Bulle und Finn - Orlando Stein - E-Book

Bulle und Finn E-Book

Orlando Stein

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Beschreibung

Oberkommissar Hanno Peters, 30, offen schwuler Musterbulle beim LKA Berlin in der Abteilung Organisierte Kriminalität, hat genug von der Brutalität der Branche. Er kündigt, möchte Omas Frühstückshotel an der Ostsee übernehmen und sich endlich seiner Vergangenheit stellen. Er gibt sich die Schuld am Segelunfall seines jüngeren Bruders Phillip, zehn Jahre zuvor. Hanno muss seinen Nachfolger, sexy Luis, einarbeiten und wird auch noch in seinem letzte Fall zum Aufpasser des bedrohten Teens Finn bestimmt. Der gleicht seinem verunglückten Bruder Phillip nicht nur äußerlich, und Hanno schwört sich, dass ihn nie wieder ein Jugendlicher an der Nase herumführt. Doch er hat die Rechnung ohne Finn gemacht. Und ohne Luis.

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Seitenzahl: 379

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Orlando Stein

Bulle & Finn

Impressum

© dead soft verlag, Mettingen 2024

http://www.deadsoft.de

© the author

Cover: Irene Repp

http://www.daylinart.webnode.com

Bildrechte:

Khorzhevska – stock.adobe.com

New Africa – stock.adobe.com

AlexGo – stock.adobe.com

Lakkot – stock.adobe.com

1. Auflage

ISBN 978-3-96089-703-3

ISBN 978-3-96089-704 0 (ebook)

Inhalt:

Oberkommissar Hanno Peters, 30, offen schwuler Musterbulle beim LKA Berlin in der Abteilung Organisierte Kriminalität, hat genug von der Brutalität der Branche. Er kündigt, möchte Omas Frühstückshotel an der Ostsee übernehmen und sich endlich seiner Vergangenheit stellen. Er gibt sich die Schuld am Segelunfall seines jüngeren Bruders Phillip, zehn Jahre zuvor.

Hanno muss seinen Nachfolger, sexy Luis, einarbeiten und wird auch noch in seinem letzte Fall zum Aufpasser des bedrohten Teens Finn bestimmt. Der gleicht seinem verunglückten Bruder Phillip nicht nur äußerlich, und Hanno schwört sich, dass ihn nie wieder ein Jugendlicher an der Nase herumführt.

Prolog

Berlin, Tankstelle Skalitzer Straße;

Sonntag, 1:45 Uhr

Tom Seifert blickt durch das Panzerglas des Nachtschalters und stutzt. Draußen steht Burak an den hell erleuchteten Zapfsäulen und winkt. Er trägt eine große Plastiktüte in der Hand. Tom lächelt und bedeutet seinem Freund, dass er die Vordertür öffnet.

Er verlässt den Tresen, geht zur Tür und drückt auf den Öffner. Die Scheiben gleiten auseinander.

„Sehnsucht?“, fragt Tom.

Burak grinst frech.

Tom umarmt ihn. „Semir löst mich gleich ab.“

„Ich weiß.“

„Dann komm doch solange mit rein.“

Die beiden stehen mitten im Eingang, sodass die Türen nicht schließen.

Burak hält eine Plastiktüte auf. „Sieh mal! Mit besten Grüßen von meinem Vater.“

Tom blickt in die Tüte voller Obst und Gemüse. Tomaten, Zucchini, Kartoffeln, überreife Avocados, leicht gebräunte Bananen, Trauben und Äpfel. Die Lebensmittel hatten allesamt kleine Schönheitsfehler oder Dellen, sodass Buraks Vater sie im Gemüseladen nicht mehr verkaufen konnte. Die Leute wollen stets picobello Ware. Dabei war das Gemüse noch Eins a.

Noch während sich Tom über das Geschenk freut, hört er ein dumpfes Geräusch und die Tüte fällt zu Boden. Burak stöhnt, schwankt und sackt zusammen.

Tom fängt ihn auf. „Verdammte Scheiße! Burak? Was ist mit dir?“

Burak antwortet nicht. Er ist bewusstlos. Tom bring ihn in die stabile Seitenlage, springt auf, um den Rettungsdienst zu rufen, doch da blickt er in die Augen dieses muskulösen Typen. Ganz in Schwarz gekleidet wie ein Ninja. Hose, T-Shirt, Basecap. Eine Sturmhaube, wie sie Polizei und Militär verwenden, verdeckt das Gesicht bis auf Augen und Mund.

Toms starrt auf die Maschinenpistole mit Schalldämpfer, und seine Gedanken überschlagen sich.

Sie werden mich umlegen. Und dann Finn.

Tom bewegt sich vorsichtig mit erhobenen Händen rückwärts zum Tresen. „He, ganz ruhig. Ich gebe dir das Geld.“

Tom weiß, dass es nicht um Geld geht. Seine Gedanken gelten dem Alarmknopf unter der Ladentheke.

„Die Dokumente“, knurrt der Schütze. „Alle. Auch die vom Penner. Kapiert?“

„Dokumente?“

„Du weißt genau, welche.“ Der Schütze feuert zur Warnung eine Salve in die Neonröhren an der Decke. Sie erlöschen und Glassplitter fallen herab.

Tom duckt sich, schafft es zum Tresen und drückt den Alarmknopf. Ein ohrenbetäubender Lärm bricht aus.

Zur gleichen Zeit fährt ein Tankkunde vor.

Der Typ wird hektisch und feuert auf Tom.

Kapitel 1 - Hanno

„Okay“, gesteht Milan. „Berlin wird überbewertet.“

„Sag ich doch.“ Mein Blick fällt übers Geländer der großzügigen Dachterrasse auf die Kastanie im Hof und die Brandmauer dahinter. Schöneberg bei Nacht.

Es ist Sonntag, zwei Uhr morgens und tropisch warm. Eine Hitzewelle hält die Hauptstadt seit Tagen fest im Griff. Klimakrise, Jetstream, was weiß ich. Irgendwo dröhnt ein Martinshorn und entfernt sich. Sonst ist es ruhig am Viktoria-Luise-Platz.

„Gegenüber hat mal Billy Wilder gewohnt“, sagt Milan in die Stille. Ich mag seinen tschechischen Akzent. Den kriegt er nicht raus. Oder will es nicht, weil er charmant klingt. Ein Windlicht setzt sein hübsches Gesicht dramatisch in Szene. So von unten herauf.

Ich stutze. „Wer zum Teufel ist Billy Wilder?“

Milan verdreht die Augen. „Einer der bekanntesten Hollywood Regisseure, du Hlupak.“

„Und was hat er dann in Berlin gemacht?“

„Da war er noch Journalist, glaub ich. Früher konntest du alles machen, wenn du kreativ warst. Da brauchtest du keine Filmhochschule, oder so.“

Milan war mal Hardcore-Model und produziert jetzt selbst Gay-Pornos. Wir kennen uns, seit ich in Berlin arbeite. Er hatte sich mit üblen Leuten angelegt, die sein schönes Gesicht filetieren wollten und ich hab ihn da im wahrsten Sinn des Wortes herausgeboxt. Inzwischen ist er mein bester Freund. Wir teilen uns die schicke Dachwohnung mit der Glasfront zum Hinterhof. Die hat sich Milan hart erarbeitet.

Er schwenkt seine Cocktailschale mit dem Hemingway Special, dem Daiquiri Klassiker. Rum, Limettensaft und Zuckersirup. Milan mixt ihn mit zerstoßenem Eis und Basilikumblättern.

Er reicht mir den Joint. „Alle sagen Berlin ist sexy.“

Ich ziehe daran und blase den Rauch aus. „Berlin ist so sexy wie ein Bestattungsinstitut. Ende, Aus, Mickymaus.“

Milan kichert. Das Gras macht sich bemerkbar.

