, und ihrem Liebhaber John Miller fehlte der linke Arm, statt dessen trug er eine Kette mit einer Eisenkugel an deren Ende — er wurde von Bricktop selbst am siebten Dezember 1861 wegen seiner »gemeinen Gewohnheiten und seiner rabiaten Art« umgebracht. Und hier wurde die »Einbeinige Duffy« (geborene Mary Rich) von ihrem Freund erstochen, der ihr dann noch den Schädel mit dem eigenen Holzbein einschlug. »Und Spieler brachten zum Glücksspiel Kokain mit.«

Die Geschichte war gemächlich hier. Es war anderswo in der Stadt, im Rotlichtviertel Storyville, wo man Geld machte und verlor — wo man schwarze Huren und Musiker aus den Vororten anheuerte und schwarze Freier ablehnte. Wo 1860 der Preis für eine halbwüchsige Jungfrau achthundert Dollar betrug, wo Dr. Miles (der später in das Alka-Seltzer-Geschäft einstieg) Abhilfe gegen Tripper anbot. Die Frauen trugen Gloria-de-Dijon-Seide und Marshall-Neil-Rosen, und die Huren verkauften »Goofer Dust« und »Bend-Over Oil«. Geld strömte herein, verteilte sich. Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts arbeiteten hier ständig zweitausend Prostituierte. Es gab mindestens siebzig Berufsspieler. Dreißig Pianisten nahmen jeweils mehrere tausend pro Woche an Trinkgeld ein. Der Prostitution und ihren Ablegern flossen wöchentlich eine Viertelmillion Dollar zu.

Tom Anderson, der »König des Viertels«, wohnte zwischen der Rampart und der Franklin Street. Jedes Jahr veröffentlichte er das Blue Book, das alle Huren in New Orleans verzeichnete. Das war der Führer durch das Vergnügungsviertel, der alphabetisch zuerst die weißen und dann die schwarzen Mädchen aufführte, von Martha Alice, wohnhaft 1200 Customhouse, bis zu Louisa Walter, 210 North Basin, und dann die Mulattinnen. Das Blue Book und ähnliche Führer vermerkten alles, und in jedes der Häuser konnte man mit Geld reingehen und blank rauskommen. Egal, wieviel Geld man bei sich hatte, mit den Extras war man hinterher alles los. Wie zum Beispiel für das Zusehen beim Austerntanz — wo eine nackte Frau allein auf einer kleinen Bühne zu Klaviermusik tanzte. Die beste war Olivia die Austerntänzerin, die sich eine rohe Auster auf die Stirn legte, sich zurückbeugte und sie, heftig vibrierend, den ganzen Körper hinuntergleiten ließ, ohne daß sie je runterfiel. Die Auster glitschte hin und her und landete schließlich unten auf dem Spann. Dann stieß sie die Auster mit dem Fuß hoch in die Luft und fing sie mit der Stirn auf und begann von vorn. Oder man konnte im Customhouse 335 (später Iberville genannt), der Straße, wo er verrückt wurde, sein Glück mit French Emmas »60-Sekunden-Plan« probieren. Wer nach der Penetration bei ihr seinen Orgasmus eine ganze Minute lang zurückhalten konnte, dem wurden die zwei Dollar Eintrittsgeld erlassen. Ab und zu ließ sie mal einen gewinnen, um andere zu ermutigen, rühmte sich aber in privatem Kreis, daß es keinen Mann gebe, den sie nicht vorher schaffte. Und so war es egal, wieviel Moneten man dabei hatte, man kam immer blank raus. Grace Hayes hatte sogar einen zahmen Waschbären dazu abgerichtet, die Taschen ihrer Freier zu plündern.

Anderson war für Bolden noch am ehesten so etwas wie ein Gönner, gab ihm Geld für die Familie und ließ ihm durch Laufboten zwei Flaschen Whisky am Tag zukommen. Links von der Canal Street gab es den Itaker-Tony, der Bolden auf der Höhe von dessen Beliebtheit ebenfalls sponserte, indem er ihm Raleigh Rye und Wein schickte. Und links von der Canal stehen immer noch die verschiedenen Häuser, in denen Bolden lebte — trostlose, ausgebleichte einstöckige Häuser, außerhalb der aufgezeichneten Geschichte. Phillips, First, Gravier, Tassin’s Food Store, Kneipen, die den ganzen Tag offen haben, die Türen aber fest zu, um Hitze und Sonnenlicht auszusperren. Fahren Sie die ganze Gegend langsam ab, und an der Kreuzung First und Liberty finden Sie ein Eckhaus mit einem Dachvorsprung über dem Holztrottoir, die Stützpfosten mit den rotweißen Spiralen der Friseure bemalt. Das ist N. Joseph’s Shaving Parlor, der Friseursalon, in dem Buddy Bolden arbeitete.

