Bullenbrüder: Tote haben keine Ferien - Edgar Rai - E-Book
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Bullenbrüder: Tote haben keine Ferien E-Book

Edgar Rai

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Beschreibung

Privatschnüffler Charlie Brinks ist unter die Bodyguards gegangen. Er kutschiert den CEO der insolventen Air Brandenburg durch die Gegend, weil der gerade tausende von Mitarbeitern entlassen musste und nun Fracksausen hat. Zu Hause bei Charlies Bruder, Kommissar Holger Brinks, treibt Mutter Anita alle in den Wahnsinn. Sie hat einen neuen Lover: Jean-Pierre, einen Steward,der gerade bei Air Brandenburg entlassen wurde. Holger ist dankbar für einen neuen Fall: Ein Maik Schuster hat Selbstmord begangen, mit einer eigens dafür besorgten Knarre. Doch zu Hause bei dem Toten findet Holger als erstes einen Schrank mit registrierten Waffen.Wer erschießt sich mit einem Gewehr vom Scharzmarkt, wenn er genug davon zu Hause hat? Dann wird der CEO, den Charlie bewacht, mit einer Waffe angeschossen, die auf Maik Schuster zugelassen war ...

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Seitenzahl: 326

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Hans Rath • Edgar Rai

Bullenbrüder. Tote haben keine Ferien

Kriminalroman

Über dieses Buch

ES BLEIBT IN DER FAMILIE.

 

Privatschnüffler Charlie Brinks ist unter die Bodyguards gegangen. Er kutschiert den CEO der insolventen Air Brandenburg durch die Gegend, weil der gerade Tausende von Mitarbeitern entlassen musste und nun Fracksausen hat. Zu Hause bei Charlies Bruder, Kommissar Holger Brinks, treibt Mutter Anita alle in den Wahnsinn. Ihr neuer Lover, Flugbegleiter Jean-Pierre, ist gerade bei Air Brandenburg entlassen worden – und stolpert nachts gern mal betrunken ins Blumenbeet. Holger ist daher dankbar für einen neuen

Fall, auch wenn es eine Routineuntersuchung ist: Ein Maik Schuster hat Selbstmord begangen. Dann wird der CEO, den Charlie bewacht, mit einer Waffe angeschossen, die auf ebendiesen Maik Schuster zugelassen war ...

 

«Wenn die Bullenbrüder ermitteln, sind Lachtränen angesagt.» (Freundin)

Vita

Hans Rath, geboren 1965, studierte Philosophie, Germanistik und Psychologie in Bonn. Er lebt mit seiner Familie in Berlin, wo er unter anderem als Drehbuchautor tätig ist. Zwei Bände seiner Romantrilogie um den Mittvierziger Paul Schubert wurden fürs Kino adaptiert. Seine aktuellen Bücher aus der Reihe «Und Gott sprach» sind ebenfalls Bestseller.

 

Edgar Rai, geboren 1967, wurde mehrerer Schulen verwiesen, ging ein Jahr nach Amerika und studierte Musikwissenschaften und Anglistik in Marburg und Berlin. Er arbeitete unter anderem als Drehbuchautor, Basketballtrainer, Chorleiter, Handwerker und Onlineredakteur. Seit 2001 ist er freier Schriftsteller und hat neben weiteren die Romane «Nächsten Sommer» und «Etwas bleibt immer» veröffentlicht. Edgar Rai hat drei Kinder und lebt in Berlin.

1

Lucas steht in der Terrassentür. «Euch ist schon klar, oder – dass da ’ne Leiche im Garten liegt?»

Sandra und Holger blicken zu ihm auf. «Sicher», erwidert Holger lapidar. «War gar nicht so leicht, die da rauszuschaffen. Die andere liegt noch im Flur. Pass auf, dass du nicht drüber stolperst, wenn du nach oben gehst.»

Damit, findet Holger, hat er den Prank seines Sohnes ziemlich gut pariert. So heißt das heute. Früher Streich, später Verarsche, heute Prank. Heimlich erlaubt er sich sogar, ein bisschen stolz auf sich zu sein. Ironie ist nämlich nicht gerade seine Paradedisziplin. Bei anderen, wie bei seinem Bruder Charlie beispielsweise, funktioniert die wie ein Reflex. Der muss da gar nicht drüber nachdenken. Bei Holger hingegen … nicht. Und Lucas macht seit einiger Zeit das, was Teenager eben so machen: deine Schwachstelle suchen und den Finger reinbohren. Ist wie Armdrücken. Wer prankt wen, voll der Prank, Alter, wie kann man sich nur so pranken lassen? Da heißt es: auf der Hut sein. Lucas ist siebzehn, der weiß nicht, wie es sich anfühlt, geprankt zu werden – mit siebenundvierzig. Da fühlst du dich schnell zehn bis fünfzehn Jahre älter, wie aus dem Spiel genommen. Wenn es dir aber gelingt, einen Prank frühzeitig als solchen zu erkennen und den Spieß umzudrehen – um an dieser Stelle mal eine Redewendung aus dem 20. Jahrhundert zu bemühen –, dann fühlst du dich schnell zehn Jahre jünger. Voll im Spiel. So wie jetzt. Bäm!

Holger legt einen Arm um Sandra, und gemeinsam wenden sie sich wieder dem Fernseher zu. Netflix. Irgendeine Serie, in der in drei Minuten mehr Tote vom Himmel fallen, als Holger in 25 Dienstjahren zu Gesicht bekommen hat. Er versteht selbst nicht genau, warum, aber es entspannt ihn. Vielleicht entspannt ihn auch nur, dass Sonntagabend ist, Charlie nicht da ist, Anita nicht da ist und bis eben Lucas nicht da war. Zweisamkeit. Bis vor einer Minute wie gesagt. Aber so ist das im Hause Brinks: Ruhe ist hier immer nur die Ruhe vor dem Sturm.

Lucas lässt die Terrassentür offen stehen, geht an seinen Eltern vorbei, zieht die Tür zum Flur auf und späht durch den Spalt. «Da liegt niemand», stellt er fest.

Prank, Alter.

«Nein?», erwidert Holger.

«Du glaubst, ich verarsch dich?»

Korrekt.

Lucas streckt die Arme vor. «Alter, da draußen liegt …» Er lässt die Arme sinken. «Wisst ihr, was: Denkt doch, was ihr wollt. Ist schließlich Mamas Blumenbeet. Und einer wie du will Kriminalkommissar sein!»

«Hauptkommissar», berichtigt Holger.

«Kranker Scheiß, Mann.»

Mit diesen Worten zieht Lucas die Tür hinter sich zu und stampft die Stufen in den ersten Stock hinauf.

Bäm, denkt Holger.