„Bestattungsinstitute und Sexbranche zählen zu den wenigen krisensicheren Geschäftszweigen“, behauptet er.

„Polizei hast du vergessen“, sage ich.

Wir sind schon bei der zweiten Runde Daiquiri auf nüchternen Magen und die Zucker-Alkohol-Mischung steigt uns mit dem Gras allmählich zu Kopf.

Keiner von uns beiden konnte bei dieser Schwüle schlafen. Wir trafen uns in der Küche, Milan kam auf die geniale Idee einer Cocktailparty for two, und wir verzogen uns nur in Boxershorts nach draußen. Doch unter freiem Himmel rührt sich auch kein Lüftchen. Die Nacht erinnert mich an meinen letzten Urlaub in der Ägäis. Da war auch so eine Scheiß-Hitzewelle und der Abendwind so heiß wie ein Föhn.

Wir schweigen und ich denke an Zuhause. An den kleinen Ort, die frische Brise von der Ostsee und die Stille am nächtlichen Strand.

„Warum bist du dann von Kiel vor fünf Jahren ausgerechnet nach Berlin gekommen?“

„Weil ich dachte, die Hauptstadt sei sexy.“

Wir prusten und gackern laut.

„Ruhe da oben!“, ruft jemand über den Hof.

Wir beruhigen uns.

Milan guckt mich an und seufzt. „Ich kann immer noch nicht glauben, dass du gekündigt hast.“

„Hab ich aber. Noch vier Wochen, dann geht’s heim an die See.“ Ich grinse und wir stoßen an.

„Ich freu mich für dich, Hanno. Wirklich. Obwohl ich dich sehr vermissen werde.“

„Komm doch mit. Zumindest für ein paar Wochen im Jahr.“

Milan gluckst. „Ich könnte dort einen Milchbauernkalender machen. Schwule und Frauen stehen auf Naturburschen.“

Ich schmunzle. „Warum nicht? Sexy Jungs findest du auch da. Es gibt nicht nur Milchbauern, sondern auch die Offiziersschule der Marine.“

Milan grinst. „Au ja! Marine und Matrosen sind sehr lukrativ in der Szene. Hast du Kontakte?“

„Milan! Männer interessieren mich gerade einen Scheiß. Ich bin froh, wenn ich diesen ganzen Müll hier erst mal hinter mir hab.“

Milan guckt mich an wie die Polizei-Psychiaterin, nur dass er es viel besser drauf hat als die. Weil er die Menschen und ihre geheimsten Sehnsüchte kennt.

„Ich mache mir allergrößte Sorgen, Hanno. Du suchst nach der großen Liebe!“

„Du nicht?“

„Sex ist mein Business. Du möchtest ja auch nicht 24 Stunden arbeiten.“

Wieder lachen wir.

„Ruhe, verdammt. Sonst ruf ich die Polizei!“

„Polizei ist schon da!“, antworte ich.

Milan lächelt spitzbübisch. Und das mit seinen 30 Jahren. „Liebe“, sinniert er lasziv, „das ist was für die Ewigkeit. Sex ist eine Illusion, die ständig neues Futter braucht. Liebe und Sex zusammen, das ist der Jackpot.“

„Und den suchen doch alle.“

Wir stoßen wieder an. Sind uns einig.

Milans Filme sind keine Hose-runter-und-druff-Streifen, sondern sinnliche, romantische Geschichten, die neben dem ganzen Hardcore-Geficke einschlagen wie Bomben. Er kennt die Szene und weiß, was angesagt ist.

Ich betrachte seine rasierten nackten Beine, die lässig über der Armlehne des Balkonsessels baumeln, seine aalglatte Brust und die akkurate Frisur. Milan ist makellos schön. Selbst um diese Uhrzeit. Keine Ahnung, wie er das schafft. Ich fühle mich für einen Augenblick tatsächlich wie ein Milchbauer mit Gummistiefeln.

Ein Surren unterbricht unser Gespräch. Mein Smartphone. Es liegt auf dem Tisch in der dunklen Küche hinter uns. Ich drehe mich um. Das Handy wirft sein Licht an die Decke.

„Hört sich nach einem Einsatz an“, sagt Milan.

Ich blase die Backen auf. „Geh du ran und sage, ich bin krank.“

Die Blaulichter von Polizei und Rettungsdienst tauchen die Kreuzberger Tankstelle in gespenstisches Licht. Jedes Mal, wenn ich sie sehe, springt Phillips tödlicher Segelunfall mit der Einhand-Jolle aus meiner Erinnerung, wie der Kasper aus der Kiste.

Phil war mein jüngerer Bruder. Über zehn Jahre ist es nun her, doch dieses Bild hat sich in mich eingebrannt. Und das Gefühl, nicht richtig auf ihn aufgepasst zu haben.

Da war ich noch auf der Polizeihochschule.

Es war eine saublöde Idee, Bulle zu werden. Zu spät zu kommen ist mein Schicksal. Als Bruder, als Mensch und als Bulle. Wenn du an einen Tatort kommst, ist es immer zu spät, ich meine, zumindest für das Opfer.

Ich denke an Milan. Der verpasst mit seinen Filmen den Leuten ein gutes Gefühl, den Glauben, dass es so was wie Liebe, Romantik und geilen Sex noch gibt und, dass das alles aufregend ist. Und er verdient eine Menge Geld damit.

So sieht eine gelungene Karriere aus!

Als Bulle hast du die Arschkarte. Du befindest dich auf der dunklen Seite des Mondes und blickst in Abgründe, die du gar nicht sehen willst. Ich jedenfalls nicht. Nicht mehr. Ende. Aus. Mickymaus.

Ich stelle den BMW am Rand der Skalitzer Straße in der Nähe des Görlitzer Bahnhofs ab und steige aus dem klimatisierten Fahrzeug. Die heiße Julinacht empfängt mich wie ein Faustschlag. Dazu kommt der Alkohol in meinem Blut. Über mir rattert die Hochbahn der U1. Am Wochenende fährt sie die Nacht durch.

Kaum aus dem Wagen treibt mir die schwüle und aufgeheizte Stadt den Schweiß wieder aus allen Poren. T-Shirt und Jeans kleben an mir.

Das hier ist definitiv mein letzter Fall. Hat lange gedauert, bis ich kapierte, dass mich die Arbeit gegen die organisierte Kriminalität auffrisst. Sie ist unbesiegbar. Hebst du ein Nest aus, baut irgendwer schon das nächste. Eine Sisyphosarbeit. Mein Traum, dass ich die Welt auch nur ein bisschen verbessern könnte, ist schon lange geplatzt. Ich betreibe lediglich Schadensbegrenzung.

Nach ein paar Sitzungen mit der Polizeipsychologin stand die Alternative vor meinen Augen. Omas idyllisches Frühstückshotel mit Seeblick an der dänischen Grenze. Strandrose. Da geh ich bald morgens entspannt an der Förde joggen und decke hinterher die Tische für die Gäste. Es läuft schöne Musik, aus dem Garten schwebt der Wildrosenduft in die Küche und vermischt sich mit dem des frisch aufgebrühten Kaffees. So fängt dort der Tag an, nicht mit Hanno, gib Gas, sieht nach einer Hinrichtung aus.

Organisierte Kriminalität gibt es in der Strandrose nicht. Okay, ein bisschen Schwarzgeld, vielleicht. Das weiß ich. Schließlich bin ich da aufgewachsen.

Am offenen Rettungswagen steht Luis Sandmann. Unser rothaariger Frischling. Ziemlich ehrgeizig, der Junge und ziemlich sexy. Finde ich zumindest. Rothaarig mit Sommersprossen und grünen Augen. Ein Klassiker. Da krieg ich Herzklopfen und romantische Gefühle. Keine Ahnung warum. Ich bin schon so oft auf romantische Gefühle hereingefallen, dass sie mir inzwischen schlechte Laune bereiten. Armer Luis.