***

Er legt das dampfende Handtuch über ein Gesicht. Läßt Löcher für Mund und Nase. Bolden geht fort und spricht mit jemandem. Eine Minute heißer Meditation für den Kunden. Nach der Schule kommen die Kinder und sehen zu, wie die Männer rasiert werden. Applaudieren und pfeifen, wenn eine Rasur beendet ist. Schließen Wetten ab, wessen Gesicht unter dem Seifenschaum stecken könnte.

***

N. Joseph’s Shaving Parlor. Ein großer Raum mit Bordelltapeten, die noch aus Lulu White’s Mahogany Hall stammten. Zwei Waschbecken mit Friseurstühlen davor und an der Wand entlang mehrere alte Sessel, die irgendwer gestiftet hatte und wo Kunden oder häufiger noch einfach Besucher plaudernd und trinkend dasaßen. Es entstanden unbehagliche Pausen, wenn der Alkohol ausging, und sie tranken Cokeflaschen vom Holzständer, bis der nächste Laufbursche von Anderson oder vom Itaker-Tony auftauchte; dann ließen sie die neue Flasche kreisen, der halbrasierte Kunde und der arbeitende Bolden eingeschlossen, bis die Flasche nach ein paar Runden leer war, und Bolden sperrte die Kehle weit auf und ließ sich vollaufen, so daß er manchmal schon um die Mittagszeit betrunken war und beim Schneiden extravaganter zu Werke ging. Gute Freunde, die einen Haarschnitt brauchten oder eine Rasur, kamen immer früh, lange vor Mittag.

Am Nachmittag konnte es passieren, daß ein Zufallskunde auf dem Friseurstuhl Platz nahm und von jemandem, der nüchterner war, eingeseift wurde, doch dann drängte sich Bolden wieder herein und beteuerte lauthals seinen Anklägern gegenüber, er habe Nerven aus Stahl, worauf er aufs neue Haare schnitt oder was immer ihm in die Quere kam. Laut summend beugte er sich über sein schwitzendes Opfer und schnitt und schnitt, offerierte dem in Schräglage Dasitzenden Visionen modischen Haarstils. Er redete Männern den Schnurrbart aus, den sie zehn Jahre lang getragen hatten, und bot zugleich brandaktuellen Skandal an, der trotz all ihrer Angst Erektionen hervorrief. Mit fortschreitendem Nachmittag ließ er sich detailliert über die Geschichte dieser oder jener Verführung aus, und gewöhnlich gipfelte das Ganze in Miss Jessie Orloffs berühmter Episode in einem kanadischen Hotel während ihres letzten Urlaubs. Also erschienen Freunde zu früher Stunde, um den blutrünstigen Rasiermessern des Nachmittags auszuweichen. Punkt vier machte das Geschäft sowieso zu, und er ging schlafen.

Finanziell war es eine Tragödie, daß Schlaf Bolden völlig nüchtern machte, daß sein Geist beim Aufwachen frei wie eine leere Straße war und er beiläufig wieder zu trinken begann, wenn auch um diese Zeit nie so stark, denn abends machte er Musik. Er schlief von vier bis acht. Sein Tag fing um sieben an, wenn er die Kinder die anderthalb Kilometer zur Schule brachte und ihnen unterwegs an den Obstständen was zum Frühstücken kaufte. Eine halbe Stunde Schulweg und dann noch einmal dreißig Minuten, um mit ihnen an der Böschung zu sitzen und die Riesenmahlzeit aus Obst zu essen. Er teilte ihnen alles mit, was ihm durch den Kopf ging oder was er gehört hatte, alles, was er gerade wußte, er behandelte sie wie Erwachsene, witzelte und zog sie mit verwegenen Geschichten auf, aus denen sie den wahren Kern herauszuholen lernten. Er gab sich ihnen ganz hin auf diesem Weg, keine Barrieren, wie sie da die sauberen, leeren Straßen entlanggingen, ein Kind an jeder Seite, ihre dünnen kühlen Hände hielten je einen seiner Finger umschlossen. Mit der Zeit wußten sie besser als ihre Lehrer, wie man sich draußen auf der Straße durchschlägt, und er seinerseits erfuhr neue Gassenhauer von ihnen. Um acht kamen sie an der Schule an, und er nahm einen Bus zurück zur Canal, ging dann Richtung First, wobei er jeden auf dem Weg zum Friseursalon grüßte.

