Kater mit Sommersprossen - Orlando Stein - E-Book

Kater mit Sommersprossen E-Book

Orlando Stein

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Beschreibung

Der erfolglose Comiczeichner Alex hat genug von Beziehungskisten und kümmert sich liebevoll um seine debile Oma. Niko wird nach dem Abitur von seiner kühlen Pflegefamilie hinauskomplimentiert. Beide treffen an einer Berliner Tankstelle aufeinander, fühlen sich magisch voneinander angezogen, verhalten sich aber wie feindselige Katzen. Doch Liebe fragt nicht, ob sie willkommen ist. Alex und Niko beginnen sich gegenseitig zu inspirieren und spüren, dass sie irgendwie zusammengehören. In diese Hochgefühle platzt Alex’ Ex; Nikos Sportkumpel gesteht ihm seine wahren Gefühle und wer zum Teufel ist dieser mysteriöse Robert, der sich nur Oma zeigt? Kein Wunder, dass Alex und Niko das Gleichgewicht verlieren.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Table of Contents

Title Page

Teil 1: Pheromone, was sonst

Niko

Alex

Niko

Alex

Niko

Alex

Niko

Alex

Niko

Alex

Niko

Alex

Teil 2: Nestbau

Alex

Niko

Alex

Niko

Alex

Niko

Alex

Niko

Alex

Niko

Alex

Teil 3 Einsturzgefahr

Niko

Alex

Niko

Alex

Niko

Impressum

Copyright

© 2024 Orlando Stein

© 2024 Traumtänzer-VerlagLysander Schretzlmeier

Ostenweg 5

93358 Train

www.traumtaenzer-verlag.de

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.

Alle Rechte sind vorbehalten.

 

ISBN: 978-3-947031-53-5 (Taschenbuch)

ISBN: 978-3-947031-54-2 (E-Book mobi)

ISBN: 978-3-947031-55-9 (E-Book ePub)

 

Autor: Orlando Stein

Covergestaltung: Renee Rott

https://www.cover-and-art.de/

 

 

 

 

 

Dieses Werk ist eine fiktive Erzählung,

die ganz der Fantasie des Autors entspringt.

Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden oder bereits

verstorbenen Personen sind rein zufällig und

nicht beabsichtigt.

 

 

 

„Please do not ask

why I asked him to dance

I still cannot explain

but I think that it was

just cause I wanted to …“

(Songtext von Sam Vance-Law)

 

 

 

 

Teil 1: Pheromone, was sonst

 

 

Niko

 

Ich hatte die Abiturprüfungen mit Auszeichnung bestanden und tat, was Jungs am besten konnten.

Nichts.

Das war in den Augen meiner gutbürgerlichen Pflegeeltern Seibold ein Sakrileg. Sie hatten vor acht Jahren einen bildungsfernen Jungen aus einem Heim ins gediegene Berliner Westend geholt, damit er einer von ihnen werden sollte. Wohlgemerkt, einen Jungen, nicht mich, Niko, der seine beschissene Vorgeschichte irgendwann mal abhaken wollte. Man konnte zwar in ein anderes Stadtviertel ziehen, doch seine Vergangenheit wurde man damit nicht los. Ich war kein Held wie Lucky Luke, der den Revolver schneller ziehen konnte als sein Schatten.

Kaum ein Tag verging bei Familie Seibold, ohne dass ich zu hören bekam, wie gut ich es doch bei ihnen hatte und was sie mir nicht alles ermöglichten. Zugegeben, das stimmte, aber ich merkte schnell, dass sie kaum etwas aus wahrem Mitgefühl heraus taten, sondern um vor aller Welt selbst gutdazustehen. Klar, dass ich irgendwann auf Durchzug schaltete. Jeder Teenie würde das tun.

Seibolds leibliche Tochter Laura konnte mich vom ersten Tag an nicht ausstehen, obwohl ich wirklich den Affen machte und alles gab, was an emotionaler Intelligenz in mir steckte. Doch vergeblich. Laura sah nicht schlecht aus, war aber keine Göttin wie Beyoncé, worunter sie sehr litt. Dafür boomten ihr Beauty-Blog und ihre Tutorials auf Social Media.

Ich fraß wie ein Scheunendrescher und nahm kein Gramm zu.

Laura dagegen kämpfte vergeblich gegen ihren Babyspeck. Meine Augen waren grüner als ihre, meine Lippen voller, meine rotblonden Haare lockiger. Und das schlimmste: meine Taille. Ich hab’ nie kapiert, dass so was bei Mädchen einer unausgesprochenen Kriegserklärung gleichkam und dass sie dafür morden würden.

Aber hey! Dafür konnte ich doch nichts. Ich meine, das warwirklich keine Absicht.

Dann kam ich auch noch auf ihr Gymnasium und in dieselbe Klasse.

Wenn also irgendjemand Schuld daran war, dass ich nicht auf Mädchen stand, dann Laura Seibold. Das ist zwar rein biologisch und soziologisch gesehen Müll, verdeutlicht aber unser Verhältnis, oder besser gesagt, unser Nicht- Verhältnis. Wenn ich Jungs so reden hörte, konnten schon leibliche Schwestern scheiße sein. Jedenfalls behaupteten sie das. Eine Pflegeschwester wie Laura war allerdings purer Horror. Vor allem, als sich herauskristallisierte, dass sich unser Beuteschema überschnitt. Ich war äußerlich kein Typ, nach dem sich alle auf der Straße umdrehten und hysterisch Oh mein Gott riefen, spielte aber super Volleyball und prügelte mich wie andere. Nein, besser, weil ich das im Heim gelernt hatte.

Damals, bevor ich zu Seibolds kam.

Als einziges Pflegekind in der Klasse besaß ich so einen Der-macht-sein-Ding—alleine-Ruf.

Der lebt nicht bei seinen Eltern.

Ich war einigermaßen sozialisiert und, Verzeihung das ich das sage, intelligent und vielseitig begabt. Meine Vorgeschichte behielt ich allerdings für mich, um die behüteten Obere-Mittelklasse-Weicheier nicht zum Heulen zu bringen. Die tummelten sich ja in einer Rosa-Blümchen-Welt wie sorglose Delfine, machten sich ihre Probleme selbst und verkrafteten das Friss-oder-stirb-Prinzip des Lebens nicht so.

Mit sechzehn wählte mich der göttliche David Grünberg für die Volleyball-Schulmannschaft aus. Beim Sport musste ich mal nicht Niko sein, sondern war einfach einer vom Team.

