Sonnenwende - Edgar Rai - E-Book
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Sonnenwende E-Book

Edgar Rai

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Beschreibung

Summer in the City.

Tom glaubt an die Liebe, und weil er seit Jahren mit Helen zusammen und ihr dabei auch noch treu ist, halten seine Freunde ihn für nicht ganz normal. Vor allem Wladimir, für den jede Frau ein Verfallsdatum trägt. Das Wort „Beziehung“ hat auf ihn dieselbe Wirkung wie Knoblauch auf einen Vampir, und wenn man in seiner Gegenwart „heiraten“ sagt, dann zerfällt er zu Staub. Doch in diesem heißen Sommer werden die Karten völlig neu gemischt: Ebenso verzweifelt wie vergeblich versucht Tom, den heiligen Gral seiner Liebe durch einen Seitensprung zu retten, und Wladimir verfängt sich im Netz einer rothaarigen Schönen ...

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Seitenzahl: 265

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Edgar Rai

Sonnenwende

Roman

Aufbau-Verlag

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Impressum

ISBN E-Pub 978-3-8412-0208-6ISBN PDF 978-3-8412-2208-4ISBN Printausgabe 978-3-352-00799-6

Aufbau Digital,veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, 2011© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, BerlinÜberarbeitete Neuausgabe des erstmals 2002 im Aufbau Taschenbuch Verlag,einer Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KGerschienenen Romans »Looping«

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlages zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen z.B. über das Internet.

Umschlaggestaltung Henkel/Lemmeunter Verwendung eines Fotos von © Nick Shinn/fstop/corbis

Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

www.aufbau-verlag.de

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Inhaltsübersicht

Die Fahrt

Helen

Wladimir

Roswita & Heinz

Elsa

Ada

Lara

Franziska

Helen

Ada

Charlotte

Henriette

Sandra

Franziska

Johanna

Die Finsternis

Ada

Zwillinge

Ada

Unter Wasser

Desdemona

Ada

Desdemona

Abwärts

Ada

Alles auf Anfang

Wash Up

Over and out

[Menü]

|5|Im Allgemeinen verhalten sich Systeme, welche aus mehr als zwei Massen bestehen, instabil. Ein solches System wird in einzelne Massen oder 2-Massen-Systeme zerfallen.

Wolfgang Neundorf, Chaos (I), Wissenschaftstheorie

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|7|Die Fahrt

»Ist nicht dein Ernst«, sagte Wladimir.

Paul: »Was?«

»Wir müssen jetzt nicht die ganze Fahrt über deine Depri-Mucke hören, oder?«

Paul hatte seinen MP3-Player angeschlossen und einen seiner Songs aus dem Hades freigelassen. Düstere E-Gitarren waberten durch das Führerhaus und mischten sich mit Stimmen aus dem Jenseits.

Paul: »Das war unser Lieblings-Song.«

Wladimir: »Du meinst wohl, deshalb hat Charlotte Schluss gemacht.«

»Da hätte ich ja gleich zu Hause bleiben können«, mischte sich Tom in das Gespräch, der sich von dem bevorstehenden Wochenende etwas Abwechslung erhofft hatte. So wie es in letzter Zeit mit Helen lief, hatte er die dringend nötig.

»Soll ich jetzt mitfahren oder nicht?«, maulte Paul. Wladimir: »Ist ja schon gut. Dann hören wir eben deine Suizid-Kollektion.«

Zufrieden legte Paul seine Füße auf die Ablage, entfernte die Folie von einer Schachtel Gauloises und gab jedem eine Zigarette. Wladimir saß am Steuer, Tom in der Mitte, er rechts. Genüsslich blies er den Rauch aus dem Fenster und blinzelte in die Sonne: »Worauf wartest du? Fahr los!«

Wladimirs Vater war gestorben. Otto. König Otto. Der König des Wissens. So nannte ihn Tom. Sie waren auf dem Weg nach Bonn, um seine Bücher abzuholen. Für ihre Fahrt hatte |8|Wladimir sich den 7,5-Tonner eines Freundes geliehen, mit dem der jede Woche einmal nach Polen fuhr, um von einem Tischler in Krakau Plagiate mitzubringen, die dann in Berlin als Originale verkauft wurden. Dock1, ein Sprayer mit bundesweiter Reputation, hatte ihn für viel Geld künstlerisch veredelt. Vorgaben hatten sie ihm nicht gemacht, er sollte sich einfach etwas Cooles einfallen lassen. Als Dock1 fertig war, gab es an dem LKW keine unbesprühte Stelle mehr, und eine der Seiten zierte auf fünf mal zwei Metern der Schriftzug »NO FUCK«. Das verstand zwar niemand, aber cool war es, auf jeden Fall.

