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Ein neuer Fall für den fränkisch-türkischen Ermittler Bülent Rambichler
Faschingsausklang in Strunzheim. Im Wirtshaus der Krapfenbergers steppt der Bär. Kommissar Bülent Rambichler mitten drin im närrischen Treiben. Fast das ganze Dorf nimmt an dem feucht fröhlichen Spektakel teil. Ausgerechnet in der schönsten Polonäse-Blankenese fällt Bülent plötzlich eine hinkende Maus um den Hals und bleibt regungslos an ihm hängen. Dabei will Bülent sich doch nur dem Rausch des Vergessens hingeben. Liebeskummer hat er nämlich wegen Astrid, seiner Assistentin. Doch daraus wird nichts: Bei der Toten handelt es sich um die Grundschullehrerin Gertrude Funseneder. Sie ist ein angesehenes Mitglied der Gemeinde. So eine ganz eine Heilige. Kirchenchormitglied, Landfrauenmatrone. Aufklärung also pronto erwünscht. Wohl oder übel beginnt Bülent Rambichler zu ermitteln ...
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Seitenzahl: 330
Veröffentlichungsjahr: 2022
Zum Buch
Faschingsausklang in Strunzheim. Im Wirtshaus der Krapfenbergers steppt der Bär. Kommissar Bülent Rambichler mitten drin im närrischen Treiben. Fast das ganze Dorf nimmt an dem feuchtfröhlichen Spektakel teil. Ausgerechnet in der schönsten Polonäse Blankenese fällt Bülent plötzlich eine hinkende Maus um den Hals und bleibt regungslos an ihm hängen. Dabei will Bülent sich doch nur dem Rausch des Vergessens hingeben. Liebeskummer hat er nämlich wegen Astrid, seiner Assistentin. Doch daraus wird nichts: Bei der Toten handelt es sich um die Grundschullehrerin Gertrude Funseneder. Sie ist ein angesehenes Mitglied der Gemeinde. So eine ganz eine Heilige. Kirchenchormitglied, Landfrauenmatrone. Aufklärung also pronto erwünscht. Wohl oder übel beginnt Bülent Rambichler zu ermitteln …
Zur Autorin
Nachdem sich Anja Bogner anhören musste: »Du kannst besser schreiben als küssen«, entschloss sie sich konsequenterweise dazu, Drehbuchautorin und Texterin zu werden. Nach Stationen in Hamburg und Nürnberg lebt sie nun mit ihrer Familie in der Nähe von München und tut das, was sie am besten kann: schreiben.
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Originalausgabe Mai 2022
Copyright © by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: semper smile, München
Umschlagmotiv: Shutterstock / The Hungry Aperture; Tiger Images; Juraj Kovac
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
SL · Herstellung: sc
ISBN 978-3-641-27113-8V001
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Love in such a way, that the person you love feels free.
(Thich Nhat Hanh)
Für Dich
Das hier ist freilich bloß ein Roman. Heißt, sämtliche Romanfiguren, Handlungen und Schauplätze sind völlig frei erfunden. Und klar gibt’s Namen, die gibt’s halt, und darum gibt’s die auch in diesem Buch. Aber das, was die Romanfiguren tun, und das, was sie sagen oder treiben, ist alles reine Erfindung. Solltest du jetzt, lieber Leser, trotzdem meinen: Allmächd, des könnt doch der Dings sein oder des Maadla von denen oder, oder, oder …? Dann hau dir selbst anerkennend auf die Schulter für deine rege Fantasie, aber denk immer daran: Nix ist wahr – alles nur ausgedacht!
»Die Liebe ist ein seltsames Spiel, sie kommt und geht von einem zum anderen, sie gibt uns alles, doch sie nimmt auch viel zu viel, die Liebe ist ein seltsames Spiel.«
Sie hasste dieses Lied. Sie hasste es, weil es wie für sie geschrieben schien. Liebe, ja, sie war seltsam, diese verdammte Liebe. Wo lag die Schönheit in ihr, wenn am Ende nur grantiger Schmerz übrig blieb. Die viel besagten Schmetterlinge im Bauch – ihr sanfter Flügelschlag, ihr zartes Kitzeln auf der Seele, ihre Liebkosungen, die von einer zauberhaften Zukunft träumen ließen. Alle fort. Abgestürzt. Tot.
Unzählige Male hatte sie zuversichtlich, ja fast schon naiv ihr Herz verschenkt und es jedes Mal ramponierter als je zuvor zurückbekommen. Viel zu lange hatte sie den Glauben an die ach so große Liebe nicht verloren. Irgendwo da draußen musste er doch sein, dieser eine Mensch, dieser Seelengefährte, dieser Mann, der sie begehrte, der ihr die Welt zu Füßen legte und der sie niemals wieder loslassen würde.
Ja, das hatte sie gedacht in ihrer Dummheit. Doch die zahlreichen Wunden auf ihrem Herzen sprachen eine andere Sprache. Sie eiterten, sie nässten, aber sie taten nicht mehr weh. Denn sie hatte aufgehört zu fühlen. In ihrer Brust zuckte nur mehr ein kalter, blutender Muskel, dessen einziger Job es war, ihr im nimmermüden Takt das Blut durch die Adern zu pumpen.
Sie war am Leben, und sie würde ihr Herz nicht mehr verschenken. An niemanden. Sie würde sich ihre Befriedigung holen und dann einfach gehen, wenn es für sie an der Zeit war. Das hatte sie sich geschworen.
Sie war zu einer berechnenden Gefühlsnomadin geworden.
Zu einer fetten schwarzen Spinne, die ihre Beute so lange umgarnte, bis diese ihr willenlos zu Füßen lag. Es war ein Spiel, ein einsames Spiel. Und sie wusste, dass sie irgendwann einen hohen Preis dafür würde zahlen müssen. Aber noch nicht jetzt. Gott verdammt, sicher nicht jetzt.
Denn nicht weit von ihr entfernt stand ihr nächstes Opfer. Seine südländische Aura zog sie magisch an. Er war schön, er war betrunken, und er war vor allem traurig. Das sah sie in seinen dunklen Augen, und das war ihr entscheidender Vorteil. Männer waren wie kleine Kinder. Ein bisschen Zuwendung, ein paar tröstende, verständnisvolle Worte, und sie wurden wachsgleich in ihren Händen. Nur noch ein kleiner Schritt, dann würde sie vor ihm stehen.