Die Bombe im unteren Aufschlag. Die lebende Hechtbagger- Legende. Und der Liebling von Sahneschnitte David Grünberg.

Zum ersten Mal in meinem Leben gehörte ich irgendwo dazu. Ich meine, so von innen heraus.

An einem Freitagabend Anfang Juli saß ich mit Familie Seibold im Garten eines Nobelitalieners. Seibolds wollten am Sonntag für drei Wochen in ihr Ferienhaus nach Portugal verreisen. Ich war nun volljährig und keiner zwang mich mehr, mitzukommen. Halleluja!

Ich hatte zuhause schon zwei Biere gekippt, um den Abend mental einigermaßen durchzustehen und musste pinkeln wie einPferd.

Gerade wollte ich aufstehen und mich erleichtern, als Frau Seibolds eindringlicher Blick mich zur Reglosigkeit verdammte. Die Schlange und das Kaninchen.

Also, ich war das Kaninchen.

„Es gibt da eine Sache, Niko!“ Frau Seibold, Berliner Top-Zahnärztin, tupfte mit einer Stoffserviette das Olivenöl der Antipasti von ihren schmalen Lippen und schenkte sich Mineralwasser aus der Karaffe ins Glas.

Das Geräusch des fließenden Wassers verstärkte meinen Blasendrang und ich presste die Oberschenkel aneinander.

Ich verabscheute ja schon die Zahnspange, die Frau Seibold mir verpasst hatte. Noch immer musste ich sie tragen und fühlte mich wie ein Dauerpupertier. Viel schlimmer fand ich allerdings, wenn man mit mir sprach und den Satz mit meinem Vornamen und einem nicht zu überhörendem Ausrufezeichen enden ließ. Es klang dann, als wäre ich ein Hund.

Sitz, Niko! Platz, Niko! Hol das Stöckchen, Niko! Es gibt da eine Sache, Niko!

Ich betrachtete Frau Seibold und zerkaute stumm ein Stück trockenes Weißbrot, weil mich in Öl getränkte Vorspeisen an verendende Seevögel bei einer Ölpest erinnerten. Ich kaute und versuchte dabei das Plätschern des Springbrunnens in meinem Rücken zu ignorieren, schlug die Beine übereinander und klemmte meinen Pimmel ein.

„Unser Betreuungsverpflichtung endet und wir sind nun nicht mehr für dich verantwortlich.“

Tataaa! Die Katze war aus dem Sack. Pflegemum sagte nicht, du bist jetzt für dich selbst verantwortlich. Das hätte mir und meinem Leben ja eine gewisse Wichtigkeit verliehen. So war ich einmal mehr bedeutungslos, während sie selbst ihre gesellschaftliche Pflicht erfüllt hatte. Es kotzte mich an und ich musste verdammt noch mal PINKELN!

„Ich hatte dir schon vor den Abiturprüfungen eine Liste mit Organisationen zusammengestellt, an die du dich als Careleaver wenden solltest.“ Herr Seibold, der unförmige Anwalt, schob seine randlose Brille gerade. Er spießte mit der Gabel einen Streifen rohes Rindfleisch auf, tunkte es in die Vinaigrette und krönte den Bissen mit Parmesanspänen.

Dann schob er ihn in den Mund und zermalmte das Ganze mit lauten Kaugeräuschen.

Rohes Fleisch! Barbarisch! Eklig!

Meine Blase war wirklich randvoll und erste Schweißperlen bildeten sich auf meiner Stirn. Ich wandte mich von Seibold ab und dachte mir, dass er als Junge mit seinen Hamsterbacken, selbst unter den Kindern der Bessergestellten ein perfektes Mobbingopfer abgegeben haben könnte. Weil er ganz sicher schon damals alles besser wusste und jedem in sein Leben reinquatschte. Kindliche Grausamkeit kennt keine Klassenunterschiede. Da herrscht ausnahmsweise mal Gleichstand zwischen Netto und der Feinkostabteilung des KADEWE.

Ich war in meinem bisherigen Leben oft der Outlaw und musste Vieles, was sozialen Umgang betraf, erst lernen, weil ich es einfach nicht kannte. Niemand hatte mich je in den Arm genommen und getröstet. Das musste ich selbst machen. Meine Jahre im Heim, in denen ich nicht gefressen werden wollte, brachen eben immer wieder mal durch, ich wurde gemein und manchmal bereute ich es hinterher. In meiner Brust steckten immer noch zwei Seelen, die eine in Hab-Acht-Stellung und die andere, die Vertrauen suchte.

Oh mein Gott! Lasst mich endlich Pinkeln.

„Warum hast du dich noch nicht darum gekümmert?“

In Seibolds juristischer Welt hatten junge Menschen, die man am Kottbuser Tor aufgriff, um sie bei bürgerlichen Gutmenschen in die Lehre zu schicken, eine Fachbezeichnung.

Careleaver.

Ich blies mir den Pony aus dem Gesicht und schnaubte abfällig.

Nicht: Niko-der-Junge-dessen-Schlampe-von-Mutter-ihn-verließ-und-der-vom-Vater-bewusstlos-geschlagen-wurde-den-wir-in-unsere-Familie-aufgenommen-haben-und-der-nun-in-seine-Eigenständigkeit-entlassen-wird.

Nein, das klang zu emotional. Careleaver war clean. Anonym. Lapidar.

Er war wie der Begriff menschliches Material im Kriegsjargon, oder die Endlösung der Judenfrage bei den Nazis. Mit solchen Begriffen konnte man prima arbeiten, ohnedarüber nachzudenken, was tatsächlich dahinterstand.

Ich antwortete nicht auf Herrn Seibolds Frage, sondern beobachtete verzweifelt das Kind am Nachbartisch, das mit einer Wasser-Pumpgun fröhlich in die Buchskugeln spritzte. Ich überlegte, wie ich unbemerkt meinen Pimmel verknoten könnte, ohne dabei bleibende Schäden anzurichten.

„Wir haben dich immer mehr unterstützt, als wir hätten müssen, Niko“, fuhr Frau Seibold in ihrem Charity-Singsang fort. „Aber du kannst nun nicht mehr lange bei uns bleiben. Das verstehst du doch?“

Ich nickte und streckte den Rücken, um meiner Blase physisch mehr Volumen zu verschaffen. Sie akzeptierte den Aufschub.

„Wir erwarten eine Strategie, wenn wir aus dem Urlaub zurückkommen“, sagte Herr Seibold.

Strategie? Ich kapierte. Sie wollten mich nicht nur loswerden, sondern das auch noch schnell.