Nach der Hochschule war Luis ein Jahr bei der Bereitschaftspolizei, dann bei der Wirtschaftskriminalität und jetzt schließlich hier. Dass sie so einen jungen Kommissar gleich zu uns stecken, wundert mich. Offensichtlich hat er was drauf, denn Luis soll mein Nachfolger werden und ich ihn einarbeiten.

Als er vor zwei Wochen zu uns kam, hab ich gesagt: „Ich bin Hanno und ich bin schwul. Wenn du ein Problem damit hast, kannst du gleich mal anfangen, dran zu arbeiten.“

„Ist mir doch egal, mit wem du schläfst“, hat er drauf geantwortet und schnell weggeguckt. So ganz egal war es ihm scheinbar doch nicht.

Nach zwei Wochen Schreibtischarbeit ist heute unser erster gemeinsamer Einsatz und ich bin gespannt.

Luis spricht mit einem Mann, der eingesunken auf der Schwelle des Rettungswagens sitzt.

Daneben lehnt Luis’ Mountainbike. Der Helm baumelt an der Stange. Strampelt der doch glatt zum Tatort.

Ich meine, für nen kühlen Luftzug haben schlaue Menschen doch Klimaanlagen in Autos erfunden.

Luis entdeckt mich, verabschiedet sich und kommt mit einem Starlächeln samt seinem Rad zu mir.

„Hey, Hanno. Guten Morgen.“

Luis’ Haare, sonst ein perfekt gestylter Undercut mit lockigem Haupthaar à la Milan kleben an der Stirn. Ich erkenne noch den Abdruck vom Helm. Sein T-Shirt ist verschwitzt, doch irgendwie riecht er trotzdem gut. Nach Himbeere und etwas, das ich nicht benennen kann. Ein echter Red-Hot, der Kerl, sportlich und nicht so überkandidelt schön. Sympathisches Gesicht, volle Lippen. Ein Mann von nebenan. Mein Typ und ich befürchte, genau das ist das Problem zwischen uns.

„Bisschen früh, um aufzustehen, wie? Siehst verdammt übel aus, Hanno.“

„Moin, Luis. Konnte bei der Hitze kein Auge zumachen.“

„Ich auch nicht. Schwüle Nächte machen mich immer so …“ Er bricht ab.

„Was?“, frage ich.

„Nicht wichtig.“

„Nun sag schon! Das interessiert mich jetzt.“

„Solche Nächte machen mich irgendwie … wuschig.“ Luis grinst entschuldigend. „Dich nicht?“

In seiner Stimme liegt dieses unverwechselbare Berliner Timbre, ein angenehmer Singsang, der neckisch klingt, ja okay, auch sexy und anregend auf die zwischenmenschliche Kommunikation wirkt. Sagt Milan. Der muss es ja wissen, als geschäftstüchtiger Romantiker.

„Nee. Echt nicht.“ Ich räuspere mich. „Schönes Bike.“

„Das ist kein Bike.“

„Sondern?“

„Ein Cannondale.“

„Aha. Und worin liegt der Unterschied?“

„Das ist die Marke der amerikanischen Profis, weißte. Gemacht, um im Dreck zu spielen. High-end-Material. Alles klar?“ Luis haut mir auf die Schulter, als seien wir die besten Kumpels und lacht.

Ich betrachte ihn wie einen Irren. „Als ich zum letzten Mal freiwillig im Dreck gespielt habe, weißte, da war ich zehn oder so.“ Ich gehe los.

Luis holt mich ein und schiebt sein High-End-Material zwischen uns her.

Ich weiß auch nicht, warum er mir seinen Hormonspiegel anvertraut. Auf meiner Stirn steht bestimmt nicht: Hey, mit mir kannst du über alles reden. Schließlich komme ich aus dem letzten Winkel von Schleswig und wechsle beim Spazierengehen zwischen Deutschland und Dänemark. Wenn dir da einer mit jou antwortet, ist das schon ein Wahnsinnsdialog.

Okay, Luis hat mich letzte Woche nach dem Dienst genötigt, ein Bierchen mit ihm zu trinken. Er wollte wissen, was so läuft bei der Organisierten Kriminalität.

„Puh! Bin völlig fickrig“, gesteht er.

Ich sehe ihn von der Seite an. „Geh aufs Klo, fahre deinen Testosteronspiegel runter und komm wieder, wenn du locker bist.“

Luis verdreht die Augen. „Wegen dem Einsatz, Mann.“

„Es heißt wegen des Einsatzes.“

„Du bist vielleicht pingelig.“

„Es ist unser Job, auch um drei Uhr morgens pingelig zu sein.“

Ich weiß, dass ich gerade nicht der Richtige bin, um solche Sprüche loszulassen. Außerdem eigne ich mich nicht zum Mentor. Ich mache mein Ding lieber allein.

Hauptkommissarin Soraya Dabaschi, die Chefin, ist schon da. Mit großem Bahnhof. Spurensicherung und Kriminaltechniker. Keine Gerichtsmedizin? Das lässt hoffen.

Sie steigt gerade in ihren weißen Schutzanzug. „Mensch, Hanno! Wo bleibst du denn, verdammt?“

Sorayas schlechte Laune ist legendär. Vor allem um diese Uhrzeit. Und seit meiner Kündigung. Na ja, sie floh als kleines Mädchen mit den Eltern aus Iran und baute sich mit nichts bei der Berliner Polizei eine Karriere auf. War bestimmt nicht immer lustig. Ich meine, so als Frau zwischen den ganzen Chauvis, die sich gegenseitig die Eier schaukeln und Posten zuschieben. Als offen schwuler Polizist weiß ich, wovon ich rede.

„Moin, Soraya.“ Ich lächle süß. „Sorry, war mit Milan und nem Cocktail auf dem Balkon.“ Das Gras verschweige ich.

„Hanno!“ Das klang wie meine Mutter. „Auch wenn deine Tage bei uns gezählt sind, wir haben Bereitschaft und ich erwarte professionelles Verhalten.“

„Aye, Käptn.“

Luis glotzt mich an wie Omas Kater Fiete, wenn er das Wort Tierarzt hört. „Du wechselst die Abteilung?“

Ich hatte ihm nichts erzählt. Und jemand anderer offensichtlich auch nicht.

„Jou … Erklär ich dir ein ander mal. Was gibts hier, Soraya?“

„Schießerei mit zwei Schwerverletzten.“ Aus ihrem Mund klingt es so profan wie Currywurst mit Pommes. Sie streicht eine schwarze Strähne hinters Ohr. Vielleicht ist sie schon gefärbt. Ich weiß es nicht.

„Warum zum Teufel schicken sie dann uns hierher?“, frage ich. „Raubüberfall ist jetzt echt nicht unsere Baustelle.“

„Kein Raubüberfall, Hanno“, sagt Luis und klingt wie ein Lehrer. Fehlt nur noch, dass er den Zeigefinger hebt. „Hast du nicht das Tankstellenlogo gesehen?“

„Nee. Sorry, ist mir entgangen.“

„Dann wach endlich mal auf“, knurrt Soraya. „Tank-Top. Die Billigtankstellen-Kette.“

Mein Gehirn rattert wie eine alte Dampflok. Ja, da war was …

„Seit mehreren Wochen wird der Konzern bedroht, weil er aggressive Werbung für sein Billigbenzin betreibt.“

Luis’ Nachhilfe ist wahnsinnig reizend. Ich spüre die Schwere des Alkohols. Mein Kopf ist nicht ganz frei. „Jou. Weiß ich.“

„Die Schwerverletzten sind Tom Seifert, 45, und Burak Özcan, 24.“ Soraya zieht den Reißverschluss ihres Schutzanzugs hoch.

„Sie hatten Brieftaschen und Ausweise einstecken“, ergänzt Luis.