Plötzlich fing der Boden unter ihren Füßen an zu schwanken. So viel hatte sie doch gar nicht getrunken. Übelkeit stieg in ihr hoch, und sie spürte, wie kalter Schweiß sich seinen Weg ihren Rücken hinunterbahnte. Blitze durchzuckten ihren Schädel. Höllische Schmerzen. Alles tat ihr so verdammt weh. Ihr Mund, ihr wundervoller Mund – die einzige Stelle, die in ihren Augen perfekt war an ihrem sonst so gnadenlos unvollkommenen Körper –, war staubtrocken. Sie konnte kaum noch schlucken, kaum noch atmen. Sie musste an die frische Luft, musste ihre Maske fallen lassen. Sie musste … und dann wusste sie es: Sie musste sterben.
»Atemlos durch die Nacht, bis ein neuer Tag erwacht. Atemlos …«
Schon ein bisschen makaber, dass die Band dort oben auf der Bühne die illustre Faschingsgesellschaft ausgerechnet mit Helenes Kassenschlager übers Tanzparkett trieb. Schließlich hing an Bülents Brust seit Kurzem eine lebensgroße tote Maus mit Klumpfuß, und die würde garantiert keinen einzigen Schnauferer mehr tun, geschweige denn jemals mehr erwachen. »Wir sind heute ewig, tausend Glücksgefühle. Alles, was ich bin, teil ich mit dir, wir sind unzertrennlich, irgendwie unsterblich …«
Konnte denn niemand diese Hawaiihemden tragenden Musiker abstellen, die altersmäßig zwar definitiv den Schnitt der Rolling Stones übertrafen, aber von deren Coolness weit entfernt waren?
Bis dato schien noch niemand gemerkt zu haben, dass Bülent keinen engen Blues mit dieser ihm fremden Dame tanzte, die regungslos in seinen Armen lag. Im Gegenteil, viele grinsten ihm frivol zu und machten eindeutige Gesten. Kein Wunder, Strunzheimer Faschingsbälle waren dafür bekannt, dass der Promillewert jedes einzelnen Gastes weit über der Empfehlung der Weltgesundheitsbehörde lag. Eine Empfehlung für Alkohol – eh schon der Wahnsinn.
Was einem nicht alles durch den Kopf ratterte, wenn man ein totes Tier an der Gurgel hängen hatte. Bülent merkte langsam, dass ihm zum einen die Arme, aber auch der Magen schwer wurden. Die zahlreichen Cuba Libre, die er intus hatte, brachten seinen Säure-Basen-Haushalt mächtig ins Wanken. Ihm war heftig zum Speien. Was unter anderem an dem aufdringlichen Parfüm lag, das von der Toten her auf ihn einströmte. Er tippte auf Opium von Yves Saint Laurent. Für viele eine Offenbarung, für ihn ein wahrer Nasensprenger. Außerdem wurde es ihm langsam heiß unter seiner Elvis-Perücke. Es lief gerade alles andere als gut für ihn. Nicht nur dass Astrid, seine Assistentin, oder schon auch ein bisschen mehr, sich auf einem Selbstfindungsseminar mit so einem durchgeomten Yoga-Graddler befand und ihn mit all seinen diffusen Gefühlen allein gelassen hatte. Nein, jetzt hatte er doch tatsächlich im wahrsten Sinne des Wortes wieder eine Strunzheimer Leiche an der Backe. Vielleicht war das alles nur ein alkoholgeschwängerter Traum, und er würde in Kürze erwachen.
»Mensch, Rambichler, etz hauts die Weiber schon bei deim bloßen Anblick vom Stängler.«
Kein Traum. Die Stimme von Erna Walder, dem einen Teil der unsäglichen Zwillingsdragoner – Traudl, der andere Teil, grinste für ihr naives Gemüt fast schon gemein –, keifte wie immer so klar daher, dass es keinen Zweifel darüber gab, dass er in der Wirklichkeit gefangen war.
Immerhin hatte die Alte gecheckt, was Sache ist, und sorgte mit ihrer gewohnt uncharmanten Art ganz schnell für Ruhe im überladen faschingsgeschmückten Saal. Allein die Girlandenmacht, die von der Decke hing, hätte für ganz Versailles ausgereicht. Die Stille also, bis auf den ein oder anderen feuchten Rülpser aus diversen Ecken, die nun eintrat, war richtig angenehm. Faktisch hielten alle Strunzheimer mal tatsächlich ihr Mundwerk und starrten, eher beleidigt denn entsetzt, auf Bülent. Muss man auch irgendwie verstehen, hat man ihnen doch gerade eines ihrer Jahreshighlights versaut.
Das halbe Dorf stand jetzt jedenfalls in einem großen Kreis um Bülent herum. Nutten, Bauarbeiter, Cowboys, Prinzessinnen, Zauberer, Hexen, sogar ein Schwein war dabei – irgendwie hatte jeder Dorfbewohner das passende Kostüm gewählt. Das entlockte Bülent glatt einen kurzen Schmunzler. War jetzt nicht unbedingt angebracht, klar. Schließlich hatte er immer noch eine Frauenleiche vor der Brust kleben. Durfte er sich eigentlich bewegen, oder musste er warten, bis seine Kollegen von der Staatsmacht eintrafen, die ja hoffentlich irgendwer gerufen hatte?
»Dass du fei die Füß ruhig hältst, Bub. Zwecks der Spuren, verstehst?!« Vor ihm baute sich ein etwas rundlicher Napoleon auf und bedachte ihn mit strengem Blick. Dabei hatte er stilecht die Hand da, wo man sie halt hat, wenn man den französischen Kaiser mimt.
Seit Bülent denken konnte, verwandelte sich sein Vater an Fasching in den Bonaparte und größenwahnte bis Aschermittwoch durch den Landkreis. Seine Mutter Maria war da als Rotkäppchen zwar schon weitaus bescheidener unterwegs, aber mitnichten sah sie ihrem Gatten tatenlos dabei zu, wie er mal wieder den großen Zampano markierte.