„Ich denk drüber nach.“

„An deiner Stelle und mit deinen Voraussetzungen hätte Laura schon längst alle Hebel in Bewegung gesetzt, um etwas aus sich zu machen.“ Frau Seibold lächelte ihrer Tochter zu.

Laura schenkte mir ein oberfieses Schach-Matt-Grinsen. Die Freude, mich nach acht Jahren endlich loszuwerden, konnte selbst ein Blinder nicht übersehen.

Ich grinste gequält zurück. „Hier sind doch alle nur neidisch, weil der namenlose Assi ein Einser-Abi hingelegt hat, während eine Laura Seibold granatenmäßig durchgefallen ist.“

„Ist das alles, was dir dazu einfällt?“ Frau Seibold spuckte pures Gift.

„Hat eben jeder mal eine schlechte Phase“, sagte Herr Seibold. „Nächstes Jahr wird Laura dafür umso besser abschließen.“

Laura nickte katzendreckig.

Ein großer Fehler, denn ich hatte noch ein Assi-Ass in der Hand und vergaß darüber sogar das Pinkeln. „Na ja, vielleicht klappt’s dann auch besser mit den Jungs.“

Laura erstarrte.

„Ich meine, die Sache mit David Grünberg ging ja auch in die Hose. Und zwar in meine.“

War keine gute Idee, meine Hose zu erwähnen. Sie erinnerte mich daran, dass ich pinkeltechnisch den Wettlauf mit der Zeit verlor und meine Genitalien schon so abdrückte, dass ich praktisch für immer impotent bleiben musste.

Laura knallte ihr Besteck auf den Tisch, sprang auf und stampfte wutschnaubend zum Klo.Wie ich sie darum beneidete!

Alle Gäste auf der Terrasse starrten ihr nach. Herrn Seibold klappte die Kinnlade herunter.

„Was … war mit diesem … David?“, fragte Frau Seibold vorsichtig.

Ich lächelte. „David hat Laura letztes Jahr auf dem Schulhof vor aller Augen abblitzen lassen.“

„Davon wissen wir ja gar nichts.“ Frau Seibolds fassungsloses Gesicht sprach Bände. Ihre Tochter abzulehnen war doch so was wie auf eine Rolle in einem Ridley-Scott- Film zu verzichten.

„David hat lauthals verkündet, dass er gerade mit mir seine schwule Phase auslebe und nicht so auf große Titten stehe.“

Frau Seibold verschluckte sich und spuckte diesmal kein Gift, sondern Rotwein auf die weiße Tischdecke.

Ein Kellner eilte herbei, um unter Frau Seibolds ständigen Entschuldigungen die Schweinerei zu beseitigen. Ich legte währenddessen eine Gedenkminute für David ein. Dem Schülersprecher, Sportass, Schulstar und Sonnyboy. Er hatte sich und mich auf meine Kosten geoutet und war kurz darauf einfach nach Australien verschwunden. Dieser Saftsack! Ich blieb zurück und erntete den ganzen Spott. Selbst die Windelpisser aus der Sekundarstufe I vollführten Wichsgesten hinter meinem Rücken und kicherten sich ihre verschissenen Äsche ab. Ich bekam vor Wut Pickel und hoffte David Grünberg nie, nie, nie wiederzusehen.

Immerhin bekam ich daraufhin eindeutige Angebote von ein paar Jungs, die es mal probieren wollten. Ein kleiner Trost. Dennoch verdiente Davids Tat, gerade im Bezug auf Laura,einen Gedenkstein auf dem Schulhof.

An dieser Stelle entschied sich der legendäre DavidGrünberg öffentlich für eine sexuelle Affäre mit dem spangentragenden Sommersprossengesicht Niko Lange. Wirwerden ihn nie vergessen.

Oder so was in der Richtung. Ich musste grinsen.

„Du wirst dich bei Laura entschuldigen“, verlangte Herr Seibold.

Ich riss die Augen auf. „Dafür, dass ein Kerl auf mich scharf war und nicht auf Ihre Tochter?“

„Das ist keine befriedigende Antwort, Niko.“

„Das ist das Leben.“ Ich legte meine Serviette neben den Teller und stand endlich auf. Der Appetit war mir vergangen.

„Wo willst du hin?“, fragte Herr Seibold. „Die Hauptspeisen kommen gleich.“

„Sie haben mir aufgetragen, über meine Zukunft nachzudenken, richtig?“

Die beiden sahen mich an.

„Warum verachtest du uns, Niko?“ Frau Seibolds Stimme klang mit einem Mal weinerlich.

„Ich verachte Sie nicht. Was mich ankotzt ist, dass Sie nur sich selbst ernst nehmen. Schönen Abend noch.“

Nachdem ich endlich auf dem Klo war, verließ ich das Restaurant und stöpselte mir Musik ins Ohr. Rock-Klassiker Queen.

Sometimes I feel I’m gonna break down and cry. Nowhere to go, nothing to do with my time …

Keiner konnte so verführerisch Baby stöhnen wie Freddy Mercury. Das tröstete mich.

Ich schlenderte den Gehsteig entlang und mich plagten echte Probleme. Ich hatte in einem Monat kein Bett mehr und mein angespartes Taschengeld würde nicht besonders lange reichen. Ich sah mich schon mit den Pennern am Kottbusser Tor herumlungern, Drogen verticken oder auf den Strich gehen.

Familientradition. Back to the roots, sozusagen.

Am meisten stank mir, dass ich schon selbst Seibolds heimliche Denke draufhatte. Einmal Assi, immer Assi.

Wir haben unser Bestes gegeben, aber so einer … würde er zuseinen Anwaltskollegen sagen und bedauernd mit den Schulternzucken. Ich sah sie ihre Krawatten festziehend dabei nicken und hätte kotzen können.

Ich beschloss, mich zu betrinken. Schließlich haben viele große Geister gesoffen und dabei geniale Gedanken entwickelt.

 

 

 

Alex

 

Wie soll man mit einem Job Frieden schließen, der als Zwischenlösung gedacht war und ein Dauerzustand blieb?

Inzwischen war ich dreiunddreißig und arbeitete immer noch an der Tankstelle am Spandauer Damm. Eigentlich war ich Illustrator. Comiczeichner. Aber da keiner meine Geschichten herausbringen wollte, sagte ich mir, Tankstellen sind so was wie Notaufnahmen. Für mich, der die Nachtschicht zwischen 21 Uhr und 3 Uhr übernahm, und für die Kunden, die in dieser Zeitdort auftauchten. Sie brauchten nicht zwangsläufig Benzin. Ihnen waren Alkohol und Zigaretten ausgegangen oder der Gesprächspartner.