Tom hatte sich gewundert, dass Wladimir ihn um seine Hilfe gebeten hatte. Sie kannten sich noch nicht lange. Entweder war es eine Auszeichnung, oder Wladimir hatte keine Freunde, die er hätte fragen können. Tom hatte nicht lange überlegen müssen. Er mochte Wladimir und Paul. Und er mochte das Gefühl, zu verreisen, auch wenn es, wie in diesem Fall, nur bedeutete, ein Wochenende lang gemütlich über die Autobahn zu zuckeln.

Sie waren Kompagnons – Wladimir und er. Ein schönes Wort, weil es nach erwachsen gewordenen Kumpels klang. Als Erwachsener hatte man keine »Kumpels« mehr, aber mit etwas Glück hatte man einen Kompagnon. Das war ein Kumpel, mit dem man Geld machte. Wladimir und er waren seit vier Wochen Geldmachkumpels.

Ihre größte Gemeinsamkeit war ihr Mangel an Zielstrebigkeit; das verbindende Element etwas, das beiden fehlte. In Arbeitsdingen hatten sie nicht viel Ehrgeiz entwickeln können. Eine Karriere anstreben konnte schließlich nur, wer wusste, wo er hinwollte. Wladimir fand, die Frage des Jobs war wie die der Religion – völlig überbewertet. Etwas für Menschen, die einen Halt brauchten.

Sie hatten sich im Epikur kennengelernt, als sich ihre Wege |9|zufällig an Pauls Tisch kreuzten, der einfach nur seine Ruhe haben wollte.

»Na wunderbar«, sagte Paul und bestellte bei Charlotte missmutig noch einen Kaffee. »Kennt ihr euch eigentlich schon?«

Beide verneinten.

»Dann setzt euch doch und unterhaltet euch ein bisschen, aber leise, wenn’s geht. Vielleicht nehmt ihr den Tisch da drüben. Tom, Wladimir redet am liebsten über Titten und Ärsche, Wladimir, Tom liest gerne verweste Bücher und steht auf impressionistische Klaviermusik. Ihr werdet euch lieben.«

Um das Schweigen zu brechen, berichtete Wladimir von einem eben geführten Telefonat mit einem Kunden, der angefragt hatte, ob er ihm Parkett verlegen könne. Konnte er nicht, hatte aber trotzdem zugesagt. Tom erfuhr, dass Wladimir sich bereits zu Beginn seines Studiums mit Renovierungsarbeiten über Wasser gehalten hatte. Das Studium war gegangen, die Renovierungsarbeiten waren geblieben. Tom selbst hatte gerade sein Studium beendet und kaute auf den Alternativen einer möglichen beruflichen Zukunft. Das Nächstliegende wäre gewesen, sein Hobby, das Klavierspiel, zum Beruf zu machen, aber dann hätte er für immer den Spaß daran verloren.

Wladimir: »Wenn du willst, können wir den Job ja zusammen durchziehen. Viertausend Euro, schwarz, fifty-fifty.«

Es wurden vier Wochen Arbeit und nur 2100 Euro. Tom hatte beim Abschleifen unter dem Lärmschutz kleine Kopfhörer getragen, um sich mit Bach-Inventionen bei Laune zu halten, was sich als folgenschwerer Fehler erwies. Ohne es zu bemerken, hatte er ein Wellenmuster in den Flur geschliffen, das ihm zunächst nicht auffiel. Nicht einmal, als er anfing, zu lackieren, hegte er einen Verdacht, obwohl die Lackierwalze so seltsam hoppelte.

|10|»Ist was?«, kam es von Wladimir.

»Die Rolle scheint nicht in Ordnung zu sein. Hat irgendwie … eine Unwucht.«

Eine Unwucht, klar. Nachdem der Flur eine glänzende Lackfläche war, wurde das Ausmaß des Schadens offenbar.