Sie zog ihrem Mann unsanft ihr Körbchen über den Kopf. »Erri, ich warn dich. Du hältst dich da raus. Langt’s denn ned, dass’ dich letztes Jahr fast einkastelt haben, weilst dei Nasen manchmal höher trägst als dein Hirn?«
Unangenehm berührt tänzelte Erkan von einem Bein auf das andere und grinste etwas debil in die Runde. Für keinen Mann ist es schön, wenn er von seiner Frau eingebremst wird – und das auch noch vor Zeugen. Aber für einen Napoleon kommt das glatt einem Putschversuch gleich.
Als tatsächlich ein paar schadenfrohe Lacher aus den Reihen der Strunzheimer kamen, war’s vorbei mit Erkans Demut. Die Wut schoss ihm sichtlich in den Schädel.
»Keiner verlässt von euch den Tatort. Ihr seids nämlich alle verdächtig. Jawohl!«, brüllte der Rambichler senior jetzt wieder strotzend vor Manneskraft daher und erntete dafür den ein oder anderen Vogel:
»Mensch, Rambichler, etz spiel dich ned so auf.«
»Vielleicht hat’s ja nur einen Herzkasper g’habt, die Gertrude, oder der Schlag hat sie troffen«, widerwortete da auch schon der diesjährige wie letztjährige wie alljährige Faschingsprinz und gleichzeitige Wirt dieses ganzen fränkischen Faschingsspektakels – der alte Krapfenberger.
Rabiat an seinen Umsatz denkend, versteht sich. Wo nicht getanzt wird, wird nicht geschwitzt und folglich auch nicht gesoffen. Und das können die Krapfenbergers gar nicht leiden. Selbst als Monopolist im Strunzheimer Gaststättengewerbe muss man nämlich schon auch schaun, wo man bleibt, und darum gab der alte Wiesel jetzt auch gleich mal eine Runde »Wodka Orasche« für alle aus.
Während sich die große Mehrheit der Strunzheimer trotz dieses verlockenden Angebots klammheimlich vom Acker machte, stolperten die verbliebenen Freibiergesichter dem Wirt hinterher und hinunter in die Bar, die sich im Keller befand. Ein schwarzlichtgetränkter Albtraum, der nur mit viel Fusel zu ertragen war, und den gab es da unten reichlich. Selbst Maria ließ sich von Erkan dazu bewegen, sich gen Tränke zu bewegen.
Auch die Musik nahm wieder Fahrt auf, nachdem der alte Krapfenberger der Band unmissverständlich klargemacht hat, dass sie fürs Nixtun nicht bezahlt werden. Fröhlich schmetterten sie aus gegebenem Anlass den sinnigen Gassenhauer So a saudummer Tag vom Wecker Konstantin von der Bühne, und langsam kam wieder Leben in die Bude. Man durfte einfach alles nicht so eng sehen. Zumal die Sache mit den Leichen im Ort ja jetzt fast schon zur Normalität gehörte. Der ein oder andere klopfte Bülent beim Vorübergehen aufmunternd auf die Schulter, und das ein oder andere Flittchen zwickte ihn schamlos ins Gesäß. Bülent bereute es, o ja, er bereute es so sehr, dass er sich von seinem Kumpel, dem Geiger Franz, hat überreden lassen, nach jahrzehntelanger Abstinenz hier wieder den Faschingskehraus zu feiern.
Zwecks der guten alten Zeiten, und weil ihm das angeblich den Liebeskummer mit der Astrid aus dem Hirn blasen würde. Als ob er Liebeskummer hätte. Schade war es halt, dass sie einfach so weggefahren ist, wo sich doch alles scheinbar so gut angelassen hatte zwischen ihnen beiden. Immerhin erlaubte er ihr jetzt schon Räucherstäbchen im Büro, was ein wahres Sandelholz- und Weihrauchinferno nach sich zog, und unterließ es, über Veganer im Allgemeinen und auch im Besonderen herzuziehen.
Aber angeblich reichte ihr das nicht. Sie fühlte sich von ihm nicht gesehen und verstanden. Himmelherrgott, er war doch nicht blind, freilich sah er sie, und wie. Verstehen, das war was anderes, wer verstand schon die Frauen? Jedes Mal bekam Astrid einen Hysterischen, wenn er sich ein Bratwurst-Weckla gönnte. Angeblich, weil das bewies, dass seine Gefühle für sie doch nicht stark genug seien. Die Bratwurst als Ausdruck von Zuneigung oder nicht Zuneigung. Was für ein schmaler Grat.
Er hatte es ja versucht mit den Tofu-Krachern, aber selbst in viel Senf versenkt schmeckten die einfach nicht. Da fehlte halt dieses gewisse tierische Gschmacki. Wenn er immer solch einen Aufstand machen würde, wenn sie ihre ökologisch einwandfreien Energiekugeln statt einer guten, ehrlichen Kinderschokolade isst, dann wäre aber was los.
Er war einfach wesentlich toleranter und friedlicher als sie. Hatte er ihr auch gesagt.
Daraufhin hat sie Urlaub eingereicht und ist abgehauen. Zwecks dem nötigen Abstand, hat sie gemeint, und um mal Altes loszulassen, körperlich wie seelisch, schon klar. Und dafür musste sie dann gemeinsam mit so einem durchtrainierten Yoga-Wichtel nach Österreich auf den Berg, wo es dann nix zu essen gab, zwecks dem neumodischen Gedetoxe, aber dafür reichlich massiert und philosophiert wurde. Wo war denn da der Abstand?
Bülent wollte sich jetzt gar nicht weiter reinsteigern. Er war ja schließlich souverän nicht eifersüchtig. Nein, überhaupt nicht. Außerdem hatte er ganz andere Probleme.
Wo zum Teufel war nur Franz abgeblieben? Wahrscheinlich zog sich der alte Dampfer wieder einmal gepflegt einen Dübel durch die Lunge und schwebte auf irgendwelchen Marihuanawolken dahin. Seit er nicht mehr soff, war Franz fast schon inflationär gut gelaunt. Grad zum Kotzen.
»Na, Rambichler, geht dir langsam die Luft aus. Schaust aus wie ein Schluck Wasser in der Kurven.«
Eh klar, dass sich die Walder-Zwillinge als Einzige nicht vom Fleck bewegt hatten. Sie waren auch als Einzige nicht kostümiert. Was wohl daran lag, dass sie mit ihren violett gefärbten, klein gelockten Haaren sowieso schon daherkamen wie zwei Zwergpudel auf der Pirsch. Immerhin, das musste Bülent ihnen lassen, für über achtzig waren sie noch gut in Schuss. Also nicht optisch, sondern rein hirnmäßig. Nicht umsonst waren sie im ganzen Dorf gefürchtet. Ihr Mundwerk schoss präziser als die Waffe von John Wayne, und sie hörten die Nachtigall furzen, bevor die überhaupt wusste, dass sie Blähungen hatte. Ihre listigen Äuglein waren überall und ruhten jetzt auf ihm.