Aber da ist was.

Zweifel.

Ein kleiner nur, aber eben doch: ein Zweifel. Hat mit dem Blumenbeet zu tun.

Sandra und das Thema Gartengestaltung stehen bereits seit vielen Jahren ziemlich auf Kriegsfuß miteinander. Es ist eines jener Themen, die sie fortwährend frustrieren, weil sie sich jedes Jahr vornimmt, sich darum zu kümmern, es dann aber doch wieder nicht macht, oder eben nur halbherzig, und dann ärgert sie sich den ganzen Sommer darüber, es wieder nicht geschafft zu haben. Bescheuertes Spiel. Umso größer ist die Befriedigung, wenn man diesen Unzufriedenheitskreislauf durchbricht. Und das ist Sandra in diesem Jahr zum ersten Mal gelungen. Sie hat sich zu Weihnachten selbst mit einem Gartengestaltungsbuch beschenkt – «Inseln der Inspiration» – und sich vier Monate lang allabendlich derart inspirieren lassen, dass Holger sich schon fragte, was sie wohl damit kompensierte und wann das nach oben kochen würde, aber so, wie sich die Sache bis jetzt darstellt, hat sie einfach nur die Gartengestaltung für sich entdeckt. Neulich hat sie von einem Schilfparavent gesprochen. Was es alles gibt, dachte Holger nur. Und bevor Lucas – so Gott will – sein Abi in der Tasche hat, will sie jemanden kommen lassen, der die ollen Terrassenfliesen abtransportiert und ihnen stattdessen ein 30 Quadratmeter großes Holzdeck in den Garten zimmert. Teak. Bekommt man auch zertifiziert aus nachhaltiger Forstwirtschaft. Sie werden sich fühlen wie auf einem Kreuzfahrtschiff, meint Sandra.

Jedenfalls hat sie den gesamten Samstag und den halben Sonntag auf den Knien verbracht, ihre Hände bis zu den Ellenbogen in der Erde, und jahreszeitentechnisch gerade noch rechtzeitig Oleander und Bougainvillea eingepflanzt. Danach sah sie so erschöpft und glücklich aus wie lange nicht mehr.

Und jetzt soll ein Toter drinliegen, in ihrem Blumenbeet. Ist schließlich Mamas Blumenbeet, hat Lucas gesagt. Das mit dem Toten wäre natürlich … unschön. In ihrem Blumenbeet allerdings, das wäre … eine Katastrophe.

«Ich mach mal die Tür zu», sagt Sandra, löst sich aus der Umarmung ihres Mannes und geht zur Terrassentür.

Reingefallen, denkt Holger.

Als Nächstes hört er seine Frau ausstoßen:

«Heilige Scheiße.»

 

Der Tote ist nicht tot. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte ist: Der Oleander ist im Arsch. Wortwörtlich. Also beinahe. Der Typ jedenfalls liegt mit heruntergelassener Hose kopfüber in den frisch gepflanzten Sträuchern, seitlich ragen abgeknickte Zweige hervor. Offenbar hat er versucht, ins Beet zu pinkeln, und dabei nicht nur das Gleichgewicht, sondern auch das Bewusstsein verloren. Was Holger nicht wundert – bei der Fahne. Der Typ hat mindestens zwei Promille auf dem Kessel. Immerhin handelt es sich nicht um Charlie, darüber kann man ja schon froh sein.

Holger hat den Betrunkenen an den Füßen aus dem Beet und auf den Rasen gezogen und in eine stabile Seitenlage gebracht – eine Position, in der er sich ausgesprochen wohlzufühlen scheint, jedenfalls schnarcht er gleichmäßig.

«Und jetzt?», fragt Sandra.

«Die Polizei rufen», schlägt Holger vor. «Was denn sonst?»

In diesem Moment hört er, wie sich vom Tempelhofer Damm her ein vertrautes Geräusch nähert. Das Geräusch eines V8-Motors, eines Benzinschluckers der übelsten Sorte. Die Karosserie, die sie um diesen Motor herumgebaut haben, kennt Holger ebenfalls. Es ist ein Gran Torino. Sogar das Baujahr kennt Holger und auch die Farbe: 1975, grün metallic. Er gehört Charlie. Seinem kleinen Bruder. Und gerade war es noch so gemütlich.

Sandra, die das Motorengeräusch ebenfalls vernommen hat, legt ihrem Mann eine Hand auf den Arm: «Wir schauen die Folge einfach ein andermal zu Ende.»

Was das heißt, weiß Holger. Und Sandra weiß es auch. Aber es ist nett von ihr, dass sie wenigstens die Absicht formuliert. Vor dem Haus angekommen, erstirbt das Motorengeräusch, eine Autotür wird geöffnet und wieder zugeschlagen. Dann steht Charlie im Garten, bester Laune. Vermutlich hat er beim Poker gewonnen. Oder verloren. Pokern macht ihm sogar dann gute Laune, wenn er verliert. Er stellt sich neben Sandra und Holger, die Hände in den Taschen seiner Lederjacke, und wippt auf den Fußballen. Alle drei blicken auf den Mann mit der heruntergelassenen Hose, der vor ihnen auf dem Rasen liegt und friedlich schnarcht.

Irgendwann sagt Charlie: «Besuch?»

Sandra erwidert: «Ja. Er meinte, er sei ein Freund von dir. Wir haben ihm gesagt, er kann sich die Luftmatratze mit dir teilen. Hast du doch nichts dagegen, oder?»

Charlie schmunzelt: «Männer, die als Erstes ihre Hose runterlassen, kommen mir nicht ins Haus.»

Holger reicht es mit der Ironie für heute. «Ich ruf jetzt die Polizei», erklärt er. «Sollen die sich um den Typen kümmern.»

Charlie legt den Kopf schief, besieht sich den Mann. Um die fünfzig, weißes Hemd, semiteure Klamotten, eine Maurice Lacroix am Handgelenk. Er geht neben ihm in die Hocke und ertastet mit zwei Fingern die Schlagader am Hals. «Puls normal, Atmung stabil … Willst du echt die Bullen rufen?»

«Was schlägst du denn vor?»

«Gibt doch nur Ärger. Und am Ende musst du noch Formulare ausfüllen oder so einen Quatsch. Der ist einfach nur besoffen in den falschen Garten gestolpert. Ist mir auch schon passiert.»

Sandra und Holger erinnern sich. Letzten September. Da entdeckte ein Dreijähriger im Kleineweg Charlie morgens schlafend im Sandkasten. Charlie hielt einen Kipplaster im Arm, auf der Ladefläche eine halb leere Scotch-Flasche. Zum Glück kannte die Mutter des Jungen Charlie und wusste, wo Sandra und Holger wohnten. Woher sie Charlie kannte, ist allerdings bis heute ungeklärt, und Charlie wollte sich dazu auch nicht äußern.