»Wladimir, kannst du mal kommen?«

Sie standen in der Tür wie zwei Autohändler beim Blick unter die Motorhaube. Wladimir rieb sich das Kinn, legte den Kopf schief, als betrachte er ein Kunstwerk, und schwieg. Das hielt Tom nicht lange aus: »Sieht aus wie …«

»… ein Tiger.«

»Besser hätte ich es auch nicht sagen können.«

Die Wohnung lag im Hinterhaus. Erdgeschoss. Lichtverhältnisse wie in einem Verlies. Sie drehten kurzerhand vor der Übergabe die Birne heraus, in der Hoffnung, der Auftraggeber würde in der Dunkelheit den Tiger nicht erkennen. Konnte er aber doch. Wladimir erklärte ihm, dass sie so etwas auch noch nicht erlebt hätten. Schuld daran sei die schwingende Balkenkonstruktion, auf der man den Unterboden verkehrt vernagelt hätte; die dadurch entstandenen Vibrationen hätten einen glatten Schliff unmöglich gemacht.

Er war barmherzig genug, Wladimirs Gestammel durchgehen zu lassen, und zahlte 3200. Zusätzlich mussten sie elfhundert Euro für nicht einkalkuliertes Material abziehen. Ein Hungerlohn also, wenn man ihre fragmentierten Knie in Betracht zog. Tom war heilfroh, als sie endlich aus der Wohnung waren.

Nachdem sie das Werkzeug verstaut hatten, sagte Wladimir: »Was für ein Idiot. Wie kann der so eine Arbeit abnehmen?«

Später lernte Tom, dass diese Reaktion für Wladimir typisch war: Statt sich über das Entgegenkommen des Kunden zu freuen, beschimpfte er ihn noch.

|11|»Beim nächsten Auftrag müssen wir aber besser kalkulieren«, meinte er, und das war der Startschuss für ihre Zusammenarbeit.

Seitdem war Tom »Der Dompteur«, oder auch »Il Domatore«. Inzwischen war es ein Running Gag. Wenn sie mit Paul unterwegs waren und Wladimir mal wieder einen Grund gefunden hatte, Tom als Idioten oder Ähnliches zu beschimpfen, dann kam es von Paul: »Pass auf, Wladimir, sonst holt Tom seine Peitsche raus«, oder auch: »Vorsicht, gleich macht er den Käfig auf.«

Sie fuhren schläfrig an leuchtend gelben Rapsfeldern und glücklichen Kühen vorbei und hielten an jeder zweiten Autobahnraststätte, weil Paul entweder pinkeln, essen, trinken, sich die Beine vertreten oder auch nur mal sein Gesicht in die Sonne halten musste. Zwischen Braunschweig und Hannover war es so eintönig, dass Wladimir anfing, von seinem Vater zu erzählen. Tom fand, er klang merkwürdig teilnahmslos, als spreche er von einem alten Bekannten. Den Tod seines Vaters hatte er »zur Kenntnis genommen«, das genügte.

König Otto war Leiter der Bibliothek der Vereinten Nationen gewesen, und zeitlebens hatte ihn nur eine Sache wirklich begeistern können: Wissen. Er hatte sich als Gefäß gesehen und sein Leben damit verbracht, dieses Gefäß zu füllen. Er las. Bei etwas anderem war er praktisch nie beobachtet worden. Mittelalterliche Traktate, Abhandlungen über exotische Vögel aus dem 19. Jahrhundert, französische Existentialisten, einfach alles. Eine ganze Woche hatte er in gebeugter Haltung über einem Brockhaus-Band zubringen können – PAS-RIM.

Seine Angestellten hatten ihn wie einen Heiligen verehrt. Bei besonders schwierigen Buch-Patienten, denen weder Computer noch Bibliothekar weiterhelfen konnten, hatte man ihn aufsuchen müssen, um ihm den Fall vorzutragen – in seinem |12|Elfenbeinturm gab es kein Telefon. Er hatte dann Flügel, Raum, Reihe und Regal auf eine Karteikarte gekritzelt und sie über den Tisch geschoben, als handele es sich um einen konspirativen Treffpunkt. Zum Glück hatte seine junge Freundin die Lästigkeiten des Alltags von ihm ferngehalten.