Ich bin immer noch nicht ganz bei der Sache. Hätte nicht kiffen sollen. Milan, der Verführer vor dem Herrn. Selbst den würde er zu einem Joint überreden.

„Seifert trug ein T-Shirt mit dem Tankstellen-Logo“, sagt Soraya. „Er hat einen Lungenschuss und zerschossenen Arm. Steht auf der Kippe. Was Özcan hier machte, wissen wir noch nicht. Er hat einen heftigen Schlag auf dem Hinterkopf bekommen. Vermutlich Schädel-Hirn-Trauma zweiten Grades. Wurden beide sofort in die Klinik gebracht. Die Drohungen an den Konzern werden nun offensichtlich in die Tat umgesetzt.“

Ich blase die Backen auf. „Gibts eine Überwachungskamera?“

„Zwei“, sagt Luis, wie aus der Pistole geschossen.

Er hat hier alles unter Kontrolle. Ich fühle mich überflüssig und frage mich, warum sie mich überhaupt vom Balkon geholt haben.

„Im Verkaufsraum und außen.“

Ich habe absolut keinen Bock auf Musterschüler und Mütter.

„Die Aufzeichnungen gucken wir uns später in Ruhe an“, sagt Soraya.

Luis nickt. „Der Leiter der Berliner Filialen ist bereits verständigt. Kollegen bringen ihn hierher.“

„Zeugen?“, frage ich knapp.

Luis deutet zum Krankenwagen. „Die beiden Männer dort. Sind völlig fertig. Der Ältere wollte tanken. Sah den mutmaßlichen Täter noch fliehen und mit quietschenden Reifen davonfahren. Sein Wagen stand hier gleich an der Görlitzer. Der Jüngere arbeitet ebenfalls an der Tankstelle. Selim Kayhan. War Tom Seiferts Ablösung. Er kam gerade, als der Täter wegfuhr. Die beiden verständigten sofort Notarzt und die Kollegen. Die waren aber schon durch das Alarmsystem der Tankstelle informiert. Kayhan hatte sich das Kennzeichen des Fluchtwagens gemerkt. Wenige Minuten später war die erste Streife da. Die Fahndung nach dem Wagen läuft.“

„Gute Arbeit“, sagt Soraya.

Luis strahlt wie die aufgehende Sonne.

Alles klar. Soraya verteilt Lob an den Neuen, um mich zu mobben. Geht mir aber am Arsch vorbei. Widerwillig ziehe ich den Plastik-Schutzanzug über und fühle mich sofort wie ein eingeschweißtes Steak in der Sauna.

Luis starrt angewidert auf den Overall, den ihm Regina Wolz von der Spurensicherung unter die Nase hält.

„Muss ich das Ding wirklich überziehen?“

„Ick bitte darum“, sagt Regina schnippisch. „Sind schon jenuch Spuren da. Und Handschuhe nich verjessen, ja!“

Regina war das Berlin, das ich immer mochte und immer noch mag. Auch wenn es allmählich ausstirbt. Ich grinse.

Luis steigt in den Anzug, hüpft auf einem Bein herum, verliert das Gleichgewicht und landet auf dem Arsch.

„Yoga“, sagt Regina. „Det soll helfen, ha ick jehört.“

Luis murmelt etwas wie: Danke für den Tipp.

Regina deutet auf eine Kreidezeichnung zwischen dem Eingang und eine Plastiktüte.

„Burak Özcan hat mitten in der Tür jelegen. In der Plastiktüte ist Obst und Jemüse.“

„Obst und Gemüse?“, wiederhole ich.

Regina zuckt mit den Schultern. „Det ist so was mit Vitaminen, Hanno, weeste. Schon mal jehört?“

„Ja. Kann sein. Steht so was nicht auch auf den Kartons der Fertigpizzen?“

Regina grinst und zwinkert mir zu. Wir verstehen uns.

Luis hat endlich den Schutzanzug an und wir betreten den Verkaufsraum. Die Leute von der Spurensicherung wuseln herum wie Ameisen.

Luis atmet plötzlich stoßweise, bebt und ist blass.

„Keine Angst, Kumpel. Der böse Mann ist nicht mehr da.“

Luis stützt sich auf ein Regal mit Chipstüten und Gummibärchen. „Ist gleich wieder gut.“

So, wie er jetzt da steht, wars das wohl mit wuschig. So schnell kanns gehen.

„Tom Seifert hat dort hinter der Kasse jelegen“, erklärt Regina.

Ich umrunde gefolgt von Luis den Tresen.

„Schüsse in Brustkorb und Arme“, deklariert sie. „Hat sich schützen wollen, nehm ick an. Aber bei einer Maschinenpistole?“ Sie schüttelt den Kopf. „Sein Glück war die Theke mit dem Sicherheitsglas. Konnte noch den Alarm auslösen.“

„Welche Maschinenpistole?“, frage ich.

„Also wir finden hier jede Menge Kaliber-neun-Patronen“, sagt Regina. „Vermutlich eine gängige MP5, wie se auch bei uns verwendet wird. Mit Schalldämpfer, sonst wäre ja det janze Viertel im Bett jestanden.“

Hinter dem Tresen fällt mein Blick auf eine Blutlache am Boden. Eine Zeichnung markiert die Position des Angeschossenen.

Luis deutet auf die Registrierkasse. „Sieh mal. Ist geschlossen.“

Ich nicke anerkennend. „Gratuliere, Watson.“

„Damit ist der Raubüberfall ja wohl vom Tisch.“ Luis tritt einen Schritt zurück, verschränkt die Arme vor der Brust und schmollt.

Sieht echt putzig aus, so mit seinen roten Haaren und den Sommersprossen.

„Ach ja“, sagt Regina. „Unter der Kasse hat eine Pistole jelegen. Schreckschuss. Ha ick schon einjetütet.“

„Sie können hier nicht rein“, sagt der uniformierte Kollege an der Tür.

Wie auf Kommando drehen wir die Köpfe zum Eingang.

„Ich bin Matthias Schmittke, der Leiter der Berliner Filialen.“

Bevor Luis sich erneut vordrängt und ich im Overall ersticke, ergreife ich die Flucht. „Ich kümmere mich um ihn.“

Soraya nickt.

Draußen öffne ich den Schutzanzug. Der Duft von Waschmittel, Schweiß und Plastik steigt in meine Nase. Sexy Mischung.

„Guten Morgen. Kriminaloberkommissar Peters. LKA Berlin.“

„Schmittke.“ Er guckt vorsichtig über meine Schulter. „Wo ist Tom?“ Seine Stimme zittert.

„Im Krankenhaus. Er wurde angeschossen und lebensgefährlich verletzt.“ Ich erzähle kurz, was sich hier abgespielt hat.

Schmittke schwankt. „Heilige Scheiße! Wann ist das passiert?“

„Vor einer knappen Stunde.“

Ich drehe mich um. Luis steht hinter mir wie ein Schatten.

Schmittke guckt von mir zu ihm. „Haben Sie schon Finn und die Özcans benachrichtigt?“

„Wer ist Finn?“, fragt Luis.

„Hör mal, Luis.“ Ich lächle, obwohl es mich alle Überwindung kostet, ihn nicht am Kragen zu packen und zu schütteln. „Ich befrage Herrn Schmittke. Ist das okay für dich?“

„Ja, klar.“

„Also, wer ist Burak Özcan?“

„Ein Freund von Tom.“

„Und der kommt mitten in der Nacht hierher?“

„Die beiden kennen sich schon lange. Vielleicht wollten sie nach Toms Schicht noch zusammen einen trinken gehen.“

„Um zwei Uhr morgens?“

Schmittke zuckt mit den Schultern. „Ist nicht verboten, oder?“

Ich hasse Antworten mit Gegenfragen. „Und wer ist Finn?“

„Tom Seiferts Sohn.“

Auch noch ein Kind im Spiel! Ich blase wieder die Backen auf. Eine blöde Angewohnheit. „Haben Sie die Adresse?“

„Natürlich.“

Luis schreibt sie emsig in sein kleines Notizbuch. Drollig. Dass er noch weiß, dass es so was gibt.