«Lasst ihn einfach liegen», schlägt er vor. «Der wacht irgendwann auf, merkt, dass er falsch abgebogen ist, und verdrückt sich. Bis dahin leg ich ihm die alte Fleecedecke aus dem Gartenhaus über, damit er sich seinen kleinen Racker nicht verkühlt.» Beiläufig wirft Charlie einen Blick in die Leistengegend des Mannes. «Pardon: ich meinte großen Racker.»

«Allerdings», bestätigt Sandra, worauf Holgers Laune die letzten Stufen ins Kellergeschoss hinabsteigt und endgültig unten ankommt.

Auch er hat bemerkt, dass das Genital des schnarchenden Mannes … überdurchschnittlich dimensioniert ist. Aber muss man das auch noch kommentieren, als Frau, wenn dein Mann neben dir steht?

«Macht, was ihr wollt.» Er wendet sich ab. «Ich geh ins Bett.»

Die Gruppe ist im Begriff, sich zu zerstreuen, als von hinter der Hecke eine Frauenstimme ruft: «Jean-Pierre? Jean-Pierre, bist du hier?»

An dieser Stelle könnte sich die ganze Situation in Wohlgefallen auflösen. Eine Frau läuft durch die Straße auf der Suche nach einem gewissen Jean-Pierre, und in Holgers Garten liegt ein Betrunkener und schnarcht. Da muss man kein Genie sein, um eine Verbindung herzustellen, und in der Tat handelt es sich bei dem Mann auf dem Rasen um den gesuchten Jean-Pierre. Das Problem hängt, um es bildlich zu sagen, am anderen Ende der Leine. Mit der Frauenstimme verhält es sich nämlich wie mit Charlies Gran Torino: Holger würde sie unter Tausenden heraushören.

Das Gartentor wird geöffnet. «Jean-Pierre!?»

In diesem Moment hat Holger eine Vision: Flucht. Nicht einfach nur ins Haus rennen und so tun, als hätte man nichts mitbekommen, nein, eine richtige Flucht, wie im Film. Mit Sandra ins Auto steigen, nach Süden fahren und bei Sonnenaufgang auf der Europabrücke die Hausschlüssel über Bord werfen, diese Art von Flucht.

Die Vision ist aber nur von kurzer Dauer. Natürlich ergreift Holger nicht die Flucht. Zum einen weil er ein verantwortungsvoller, verlässlicher und gewissenhafter Familienvater und Kriminalkommissar ist, zum anderen weil man als erwachsener Mann nicht vor seiner Mutter flieht, das ist entwürdigend und unmännlich. Sie ist diejenige, die gehen sollte. Also wird er sich der Konfrontation stellen und …

«Ist das etwa Jean-Pierre?!»

In manchen Momenten erinnert Holger seine Mutter an seine Kollegin Melanie Bökh. Auch die spricht immer acht bis zehn Dezibel lauter als notwendig. Inzwischen steht Anita neben Holger, den Blick auf den schnarchenden Jean-Pierre gerichtet. Als wollten sie ihm ein A-cappella-Ständchen bringen.

«Wir hatten noch keine Gelegenheit, uns einander vorzustellen», erwidert Holger. «Und schrei bitte nicht so, ich stehe direkt neben dir. Du weckst nur die Nachbarn auf.»

Tatsächlich ist drüben bei den Messerschmidts gerade das Licht im Bad angegangen, was allerdings nicht bedeuten muss, dass Anita sie geweckt hat. Der alte Messerschmidt muss inzwischen dreimal die Nacht raus.

«Ach, Puffelchen!», ruft Anita. «Du immer mit deinen Nachbarn. Die sterben doch sowieso demnächst. Oh, mein armer Jean-Pierre!»

Sandra muss schmunzeln, Oleander hin oder her. Mit ihrem «Puffelchen» bringt Anita es jedes Mal fertig, ihren Sohn zugleich zu umarmen und zu demütigen. Und Holger schwillt die Halsschlagader. Muss er durch. Ist seine Baustelle.

Anita und ihr weißes Trägerkleid sinken einem sterbenden Schwan gleich neben Jean-Pierre ins Gras. Sie dreht ihn auf den Rücken und streicht ihm mit einer zärtlichen Geste die Haare aus der Stirn. Jean-Pierre macht sich nicht die Mühe aufzuwachen, sondern schnarcht Anita stattdessen ins Gesicht, worauf die unauffällig seinen alkoholisierten Atem wegfächelt. Erst dann fällt ihr auf, dass Jean-Pierre mit heruntergelassener Hose im Gras liegt.

«Ui», sagt sie nur, als sie sein bestes Teil im Licht der Straßenlaterne schimmern sieht. Dann hat sie einen Gedankenblitz: «Habt ihr ihm die Hose runtergezogen?»

Jetzt muss auch Charlie schmunzeln. Als hätten sie nichts Besseres zu tun, als Jean-Pierre die Hose herunterzuziehen, sobald sie ihn bewusstlos im Garten liegen sehen.

«Er ist uns zuvorgekommen», sagt er.

Holger, dem überhaupt nicht nach Schmunzeln zumute ist, erklärt: «Ich nehme an, er wollte ins Beet pinkeln. Dabei ist er dann offenbar in die Blumen gekippt.»

«Den Oleander», präzisiert Sandra.

«Den Oleander», bestätigt Holger.

Anita, die ganz in ihrer Rolle als sterbender Schwan aufgeht, ruft: «Und dann lasst ihr ihn einfach so hier … Was ist das denn?» Sie beugt sich über Jean-Pierre und besieht sich die rötlichen Striemen auf seinen Oberschenkeln. Charlie wendet den Kopf ab.

Holger erklärt: «Da er nicht ansprechbar war, habe ich mir erlaubt, deinen Jean-Pierre aus den Blumen zu ziehen.»

«Dem Oleander.»

«Dem Oleander.»

«Einfach so?», fragt Anita.

«Einfach so», sagt Holger.

«Aber dabei hätte er sich doch … sonst was verletzen können!»

Sonst was, schon klar. Holger tut es nicht gerne, aber er kann nicht anders, als zu denken: Leck mich. Und dann noch: Dieses Haus ist zu klein für uns beide. Seit seiner Vision von der Flucht in den Süden hat er ein anschwellendes Western-Feeling.

Sandra fällt schließlich die naheliegende Frage ein: «Wer ist das überhaupt?»

«Na, Jean-Pierre!» Dankenswerterweise hat sich Anita wieder von Jean-Pierres unteren Körperregionen ab- und seinem Kopf zugewandt, den sie jetzt auf ihren Oberschenkel bettet. «Mein armer Schatz», seufzt sie.