Schlafen tat er zuwenig, und trinken tat er zuviel, und viele deuteten seinen späteren Zusammenbruch als das Paradebeispiel eines Talents, das sich selbst zugrunde richtete. Dabei war sein Leben zu dieser Zeit von einer feinen und genauen Ausgewogenheit, gegliedert durch eine sorgfältige Einteilung der Stunden. Friseur, Herausgeber des Cricket, Kornettist, guter Ehemann und Vater und berüchtigter Hansdampf in allen Gassen. Nachdem er den Friseursalon aufgemacht hatte, war er meist eine Stunde lang allein im Laden, und wenn um diese Zeit Kunden kamen, waren es meist »Spinnen« mit Nachrichten für das Cricket. Alle Informationen, die er kriegte, wurden unredigiert in das Blättchen gesetzt. Dann schnitt er bis vier Uhr Haare, danach spazierte er nach Hause und schlief mit Nora bis acht, worauf beide sich beim Aufwachen liebten. Und nach dem Abendessen ging er zur Masonic Hall oder zum Globe oder wo immer sonst er gerade auftrat. Aufs Podium.

Er war der beste, lauteste und meistgeliebte Jazzmusiker seiner Zeit, aber vom Kopf her nie ein Profi. Unbekümmert darum, ob ihm die Lippen aufplatzten, brachte er enorme Töne hervor und hielt sie, konnte gleich beim ersten Ton eine Lautstärke erreichen, die das Gehör angriff. Er war besessen von der Magie der Luft, von ihren Gerüchen, die neutralisiert wurden, wenn sie in seiner Lunge kreisten, und dann in der gewünschten Tonart ausgespuckt wurden. Wie er da seitlich mit dem Mund ein Netz von Luft einholte, sie in Klänge kleidete und ihr Dauer verlieh und sich danach sehnte, sie oben am Himmel zu lassen wie Luft, die sich zu einer Wolke formt. Er konnte die Luft sehen, konnte anhand der Farbe sagen, wo im Raum sie am frischesten war.

Und so kam er, als Amateur und durch Zufall, mit der Band aufs Podium der Masonic Hall, stürzte sich in den Jazz, nahm Hürde um Hürde. Ein Rennen, bei dem er immer wieder innehielt und mit den Leuten redete. Er drängte die Band, so laut zu spielen, daß die Musik bis auf die Straße strömte, sagte: »Cornish, los, stoß mit den Händen durchs Fenster.« Bis tief in die Nacht hinein und in den blauen Morgen brannten sich die Klänge, lauter werdend, durch jedermann hindurch und wurden vergessen im Körper, verschluckt von den darauffolgenden, und Bolden und Lewis und Cornish und Mumford spielten weiter und weiter, bis ihre Luftsalven, die er ja sehen konnte, Tiere waren, die im Raum kämpften.

***

Mit größter Neugier und Zuversicht fand er alles irgend Mögliche über Nora Bass heraus, indem er sie bis tief in die Nacht über ihre Vergangenheit befragte. Ihr Körper ein System von Gefühlsregungen und Auslösern, in dem er sich verirrte. Jedes Haar, das sie in der Badewanne verlor, jedes tote Hautschüppchen, das sie in ein Handtuch rubbelte. Die Art, wie sie aus dem Häuschen geriet, wenn ihr der Dampf von einer Tasse Kaffee in die Nase stieg. Er verlor sich in den Einzelheiten, konnte Nora nicht richtig in den Blick bekommen. Und so unterstellte er sich ihrer Macht.

Bolden konnte die Dinge nicht einordnen. Was er über alle Maßen aufregend fand, war zum Beispiel, daß sie an den Sandmann glaubte, wenn sie die Kinder ins Bett brachte, was nicht einmal die Kinder taten.

Schnell unter die Decke, der Sandmann kommt schon um die Ecke.

Wo, wo zeig ihn uns.

Er ist nur schnell was trinken gegangen.

Und die Kinder stöhnten innerlich, begaben sich aber dennoch ins Bett. Drei Jahre lang eine Hure, bevor sie Bolden heiratete, hatte sie es geschafft, sich einige subtile Regeln und Zeremonien zu bewahren.