Während das gediegene Westend schlief, trafen sich Berliner Nachteulen auf ein Bierchen bei Benzingestank und vorbeifahrenden Autos. Zu dieser Nachtzeit sah ich die Gesichter meiner Stadt ohne Glamour. Sie waren fahl, abgekämpft und dünnhäutig. Keines musste mehr frisch rasiert oder aufgehübscht den Alltagskrieg gewinnen. Um diese Zeit waren alle Schlachten geschlagen.

Ich fragte mich immer wieder, was passiert mit Tankstellen, wenn sich mal das Elektroauto durchsetzt?

„Die vier, nen Cappu und ne Laugenstange Hawaii“, sagte der Mann vor mir und gähnte.

Er war Stammgast, fuhr Gemüse zur Großmarkthalle nach Moabit und gönnte sich einen Imbiss. Ich zog den Betrag ab, belegte den Laugenstangenrohling mit Pressschinken, Analogkäse und einer Scheibe Dosenananas. Das Ganze landete dann im Backofen. Währenddessen lief der Cappuccino durch und ich drückte sofort den Plastikdeckel drauf. Bis die Laugenstange fertig war, hatte sich der Schaum aus Milchgranulat verflüchtigt und sah verdammt unappetitlich aus.

Der nächst Kunde zahlte Zapfsäule vier in Kombination mit einer Packung Lucky Strike, Erdnussflips und Kondomen. Wo zum Teufel fand der Typ hier und um die Uhrzeit noch was fürs Bett?

Ich versuchte mich an mein letztes Sexdate zu erinnern und hatte sein Gesicht vergessen.

 

Man darf ja auch einfach mal Spaß haben. Muss ja nicht immer alles, was man tut, Spuren in einem hinterlassen.

Inzwischen war das Menü komplett und ich wünschte guten Appetit.

Als nächstes landeten ein Sixpack Bier und eine Flasche Schnaps viel zu aggressiv auf dem Tresen. Ich hob meinen Blick und landete in moosgrünen Augen. Sie reflektierten das grelle Licht der Leuchtstoffröhren. Als Illustrator hatte ich ein Faible für Farben und natürlich jede Menge Fantasie.

Das Wort Zauberwald ergriff von mir Besitz und zog mich wie ein Magnet in dieses magische Grün. Ich hatte schon vergessen, dass es so einen Zauberwald gab. Ich meine, in Menschen.

„Geht’s dann vielleicht mal weiter“, maulte der Typ hinter dem Zauberwald.

Ich blinzelte.

Die grünen Augen gehörten zu einem jungen Kerl mit heller Haut, niedlich-trotzigem Gesichtsausdruck, Sommersprossen und Schmollmund mit Zahnspange. Ein paar Pickel.

Und einer Bierfahne.

Jetzt kapierte ich auch, warum seine Augen so glänzten. Von wegen Zauberwald. Man fällt immer wieder auf denselben Scheiß rein.

In-Ear-Ohrstöpsel schotteten ihn von der Außenwelt ab.

„Schnaps gibt’s erst ab achtzehn“, sagte ich.

Der schlanke, rotblonde Kerl mit so einer hippen Undercut- Frisur, die mich an Hitlerjungen erinnerte, blies genervtseinen lockigen Pony aus dem Gesicht. „Was?“

Ich beugte mich über den Tresen und deutete auf seine Ohrstöpsel. Sein Bieratem streifte mich. Und so ein Duft nach Berberitzen.

Er verdrehte die Augen und zog einen Stöpsel heraus.

Unbestimmbares Gequäke drang in meine Richtung.

„Was denn?“, wiederholte er genervt.

„Schnaps gibt’s erst ab achtzehn.“

Er kramte umständlich einen Geldbeutel aus der Hosentasche und hielt mir wortlos seinen Personalausweis vor’s Gesicht. Er schwankte und schien mir schon hackedicht zu sein. Ich prüfte das Geburtsdatum. Er war vor wenigen Tagen achtzehn geworden, also durfte er sich öffentlich besaufen. Womit und so lange er wollte.

Seine Sache.

Volljährig werden war in meinen Augen kein Grund zur Freude. Als Kind lebte ich in einer Welt von tausend Möglichkeiten. Dann tappte ich in die Falle der Erwachsenen mit ihren Versprechungen. Wenn du mal groß bist …

Als Jugendlicher dachte ich dann wow, endlich machen was ich will. Aber Scheiße! Jetzt kapierte ich allmählich, dass ich nicht mehr einfach nur spielen konnte, sondern mich reflektieren und Kompromisse eingehen musste. Ich brauchte eine Krankenkasse, eine Sozialversicherungsnummer und jede Menge verdammtes Glück.

Weil ich als Comiczeichner nicht für Angebot und Nachfrage auf den Strich ging, sondern an die Kraft meiner Geschichten glaubte, nannten mich Bekannte idealistisch, selbstzerstörerisch, spätpubertär oder stur. Wann wirst du endlich mal erwachsen, Alex? Die Welt wartetnicht auf dich!

Und auf dieses Milchbubigesicht vor mir auch nicht.

Deswegen fühlte ich mit ihm und wollte etwas Nettes sagen.

„Alles Gute nachträglich.“

Der Typ guckte mich an, als wäre ich ein sprechendes Tier. Mein Herz schlug schneller und ich wusste nicht, warum. Ich scannte verlegen Bier und Schnaps ein, er zahlte, schnappte sich motorisch ungeschickt den Alkohol und ging.

Nein, er torkelte. Wie ein Tölpel.

Um Mitternacht kam Raj, der stille Inder, putzte Theke und Klos. Füllte die Regale nach. Er war leise wie ein Geist, roch aber nach der gesamten Speisekarte des indischen Restaurants, in dem er täglich die Küche schrubbte, bevor er zu uns kam. Raj, der Nachtarbeiter, sprach nur ein paar Brocken Deutsch und wir kommunizierten in hanebüchenem Englisch. Deswegen wusste ich auch kaum etwas über ihn. Aber er war zuverlässig und lächelte immer. Wenn Rajs Schicht begann, konnte ich endlich mal pinkeln gehen und eine rauchen. Ein Blick in den Spiegel beim Händewaschen zeigte mir, dass ich nicht besser aussah als meine nächtliche Kundschaft.