Da niemand etwas sagt, blickt Anita auf und begreift, dass ihre Erklärung etwas zu kurz greift. «Wir haben uns auf meinem letzten Flug nach Ibiza kennengelernt. Hab ich euch das nicht erzählt?»

«Ich glaube nicht», sagt Sandra.

«Er ist Steward!» Anita lässt theatralisch die Schultern sinken und knetet liebevoll Jean-Pierres linkes Ohr, worauf der zwar nicht aufwacht, aber zumindest für den Moment zu schnarchen aufhört. «War, besser gesagt. Er hat für diese Fluglinie gearbeitet, ihr wisst schon …»

«Du meinst Air Brandenburg?», fragt Sandra.

«Genau. Und jetzt sitzt der Ärmste auf der Straße. Deshalb hat er sich ja auch so betrinken müssen.»

Charlie legt erneut den Kopf schief und betrachtet den schlafenden Jean-Pierre. Fünfzig. Er bleibt bei seiner Schätzung: Jean-Pierre ist fünfzig, plus/minus drei Jahre.

«Ist der nicht ein bisschen alt für dich?», fragt er.

Dazu muss man wissen, dass Anita standhaft behauptet, seit dem Tod ihres ersten Gatten – dem Vater von Charlie und Holger – jedes Jahr ein Jahr jünger geworden zu sein. Mit anderen Worten: Ihr Reisepass mag behaupten, ihr Siebzigster stehe bevor, in ihrer Eigenwahrnehmung aber geht sie stramm auf die zwanzig zu.

Anita hält inne: «Findest du?»

«Der hat ja schon graue Schläfen», bemerkt Charlie.

«Ach, das stört mich nicht. Man soll ja auch nicht immer nur nach dem Alter gehen. Ansonsten ist er ja noch tadellos in Schuss, aber davon konntet ihr euch ja bereits überzeugen.»

Holger sieht, wie Sandra kaum merklich den Kopf schüttelt. Zwischen dem, wie Anita sich sieht, und dem, wie der Rest der Welt sie wahrnimmt, klafft eine Lücke, so groß wie der Grand Canyon. Beeindruckend, da ist er sich mit seiner Frau einig. Man steht davor und staunt.

«Kommt, helft mir mal», fordert Anita.

Holger rührt sich keinen Zentimeter. «Womit?»

«Na, ihn ins Haus zu bringen.»

Sandra und Charlie sagen beide nichts. Ist Holgers Baustelle. Muss er durch.

«Nein.»

«Wie, nein?», fragt Anita.

«Es ist kein Platz mehr für deine Eskapaden in unserem Haus.»

«Aber Puffelchen, wie du schon wieder redest! Du wirst ihn doch wohl kaum hier im Garten liegen lassen wollen.»

Auf der Suche nach einem Verbündeten fixiert Anita Charlie. Der sagt sofort: «Das Gartenhaus ist besetzt. Und ich tausche auch nicht. Ich habe im November mühevoll das Dach gedämmt und erst neulich aus dem Keller den Strom rübergelegt.»

«Du hast was?», fragt Holger.

«Das Dach gedämmt.»

«Nein, ich meine das mit dem Strom.»

«Hab ich dir das nicht erzählt?»

«Nein.»

«Jedenfalls tausche ich nicht. Eher ziehe ich aus.»

Sandra kann mit dem Schmunzeln gar nicht mehr aufhören. Da wird der niedergewalzte Oleander offenbar zur Nebensache.

«Mach keine Versprechungen, die du nicht hältst, Charlie», warnt sie.

Holger und sein neu erwachtes Western-Feeling sind wild entschlossen, den Mutter-Sohn-Konflikt auszutragen, ein für alle Mal. Mit unversöhnlicher Stimme sagt er: «Wir haben dich vorübergehend in Helens Zimmer wohnen lassen, weil du nach der geplatzten Hochzeit mit Rodrigo so niedergeschlagen warst. Offenbar geht es dir jetzt wieder besser – das ist schön. Mach mit deinem Jean-Pierre, was du willst, aber ins Haus kommt er mir nicht.»

 

Was Charlie betrifft, muss man wissen, dass irgendwo im Universum jemand sitzen muss, der es echt gut mit ihm meint. Anders ist nicht zu erklären, wie er 43 Jahre lang durchs Leben gehen konnte, ohne größeren Schaden zu nehmen. Im Grunde müsste er spätestens alle sechs Wochen einen Abhang hinabstürzen, von einem eifersüchtigen Ehemann erschossen oder von einem Geldeintreiber drangsaliert werden.

Holger hat sich bereits unzählige Male gewünscht, sein Bruder möge mal mit 120 gegen die Wand klatschen, ungebremst, eine Lektion lernen, Verantwortung für sein Handeln übernehmen. Doch so, wie es aussieht, wird Charlie bis ins hohe Alter weiterleben und irgendwann sterben und gegen die erstbeste Pforte klopfen, die seinen Weg kreuzt, einen Gin Tonic in der einen, ein Pokerdeck in der anderen Hand, und irgendein Engel mit einer Schwäche für Loser-Typen wird seinen Kopf durch die Tür strecken und sagen: «Hey Charlie, wir warten schon auf dich!»

Und so kommt es, dass exakt in dem Moment, da Anita entrüstet «Puffelchen!» ruft, der Mutter-Sohn-Konflikt zu eskalieren droht und sich bei Messerschmidts das Badezimmerfenster einen Spaltbreit öffnet, irgendwo in Charlies Jacke sein Handy zu vibrieren anfängt und ihm, nachdem er es endlich lokalisiert und aus der Innentasche gezogen hat, auf dem Display der Name «Kutschi» entgegenleuchtet. Charlies Kumpel aus früheren Tagen. Von dem hat Charlie nichts gehört seit der Geschichte mit … Nicoletta Szabatzki!

Charlie wendet sich ab, überlässt Holger und Anita ihrem Schicksal, geht Richtung Gartenhaus, gönnt sich ein oder zwei romantische Erinnerungen an Nicoletta Szabatzki – mehr gibt es da, um ehrlich zu sein, auch nicht zu erinnern – und nimmt den Anruf entgegen.

«Kutschi», sagt Charlie und setzt sich auf die Stufen des Gartenhäuschens.

«Was geht, Alter!», ruft Kutschi. Im Hintergrund klirren Gläser, und Menschen müssen sich anschreien, um einander zu verstehen. Charlie kann es zwar nicht sehen, aber er vermutet, dass sein Kumpel aus alten Tagen seinen freien Arm um eine aufgebrezelte Blondine gelegt hat und sie gerade breit angrinst. Kutschi, alias Achmed Kutscher, steht auf aufgebrezelte Blondinen, die können ihm gar nicht aufgebrezelt und blond genug sein.