»Was mich jetzt schon mal interessieren würde. Wer ist denn das überhaupt?« Bülent nickte gen Brocken, der ihm da im Ausschnitt hing.
Erna deutete mit spitzen Fingern auf die Leiche.
»Des ist die Funseneder Gertrude, die Grundschullehrerin, die …« Weiter kam sie nicht.
»Die alte Schlampen, die einhaxige«, fiel Traudl ungewohnt heftig ihrer Schwester ins Wort.
Sie erntete dafür einen Fußtritt. »Geh, Traudl, halt dei Goschn, so redet man nicht über Tote, und für ihren kaputten Haxen kann’s ja nix«, zischte Erna ihre Schwester an.
»Ist doch wahr. Des bigotte Luder, des bigotte. Vorn herum hat’s einen auf heilig gemacht, und hintenrum hats einem jeden schöne Augen und noch einiges mehr hindreht. Pfui Teifi, sag ich da nur.« Die Walderin zog sich einen Lungenhering aus den Tiefen ihres Körpers und spuckte ihn doch tatsächlich der Funsenederin vor die schlaffen Füße. Der zähe Auswurf verfehlte nur knapp Bülents edle Wildlederschleicher.
»Sag mal, tickst du noch ganz richtig?« Bülent funkelte Traudl wütend an.
Die verschränkte die Arme vor der Brust und funkelte ebenso bockig zurück.
»Geh, Traudl-Haserl, komm mit, wir rauchen was zur Beruhigung. Du redest dich sonst noch um Kopf und Kragen.«
Da war er ja, der Franz – oder gerade heute eher stilecht der Bob Marley. Schelmisch grinsend stand er da und nahm Traudl beschwichtigend in den Arm. Die schmiegte sich sofort wie ein ralliges Kätzchen an ihn dran. »Mei, wenn ich dich nicht hätt, Dampfer«, gurrte sie.
»Ihr dürft aber keinesfalls den Saal verlassen, die Spusi ist gleich da«, meldete sich der Napoleon mit seinem Rotkäppchen im Schlepptau zu Wort. Das jetzt irgendwie ganz schön in den Seilen hing. »Ich hab mit deinem Chef, dem Köhl, geredet. Der hat gleich g’sagt, dass du den Fall übernehmen sollst, Bub. Weilst hier so eine gute Aufklärungsdings, ähm, Schtatistik hast. Ein feiner Kerl ist des schon.«
Erkan strahlte Bülent fast schon glückselig an. Das war genau das, was sein stolzes fränkisch-türkisches Vaterherz zum Jubilieren brachte. Sein Sohn, dem er das Leben geschenkt hatte, ein erfolgreicher Kriminaler, und endlich wurde das auch von allen so gesehen.
»Vadder, es ist doch noch gar nicht klar, wie die Frau da umgekommen ist. Es kann auch ein natürlicher Tod gewesen sein«, raunte Bülent seinem Erzeuger zu.
Maria wankte an die Seite ihres Sohnes. Ihr Atem roch nach Schnaps, nach viel Schnaps. Sie schnappte sich Bülents Ohr und hielt sich daran mehr oder weniger fest.
»Tut mir leid, Bubsi, äh, Bubi. Ich wollt’s ihm ja ausdingsen, aber du kennst ja deinen Vadder. Sein Wille geschehe.« Sie kicherte angeschickert.
»Amen«, dachte Bülent und senkte resigniert seinen Blick, nur um ihn Sekunden später panisch wieder zu heben. Denn niemand anderes als der bayrische Ministerpräsident söderte auf ihn zu, umschloss ihn samt der Leiche fest mit seinen Pranken und rotzte ihm an den Hals.
»Hey, hör auf damit. Wer sind Sie überhaupt?« Bülent versuchte vergeblich, den Typen von sich zu schieben.
»Wie, du erkennst unseren König nicht? Den heiligen Markus, Schöpfer des Himmels und der Erde?« Franz grinste, während Traudl neben ihm vernehmlich die Luft einsog und krebsrot anlief.
»Depp, wer das unter der Maske ist, will ich wissen.« Bülent war nicht zum Scherzen aufgelegt.
»Des ist der Urschlecht, unser Schulleiter und Kirchenchorleiter. Der war der Funseneder ihr Chef und vielleicht noch a bissl was mehr«, kam es wie immer wenig diplomatisch aus Ernas Mund gepoltert.
»Genau, der bin ich.« Söder alias Urschlecht zog sich die Maske vom pudelgelockten Schädel und sah darunter aus wie Roberto Blanco in Bianco. »Aber wider alle Gerüchte verband mich mit der Gertrude, also mit der Frau Funseneder, ein rein berufliches Verhältnis.«
Er schoss einen giftigen Blick auf die Walderin ab, weil die sich natürlich einen zweifelnden Schnauper nicht verkneifen konnte.
»Und wo kommen Sie jetzt her?«
Urschlecht sah Bülent auf diese Frage hin beleidigt an. »Na, aus der Bar. Ich mach da unten wie jedes Jahr die Musik.«
Jetzt war es an Franz zu lachen. »Sag bloß, Bülent, du kennst unseren Udo Jürgens aus Strunzheim nicht? Der war angeblich schon bei DSDS und hat sich mit dem Bohlen angelegt, weil der sein offensichtliches Talent nicht erkannt hat.«
Erna meckerte amüsiert. So etwas gefiel ihr.
Nur Traudl nahm ein wenig Abstand vom Dampfer. »Irgendwann kommt der Hartmut schon noch groß raus. Gell, Hartmut?«, zwitscherte sie etwas zu glockenhell.
Da litt jemand definitiv unter zu viel erotischem Überdruck, diagnostizierte Bülent im Stillen und beschloss, darauf ein Auge zu haben. Schließlich war Eifersucht das Mordmotiv schlechthin. Also, wenn es denn wirklich schon wieder ein Mord war. Hoffen tat er freilich etwas anderes. Er konnte sich auch irgendwie nicht vorstellen, dass Traudl, dieses verstrahlte Schaf – ein bisschen erinnerte er sie immer an Rose aus Golden Girls –, überhaupt zu so einer grausigen Tat fähig wäre. Aber wer weiß, vielleicht hatte Erna ja die Drecksarbeit für sie übernommen. Was tut man nicht alles aus geschwisterlicher Fürsorge heraus.