„Wissen Sie, Tom ist alleinerziehend.“ Schmittke reibt sich verzweifelt das Gesicht. „Und mein bester Mitarbeiter hier.“

„Wir kümmern uns sofort darum“, sagt Luis chefmäßig.

„Ja, erledige du das mal.“

Bingo. Ich bin ihn los.

„Was ist mit der Tankstelle?“, fragt Schmittke. „Mein Chef reißt mir den Arsch auf, wenn es nicht weiterläuft.“

„Hier läuft erst mal gar nichts“, sage ich. „Bis die Spurensicherung durch ist. Noch etwas: Wir brauchen die Aufzeichnungen der Überwachungskameras.“

„Der Rechner ist hinten im Büro.“

„Gabs hier neue Probleme?“, fragt Luis.

Ich kneife die Augen zusammen und drehe mich um. Der Kerl ist immer noch da.

„Ich meine, neue Drohungen“, sagt Luis.

Ich knurre.

„Ach so! Die Geschichte. Ne. Da war jetzt ne Zeit lang Ruhe. Sonst hätten wir bestimmt neue Anweisungen bekommen.“

Soraya kommt zu uns. „Wie siehts aus?“

Ich berichte.

„Kümmere du dich bitte sofort um den Jungen, Hanno.“

„Das wollte eigentlich Luis übernehmen.“

War ja klar, dass Soraya mich noch fickt, bevor ich gehe. Sie weiß genau, dass ich nicht gut mit Kindern kann.

„Luis soll hier übernehmen. Ich fahre zu Özcans Wohnung.“

Luis grinst ein bisschen zu siegessicher.

„Was stehen Sie hier noch rum?“, faucht Soraya. „Kümmern Sie sich sofort um die Videos, Luis. Und nehmen Sie die Aussage von Herrn Schmittke auf.“

„Ich würde aber lieber …“

„Würde aber lieber?“ Soraya kneift die Augen zusammen. „Das ist eine Dienstanweisung, Kriminalkommissar Sandmann, und kein Vorschlag zur nächtlichen Freizeitgestaltung.“

„Natürlich.“ Luis trollt sich.

Er tut mir zum ersten Mal ein bisschen leid.

Trotzdem bin ich froh, ihn loszuwerden und aus Sorayas Schusslinie zu kommen. Ich klaue in der Tankstelle eine Tüte Lachgummis für den kleinen Finn, steige aus dem Anzug und fahre zur Kinderbetreuung. Es ist nicht weit. Nur ein Stück die Skalitzer runter und am Kottbusser Tor vorbei.

Schlag vier stehe ich endlich vor dem richtigen Eingang eines großen Wohnblocks an der Ecke Kohlfurter Straße und südlicher Wassertorplatz.

Ich gucke an der Fassade hoch und überlege, wie ich einem Kind beibringe, dass sein Vater fast verblutet und noch nicht über dem Berg ist. Und überhaupt! Wer lässt sein Kind nachts allein? Zustände sind das in der Hauptstadt, ehrlich wahr.

Regina hatte mir Tom Seiferts Wohnungsschlüssel mitgegeben. Für alle Fälle. An den Klingeln suche ich den Namen. Seifert, 5. Stock. Ich klingle nicht, sondern gehe einfach rein, ruckele mit einem Aufzug nach oben und hoffe, dass er durchhält.

Überall Schmierereien und Sprüche.

Nazis sind schwul

Wir ficken dich, Kanake

Nur Auserwählte kommen in die Ufos

Katharina ist eine Nutte

Allah liebt jeden, auch die Drogenfahnder

Boris ist ein Schwanzlutscher. Darunter: Aber ein schlechter

Das ganze Panoptikum des normalen Berliner Wahnsinns auf knapp zwei Quadratmeter. Wer hier aufwächst, weiß früh, wo der Hase im Pfeffer liegt. Das ist so ein Spruch von Oma.

Ich freue mich tierisch auf das schnucklige, altmodische Hotel. Auf das kitschige Geschirr mit Rosen drauf, auf die stillen Winter und die Möwenschreie. Auf den Kamin im Wohnzimmer. Auf Omas Apfelkuchen und ihren Heringssalat. Darauf meinen Gästen Tipps zu geben, wie sie ihre Ferien angenehm verbringen können. Ich werde nie wieder Todesnachrichten überbringen oder einem Jungen sagen müssen, dass sein Vater ums Überleben kämpft.

Fuck you very much, Berlin!

Im fünften Stock gehe ich den Flur entlang, suche Seiferts Wohnungstür und klingle.

Nichts rührt sich.

Ich will nicht einfach in die Wohnung und den Jungen erschrecken. Also läute ich mehrmals.

Endlich rührt sich was.

„Ja, Mann!“, tönt es hinter der Tür und es hört sich ganz und gar nicht nach einem Kind an.

Ich sehe, dass jemand durch den Spion guckt. „Was ist?“

„Oberkommissar Peters, LKA Berlin.“

„Kann jeder behaupten.“

Ich ziehe meinen Ausweis aus der Jeans und halte ihn vors Guckloch. „Bitte. Du kannst ruhig aufmachen. Dir passiert nichts, okay?“

Ich platziere mich mit den Lachgummis.

Die Tür öffnet sich. Sie ist mit zwei Ketten gesichert. Vor mir erscheint der Doppelgänger meines Bruders Phil. Blond. Hübsch. Mit sehr weichen Gesichtszügen, wie denen eines Mädchens.

Phil und ich sahen uns überhaupt nicht ähnlich.

Überrumpelt weiche ich zurück.

Es ist kein Kind, sondern ein Teenager um die 17 mit verstrubbelten schulterlangen Haaren. Er trägt nur Boxershorts. Sein verschlafener Blick wandert abwechselnd von meinem Gesicht zur Tüte mit den Fruchtgummis.

Ich dagegen starre auf seinen sehnigen Körper und denke, dass er was Sportliches macht. Leichtathletik, vielleicht.

„Was glotzen Sie so?“

„Entschuldige. Ich bin Kriminaloberkommissar Peters vom LKA.“

„Haben Sie schon gesagt.“ Er kratzt sich ungeniert am Bauch und gähnt. „Kann ich noch mal Ihren Ausweis sehen?“

„Hier!“

Er guckt ihn sich genau an.

Plötzlich geht das Licht aus. Vom Ende des langen Flurs höre ich Schritte und drehe mich um.

„Landeskriminalamt?“ Die Stimme des Teenagers hallt durch den Flur.

Plötzlich rennt jemand und eine Tür schlägt zu.

Ich stutze. „Ist um diese Uhrzeit immer so viel Betrieb auf dem Flur?“

„Normalerweise penne ich da, wenn mich nicht gerade ein Bulle weckt.“ Der Junge mustert mich und deutet auf die Lachgummis. „Verteilt die Polizei jetzt Give-aways in sozialen Brennpunkten oder was?“

Ich komme mir dämlich vor und verstecke die Tüte hinter meinem Rücken. „Bist du Phil Seifert?“

„Ne, Finn Seifert. Na, vielen Dank auch für die Ruhestörung.“ Er will mir die Türe vor der Nase zuschlagen.

Ich klemme schnell meinen Fuß dazwischen. „He, warte! Es geht um Tom Seifert.“

Finn runzelt die Stirn. „Paps? Hat er was angestellt?“

Normalerweise stellen diese Frage Eltern, wenn es um ihre Sprösslinge geht.