«Alles bestens», antwortet Charlie. «Bei dir?»

«Voll im Saft!», gluckst Kutschi.

Charlie hat keine Ahnung, wo sein Kumpel sich herumtreibt, aber es muss irgendwo in der Nähe von Champagner & Koks sein.

«Hör zu», sagt Kutschi jetzt, und wie immer, wenn er «hör zu» sagt, kommt sofort der Ghetto-Türke in ihm durch. «Ich brauch dich, Mann.»

«Soll heißen?»

«Hab einen Job für dich.»

Charlie hat inzwischen die Zigaretten aus der Jacke gefischt und schüttelt sich eine aus der Packung. Im Hintergrund hört er Holger und Anita diskutieren. Offenbar soll Holger Jean-Pierre an den Füßen packen, während Anita und Sandra es mit den Armen versuchen.

Charlie gibt sich Feuer, inhaliert. «Ich will ihn nicht», erwidert er.

«Doch, willst du.»

Kutschi hat vor ein paar Jahren eine Sicherheitsfirma aufgezogen: ESS, Exclusive Security Service. Und eigentlich telefonieren sie nie miteinander, ohne dass Kutschi ihn irgendwann fragt, ob er nicht für ihn arbeiten wolle. Charlie sieht sich im Pförtnerhäuschen eines Parkplatzes sitzen oder als breitbeiniger Türsteher in einem Penny-Markt.

«Danke, nein», sagt er.

«Wieso, Mann? Hast du gerade ’n Job?»

«Das nicht, aber i…»

«Dann halt einfach mal die Luft an, bis ich dir gesagt habe, worum es geht.»

«Muss ich nicht, Kutschi. Ich weiß auch so, dass ich keine Lust h…»

«Ich zahl dir 800.»

Ganze 800 Euro, um arme Schweine zu filzen, die bei Aldi ein Glas Spreewaldgurken eingesteckt haben.

«Weißt du, Kutschi, für 800 die Woche hab ich sch…»

«Am Tag, Alter, 800 am Tag!»

Während Charlie an seiner Zigarette zieht, denkt er an zwei Dinge: Zum einen denkt er an seine Spielschulden. Die halten sich zwar seit einigen Wochen auf einem überraschend niedrigen Niveau, aber der Pegel steigt auch wieder. Isso. War nie anders. Wird immer so sein. Dann wäre es gut, ein kleines Polster zu haben. Zweitens denkt er an Kutschi. Wenn Kutschi ihm 800 Euro als Tagessatz bietet, bedeutet das, dass sein Auftraggeber ihm mindestens 1600 zahlt.

«Tausend», sagt Charlie.

«Von mir aus auch tausend!»

Das ging zu schnell. Also zahlt Kutschis Auftraggeber ihm mehr als 1600. Mist. «Okay, und was soll ich dafür machen?»

«Komm her, dann erklär ich’s dir.»

«Wo steckst du denn?»

«Im ‹Western›, VIP-Lounge. Der Doorman weiß Bescheid, dass du kommst.»

Nachdem Charlie sein Handy wieder eingesteckt hat, blickt er zu den Sternen hinauf, stellt fest, dass die Stimmen von Sandra, Holger und Anita verstummt sind, sieht, wie das Licht in Messerschmidts Bad erlischt, zieht noch zweimal an seiner Zigarette, bläst den Rauch in die Luft und bestaunt die verschlungenen Pfade des Lebens. Die Menschen versuchen ja immer, da einen tieferen Sinn hineinzuinterpretieren, einfach weil sie sonst mit ihrem Leben nicht klarkämen. Am Ende aber bleibt es unergründlich, da kannst du drauf herumkauen, soviel du willst.

Er drückt die Zigarette aus und steht auf. Sandra, Jean-Pierre, Anita und Holger sind verschwunden. Arme Sau. Jetzt hat Holger nicht nur seinen Bruder im Gartenhaus und die Mutter im Zimmer seiner Tochter sitzen, nein, die schleppt ihm auch noch einen besoffenen Franzosen an. Der reinste Kindergarten. Vielleicht sollte Charlie wirklich langsam weiterziehen.

Oder auch nicht.

2

Die VIP-Lounge des «Western» besteht im Wesentlichen aus sechs plüschigen Sofarondellen, die in der Mitte des Raumes zu einer Blume angeordnet sind. In jedem der Rondelle ist Platz für ungefähr zehn Menschen. Wenn alle ausreichend verstrahlt und betankt sind, auch mal zwanzig. An den Wänden reihen sich Séparées aneinander, die mit roten Samtvorhängen abgeteilt sind, im hinteren Bereich flimmert eine von unten beleuchtete Glastanzfläche, auf der, wie immer um diese Zeit, in Zeitlupe drei tragische Frauen tanzen, die von irgendetwas zu viel eingeworfen haben. Entlang der linken Wand zieht sich die Bar, an der, ebenfalls wie immer um diese Zeit, ein paar Professionelle sitzen, die auch an einem Sonntagabend nicht lange darauf warten müssen, von potenziellen Freiern angequatscht zu werden. Der Laden ist etwa zur Hälfte gefüllt.

Kutschi sitzt in keinem der Séparées, sondern in einem der Rondelle in der Mitte. Darf jeder sehen, wie er sein Geld verballert. Steht er drauf. Ist sogar ehrlich verdient, was hier die wenigsten von sich behaupten können. Seine Goldkette ist noch dicker als die vom letzten Mal. Wie eine Ankerkette. Außer ihm lümmeln drei Männer sowie fünf Frauen im Rondell. Auf dem runden Tisch in der Mitte steht eine Schale mit Eiswasser, in der drei Flaschen Veuve Clicquot ein Tauchbad nehmen. Langsam werde ich zu alt für so was, denkt Charlie. Aber das denkt er schon seit Jahren. Kein Grund zur Besorgnis.

«Charlie!» Kutschis Lachen ist breit wie immer. Freundschaftlich hebt er das nylonbestrumpfte Frauenbein an, das bis eben über seinem lag, und stellt es neben sich ab. «Mach mal ’n bisschen Platz.»

Die zum Bein gehörende Frau ruckelt zur Seite, wodurch ihr Rock ein Stück nach oben geschoben wird. Würde man nicht glauben, dass da noch etwas nach oben zu schieben ist, geht aber. Charlie grüßt in die Runde, zwängt sich an den anderen vorbei und setzt sich neben Kutschi. Irgendwer drückt ihm ein Glas Champagner in die Hand. Kutschi und er stoßen an.