Schichtwechsel. Um drei war ich alle, befreite mich im Aufenthaltsraum vom verschwitzten Poloshirt mit dem Tankstellenlogo und stopfte es in den Rucksack. Im eigenen T-Shirt machte ich mich auf den Weg nach Hause.

Es war so eine verheißungsvolle warme Julinacht, in der man auf dem Land oder im Fernsehen die Grillen zirpen hörte und einem noch etwas Aufregendes bevorstand. Sommer war für mich ein Synonym für Abenteuer. Die meisten Kinderbücher, die ich mal gelesen hatte, spielten im Sommer. Wie gesagt, als Comiczeichner blieb ich ein ewiges Kind, das sich beim Spielen zusah.

Zu unserer Wohnung in der Sophie-Charlotten-Straße brauchte ich zu Fuß eine Viertelstunde. Während dieser nächtlichen Spaziergänge gehörte mir Berlin gefühlsmäßig ganz allein. Wenig Verkehr, so gut wie keine Passanten. Da kamen mir die besten Ideen für Geschichten.

Ich näherte mich der Spandauer-Damm-Brücke. Am anderen Ende warf die beleuchtete S-Bahn-Station Westend ihr Licht in die Nacht. Die ersten Züge fuhren in etwa einer Stunde wieder. Eine Großstadt schlief nie wirklich, sie döste nur.

Ich schlenderte über die Brücke und stutzte. Auf meiner Seite saß jemand auf dem Geländer und stierte runter auf die A-100. Sie verlief neben den S-Bahn-Gleisen und ging von Halensee rauf an den Wedding.

Normalerweise saß nie jemand auf dem Geländer. Wozu auch?

Es war gefährlich, unbequem und der Ausblick alles andere als berauschend.

Der will springen, dachte ich und mein Adrenalinspiegelstieg bis zum Mond.

Kein Auto in Sicht- und Hörweite. War blöd, wenn man springen wollte, weil die Brücke nicht hoch genug war und möglicherweise nur für eine Querschnittslähmung oder so was Blödes reichte. Also musste man auf Nummer sicher gehen. Ein Bulli vielleicht, vollbesetzt mit kräftigen Arbeitern auf dem Weg zur Montage, wäre eine Option. Ich wusste das, weil da schon einmal einer gesprungen war und einen unschuldigen Autofahrer mit reingezogen hatte. Das war fies!

Der Fernsehturm wäre sicherer. Da funktioniert nichts mehr, wenn man unten ankommt. Aber das Ding war so gesichert, da fiel ja nicht mal ein Kugelschreiber runter.

Er wartet auf ein Auto, dachte ich und rannte los.

Der Typ registrierte mich nicht, schien völlig weggetreten.

Von links tauchten Scheinwerfer auf und ich legte noch eins zu. Das Auto war so gut wie da und ich erwischte den Kerl am Gürtel überm Arsch.

Plötzlich hing er frei in der Luft, zappelte wie ein Idiot und schrie. Ich konzentrierte mich auf meine Hände, musste fest zupacken, damit er mir nicht entglitt und aufpassen, dass ich nicht selbst noch das Gleichgewicht verlor.

Sein Gürtel hielt und ich zog ihn mit aller Kraft übers Geländer.

Verdammt! Es war der Typ mit den grünen Augen.

Seine Ohrstöpsel hatten sich verselbstständigt und aus ihnen drang irgendein Geplärre. Er wehrte sich wie eine eingefangene Wildkatze, doch ich stieß ihn unsanft auf den Gehsteig. Er trat mir ans Schienbein und seine Faust traf mein linkes Auge. Volle Kanne.

Drecksverdammt, tat das weh! Von dem Schlag konnte sich Felix Sturm noch eine Scheibe abschneiden.

„Verficktes Arschloch!“, brüllte er.

Ich knallte ihm eine. Augenblicklich verstummte er undfiel in sich zusammen. Er presste seinen Rücken ans Geländer und hielt sich schützend die Arme vors Gesicht, so, als ob ich ihn weiter verprügeln wollte.

„Schon gut“, sagte ich. „Ich tu dir nichts, okay?“

Er zog die Knie an, umklammerte sie und begann zu schluchzen.

Ich schnupperte. Es roch nach Urin. Ich sah, dass er in die Hose gepinkelt hatte. Vor Schiss vielleicht. Oder von zu viel Bier. Keine Ahnung. Mein Herz schlug immer noch wie ein Geigerzähler in der Sperrzone von Tschernobyl. Ich stützte meine Hände auf den Oberschenkeln ab, keuchte und betrachtete diese geladene Testosteronbombe.

Völlig fertig hockte ich mich neben den Jungen.

„Hau ab, du blöder Wichser!“, schrie er.

„Woher willst’n das wissen?“ Er glotzte mich an. „Was?“

„Das mit dem Wichser.“

Er schnappte nach Luft und fing wieder an, auf mich einzuschlagen. „Was mischt du dich in meinen Scheiß ein, du …“

Ich hielt seine Fäuste hartnäckig fest, bis er aufgab und beleidigt den Rotz in der Nase hochzog. Dann fing er an zu würgen und kotzte mir Bier und Schnaps in den Schoß. Sein Kopf fiel kraftlos an meine Schulter und sein Kotze-Bier-Pisse Geruch erreichte meine Nase.

Feierabend, dachte ich, blies angewidert die Backen auf und sah auf diesen schlaffen Haufen Restmensch. Was sollte ich jetzt mit ihm anfangen?

Niko

 

Fremde Gerüche drangen in meine Nase. Nein, es waren Düfte, denn das Wort Gerüche beschrieb eher etwas Unangenehmes.

Waschmittel und Duschgel, signalisierte mein Gehirn. Der andere herb-süße Duft nach Waldhonig verursachte ein Kribbeln in meinem Bauch und eine Gänsehaut überzog meinen Körper. Etwas Schweres lag auf meiner Taille und drückte mich an eine angenehme Wärmequelle. Ich spürte eine knallharte Erektion.

Geil, dachte ich, räkelte mich und versuche die Augen zu öffnen. Es gelang nicht auf Anhieb.

Ein Vogel zwitscherte irgendwo. Ich genoss die Wärme und den unbekannten Duft. Endlich formten sich Schemen vor meinen Augen und ich brauchte ein paar Sekunden, bis ich die Situation vollends erfasste.

Heilige Scheiße.

Neben mir lag ein Kerl, seinen Arm um meine Taille geschlungen. Meine Hand befand sich unter seinem T-Shirt und ertastete einen festen Bauch mit einem Nabel so hart wie ein Knopf.

Schreiend sprang ich aus dem Bett.