Ein kräftiger Räusperer unterbrach seine Gedanken. Der Urschlecht hielt ihm eine zerknitterte Visitenkarte vor die Nase, eine grafische Absonderlichkeit, auf der in grellen Farben der Künstlername »Soundhardy« prangte. Oha, ein Alleinunterhalter also – da passt ja das Landesvati-Kostüm wie Arsch auf Eimer, dachte Bülent und nahm die Karte umständlich an sich. Dabei allerdings verlor die Frau in seinen Armen nun gänzlich die Contenance und rutschte ihm direkt vor die Füße. Da lag sie nun, ein graues, trauriges Häuflein Mensch – mausetot.
»Mei o mei o mei, was für eine Sauerei.« Erna stand angewidert vor der Leiche und hielt sich ein nicht mehr ganz taufrisches Stofftaschentuch vor die Nase. Das graue Fell der toten Maus zeigte definitiv Spuren einer unsachgemäßen Entsorgung von diversen Speiseresten. Da würde sich die Spurensicherung freuen. Es ging aber auch alles so schnell.
Kaum lag die Leiche etwas derangiert auf dem Boden, wurde es der Maria ganz anders, und sie erbrach sich wenig ladylike auf die Funsenederin.
Danach sank sie erschöpft zu Boden. Jetzt schlief sie, friedlich schnarchend, den Kopf auf Napoleons Schoß gebettet. Der, wider seine sonstige Natur, einfach mal gar keinen Laut mehr von sich gab.
Der Urschlecht wiederum hatte die Gunst der wahnsinnigen Stunde genutzt und kurzerhand das Zepter auf der Bühne übernommen. Jetzt jodelte er, sich selbst am Keyboard begleitend, ein gepflegtes In the Gettho von Elvis heraus. Traudl stand wie ein Groupie allein vor der Bühne, und es hätte wohl nicht viel gefehlt und ihr BH wäre geflogen. Also, wenn sie denn einen getragen hätte.
»Bülent, wärs ned g’scheit, du sicherst endlich den Tatort, bevor noch jemand über die Leich fleddert?« Bob Marley, also der Franz, hatte sich einen Stuhl herangezogen und sich wie ein Museumswärter neben der Leiche positioniert. Abwartend sah er seinen Freund an, der noch immer wie paralysiert auf die Tote starrte.
Erna nickte zustimmend. »Genau, des machen’s im Fernsehen auch immer so. Des musst du doch wissen, Rambichler, oder schaust du keinen Tatort?«
Schweigen.
»Des gibt’s doch ned. Jedes Mal des gleiche Theater mit dem.« Erna schüttelte erbost den Kopf.
»Also ich geh jetzt in mein Bett, damit ich des armselige Schauspiel nemmer mit anschaun muss. Und wehe, einer wagt es, mich aufzuhalten!«
Wagte keiner. Wollte auch keiner.
Die Walderin schritt wie ein Feldmarschall über das Parkett, packte ihren widerborstenden Zwilling und zerrte ihn gen Ausgang.
Dabei hatte der Soundhardy gerade so schön das Ave Maria gezeiserlt. Völlig irre war das schon wieder alles.
»Sag mir, Franz«, Bülent wandte sich langsam seinem Freund zu, »warum?!« Seine Stimme klang glatt ein wenig weinerlich.
Franz verdrehte die Augen und zuckte mit den Schultern. »Warum. Warum. Keine Ahnung. Du bist Kriminaler, da fällt einem halt mal die ein oder andere Leich vor die Füß. Da derfst jetzt auch ned immer so viel nei interpretieren.« Er zündete sich den Joint an, den er in der Hand hielt, und tat einen tiefen, befriedigenden Zug.
Danach hielt er Bülent das Kraut hin.
»Spinnst du, Dampfer, der ist im Dienst.« Wie von der Tarantel gestochen sprang Erkan auf.
Leider vergaß er dabei die Frau auf seinem Schoß, was nicht ganz so gut ankam, da ihr Schädel mal kurzerhand unsanft das Parkett touchierte.
»Sag mal, Erri, geht’s dir noch recht sauber nei?«
Maria setzte sich auf und rieb sich den schmerzenden Kopf. Dann fiel ihr Blick auf die Tote.
»Sag amal, Bub, magst des ned amal a bisserl absichern, des machen’s fei beim Tatort auch immer so.«
Der irre Schrei, der daraufhin aus Bülents Mund gellte, brachte immerhin den singenden Söder auf der Bühne zum Schweigen. Was die Hawaiihemd-Fraktion, die gelangweilt in der Ecke hing, wohlwollend zur Kenntnis nahm. Schnell streckten sie ihre eingerosteten Gräten und machten sich daran, schleunigst ihr Equipment einzusammeln. War eh schon nach zwölf, und da war an Faschingsdienstag bekanntlich Schluss mit dem närrischen Treiben. Also zumindest in der Theorie.
Praktisch dümpelte der Krapfenberger Ball immer bis in die frühen Morgenstunden dahin, was zur Folge hatte, dass so mancher Strunzheimer noch voll berauscht am Aschermittwoch in der Kirche einlief, um das obligatorische Aschenkreuz in Empfang zu nehmen.
Der Rest der Mannschaft lag bis Donnerstag komatös bei den Krapfenbergers unter den Bartischen, während zu Hause die diversen Ehepartner oder sonstige Familienmitglieder Amok liefen.
Da hagelte es Vermisstenmeldungen bei der Polizei, und nicht selten wurde reichlich überambitioniert mit einem Scheidungsanwalt Kontakt aufgenommen.
Spätestens am Freitag war dann alles wieder wie immer, und man hangelte sich durchs Jahr bis zum nächsten Faschingsdebakel.