„Darf ich reinkommen?“

Er verdreht die Augen und gähnt wie ein junger Löwe. „Aber glauben Sie nicht, dass ich Ihnen jetzt auch noch n Kaffee anbiete.“

„Seh ich so aus, als bräuchte ich einen?“

„Ja.“

Ich liebe zuvorkommende Teenager.

Kapitel 2 - Finn

Jeder sagt, Tom und ich sind uns wie aus dem Gesicht geschnitten. Vater und Sohn, Dream-Team. Freunde. Als Kind sagte ich immer nur Paps,weil Vati oder Papi einfach spießig klingt und weder zu mir noch zu Tom passt. Als ich älter wurde und sich zwischen uns auch echte Freundschaft entwickelt hat, sage ich auch Tom. Inzwischen switche ich zwischen Paps und Tom hin und her. Er hat seine Karriere geschmissen, damit er bei mir sein kann. Doch jetzt ist er so bleich wie die Bettwäsche und voll im Eimer. Schläuche verbinden seinen Körper mit irgendwelchen Maschinen. Ihre eintönigen Signale machen mich ganz krank.

Aber solange sie piepen, lebt er noch.

Ich drehe mich um.

Der Bulle steht draußen vor dem Guckfenster und beobachtet mich so komisch mit seinen stechenden blauen Augen. Er sagte, Tom Seiferts Zustand ist kritisch.

Dasselbe habe ich vor ein paar Tagen zu Tom gesagt, als er meinte, dass sie uns umlegen wollen. Dein Zustand ist kritisch. Doch Tom hatte wie immer recht.

Von dem, was der Arzt erklärt hat, hab ich weder ein Wort verstanden noch behalten. Hab nur auf Tom gestarrt und gedacht, Finn, das Leben fickt dich gerade von allen Seiten.

Plötzlich brennen meine Augen, doch ich will nicht heulen. Nicht vor dem Bullen da draußen. So gern würde ich Paps‘ Hand nehmen, aber ich traue mich nicht. Hab Angst, was kaputtzumachen. Also hocke ich nur da, zupfe an Shir-Khan herum, meinem alten Plüschtiger, den ich Tom auf die Schnelle mitgenommen hatte, und starre ihn an. Wie war das noch mal mit Koma-Patienten? Sie spüren doch angeblich, wenn ein nahestehender Mensch bei ihnen ist, oder?

„Mach jetzt bloß nicht schlapp“, flüstere ich und hoffe, dass Paps es hört. „Schau mal, ich hab Shir-Khan mitgebracht. Damit du nicht allein bist. Er hat immer gut auf mich aufgepasst. Jetzt brauchst du ihn, okay?“

Hinter mir öffnet sich die Tür.

„Alles in Ordnung?“, fragt der Bulle.

„Was ist das denn für ne bescheuerte Frage?“, schniefe ich über die Schulter.

Der Bulle räuspert sich. „Es ist halb sechs. Komm, ich fahre dich nach Hause, Phil.“

„Ich heiße Finn, verdammt. Können Sie sich nicht mal vier Buchstaben merken?“

Der Bulle hebt beschwichtigend die Hände.

Ich stehe auf und platziere Shir-Khan neben Toms Kopf, weil ich denke, er riecht nach mir. Und wenn Tom ihn riecht, denkt er an mich. Tom zuckt plötzlich, ich lächle.

Da kommt mir ein Gedanke in den Sinn. „Wo liegt Burak?“

„Nebenan“, sagt der Bulle. „Mit schwerer Gehirnerschütterung. Hat aber keine Blutung.“

Draußen ist es für die Tageszeit schon viel zu warm. Trotzdem trage ich eine Kapuzenjacke. Wir gehen über den Klinikparkplatz. Der Bulle drückt auf einen Autoschlüssel. Sein dunkelblauer BMW blinkt und piept.

Ich bleibe stehen, ziehe eine Zigarette aus meinem Hoodie und zünde sie an.

Der Bulle betrachtet mich von der Seite. Wahrscheinlich denkt er, was alle denken, wenn sie mich sehen.

Der sieht aus wie ein Mädchen.

Und ehrlich? Es gefällt mir, so auszusehen. Weil es viele verunsichert. Weil ich Schubkastendenken nicht ausstehen kann.

„Im Wagen wird nicht geraucht“, mault er.

„Brauch jetzt eine.“

„Na gut. Dann im Stehen. Ich hab sowieso noch ein paar Fragen.“

„Von mir aus.“

„Wie alt bist du?“

„18.“

Der Bulle schnaubt ungläubig. „Ich kriegs sowieso raus. Also?“

„17.“

„Wie wärs mit 16?“ Er starrt auf meine Zigarette wie Kids auf die Überraschungseier an der Supermarktkasse.

Ich schnaube. „Sind wir hier auf m Basar oder was?“

Er grinst.

„Ich bin siebzehn. Schaun sie doch in Ihren schlauen Computer.“

Sieht eigentlich ganz cool aus, der Typ. Dunkle rappelkurze Haare, unrasiert, ausgewaschene Jeans und weißes T-Shirt. Bisschen trainiert. Und diese Augen! Als ob er einfach in das Innere eines Menschen blicken kann.

Ich streiche eine Strähne hinters Ohr. „Auch eine?“

„Nee, danke. Gewöhne es mir gerade ab. Klappt aber nicht wirklich. Solltest erst gar nicht damit anfangen.“

„Danke für den Text.“

„Weiß dein Vater, dass du rauchst?“

„Gibts keine wichtigeren Fragen?“

Wir starren uns an, bis er meinem Blick ausweicht.

„Wann genau arbeitet dein Vater in der Tankstelle?“

„Von abends sechs bis morgens um zwei. Dann löst ihn Selim ab.“

„Jeden Tag?“

„Von Mittwoch bis Sonntag. Wegen Wochenend- und Nachtzuschlag.“

„Der Konzern, zu dem die Tank-Top-Tankstellen gehören, wird seit einiger Zeit bedroht.“

„Ist das mein Problem?“

„Jou. Dein Vater und dieser Burak Özcan liegen möglicherweise deswegen hier.“

„Dieser Burak ist Paps’ Freund.“ Ich gucke über den Parkplatz.

„Hat dein Vater mal über diese Drohungen gesprochen?“

„Hat er.“

„Und was, bitte schön?“

„Dass er keinen Schiss hat, weil er nur ein kleiner Angestellter ist, der Benzin und Chipstüten verkauft. Die Drohungen richten sich seiner Meinung nach an die Konzernleitung und nicht an kleine Verkäufer.“

„Weißt du, Öl ist ein Milliardengeschäft. Da kommt es auf ein paar Menschenleben nicht an.“

„Vielen Dank für Ihr Mitgefühl.“ Ich hab keinen Bock mehr auf Fragen und schnippe die halb aufgerauchte Zigarette weg. „Bin fertig. Fahren wir?“

Auf dem Weg nach Hause redet keiner. Peters schaltete Musik ein. Eine Mischung aus Techno und Chill. Gefällt mir. Die Kleidung des Bullen verströmt einen markanten Waschmittelduft. Ich gucke aus dem Fenster und kann keinen richtigen Gedanken fassen. Toms Gesicht guckt mich durch die Scheibe an wie ein Geist und ich hab keinen blassen Schimmer, was ich jetzt machen soll.

Vor unserem Block hält der Bulle an, schaltet die Musik aus und stellt den Motor ab.

„Danke fürs Zurückbringen.“ Ich steige aus und gehe zum Eingang.