Der Typ fuhr hoch und starrte mich an. „Ach, du.“ Es klang so, als würde er mich seit Jahren vom Wegsehen kennen und zum Kotzen finden.

Wie er so dalag, erinnerte er mich an David Grünbergs Monsterkatzenvieh. Immer, wirklich immer, wenn ich ihn besuchte und er mich in sein Zimmer zog, damit wir ungestörtaneinander herummachen konnten, lag es auf seinem Bett, glotze so wie dieser Kerl und wenn es hätte sprechen können, hätte es dieses Ach du ganz genau so ausgesprochen.

Der Typ ließ sich wieder zurückfallen und gähnte. „Von den Toten auferstanden?“

Mein Schädel dröhnte von seiner dunklen Stimme. Mein Hirn stampfte wie eine altertümliche Dampflok und suchte verzweifelt nach Erklärungen. Ich blickte an mir herunter, entdecke ein fremdes T-Shirt und ebenso unbekannte Boxershorts. Beide Kleidungsstücke waren zu groß.

Vor Schreck verflüchtigte sich mein Ständer in Nullkommanix.

Ich blickte mich um. Draußen war es hell, doch die heruntergelassenen Jalousien an den beiden hohen, gekippten Fenstern filterten das Licht im geräumigen Zimmer. Vor den Fenstern stand ein Arbeitstisch. Darauf lagen große Papierbögen. Unmengen an verschiedenen Stiften standen in kleinen Behältern, wie zum Trocknen abgestelltes Besteck. Neben dem Tisch befanden sich ein Computerarbeitsplatz und ein flaches Gerät. Vermutlich ein Scanner. Ich erkannte im Dämmerlicht Zeichnungen, die ohne Rahmen an die Wände gepinnt waren, einen Schrank, ein Regal mit Büchern und das breite Bett mit diesem Typen drin.

Allmählich dämmerte mir, was geschehen war. Das missratene Essen mit Seibolds und meine Kündigung, sozusagen. Dann Alk. Viel Alk und danach: Filmriss.

„Ham’ wir miteinander geschlafen?“, fragte ich unverblümt. Meine Stimme quietschte dabei wie der eingerostete Türriegel in einem C-Horrormovie.

Der Typ setzte sich auf und blinzelte. „Was?“

Erst jetzt konnte ich ihn besser erkennen. Er sah verdammt sympathisch aus, mit seinen rappelkurz rasierten, dunklen Haaren und einem blauen Auge. Ich meine, er hatte zwei wahnsinnsblaue Augen, denen ich kaum ausweichen konnte, weil sie selbst in diesem Zwielicht strahlten wie ein Sommerhimmel. Den Schatten unter dem linken Auge deutete ich als Bluterguss.

Sein rechter T-Shirt Ärmel war hochgerutscht. Ich bemerkte ein schlangenartiges Tattoo auf dem freien Oberarm, konnte aber nicht erkennen, was es genau darstellte.

Der Typ mit dem zweifelhaften Charme eines Fremdenlegionärs auf Sexentzug kam mir bekannt vor. Peinlich berührt strich ich den Pony aus meinem Gesicht. „Kennen wir uns?“

„Wenige Stunden.“

„Was ist jetzt?“, fragte ich.

„Was soll jetzt sein?“

„Haben wir gevögelt oder nicht?“

„So dicht wie du warst, hättest du nicht mal deinen kleinen Finger hochgekriegt.“

„Was soll’n das jetzt heißen?“

„Es heißt nein. Wir haben nicht miteinander gevögelt.“

„Danke für die Info.“

„Bitte!“

„Kannst du mir verraten, was ich dann hier mache?“

Der Typ atmete tief ein. „Du hältst mich verdammt noch mal vom Schlafen ab.“

„Witzbold, was?“

„Okay, Freundchen“, sagte er in einem sehr unangenehmen Tonfall und deutete auf mich.

Ich wich einen Schritt zurück.

„Nimm mal die Eierschalen von den Ohren und konzentrier dich ne Sekunde. Du hast dich volllaufen lassen und wolltest von der Spandauer-Damm-Brücke springen. Ich kam gerade von der Arbeit und hab dich davon abgehalten. So sieht’s aus.“

Freundchen? Ts! Ich kratzte mich am Kopf, der an diesem Morgen viel zu groß war. Wie diese fremden Klamotten.

„Ähm … mal langsam. Was war das?“

„Blackout, hm?“

„Hör mal, du selbsternannter Hilfssheriff! Ich hab mich volllaufen lassen, ja, aber ich wollte nie im Leben von der Brücke springen. Kapiert?“

Er kniff die Augen zusammen. „Moment mal! Wenn ich nicht gewesen wäre, würdest du jetzt in Einzelteilen bei einem Gerichtsmediziner auf dem Tisch liegen und dein vorlautes Plappermäulchen wär mucksmäuschenstill.“

Ich stemmte aufgebracht die Hände in die Hüften. „Du hast sie ja nicht mehr alle!“

„Du verwechselst das wohl mit dir! Noch mal zum Mitschreiben. Ich geh von der Arbeit nachhause. Du sitzt auf dem Geländer von der Spandauer-Damm-Brücke. Es kommt ein Auto und du …“ Er brach ab.

„Ja, und weiter?“

„Du hast geschwankt“, sagte er vorsichtig. „Da hab ich dich gepackt …“

„Jetzt erinnere ich mich“, unterbrach ich ihn. „Mich hat was gestoßen und ich hab abgefangen zu schreien.“

„Ich hab dich nicht gestoßen! Du wärst wie ein nasser Sack auf die Autobahn gefallen.“

Wir fixierten uns reglos wie feindlich gesinnte Katzen.

„Du … wolltest nicht springen?“, fragte er dann.

„Nee. Echt nicht!“

„Warum nicht?“

Ich schnaubte verächtlich. „Du Honk! Erstens tut das ziemlich weh und zweitens gibt es elegantere Methoden. Ich meine, wenn man sich umbringen will.“

„Scheiße aber auch!“

„Nimm’s nicht so tragisch, Superman“, spottete ich. „Wenn ich jetzt in der Gerichtsmedizin liegen würde, hätte ich ein paar Probleme weniger. Vielleicht tröstet dich das.“

„Verdammt, dann hätte ich dich auf dem Gewissen.“ Er rieb sich mit den Händen übers Gesicht.