Grad schön. Jetzt aber war definitiv erst einmal Schluss. Selbst Maria schaffte es, Erkan dazu zu bewegen, nach Hause zu gehen. Sie konnte ihm glaubhaft versichern, dass sie sich in ihrem kurzen Rotkäppchenkostüm noch die Miez verdrillern würde, wenn sie jetzt nicht endlich in ihren warmen Flanellpyjama steigen konnte. Und was so eine Blasenentzündung für das obligatorische sonntägliche Holdrio – freilich immer nach Batic und Leitmayr – bedeuten würde, das müsste sie ja jetzt auch nicht lang und breit erklären.
Nein, wenn es nach Bülents Ohren ging, musste seine Mutter überhaupt nichts. Er war demnach gottfroh, als seine Erzeuger das Weite suchten. Schlussendlich war er mit Franz und der Leiche allein im Saal. Herrlich, diese Totenstille.
»Sichern wir halt im Gottes Namen den Tatort. Franz, hilf mir mal.«
Der Geiger zog die Augenbrauen hoch, ersparte sich aber zu Bülents Erleichterung einen dummen Kommentar. Gemeinsam zogen sie ein paar Stühle im Kreis um die Tote und verbanden diese, in Ermangelung eines polizeilichen Absperrbands – wo sollte das auch herkommen – mit Luftschlangen und Girlanden.
Kaum waren sie fertig und genossen die ersten Züge eines Dübels, wurde die Eingangstür aufgerissen. Ein weiß umanteltes blondes Wesen mit strengem Dutt, schwarzer Designer-Nerdbrille und Zwölf-Zentimeter-Hacken an den Fersen sprengte herein. Sie sah aus wie die gestrenge Assistentin Gottes.
Bülent und Franz sahen sich durch den Marihuananebel an. Hatten sie eine Erscheinung?
»Guten Tag, ich bin Frau Dr. Senftchen, die Vertretung von Gerichtsmediziner Fröstl«, lispelte sie dermaßen zackig daher, dass Franz gleich mal ganz grenzdebil dreinglotzte.
»Sie haben aber lange gebraucht.« Bülent konnte es sich nicht verkneifen, ihr gleich mal den Pfeffer aus dem Hintern zu pusten. Da war ihm fast der Fröstl mit seinem ewig frohsinnigen Gegockel noch lieber als diese Braut. Leider hatte dieser einen Burn-out, nachdem ihn seine Frau mit den fünf Kindern hat sitzen lassen, als sie von seinen zahlreichen außerehelichen Doktorspielchen erfahren hatte.
Karriere, Kinder und Koitus – es geht sich halt leider nicht immer aus.
Die Hackenlady musterte Bülent mit hochgezogenen Augenbrauen von oben bis unten. »Wer sind Sie denn, wenn Sie nicht gerade den bekifften Elvis mimen?«
Sollte das jetzt lustig sein?
Offensichtlich nicht, sie verzog nämlich keine Miene. Hübsch war sie schon, aber so was von unterkühlt. Kein Wunder, dass die mit Leichen arbeitete, bei so einer Eislady blieben die garantiert länger frisch.
Bülent reichte ihr die Hand, die sie tunlichst ignorierte.
»Hauptkommissar Bülent Rambichler, mir ist die Tote quasi in die Arme gefallen.« Wieder dieses Spiel mit den Augenbrauen.
»Und wer ist er?« Sie nickte zu Franz, der immer noch dastand wie ein Bus mit Standlicht.
»Das ist mein Freund.«
» … und Assistent Franz Geiger«, fiel Franz ihm schnell ins Wort. Jetzt war es an Bülent, die Augenbrauen hochzuziehen.
Frau Dr. Senftchen begutachtete die zugegebenermaßen etwas abstrakte Tatortabsicherung. »Alles klar, da scheine ich es ja mit echten Profis zu tun zu haben.«
Das Lispeln war schon niedlich, aber der Rest? Gefährlich.
»Lassen Sie mich jetzt bitte mal mit der Leiche allein. Ich habe es nicht gerne, wenn mir jemand bei der Arbeit über die Schulter schaut. Aber bitte halten Sie sich zu meiner Verfügung.« Sie kniete sich hinunter zur Toten, ohne die beiden Männer noch irgendeines Blickes zu würdigen.
Bülent schnappte nach Luft. Wie redete diese Person denn mit ihm. Halten Sie sich zu meiner Verfügung. Geht’s noch? Die sprang mit ihm um, als wäre er ein Verdächtiger. Im Grunde war er doch auch ein Opfer. Ein Opfer der Umstände.
Er setzte an, um etwas zu sagen.
»Ist noch was, Herr Rambichler?«
Die Frage schoss ihm wie eine Pistolenkugel um die Lauscher. Er atmete einmal tief durch. Einundzwanzig, zweiundzwanzig, jetzt bloß nicht explodieren.
Bemüht ruhig antwortete er: »Die Sauerei da auf der Leiche, die können Sie einfach ignorieren. Da ist nur ein kleines Malheur passiert.«
Puh, freundlich sein, wenn man nicht will, kann ganz schön anstrengend sein.
Jetzt wandte sich Senftchen doch zu ihm um und blitzte ihn aus stahlblauen Augen so kühl an, dass es ihn gleich am ganzen Körper fröstelte.
»Das lassen Sie schön meine Sorge sein, was ich ignoriere oder nicht, Herr Hauptkommissar.«
Sie betonte seinen Dienstgrad so dermaßen scharf, dass er schon kapierte, dass sie ihn nicht für voll nahm. Frauen, langsam hatte er echt die Schnauze voll von ihnen.
»Auwehzwick, des ist aber eine ganz eine Scharfe. Halleluja, die hat Zunder.« Franz stupste Bülent fröhlich grinsend in die Seite, und es war klar, dem Geiger hat es grad den Schalter rausgedreht. Klarer Fall von schockverliebt.
»Hören Sie«, wagte Bülent erneut einen Versuch, »es tut wirklich nichts zur Sache. Das ist im Grunde eine rein private Sauerei.«
Jetzt war doch glatt so etwas wie Verwunderung in ihrem Gesicht abzulesen.
»Seine Mutter hat draufgespien, weil sie einen rechten Rausch im Gesicht gehabt hat«, beeilte sich der Geiger, dieser feige Überläufer, schnell in den Ring zu werfen.
Bülent hätte ihn am liebsten erwürgt.