Er steigt ebenfalls aus, verschließt den Wagen und folgt mir. „Hey! Ich komm noch auf n Sprung mit rauf.“

Ich bleibe stehen und drehe mich um. „Nett von Ihnen, aber Sie sind nicht mein Typ.“

„Witzbold, was? Wohnst du mit deinem Vater allein?“

„Suchen Sie n Zimmer?“

Der Bulle sieht mich herausfordernd an. „Gibt es jemand, der sich um dich kümmert, solange dein Vater im Krankenhaus liegt?“

„Ich bin 17 und komme klar, Herr Kommissar. Außerdem sind Ferien.“

„Was ist mit deiner Mutter?“

„Hab keine.“

„Wie?“

„Hat sich gleich nach meiner Geburt aus dem Staub gemacht.“

„Hast du jemand, zu dem du gehen kannst?“

„Hab ich. Also, wars das jetzt?“

„Du bist minderjährig.“

„Schon mal was von Aufenthaltsbestimmung gehört? Und dass auch 17-Jährige allein wohnen dürfen? Tom würde nie wollen, dass ich woanders hingehe. Stellen Sie sich vor, ich kann kochen, waschen, bügeln, putzen und einkaufen.“ Ich wende mich ab und gehe zum Eingang.

„Also. Wohin kannst du gehen?“

Ich bleibe stehen. „Warum interessiert Sie das?“

„Dein Vater wurde angeschossen und lebensgefährlich verletzt. Solange das nicht geklärt ist, sind wir für dich verantwortlich. Außerdem gibt es bestimmt noch Fragen.“

Ich will den Bullen loswerden und gebe klein bei. „Sindo Achebe ist mein Kumpel. Seine Eltern betreiben das afrikanische Restaurant Dakar, am anderen Ende der Kohlfurter Straße. Da wohnen sie auch. Ist so was wie mein zweites Zuhause.“

„Klingt doch perfekt. Ich fahre dich hin und spreche mit den Leuten, einverstanden?“

„Kann ich nicht hierbleiben?“

„Hör zu! Ich bin überzeugt, dass du allein zurechtkommst, aber nach der ganzen Geschichte ist es besser, ein paar Tage nicht allein zu sein. Glaub mir.“

„Sprechen Sie aus eigener Erfahrung?“

„Kann sein. Das Leben ist kein Wunschkonzert.“

„Toller Kalenderspruch. Hängt der eingerahmt über Ihrem Bett?“

Der Bulle lächelt matt.

Ich mustere ihn. „Hätte ich jetzt nicht gedacht.“

„Was?“

„Dass n cooler Typ wie Sie so n Paragrafen-Reiter ist.“

Er kneift die Augen zusammen und deutet nach oben. „Wir beide gehen jetzt da rauf, du packst ein paar Sachen zusammen und ich fahre dich zu deinem Kumpel. Klar?“

Ich gucke ihn an. „Na gut.“

Wir fahren zu den Achebes und ich klingle. Es dauert eine Weile, bis sich jemand an der Sprechanlage meldet.

„Ja?“ Es ist Sindo.

„Ich bins. Finn.“

„Hey. Surprise. Willste mit mir joggen?“

„Ne. Is was Schlimmes passiert.“

„Ach du Scheiße!“

Die Tür geht auf und wir steigen in den ersten Stock. Sindo steht in Joggingklamotten an der Wohnungstür. Er sieht Bombe aus. Groß, trainiert, Braun, glattes dunkles Haar, buntes Stirnband, volle Lippen und blaue Augen. Von seiner deutschen Mutter.

Sindo starrt auf den Bullen. Der starrt ihn an.

„Peters, LKA Berlin. Können wir reinkommen?“

Sindo guckt mich fragend an, nickt mechanisch und führt uns in ein Landhausstil-Wohnzimmer.

„Ein Überfall“, sage ich zu Sindo. „Tom wurde in der Tankstelle angeschossen. Burak haben sie zusammengeschlagen.“

Sindo reißt seine schönen Augen auf. „Was?“

„Ich möchte gern mit deinen Eltern sprechen“, sagt Peters.

„Sie schlafen noch.“

„Könntest du sie freundlicherweise wecken?“

„Sicher. Warten Sie.“ Sindo geht.

Ich lasse mich aufs Sofa fallen, kaue an den Fingernägeln und wippe mit den Beinen. Ich möchte allein sein und nachdenken. Mit dem Bullen neben mir schaffe ich das nicht. Wir schweigen. Peters guckt sich um.

Kurz darauf kommen die drei Achebes zurück. Sindos Eltern in Morgenmäntel. Sie gucken mich verstört an.

„Oberkommissar Peters, LKA. Es gab einen Überfall auf die Tankstelle, in der Finns Vater arbeitet. Tom Seifert wurde angeschossen. Sein Freund, Burak Özcan, niedergeschlagen.“

„Das ist ja furchtbar.“ Lena blickt entsetzt zu ihrem Mann.

„Paps liegt mit nem Lungenschuss im künstlichen Koma und Burak hat ne schwere Gehirnerschütterung.“

Peters nickt. „Ich möchte Sie fragen, ob Sie sich um Finn kümmern, bis Tom Seifert wieder aus dem Krankenhaus kommt. Andernfalls muss ich das Jugendamt benachrichtigen.“

„Nicht nötig“, sagt Juma. „Tom ist ein guter Freund der Familie und Finn wie ein zweiter Sohn für uns.“

„Natürlich bleibt er hier“, sagt Sindo.

Peters nickt mir zu. „Dann ist das ja geklärt.“

„Warum hat man auf Tom geschossen?“, fragt Lena.

„Das wissen wir noch nicht, Frau Achebe. Vermutlich hat es etwas mit den Drohungen an dem Tankstellen-Konzern zu tun. Hat Tom Seifert je mit Ihnen darüber gesprochen?“

„Ja“, sagt Juma. „Aber er wusste auch nicht mehr, als in den Zeitungen stand.“

„Hat er je eine Drohung an seine eigene Person erwähnt?“

„Nein“, sagt Lena. „Nachts ist die Tankstelle gesichert und tagsüber herrscht ständig Betrieb. Tom arbeitet aber nur nachts.“

Juma nickt. „Wenn er sich bedroht gefühlt hätte, dann hätte er bestimmt mit uns darüber gesprochen. Allein wegen Finn.“

Lena lächelt. „Die beiden sind wie Kletten.“

Ich fühle mich plötzlich schlecht. Die Achebes sind so cool und offenherzig, haben uns immer geholfen, doch Paps und ich hüten unser Geheimnis. Weil wir sie da nicht hineinziehen wollen. Mein Magen verkrampft sich und mir wird speiübel. Ich springe auf, renne zum Klo, knie mich vor die Schüssel und übergebe mich, bis nur noch Galle kommt.

Es klopft an der Tür.

„Finn?“ Es ist Sindo. „Brauchst du was?“

„Geht schon. Bin gleich wieder fit.“

„Na gut.“

Ich richte mich kraftlos auf und betrachte mich im Spiegel. Sehe verdammt scheiße aus. Fahl und eingefallen. Ich wasche mein Gesicht mit kaltem Wasser und kann einen Kaugummi. Ich brauche einen Plan.

Der frische Minzgeschmack bringt wenigstens so viele Lebensgeister zurück, dass ich die Tür öffnen kann.

Peters steht vor mir. „Alles n bisschen viel, was?“

„Kann sein. Außerdem bin ich hundemüde.“

„Dann leg dich hin. Kann ich sonst was für dich tun?“

„Haben Sie so was wie ein Helfersyndrom?“

„Ich bin dein Freund und Helfer. Schon vergessen?“, Peters grinst.

Ich lächle fahl zurück. „Danke, aber meine Freunde suche ich mir schon selbst aus.“

„Da bin ich ja froh.“

„Worüber?“

„Dass ich nicht dazugehöre. Hier ist meine Nummer.“ Er hält mir eine Visitenkarte vor die Nase. „Falls dir doch noch was zum Thema Tankstelle einfällt, egal was, ruf mich an. Ja?“

„Wenns sein muss.“ Ich nehme die Karte und verstaue sie in der Hosentasche. „Was ist denn jetzt mit dem Jugendamt?“

„Bei den Achebes bist du erst mal gut aufgehoben, denke ich.“

„Kann ich wieder zu Paps?“

„Klar.“

„Dann einen schönen Tach noch.“ Ich lasse Peters einfach stehen und gehe zu den Achebes.