Bevor er sein Glas abstellt, studiert Charlie seinen Kumpel von früher. Noch immer trägt Kutschi Pferdeschwanz und Goldkette, dazu die mehrfach gebrochene Nase, Lachfalten. Weißes Hemd und maßgeschneiderte Weste. Seine Armbanduhr erinnert an einen römischen Streitwagen.

«Du siehst aus wie ein Zuhälter aus den Neunzigern!», ruft Charlie gegen die Musik an, irgendeine Trance-Techno-Mucke ohne Anfang und Ende.

«Damals war ich auch noch einer!», freut sich Kutschi. Er stellt Charlie seine Freunde vor. Die Namen der drei Männer hat er auf dem Schirm, die der fünf Frauen nicht. Sind neu.

Eine Hand greift nach Charlies. Als er sich umdreht, blickt er in ein Gesicht, das so makellos und symmetrisch ist, dass es schon wieder unnatürlich wirkt.

«Tanzen?»

Wieder denkt Charlie: Ich werde zu alt für so etwas. «Ich bin arm wie eine Kirchenmaus und wohne im Gartenhaus meines Bruders», ruft er.

«Oh», sagt die Frau, und ihre Finger lösen sich von seinen.

Charlie wendet sich Kutschi zu. «Was ist jetzt mit dem Job?»

«Was für ’n Job?»

«Na, wegen dem ich hier bin.»

«Genau», erwidert Kutschi, «der Job!»

Die Geschichte ist im Grunde schnell erzählt. Also: Da ist doch diese Fluglinie, Air Brandenburg.

«Der Pleitegeier?», fragt Charlie.

Und damit ist das Wichtigste auch schon gesagt. Vor zwölf Jahren startete die Airline mit 40 Maschinen als Arbeitsplatz-Hoffnungsträger und «Innovationsmotor» für die Region, ein Teil auf Pump finanziert, der andere von Land und Bund gefördert. «Wir starten durch» war der Slogan. So richtig abgehoben ist die Fluglinie allerdings nie, was zugegebenermaßen auch damit zu tun hat, dass der BER nie an den Start gegangen ist. Ein Vorstand wurde durch den nächsten ersetzt, inzwischen ist CEO Nummer vier am Ruder, Doktor Doktor Hundt, der die Airline mit Schallgeschwindigkeit in den Sand gesetzt hat.

«Ohne Witz.» Kutschi muss sich selbst davon überzeugen, bevor er es glauben kann. «Doktor Doktor!» Er schüttelt ungläubig den Kopf. «Was soll’n das für eine Berufsbezeichnung sein? Hast du etwa schon mal von Zuhälter Zuhälter Maik gehört, oder von Dealer Dealer Mirko? Oder Bäcker Bäcker Aische!»

«Bäckerin», korrigiert Charlie.

«Genau!» Kutschi lacht sein lautes Lachen. «Bäckerin Bäckerin Aische! Oder warte, noch besser: Fachverkäuferin Fachverkäuferin Denise!» Vor Freude über Fachverkäuferin Fachverkäuferin Denise bekommt Kutschi einen Hustenanfall, trinkt ein Glas Champagner auf ex und steckt sich eine Zigarette an.

Zurück zu dieser Jobsache: Vor zwei Wochen hat die Geschäftsleitung von Air Brandenburg Insolvenz angemeldet. Sieht nicht gut aus. Doktor Doktor Hundt und seine Crew haben die Sache ordentlich verkackt. Da gehen gerade knapp tausend Arbeitsplätze flöten. Die Bosse haben sich natürlich abgesichert, die sind ja nicht blöd. Die drei Frackträger, die außer Hundt im Aufsichtsrat sitzen, bekommen jeweils 6,4 Millionen, Hundt selbst 11,3.

«Leuchtet ein, oder?», ruft Kutschi.

«Klar», erwidert Charlie, «der hat ja auch zwei Doktortitel.»

«Genau, Alter! Du hast’s geschnallt! Also: Jahrelang quatschen die von ‹wir›, die ‹Brandenburger›, ‹Familie› und so weiter, und dann heißt es: ‹Nach mir die Springflut›.»

Charlie überlegt, ob er Kutschi sagen soll, dass es die Sintflut war, nicht die Springflut, aber dann wird er womöglich nie erfahren, was Kutschi ihm für einen Job aufdrücken will. Aus dem Augenwinkel sieht er, wie eine der fünf Damen im Rondell aus den Kissen rutscht, sich auf den Boden kniet und eine Line Koks von der Tischplatte zieht. Kurz gerät er in Versuchung, aber wenn er der nachgibt, versackt er unter Garantie in diesem Schuppen, ist die ganze Nacht auf den Beinen und morgen total im Eimer. Vielleicht wird er wirklich zu alt für diesen Quatsch.

«Ey!»

Kutschi schlägt ihm freudig auf den Oberarm, weiter im Text: Der Familiensinn bei Air Brandenburg hat also schon bessere Tage gesehen, um es mal vorsichtig auszudrücken. Die Aufsichtsratsmitglieder werden bedroht, ihre Autos mit Farbbeuteln beworfen. Alles Kinderkram, trotzdem haben die Herrschaften aus der Chefetage jetzt private Personenschützer angefordert.

«Bei dir», stellt Charlie fest.

«Logisch.»

«Und wo ist das Problem?», will Charlie wissen. «Bei dir stehen die Leute doch Schlange, um als Personenschützer zu arbeiten.»

«Diesen Aufsichtsratsfuzzis kann ich nicht einfach irgendwelche von meinen Jungs aufdrücken, verstehst du? Damit geben diese Schnösel sich nicht zufrieden. Stallgeruch und so. Für die brauchst du jemanden, der nicht nur einen Waffenschein und einen schwarzen Gürtel hat, die wollen außerdem, dass er smart aussieht, den Chauffeur macht, den Hund ausführt, drei Fremdsprachen im Köcher hat und die Kinder zur Reitstunde bringt.»

«Und da hast du an mich gedacht?»

«Ich versteh es ja auch nicht, Charlie, aber die Leute stehen einfach auf dich. Die sehen dich und sagen als Erstes: ‹Hier, können Sie mal zwei Wochen auf meinen Geldkoffer aufpassen? Ich muss dringend auf die Malediven.›»

«Soso.»

«Außerdem hast du beste Referenzen.»

Charlie wirft Kutschi einen fragenden Blick zu.

«Du hast vier Jahre exklusiv als Bodyguard für Bruce Willis gearbeitet.»

Der fragende Blick von Charlie wandelt sich in einen, der sagen soll: Du hast echt einen an der Waffel, Kutschi.