„Bitte fang jetzt nicht an zu heulen, ja!“

„Du bist die perfekte Arschgeige.“

Ich nickte und betrachtete ihn. „Kann sein. Wo bist’n um diese Uhrzeit überhaupt hergekommen?“

„Ich arbeite in der Tankstelle am Spandauer Damm.“

„Ah!“ Mein Gedächtnis nahm Fahrt auf. „Du hast mir den Schnaps verkauft und zum Geburtstag gratuliert.“

„Genau. Da siehste’s mal. Ich war sowas von nett zu dir. Zum Dank hast du mich beschimpft, mir ein Veilchen verpasst und mich vollgekotzt. Nein, warte, den blauen Fleck am Schienbein hab ich vergessen.“

Ich schniefte und überlegte. „Dann steht’s doch eins zu eins, oder?“

„Ich lach mich tot“, verhöhnte er mich.

„Bitte warte damit, bis ich gegangen bin, ja?“

„Auf Wiedersehen!“

Ich glotzte ihn an.

„Na geh schon“, drängte er.

Ich zögerte. „Das erklärt aber noch immer nicht, warum ich wie frisch verheiratet in deinem Bett gelandet bin.“

„Ich wollte dich nicht einfach so zurücklassen. Also hab ich dich hierher geschleppt. Du warst so lebendig wie eine ausgeblasene Kerze und hast gestunken wie die Pest. Hab dich geduscht und in mein Bett verfrachtet, weil es hier keine andere Schlafgelegenheit für dich gibt. Noch Fragen?“

„Was?“, rief ich. „Du hast mich einfach ausgezogen?“

„Hör auf, hier herumzuschreien! Es war alles andere als einfach und du bestimmt kein Anreiz zur sexuellen Nötigung.“

„Mehr ist also nicht gelaufen?“ Ich schniefte.

„Das reicht, meiner Meinung nach.“ Wieder starrten wir uns an.

Ich dachte an seinen Duft, der mich so rallig gemacht hatte. Nur wenige Augenblicke schwebte ich in einem Wolke- sieben-Gefühl mit einem ausgewachsenen fremden Mann, dessen aromatische Ausdünstung mir seltsam vertraut war. Ich konnte es immer noch nicht fassen und rieb mir den Schädel. „Aah, verdammt!“

„Hast du den ganzen Schnaps geschluckt?“

„Keine Ahnung, Mann!“

Er grinste dreckig. „Das dauert ne Weile.“

„Was?“

„Bis du wieder reibungslos funktionierst.“

„Danke für dein Mitgefühl. Mischt du dich immer in dieAngelegenheiten fremder Leute?“

„War ein Hilfsreflex oder so was.“

„Hilfsreflex? Mann, Mann, Mann! Da sitz ich friedlich auf’m Geländer, hab einen gezwitschert und denk über meine Probleme nach. Dann kommst du und schmeißt mich fast über’n Jordan.“

„Jetzt halt mal die Luft an, ja! Denken konntest du bestimmt nicht mehr. Du warst klinisch tot.“

„Ach! Du bist nicht nur Hilfssheriff, sondern auch noch Hilfsdoktor. Wow!“ Ich applaudierte.

Er verdrehte die Augen. „Hör zu, Kneifzange. Um diese Uhrzeit führe ich normalerweise keine Streitgespräche.“ Er grabschte nach einem Wecker, guckte drauf und stöhnte.

„Ist kalt hier“, sagte ich.

„Dann leg dich wieder hin.“

„Das würde dir so gefallen, was?“

„Die Zahnspangensexphase hab ich hinter mir. Danke.“

Ich schnappte nach Luft. So ein Idiot! „Wo sind eigentlich meine Klamotten?“

„In der Waschmaschine.“

„Na super!“

„Zu deiner Erinnerung, Testosteronbombe. Du hast sie vollgekotzt und reingepisst.“

„Hab ich dich gebeten, sie zu waschen?“

„Leck mich doch.“ Der Typ drehte sich von mir weg und zog die Decke über sich.

„Hey! Soll ich jetzt hier warten, bis die Klamotten trocken sind, oder was?“

„Du kannst sie meinetwegen auch nass anziehen“, drang esdumpf unter der Decke hervor. „Das Bad liegt nebenan. Gute Nacht.“

Ich setzte noch einen Schritt zurück und stolperte in einen altmodischen Riesensessel. Die Bettdecke vor mir hob und senkte sich, als lebte sie. Noch vor wenigen Minuten lag ich neben dem Kerl und hatte spitz wie Nachbars Lumpi seinen bretterharten Nabel befummelt. Und einen Ständer gehabt.

Selbst meine Erzeugerin, sofern sie sich noch nicht totgevögelt hatte, um am Dope zu kommen, würde mich eine Schlampe nennen.

„Hey!“, wiederholte ich.

Der Typ reagierte nicht mehr. Machte keine Anstalten aufzustehen, um meine Sachen zu holen. Zurück unter die Decke eines schlechtgelaunten Legionärs wollte ich auf gar keinen Fall, obwohl es da so kuschlig war. Ich musste jetzt Haltung bewahren.

Über der Armlehne des Sessels hing eine Wolldecke. Ich warf sie mir um und wartete.

Nach einer Weile hatte ich genug.

„Hey!“

Keine Regung, kein Laut.

„Dann eben nicht“, zischte ich angefressen, schälte mich aus dem Sessel und schlich zur Türe. Der alte Holzboden knarrte unter meinen nackten Füßen. Der Typ schlief, oder tat zumindest so. Sollte er doch!

Im Bad sah ich mich um. Es war so ein Altbau-Bad. Ein Klo, eine Wanne mit Duschvorhang, ein Waschbecken, ein schmales Regal mit Handtüchern und Windeln. Windeln?

Daneben stand die Waschmaschine mit einem Trockner obendrauf. Alles war sauber und ordentlich verstaut. Ich öffnete die Waschmaschine, suchte aus dem nassen Haufen mein Zeug heraus und stopfte es in den Trockner. Zum Glück gab es ein Kurz-Programm. Auf dem Klo hockend wartete ich, bis das Gerät endlich piepte.

Die Klamotten waren nicht ganz trocken, also behielt ich wenigstens das T-Shirt des Typen an. Geldbeutel, Smartphone und Schlüssel lagen auf der Spiegelablage. Meine versifften Sneakers standen neben der Badewanne. Sie stanken nach Erbrochenem. Angewidert zog ich sie an. Ein Blick aufs Phone. Es war sieben Uhr dreißig.

Eine Nachricht von Frau Seibold um 23:50 Uhr: Wir sindbeunruhigt und bitten dich um eine Mitteilung.

Ich verstand die Welt nicht mehr. Erst kündigten sie mir und dann machten sie sich Sorgen. Was sollte das sein?