Sein eigener Verstand dagegen war hilflos gegenüber den Schlagzeilen eines jeden Augenblicks. Er stürzte sich immerzu in die Unmenge von Änderungen und ergründete sie und all die winzigen Facetten, so daß die Angst vor Gewißheiten ihn schließlich fast völlig im Griff hatte. Er mißtraute der Gewißheit in jedermann, ausgenommen Nora, denn da bildete sie das Rückgrat, und dennoch griff er immer wieder mitleidlos diese Gewißheit in ihr an, haßte sie, die sicheren Wege des Wahrscheinlichen. Zerbrach Stühle Fenster Glastüren vor Wut über ihre zuversichtlichen Antworten.

Einmal saßen sie sich am Küchentisch gegenüber. Zu seiner Rechten und zu ihrer Linken war ein Fenster. Erbost über etwas, machte er mit der rechten Hand eine ausholende Geste. Auf halber Strecke wurde ihm mitten in der Bewegung klar, daß er ein Fenster treffen würde, und er hielt inne. Für den Bruchteil einer Sekunde berührte seine Handfläche das Glas, zog sich gleichzeitig zurück. Die Fensterscheibe formte einen Stern und fiel langsam in Splittern zwei Stockwerke tief. Seine Hand war wundersamerweise nicht verletzt. Sie hatte genau wie eine Peitsche gewirkt, hatte das Ziel getroffen, ohne haftenzubleiben, war zurückgewichen vor den Konturen eines Sterns. Nora war entzückt von der Darbietung. Überrascht untersuchte er seine Finger.

***

Noras Lied

Schleppt sein Horn durch die Stadt. Schleppt sein Horn durch die Stadt.

Schleppt sein Horn durch die Stadt. Schleppt

sein Horn durch die Stadt. Schleppt sein Horn

durch schleppt sein Horn durch die Stadt.

Und dann und dann und dann und dann

schleppt er sein Horn durch die Stadt

und dann

schleppt er sein Horn nach Haus.

***

Dude Botley

Montag abends, da gab’s im Lincoln Park was zu sehen, besonders wenn die Puffmütter und die Zuhälter ihre Pferdchen mitbrachten, um Bolden spielen zu hören. Jede Puffmutter hatte Mädchen unterschiedlicher Hautfarbe. Anne Jackson führte Mulattinnen, Maud Wilson hielt Hellbraune und so weiter. Und die diversen Pferdchen alle so unterschiedlich in der Farbe. Wie’n Blumenstrauß.

Bolden spielte fast alles in B.

***

Als Nora Bass nach Hause kam, saß ein Mann auf den Stufen vor ihrem Haus. Wie aus dem Ei gepellt. Stand auf, als sie näher kam, berührte sie nicht.

Hallo Webb, komm doch rein.

Danke. Buddy ist wohl nicht da.

Sie lachte ein bißchen. Buddy! Und dann sah sie ihn spöttisch an. Schüttelte den Kopf.

Ist besser, wenn du reinkommst, Webb.

Der Alkohol brennt in seiner Kehle, als sie ihm sagt, daß Buddy weg ist, verschwunden, verlorengegangen, ich weiß nicht, Webb, aber er ist fort.

Wie lang schon?

Fünf oder sechs Monate.

Nora zieht die Vorhänge auf, und das Licht fällt über ihn, der Becher mit dem Getränk vor seinem Gesicht, zwischen ihnen, schützt ihn vor der Geschichte, und er gießt sich noch mehr hinunter.

Herrgott, warum hast du mir das nicht früher gesagt, mich nicht benachrichtigt.

Ich kenne dich nicht, Webb, Buddy kennt dich, warum hat er es dir nicht gesagt?

Du hättest es mir sagen sollen.

Du bist ein Bulle, Webb.

Er kommt nicht zurecht ganz allein, er ist verloren, mit nichts — ohne das Cricket, die Band, die Kinder.

Er hat nichts gesagt.

Er steht auf und geht zu ihr hin.

Mit wem war er zusammen?

Ich weiß es nicht.

Sag’s mir.

Er hat sie gegen das Fenster gedrückt und beugt sich ganz nah zu ihr hin, wie ein Liebhaber.

Du zitterst, Webb.

Er schafft es nicht allein, Nora, er geht vor die Hunde. Er kommt nicht zurecht ganz allein.

Warum zitterst du?

Er braucht dich, Nora, mit wem war er zuletzt zusammen?

Mit Crawley. Auch ein Kornettist. Er hat mit ihm in Shell Beach gespielt, nördlich von hier, kam nie zurück.

Einfach so?

Einfach so.

Ich könnte ihn finden. Erzähl mir von Crawley.