Inzwischen hat sich die nächste Frau auf den Boden gekniet und zieht eine Line vom Tisch. Ein Champagnerkorken knallt. Charlie gibt sich noch eine Viertelstunde. Wenn er es bis dahin nicht auf die Straße geschafft hat, hängt er mit drin.

«Die Menschen wollen belogen werden», erklärt Kutschi. «Ist nicht meine Schuld. Die fühlen sich dann einfach sicherer. Ich sag ihnen nur, was sie hören wollen.»

«Du belügst sie, damit du einen höheren Tagessatz verlangen kannst.»

«Du musst es mal so sehen …» Kutschi gießt so viel Champagner nach, dass Charlies Glas anschließend in einer Pfütze steht. «Je höher der Kurs, desto sicherer fühlt sich der Kunde. Ist ’ne Win-win-Situation.»

Charlie trinkt. Dabei sammeln sich zwei Tropfen am Fuß des Glases und fallen zu Boden. Der Champagner perlt verführerisch auf der Zunge. Nichts wie raus hier. «Noch irgendetwas, das ich über meine Vergangenheit wissen muss, bevor ich anfange, einem der Aufsichtsräte von Air Brandenburg den Hintern zu wischen?»

«Nicht irgendeinem, Charlie. Du übernimmst Doktor Doktor persönlich.» Kutschi schlägt ihm auf die Schulter. «Ab morgen bist du Personenschützer Personenschützer Charlie!»

 

Charlie bekommt eine Ahnung davon, wie wichtig der Doktor Doktor für Kutschi sein muss, als er pünktlich um 7:30 Uhr seinen Gran Torino vor der Villa Hundt in der Wangenheimstraße abstellt und gleichzeitig ein Mann aus dem vor ihm parkenden SUV aussteigt. Einem schwarzen SUV übrigens, einem Jaguar, mit Sportfelgen, die so sehr glänzen, dass man die Augen abschirmen muss. Kutschi lässt nach Möglichkeit kein Klischee aus. Er trägt seinen üblichen Pferdeschwanz, alles andere hat Charlie an seinem Kumpel hingegen noch nie gesehen. In einem Anzug fühle er sich wie in Zwangsjacke, hat Kutschi ihm mal gestanden, und genau so sieht es auch aus. Ein Prolet, der zu Geld gekommen ist. Und der Anzug unterstreicht das nur. Charlie muss schmunzeln. Sie hatten echt eine gute Zeit damals.

Kutschi sieht aus wie das blühende Leben – blühender jedenfalls als Charlie. Nach einer durchgemachten Nacht bekommst du das in ihrem Alter nur noch hin, wenn du dir zum Frühstück eine Line neben der Kaffeetasse auslegst.

«Keine Sorge», begrüßt er Charlie. «Sobald ich hier fertig bin, penn ich noch ’ne Runde.»

«Wieso bist du überhaupt hier?», will Charlie wissen. «Brauch ich neuerdings ein Kindermädchen?»

«Will nur sichergehen, dass nichts verrutscht», flüstert Kutschi. «Hab keine Lust, dass er Nachforschungen anstellt und herausfindet, dass du gar nicht fünf Jahre lang Bruce Willis’ Bodyguard warst. Mit deinem Nachnamen wäre ich auch sparsam. Dass dein Bruder bei der Kripo ist, added nicht gerade zu deiner Credibility.»

Charlie wirft einen Blick an Kutschi vorbei auf dessen SUV und fragt sich, zu welcher Sorte Credibility der wohl added. Wie gesagt: Wenn möglich, lässt Kutschi kein Klischee aus.

«Meine Herren, Sie sind spät!», donnert eine feste Stimme plötzlich über den Rasen, und Charlie und Kutschi drehen simultan die Köpfe.

Charlie hat sich von seinem Bruder extra ein weißes Hemd geliehen. Jedenfalls dachte er bis eben, dass es weiß wäre. Verglichen mit der Fassade von Hundts Villa allerdings wirkt es einigermaßen angestaubt. In der Tür steht Hundt persönlich, und dessen Hemd verleiht dem Wort «weiß» noch einmal eine ganz neue Dimension.

Die elektronische Verriegelung des Gartentors summt. Kutschi drückt es auf, während Charlie einen Blick auf seine Uhr riskiert: 7:32 Uhr. Spät nennt Herr Hundt das. Manchen Menschen ist so was eingeschrieben. Die sitzen im Urlaub irgendwo an der Côte d’Azur auf der Promenade, und um Punkt siebzehn dreißig wird der Campari bestellt, keine Minute früher und keine später. Das Verrückte daran ist: Die wollen das genau so haben. Dabei hat seine Firma bereits Insolvenz angemeldet.

Wie selbstverständlich ist Charlie davon ausgegangen, dass es sich bei Hundts bescheidenem Heim um eine dieser schicken Gründerzeitvillen handeln müsse, die sich in dieser Gegend zusammengerottet haben, als wären sie in Kreuzberg oder Neukölln willkürlicher Verfolgung ausgesetzt. Ist aber keine Gründerzeitvilla, sondern ein Neubau. Quadratischer Grundriss, zwei Stockwerke, acht Fenster pro Stockwerk, achsensymmetrisch. Auch sonst wird auf dem Grundstück wenig dem Zufall überlassen. Die Zierbüsche zu beiden Seiten der Eingangstreppe haben ängstlich die Köpfe eingezogen und enden auf einer Linie mit den bodentiefen Fenstern im Erdgeschoss. Selbst die Zweige der in unverbrauchtem Grün erstrahlenden Linde, die der Fassade um die Mittagszeit etwas Schatten spenden dürfte, halten exakt eine Armlänge Sicherheitsabstand zum Haus ein. Hier wächst nicht einmal ein Grashalm in die falsche Richtung.

Der CEO von Air Brandenburg überragt Charlie um einen halben Kopf. Raspelkurze Haare, energische Wangenknochen, eisgraue Augen, klarer Blick, ein Händedruck, der sagt: Hier. Jetzt.

«Herr Kutscher hat mir versichert, Sie seien sein bestes Pferd im Stall», begrüßt er Charlie. Sein Blick wandert einmal an ihm runter und wieder rauf. «Wie James Bond, hat er gesagt, nur schneller.»

«Isser», bekräftigt Kutschi.

Kutschi. Reiht die Klischees aneinander wie Bruno Mars goldene Schallplatten. Hundt sieht Charlie an, als erwarte er als Nächstes einen Rückwärtssalto aus dem Stand.

«Wenn Herr Kutscher das sagt …», erwidert Charlie nur.

«Sie sind also Charlie. Und weiter?»

«Charlie Personenschützer», geht Kutschi dazwischen.

«Einfach nur Charlie», versichert Charlie.