Mitteilung, antwortete ich knapp, verstaute alles in den Hosentaschen und verließ die Wohnung.

Unten auf der Straße fiel die schwere Haustüre hinter mir ins Schloss und die ganze Peinlichkeit wich allmählich von mir. Nur der beschissene Kater blieb. Und die vollgekotzten Sneakers.

Erst mal orientierte ich mich, ging ein Stück die Straße rauf und guckte auf die Schilder.

Spandauer Damm. Sophie-Charlotten-Straße.

Okay. Es war nicht weit nach Hause, aber was sollte ich da? Mich von blöden Fragen nerven lassen? Nee, ich schlenderte den Damm entlang nach Osten. Der Morgenhimmelwar klar und so vollkommen blau wie die Augen des Kerls. So vollkommen wie dieser kurze Augenblick beim Aufwachen unter der Decke mit der Körperwärme, dem sanften Druck eines Männerarmes und verheißungsvollen Düften. Ich schnupperte am T-Shirt. Es roch nach ihm. Ich bekam eine Gänsehaut und wusste nicht, was ich davon halten sollte. Mit ausgewachsenen Männer hatte ich noch nie rumgemacht.

Beim Stehbäcker kaufte ich einen Becher Kaffee und Croissants, ging damit zum Charlottenburger Schlosspark und wartete, bis er öffnete. Auf der öffentlichen Toilette dort reinigte ich meine Sneakers. Die Vögel im Park zwitscherten wie verrückt und ich dachte wieder an dieses schöne Gefühl beim Aufwachen. Inzwischen fand ich sogar einen Namen dafür.

Zugehörigkeit.

Warum war ich Arschgeige nicht einfach liegengeblieben und hab die Klappe gehalten?

 

Alex

 

Gegen Mitternacht erschien Raj zur Arbeit.

Ich freute mich wie immer, ihn zu sehen. Nach einem heißen Tag raubte eine unerträgliche Schwüle ganz Berlin den Atem. Das unausweichliche Gewitter lag schon in der Luft. Trotzdem rannten sie mir die Bude ein. Die Kühlschränke waren fast leer und ich servierte noch immer heiße Würstchen mit Senf, Laugenstange Hawaii und den schlechtesten Kaffee auf dem Weg nach Mitte.

„Hot like India.“ Raj lächelte, räumte Colaflaschen in den Kühlschrank und sah dabei wie aus dem Ei gepellt aus.

Mir dagegen trieb es den Schweiß aus allen Poren und das Poloshirt mit dem Tankstellenlogo klebte an meinem Körper.

„Scheiß Hitze“, seufzte ich.

Als gerade mal keiner da war, ging ich eine rauchen. Die Stadt hielt den Atem an. Es war windstill und ein Donner jagte den nächsten. Grollend und drohend wie ein Rudel aufgebrachter Löwen.

Ein gigantischer Blitz raste über die Stadt. Ich stellte mir vor, wie er in die Tankstelle fuhr, und sah diese fantastische Feuersäule bei der Explosion.

Wie so ein Spezialeffekt in einem Actionfilm.

Ich war kein Pyromane und auch kein Psychopath, sondern besaß nur rege Fantasie. Außerdem liebte ich Gewitter. Für mich waren sie die Orgasmen der Erdatmosphäre.

Vielleicht war ich ja doch nicht ganz dicht. Die Erdatmosphäre war es schließlich auch nicht mehr.

Kurz nach meiner Pause brach ein Platzregen los und die wenigen verbliebenen Nachteulen flüchteten in den Verkaufsraum. Durch die Glasfront beobachtete ich die Luftblasen, die sich in den Pfützen neben dem Vordach bildeten. Ein zarter Ölfilm schimmerte auf ihnen. Die Blasen erinnerten mich an Hieronymus Boschs skurriles Gemälde Garten der Lüste, auf dem ein nacktes Liebespaar in so einer Blase steckte. Noch heute rätselten die Kunsthistoriker, was das bedeuten könnte. Für mich war es eindeutig der Beginn der europäischen Comic-Kultur.

Plötzlich stand er vor der Scheibe und starrte herein. Er trug dieselben Klamotten wie gestern.

Und mein T-Shirt.

Er sah aus wie ein ausgesetzter junger Kater. Der nasse Pony klebte im Gesicht, das Regenwasser tropfte vom Kinn.

Kater mit Sommersprossen.

Genau so müsste man ihn zeichnen.

Die vergangene Nacht steht mir wieder vor Augen. Ich verfrachtete den Kerl-auf-standby umständlich ins Bett. Er brabbelte dabei so etwas wie ist doch eh alles scheißegal und mich will ja eh keiner haben. Er zog die Knie an und zitterte. Klarer Fall von No Future. Das Bild kroch in mein Herz und setzte sich dort fest. Ich hielt ihn für suizidgefährtet und legte mich vorsichtig neben ihn. Dachte, er braucht vielleicht eine Schulter zum Anlehnen. In seinem Suff hat er sich dann tatsächlich an mich geschmiegt.

Ist ja gut, flüsterte ich, morgen sieht die Welt schon wieder besser aus. Was sollte ich einem frustrieren, besoffenen Unbekannten sonst sagen?

Und noch etwas. Er roch verdammt gut. Also nach der Dusche, jedenfalls. Ich meine, Testosteronbomben, ob nüchtern oder voll, zählten wirklich nicht zu meinen bevorzugten Bettgefährten.

Nach seinem Zicken-Aufstand am Morgen dann hatte er sich

davongemacht und ich war ich froh und auch nicht. Den ganzen Tag über ging er mir nicht aus dem Kopf. Ich dachte an seine grünen Augen, seinen betörenden Geruch nach Berberitzenblüten und dass er gar nicht springen wollte.

Jetzt stand er wieder da und mein Herz machte einen Sprung.

War er ein Stricher? Ein Geist? Ein Wiedergänger? Eine verlorene Seele? Konnte nur ich ihn sehen?

Egal! Ich winkte ihn herein.

Er streifte pitschnass und bibbernd durch die Gänge, kam zur Kasse und fixierte gierig die letzten Würstchen im gläsernen Wurstwärmer.

Graf Dracula vor einer Blutkonserve.

Seine nassen Fußabdrücke bewiesen zumindest, dass er keine Einbildung war.

„Hi“, sagte er knapp.

„N’Abend.“ Ich betrachtete ihn. „Brauchst du wieder Schnaps?“

Er schüttelte den Kopf.

„Hunger?

---ENDE DER LESEPROBE---