Wir hören, wie Peters die Wohnung verlässt.

„Jetzt ruh dich erst mal aus“, sagt Lena. „Reden können wir später, wenn dir danach ist.“

Sindo lächelt schön. „Leg dich hin. Ich geh erst mal joggen, bevor es wieder zu heiß wird.“

„Danke. Ihr seid die Besten.“ Gähnend tappe ich in Sindos dämmriges Zimmer, ziehe mich bis auf die Boxershorts aus und schlüpfe unter seine Decke. Es riecht nach ihm, vertraut und tröstlich. Ich kenne Sindo so lange und habe oft hier geschlafen. Er stand mal auf Jungs wie mich. Früher haben wir auch miteinander herumgemacht. Aber das hat sich irgendwie gelegt. Jetzt steht er eher auf Mädchen, glaubt er jedenfalls. Ich stehe auf Kerle. Wie Peters, zum Beispiel.

Ich denke wieder an Paps. Solange er lebt, bin ich nicht in Gefahr.

Kapitel 3 - Hanno

Auf der Fahrt zum LKA geht mir Finn nicht aus dem Kopf. Es ist unglaublich, wie ähnlich er Phil sieht. Und nicht nur das. Auch diese schnoddrige, trotzige Art, überhaupt das ganze Wesen. Dass es so etwas gibt. Ich hielt Doppelgänger-Geschichten bis heute für reine Fiktion. Gerade war ich dabei, die Sache mit Phil endlich mal aufzuarbeiten, meine Schuldgefühle loszuwerden und dann taucht dieser Junge auf. Passt mir gar nicht in den Kram, vor allem nicht, wie er mich einfach so stehen lässt. Das war Phils Spezialität.

Mein Handy klingelt. Es ist Soraya. Ich wappne mich gegen die nächste Attacke.

„Wann kommst du, Hanno? Wir warten auf dich.“

„Bin gleich da.“

Im Büro angekommen, lasse ich mir einen Kaffee aus der Maschine und frage unsere Innendienstfrau Verena nach den anderen.

„Luis ist schon bei der Chefin im Büro.“

Ich bedanke mich, klopfe an und trete ein.

Soraya sitzt am Schreibtisch, Musterschüler Luis ihr gegenüber.

„Bisher gab es nur Drohungen an das Unternehmen Tank-Top, die allesamt von nicht nachvollziehbaren IP-Adressen kamen“, sagt er.

Die beiden sehen mich erwartungsvoll an.

Ich lächle. „Lasst euch nicht stören.“

„Ich meine“, fährt Luis fort, „wer sich so geschickt im Netz bewegt und einen ganzen Konzern bedroht, kann doch viel bequemer Schaden anrichten, als unbedacht an einer einzigen Tankstellenfiliale herumzuballern.“

„Ich sehe im Fall Tom Seifert auch noch keine direkte Verbindung zu den Drohungen an den Tankstellen-Konzern“, sagt Soraya. „E-Mails von anonymisierten IP-Adressen und eine Schießerei vor Ort? Das sind für mich zwei grundverschiedene Sprachen.“

„Sie meinen, da läuft etwas ganz anderes und jemand springt auf die Tankstellendrohungen auf?“

Soraya nickt. „Möglich. Die Sache mit den Drohungen ging ja groß durch die Presse. Nur weiß keiner, wie die Geschichte dorthin kam. Der Konzern zeigte sich bei den Ermittlungen nicht gerade kooperativ und die Zeitungen berufen sich auf irgendwelche Informanten, die sie nicht preisgeben.“ Sie überlegt. „Vielleicht waren die Drohungen ja auch nur gefakt.“

„Eine inszenierte Werbekampagne?“, fragt Luis.

„Solchen Firmen ist alles zuzutrauen. Schließlich geht es um viel Geld. Aber das heute Nacht, das sieht irgendwie nach richtiger Drecksarbeit aus.“

„Warum schließt du Raub aus?“, erkundige ich mich.

„Der Typ ballerte, noch bevor die Kasse auf war, Hanno. Ein Räuber wüsste, dass er die Kasse nicht so einfach aufkriegt und sie sich so bei der Flucht untern Arm klemmen müsste. Macht an der belebten Skalitzer keinen Sinn.“

Ich habe wieder das Gefühl, dass die beiden mich gar nicht brauchen.

„Hast du auch etwas zu dem Fall beizutragen?“ Sorayas Sarkasmus ist überwältigend und ihre Enttäuschung über meine Kündigung noch immer nicht überwunden. Wahrscheinlich nie.

„Nun, Finn Seifert meint, sein Vater sei eines der kleinsten Rädchen im Unternehmen. Er verkauft Benzin, Chips und Zigaretten und hat somit keinen Zugriff auf sensible Konzerndaten.“

„Na ja …“, entgegnet Luis.

Ich ahne, dass mir gleich wieder eine superschlaue Bemerkung um die Ohren fliegt. „Ich höre?“

„Tom Seifert hat laut Aussage des Tankstellenleiters auch die Warendisposition für Shop und Tankstelle bearbeitet. Über ein Warenwirtschaftssystem gibt es meist eine Schnittstelle zu einem zentralen Server und wo eine Schnittstelle zur Datenübermittlung ist, gibt es einen wunden Punkt im System. Aber da bräuchte man schon Hackerwissen.“

War ja klar, dass Luis schon seine Hausaufgaben gemacht hat. Ich frage mich nur, wann, zum Teufel. Und was er sagt, hat leider Hand und Fuß.

„Habt ihr schon Näheres über Tom Seifert herausgefunden und ob er überhaupt Hackerwissen besitzt?“

Luis schüttelt den Kopf.

Ich grinse schadenfroh.

„Er und Burak Özcan sind für die Polizei absolut unauffällig“, sagt Luis. „Keine Vermerke in unseren Systemen. Aber wir stehen ja erst am Anfang.“

„Wie war es mit dem Kind?“, erkundigt sich Soraya.

„Das Kind ist 17 und eine spätpubertäre Kratzbürste. Doch er und sein Vater scheinen eine enge Beziehung zu haben. Finn war in der Klinik sehr betroffen und hat Tom Seifert einen Plüschtiger mitgebracht.“

„Was ist mit der Mutter?“, fragt Soraya.

„Nach der Geburt auf Nimmerwiedersehen abgehauen, laut Finn.“

„Wo ist er jetzt?“

„Bei der Familie seines Kumpels. Ich dachte, ist besser, wenn er erst mal nicht allein ist. Wenn Tom nicht durchkommt, müssen wir das Jugendamt informieren. Die Leute, bei denen Finn nun ist, sind auch mit Tom Seifert befreundet und machen einen soliden Eindruck. Weder sie noch Finn haben eine Erklärung für den Überfall und wissen von keinen direkten Drohungen. Aber sie sagen, Finn und Tom sind wie Kletten.“

Soraya dreht ihr Tablet um. „Sieh dir mal die Aufnahmen der Tankstellenkamera an.“

Ich setze mich neben Luis. Er riecht wieder nach Himbeerkaugummi und diesem Luis-Duft, den ich inzwischen leider als verführerisch einordne.

Ich konzentriere mich auf die Aufnahmen.

Burak Özcan kommt mit der Tüte zur Tür. Tom Seifert verlässt den panzerglas-gesicherten Thekenbereich und öffnet den Hauptzugang zum Verkaufsraum.

„Der Eingang bleibt aus Sicherheitsgründen ab 23 Uhr geschlossen“, erklärt Luis.

„Was du nicht sagst.“ Ich schenke ihm ein mattes Lächeln und gucke weiter.