Hundt lässt seinen Blick zwischen den beiden hindurch in die Ferne gleiten. Für einen Moment sehen seine Augen so aus, als spiegelte sich das Meer darin.

«Der Gran Torino», sagt Hundt, «ist das Ihrer?»

«Ja», sagt Charlie, «hab ihn aus Amerika mitgebracht.» War ein Geschenk von Bruce Willis. Nein, das wäre eine Spur zu dick aufgetragen.

«Ein 75iger?», fragt Hundt.

«Sie scheinen sich auszukennen», antwortet Charlie.

«Ist lange her.» Hundts Blick kehrt zurück. Hier. Jetzt. Und weg ist das Meer in seinen Augen. «Kommen Sie rein.»

 

So viele glatte Flächen wie im Foyer der Hundt’schen Villa hat Charlie das letzte Mal gesehen, als er beim Zahnarzt war. Marmor und Granit, wo man hinblickt. Es ist kühl, wird allerdings noch kühler, als eine Frau in Laufdress die Treppe aus dem Obergeschoss herabsteigt. Sie hat sehr lange Beine und sehr kurze blonde Haare. Ihre Leggings sitzen wie aufgesprüht, streng genommen sitzt alles an ihr wie aufgesprüht. Sie wirkt auf tragische Weise fit.

«Das ist Kim, meine Frau», stellt Hundt sie vor. Und zu seiner Frau sagt er: «Das ist Charlie, Liebes. Er wird mir bis auf weiteres als Personenschützer zur Seite stehen.»

«Ah», sagt Kim.

Ihre Augen sind von derselben Farbe wie die ihres Mannes, wie gefotoshopt. Sie reicht Charlie die Hand, schnürt ihre Laufschuhe, zieht die Tür hinter sich ins Schloss und hat Charlies Gesicht vermutlich vergessen, noch bevor sie losgelaufen ist. Und das an einem Montagmorgen um zehn nach halb acht. Mann, haben die hier einen Druck. Charlie würde jede Wette eingehen, dass Herr und Frau Hundt wenigstens getrennte Schlafzimmer, wenn nicht getrennte Gebäudeflügel bewohnen.

«Kaffee?», fragt Hundt.

«Gerne.»

Hundt geht voraus in die Küche.

Noch mehr glatte Flächen. Ein Herd mit sechs Feldern, auf denen bestimmt noch nie gekocht wurde, eine Dunstabzugshaube mit Fernbedienung. Hundt stellt Charlie seine vollautomatische Kaffeemaschine vor. Charlie hat sich neulich, nachdem er sein Gartenhaus per Kabeltrommel mit Strom aus Holgers Keller versorgt hat, einen kleinen Kühlschrank gegönnt, damit er sein Bier nicht immer warm trinken muss. Die Kaffeemaschine der Hundts ist etwa doppelt so groß. Angsteinflößend. In die breite Brust ist ein Touch-Display eingelassen, mit dessen Hilfe man sich seinen Wunschkaffee designen kann. Fehlt nur noch, dass man den aufgesetzten Trichter mit seinen Belegen füttert, und unten kommt die Steuererklärung heraus.

«Sie kommen zurecht», entscheidet Hundt. «Tassen sind hier drüben. Ich gehe mich fertig machen. Um acht Uhr fünfundvierzig werde ich in Schönefeld erwartet – Treffen mit dem Insolvenzverwalter.»

3

Charlie genießt die Fahrt durch die Stadt hinter dem Steuer von Hundts Dienstwagen. Er liebt seinen Gran Torino, ehrlich. So, wie man das Paar Schuhe liebt, in dem man eine Weltreise gemacht hat. Gemeinsam haben sie viel erlebt, sein Gran Torino und er. Das Sitzleder ist weichgeritten wie ein guter Sattel. Die beiden Stellen, an denen die Füllung durchkommt, hat Charlie mit Gaffa Tape geklebt. Die vordere Sitzbank ist durchgehend, so etwas gibt es ja schon seit Jahrzehnten nicht mehr. Der TÜV akzeptiert es nur, weil der Gran Torino ein Oldtimer ist. Charlie hatte schon Sex auf dieser Sitzbank, guten Sex, bei offenem Fenster und Meeresrauschen. Die Küste in Kalifornien ist lang. Diese Art von Gefühlen hegt und pflegt Charlie für seinen Wagen.

Aber: Ein nagelneuer S400 hybrid hat auch seine Vorzüge. Zunächst einmal ist er bequem. Gut, an Sex ist in diesem Fahrersitz nicht zu denken, aber man könnte die gesamte kalifornische Küste darin abfahren, ohne ein einziges Mal Rückenschmerzen zu bekommen. Und dann ist da dieser Motor. Also wahrscheinlich ist er da. Mit Gewissheit lässt sich das allerdings nicht sagen, denn man hört ihn nicht. Charlie weiß nicht einmal, ob die Start-Stopp-Automatik aktiviert ist, so leise ist der. Wenn Charlie bei seinem Gran Torino aufs Gas tritt, brüllt der Motor wie ein Löwe, der sich auf dich stürzt. Hundts Mercedes gleitet einfach davon. Beeindruckend.

 

Charlie bekommt eine erste Ahnung davon, dass sein neuer Job ihm möglicherweise mehr abverlangen könnte, als pünktlich zur Arbeit zu erscheinen und sich mit den Touch-Displays von Hundts Kaffeemaschine und seinem Auto vertraut zu machen, als in dichter Abfolge eine Tomate, eine Aubergine, eine Avocado und zwei Eier auf der Windschutzscheibe zerplatzen. Dabei sind sie eben erst von der Autobahn abgefahren, und die Firmenzentrale von Air Brandenburg – ein fünfgeschossiger Riegel aus Stahlbeton mit der Schwanzflosse eines A320 auf dem Dach – ist noch einen halben Kilometer entfernt.

Das ist der Nachteil bei einem S400 mit getönten Scheiben. Man kann zwar von außen nicht erkennen, wer du bist, aber ganz sicher bist du keins von den armen Schweinen, die gerade ihren Job verloren haben. Da gibst du in jedem Fall eine gute Zielscheibe ab.

«Romantiker», murrt Hundt.

Charlie schaltet den Scheibenwischer ein und drosselt das Tempo, denn vor dem Tor des Firmengeländes hat sich die halbe Belegschaft von Air Brandenburg versammelt. Die Presse ist da, ein Ü-Wagen von Radio 1. Eine falsche Bewegung, ein gestreifter Arm, und zwei Stunden später hast du auf Instagram die halbe Nation am Hals.

«Fahren Sie einfach vorbei und dann zweimal links um den Block», sagt Hundt. «Auf der Rückseite ist die Tiefgarageneinfahrt. Die Fernbedienung für das Rolltor liegt in der Konsole.»