»Aha, das sind mir ja schöne Verhältnisse hier. Aber gut, ich werde es berücksichtigen. Wenn ich jetzt bitte meine Arbeit machen könnte.«
»Eh klar.« Eifrig zog Franz an Bülents Arm. »Komm schon, lassen wir die Frau Doktor in Ruhe. Die weiß schon, was sie tut.«
»Danke, Herr Geiger. Wenigstens einer hier, der mir halbwegs vernünftig erscheint.« Zack, ein letzter Seitenhieb, dann ließ sie die Scharniere ihres Arztkoffers aufspringen. Gespräch Ende.
»Die spinnt doch.« Bülent konnte sich immer noch nicht beruhigen. Er hatte sich mit Franz in der Bar verschanzt, wo er angewidert an einem lauwarmen Fürst von Metternich halbtrocken zuzelte. Das Gebräu grenzte an Körperverletzung, war aber das Getränk der Stunde. Es war einfach nichts anderes mehr da.
»Ich bin total leer gesoffen«, versicherte ihm Sybille, die Barmieze, die schon zu Bülents Sturm-und-Drang-Zeiten den Laden hier unten geschmissen hat.
Manches änderte sich nie. Auch optisch nicht. Sybille sah aus wie vor zwanzig Jahren. Allerweil ein bisschen durchgenudelt halt. Selbst ihrem hautengen Leopardenflitscherl-Body, der nicht so ganz mit den schwarzen Bedienungshatschen harmonisierte, die optisch immer ein wenig wie Forrest-Gump-Gedächtnisstützen daherkamen, war sie treu geblieben.
Ein bisschen Beständigkeit im Wahnsinn des Wandels. Auch an der Bar selbst hatte sich nichts verändert. Never change a running system, dachte sich da wohl der alte Krapfenberger. Ein kackbrauner Tresen, überall Spiegel mit haufenweisen Macken und diverse kuschlige Ecken, aus deren roten, zerschlissenen Polstern der jahrzehntelange Duft der Unzucht hervorwaberte. Bülent wurde es fast ein wenig warm ums Herz. Hier unten war er sicher – hier unten war er daheim.
»Mensch, Bülent, was haben wir hier immer für einen Spaß gehabt.« Auch Franz schien in Erinnerungen zu schwelgen.
»Also, wenn’s euch nix ausmacht, geh ich etz heim«, unterbrach Sibylle ihre Reise in die Vergangenheit. »Der Erwin kommt heut von seiner Fahrt nach Italien heim, und wenn ich ned da bin, kollabiert er mir wieder.«
Was so viel hieß, wie dass der Watschnbaum umfiel. Das wussten Bülent und Franz genau. Das war nämlich auch schon immer so.
»Wann haust den Saubärn endlich zum Teufel, Sybille? Du hast doch echt was Besseres verdient als dieses Arschloch.« Franz legte seine Hand auf Sybilles Arm.
»Ach, Geiger, meinst, das weiß ich ned. Ich bin etz 35 Jahre mit dem Dreckbären zusammen, da geht man nicht so einfach. Die Abzweigung hab ich leider verpasst. Aber er ist auch schon ruhiger geworden seit seinem Herzinfarkt.« Sie tätschelte die Hand von Franz. »Macht’s euch um mich keine Sorgen. Unkraut vergeht nicht, des steht immer wieder auf.« Sie lächelte müde. »Servus, ihr zwei. Macht’s bitte das Licht aus, wenn ihr geht, und nehmt’s mir bitte den Dieter-Bohlen-Verschnitt mit.«
Sie nickte hinüber zum Urschlecht alias Soundhardy, der, wenig titanengleich, schlafend über seinem Keyboard hing. Das Teil ähnelte mit seinen blinkenden Lichtern eher der Kommandozentrale eines Spaceshuttles denn einem Musikinstrument und rumorte völlig selbstständig vor sich hin. Die Glocken von Rom, Dingdongong.
»Bei dem Gewimmer bekommst ja einen Hörsturz.« Franz stand auf und tatschte auf die diversen Knöpfe. Endlich fand er den richtigen, und eine angenehme Stille breitete sich im Raum aus. »Sodala.« Er klopfte Bülent aufmunternd auf die Schulter. »Jetzt wird gearbeitet. So ein Mordfall löst sich schließlich nicht von allein.«
Bülent stöhnte. »Ich hör immer Mord. Kann doch sein, dass die eines ganz natürlichen Todes gestorben ist. Das soll nämlich schon auch mal vorkommen.« Bülent glaubte sich selbst klar kein Wort, aber die Hoffnung starb ja bekanntlich zuletzt.
»Wer ist tot?«
Wo kam das jetzt her? Seit wann konnten Tische sprechen beziehungsweise lallen?
Der Geiger und Bülent sahen sich entgeistert an und beobachteten fasziniert, wie sich nun unter einem Tisch ein etwas übergewichtiger, leicht zerzauster Bernhardiner hervorpresste. So ähnlich musste wohl auch ein Geburtsvorgang vonstattengehen.
Nach quälend langen Minuten voll Ächzen und Stöhnen stand er endlich wankend vor ihnen, der Hund.
»Also, wer ist tot?«, hauchte das Vieh und stank dabei so dermaßen aus dem Mund, dass man meinen konnte, er hätte Gülle gegurgelt. Abwartend sah das abstrakte Ding Bülent und Franz an.
»Der Bremsi! Ja, sag mal, wer hat dich denn da unten vergessen?« Franz lachte. »Kennst ihn noch, den Bremsi, unseren alten Zahlenverdreher?«
Klar kannte Bülent den Direktor der Strunzheimer Sparkasse Fidelius Bremsnagel. Der gehörte ja zu so was wie der höheren Gesellschaft im Dorf, auch wenn jeder wusste, dass er zeit seines Lebens gehörig unter dem Scheffel seiner Mutter Genoveva gestanden hatte. Nur einmal hatte er sich ihr widersetzt, als er wie aus dem Nichts aus Nürnberg eine russische Granate namens Oxana dahergeschleppt hatte und sie ehelichte. Das schlug im wahrsten Sinne des Wortes wie eine Bombe im Dorf ein, aber auch in der Bremsnagelschen Hütte. Man munkelte, dass Genoveva bis heute diesen Schock nicht verdaut hatte und nimmermüde über ihre optisch phänomenal aufgemaschelte Schwiegertochter herzog. Nur zu ihrer siebenjährigen Enkeltochter Alenka Walburga, die freilich von ihr nur Walli genannt wurde, war sie sanft wie ein Lamm und verwöhnte sie nach Strich und Faden.