Sie zieht seinen Arm weg, wobei sie den Stoff seines Ärmels festhält, geht zur Tür, öffnet sie und lehnt sich daran. Sie ist eine Maske, ihre Hand liegt auf der Klinke, er merkt kaum, was sie da tut, dann geht er zur Tür, wütend über ihre Kälte.

Möchtest du, daß ich es tue?

Sie sieht ihn scharf an.

Ich werde dich nicht engagieren, Webb.

Herrgott, ich will dein Scheißgeld nicht!

Ich will dein Scheißmitleid nicht, Webb. Wenn du nach ihm suchst, dann tu’s für dich selbst, nicht für mich.

Ich mag ihn gern.

Das weiß ich, Webb.

Er ist ein großes Talent.

Schweigen von ihrer Seite, und sie hebt die Hand, weist über das kleine dunkle Wohnzimmer mit der alten Tapete und den paar Stühlen, wie ein müder Schausteller.

Das meiste Geld ging für Alkohol drauf oder wurde verschenkt.

Deine Mutter hast du auch nie gefunden, nicht?

Was …? Nein.

Trauriges Lachen auf ihrem Gesicht, als Webb an ihr vorbeigeht. Er macht einen Schritt rückwärts über die Türschwelle, die Hände in den Taschen.

Bist du jetzt mit jemand anders zusammen?

Langes Schweigen.

Nein.

Er wird zurückkommen, Nora. Als er dich heiratete, bevor ihr beide in meine Hütte in Pontchartrain gegangen seid, hat er mich angerufen, und wir haben über eine Stunde gesprochen, er braucht dich, Nora, mach dir keine Sorgen, er kommt bald zurück.

Nora zieht die Tür noch weiter zu, es bleibt nur ein schmaler Spalt für ihr Gesicht. Webb grinst aufmunternd und geht langsam rückwärts die vier Stufen hinunter zum Bürgersteig. Er hat sich die Zahl der Stufen gemerkt. Er irrt sich. Es wird noch zwei Jahre dauern, bis Bolden daheim aufkreuzt. Ihre Tür schließt sich vor ihm, und er wendet sich ab. Frühling 1905.

***

Er fuhr zur Franklin und kaufte sich Bananen. Hatte Hunger nach dem Besuch bei Nora. Webb stieg aus dem Bus, sobald er den ersten Lebensmittelladen sah, und kaufte sich sechs Bananen, dann ein Pfund Nektarinen. Tat sie in die große Tasche seines Regenmantels und ging zu Fuß Richtung Innenstadt, der Buslinie zum Lincoln Park nach. Es war erst um acht Uhr morgens herum. Er aß und beobachtete, wie die Leute in beiden Richtungen vorbeiströmten. Wer ihn sah, mußte meinen, er habe nichts zu tun. In Wahrheit versuchte er sich zwanglos in einen Geisteszustand zu versetzen, so hoch, so schwerelos, daß er, wie er hoffte, auf Hinweise stoßen würde, die mit Boldens Verschwinden zusammenhingen.

Es schien, als habe Bolden, als er nach Shell Beach aufbrach, keine Ahnung gehabt, daß er nicht zurückkommen würde. Webb nahm abrupte Handlungsweisen und spontane Gesten viel ernster als andere seiner Berufskollegen. Fand sie immer weit gefährlicher, definitiver. Auch hatte er herausgefunden, daß Bolden nie von seiner Vergangenheit gesprochen hatte. Für die Leute hier war er ein Musiker, der mit zweiundzwanzig Jahren in der Stadt aufgetaucht war. Webb kannte ihn, seit er fünfzehn war. Gut möglich, daß er seine Vergangenheit mit einer beiläufigen Geste, einer verächtlichen Geste ein zweites Mal fortwischte. Selbstmord der Landschaft. So war vielleicht der einzige Hinweis, wie Boldens Leiche zu finden war, in Webbs Gehirn. In Kindheitsgeschichten schlummernd und nun in die Zukunft geschleudert wie ein Pfeil. Eine Geschichte, die abgeschlossen werden sollte, wenn sie erwachsen waren. Was war Boldens Lieblingsgeschichte? Wessen Schreckensmoment wollte er miterleben, fragte sich Webb, als er in seine dritte Banane biß.

***

Don’t go ’way nobody

Careless love

2.19 took my babe away

Idaho

Joyce 76

Funky Butt

Take your big leg off me

Snake Rag

Alligator Hop

Pepper Rag

If you don’t like my potatoes why do you dig so deep?

All the whores like the way I ride

Make me a pallet on your floor