»Jetzt sagt ihm halt schon, dass es die Gertrude erwischt hat«, fuhrwerkte der Soundhardy urplötzlich rein ins Geschehen. Zeitgleich drückte er ein neues Knöpfchen, und Nicole besang das bisschen Frieden, das es schon lange nicht mehr gab.
»Ja scheiße.« Der Bernhardiner hatte jetzt glatt ein wenig an Gesichtsfarbe eingebüßt. Er nahm einen tiefen Schluck aus dem kleinen Holzfass, das vor seiner Brust hing, dann sank er zu Boden und krabbelte wortlos und mit starrem Blick zurück in die Höhle, aus der er vor Kurzem erst gekrochen war. Dort kauerte er sich wimmernd ins letzte Eck und ward nicht mehr ansprechbar.
»Des ist jetzt aber schon komisch, oder?« Franz sah Bülent abwartend an. »Schaut ja fast so aus, als ob der zwecks der Funsenederin einen rechten Blues schieben würde. Des ist doch schon mal ein erster Anhaltspunkt.«
Bülent winkte müde ab. Ihm ging dieser Aktionismus von seinem Kumpel jetzt schon auch ein wenig auf den Nerv.
»Der ist besoffen, Franz. Wahrscheinlich hat er Stress gehabt mit seiner russischen Beckenbodengranate und ist deswegen ein bisschen nah am Wasser gebaut. War schon immer ein rechtes Weichei, der Bremsi.«
Bülent gähnte. »Eigentlich möcht ich jetzt gern in mein Bett und nichts mehr hören von dem ganzen Schmarrn hier.«
Franz schüttelte erbost den Kopf. »Mann, Rambichler, wann wird dir eigentlich endlich klar, was für einen Beruf du hast?«
Bülent starrte schweigend auf seinen Metternich.
»Ich weiß doch, dass dir die Astrid fehlt, aber ich helf dir, versprochen, des kriegen wir zwei schon hin.«
Bülent haute wütend mit der flachen Hand auf den Tresen. »Mir fehlt sie nicht. Meinetwegen kann sie bleiben, wo der Pfeffer wächst, und ihr Suppen aus Klangschalen löffeln. Ist mir alles wurscht.«
Schon drang ein tiefer Klangschalen-Gong aus den Boxen. Der Soundhardy hatte es echt drauf.
»Depp«, frotzelte Bülent.
Franz verdrehte die Augen.
»O mei, Rambichler, sei halt nicht immer gar so ein Jammerlappen. Wenn’s dir nicht fehlen würde, müsstest du dich auch gar nicht so aufmandeln. Aber wurscht. Du hast einen Fall zu lösen, und des hat jetzt Vorrang vor allem anderen. Da kannst dir keine Gefühlsduseleien leisten. Da musst hoch konzentriert rangehen und Augen und Ohren offen halten.«
Bülent schnaubte entnervt. »Noch ist es kein Fall, und wegen mir kannst gerne du meine Arbeit machen. Am besten nimmst den Gerichtsdragoner da oben gleich dazu. Ihr versteht euch ja eh blendend«, frotzelte er Franz mitten rein in seine nüchterne Visage.
»Du kennst dich echt ned aus mit Frauen«, erwiderte der Geiger ruhig. »Die da oben, des ist ein echtes Brett. Eine glatte Zehn. Die tut nur so hart. Aber ich schwör dir, in ihrem Inneren schnurrt die wie ein kleines, flauschiges Katzerl.«
»RAMBICHLER! Herkommen!!«, tönte es just in diesem Moment mal so gar nicht flauschig von oben.
Katzerl – alles klar!
Eiskalt und dickflüssig – genau das brauchte er jetzt. Bülent hatte sich vor wenigen Minuten, nach gerade mal fünf grindigen Stunden Schlaf, aus dem Bett geschält, weil er so einen Brand in der Kehle verspürte, dass es gar nicht mehr wahr war. Sein Kopf hing ihm schwer auf den Schultern, und die Zunge pappte wie Papier an seinem trockenen Gaumen. Er hatte einen Mordskater. Im Grunde war das eine ganze Katerclique, die da durch sein Hirn fuhrwerkte. Und da half eben, wie schon seit Jahrzehnten, nur ein echter, schokotriefender Kaba. Der Löffel blieb fast in der Tasse stecken, so viel Pulver hatte Bülent in seinen riesigen Humpen mit Batman-Logo reingeschaufelt. 3,8 frostige vollfette Milch drauf, und yeah – der erste Schluck schon eine wahre Wohltat.
Er fühlte sich gleich ein bisschen besser. Essen konnte er noch nichts, auch wenn das Frühstücksbüfett, das vor ihm stand, nur allzu verlockend aussah. Er musste an seine Jugend denken, anders war es da auch nie gewesen. Jedes Wochenende hing er in den Seilen. Weil es halt bei der katholischen Landjugend auch immer einen Grund zum Feiern gegeben hatte. Zeiten ändern sich, aber manchmal bleibt auch alles, wie es war. Also fast.
Weil, früher wäre ihm seine Mutter garantiert nicht so grün im Gesicht zusammengekauert gegenübergesessen. Maria machte sich nämlich eigentlich nicht viel aus Alkohol. Macht weder innen noch außen schön, lautete ihre klare Meinung dazu, und damit war das Thema für sie erledigt.
Diesmal allerdings schien sie ein wenig auf Abwege gekommen zu sein. Stöhnend saß sie da und hielt sich einen nassen Waschlappen ins Gesicht.
Äußerst befremdlich wirkte das auf ihn. Aber sie war ja alt genug. Auch wenn er sich schon ein bisschen Sorgen machte. So derangiert hatte er seine Mutter nämlich noch nie gesehen. Doch er konnte sich nicht um alles kümmern. Jetzt, wo auch noch fast zweifelsfrei feststand, dass die Funsenederin tatsächlich eines unnatürlichen Todes gestorben war.
Bülent hatte sich bis dato vehement geweigert, von Mord zu sprechen, geschweige denn daran zu denken. Jedoch muss laut der Maggie Thatcher aus der Gerichtsmedizin Gift im Spiel gewesen sein.
Nach dieser, für ihn höllenartigen Bekanntmachung hatte er sich mit Franz ein paar Willis genehmigt. Aber nachdem der Alkohol verschmähte, hat Bülent die Willis vom Franz eben mitgetrunken.