Was Frauen anging, war er nicht gerade zimperlich gewesen. Wladimir hatte eine Kopie seines Testaments dabei:

(…) Liebe Alexandra, du weißt, wie sehr ich dich schätze und wie dankbar ich dafür bin, dass du mir meine letzten Jahre so sehr versüßt hast. Deshalb sehe ich auch keine Notwendigkeit, die Dinge nicht beim Namen zu nennen: Es lohnt sich nicht, dir meine Bücher zu vererben. Du wüsstest doch nichts mit ihnen anzufangen. Gleiches gilt für den Flügel im Wohnzimmer. Was könntest du schon damit tun, außer Nippes darauf abzuladen? Eine Eigenschaft, die Gott den Frauen als Geduldsübung für die Männer eingepflanzt hat. Aus diesem Grund habe ich mich entschlossen – und ich bin sicher, du hast Verständnis dafür –, alle in meinem Privatbesitz befindlichen Bücher sowie den Bechstein-Flügel meinem Sohn Wladimir zu vererben. Mögen sie ihm helfen, sein Studium eines fernen Tages doch noch zu beenden. (…)

»Nicht gerade diplomatisch«, sagte Tom, als er die Kopie wieder zusammenfaltete.

»Wenn der wüsste«, sagte Paul.

Wladimir: »Ich weiß gar nicht, was du hast. Ich hab’ mein Studium doch beendet – wenigstens so gut wie.«

»Nach vierunddreißig Semestern«, warf Tom ein.

»Na und?«

Paul: »Ohne Abschluss.«

»Ein paar Scheißfreunde hab’ ich da.«

Tom versuchte sich vorzustellen, wie der Tod seines Vaters für ihn sein würde. Für Tom war sein Vater ein Platzhalter: die Verkörperung einer Sehnsucht, die nie gestillt worden war – der Sehnsucht nach Geborgenheit. Was würde sich ändern, |13|wenn er nicht mehr da wäre? Tom wusste es nicht. Nicht viel, wahrscheinlich. Er hatte mal gehört, ein Mann würde erst durch den Tod seines Vaters richtig erwachsen werden. Bedeutete das, dass man den letzten Rest Unbekümmertheit dann auch noch verlor? Er kam sich doch so schon furchtbar erwachsen vor.

Als Wladimir erfuhr, dass er die Bücher seines Vaters geerbt hatte, suchte er sich als Erstes eine größere Wohnung. Er hatte Glück, die Wohnung kam zu ihm. Tom und er zogen Dielen ab in einem Haus in der Kyffhäuserstraße, das einem Konsortium schwuler Architekten gehörte, von Wladimir »das Kartell« genannt. Zwei von ihnen kamen jeden Mittag mit ihrem silbergrauen Jaguar vorgefahren, um nach dem Rechten zu sehen, sich ihre Kaschmirsakkos staubig zu machen und ihnen Pizza und Cola zu bringen. Eine von den Vierzimmerwohnungen war noch unvermietet, und als Wladimir so tat, als müsse er es sich überlegen, erlagen sie seinem schweißglänzenden Oberkörper und kamen ihm sogar noch mit der Miete entgegen.

»Was willst du denn mit 135 Quadratmetern?«, fragte Tom.

»Du wirst dich wundern.«

Es war ein nicht ganz gewöhnliches Haus. Im Erdgeschoss wohnte ein schwules Pärchen, dem Tom die Namen »Husch« und »Knack« gegeben hatte. Nie sah man einen von ihnen alleine. Sie kamen zusammen, gingen zusammen und kauften gemeinsam ein, aber wenn Tom ihnen begegnete, taten sie immer so, als wüssten sie nichts voneinander. Das ging so weit, dass sie bei Reichelt mit zwei Einkaufswagen unterwegs waren. Der Größere trug eine verkehrt herum aufgesetzte Baseballmütze, der Kleinere einen schwarzen Rolli, selbst bei dreißig Grad. Auch sie hatten ihre Wohnung dem »Kartell« zu verdanken.

|14|Im ersten Stock residierte ein in die Jahre gekommener ehemaliger Schauspieler, der seinen weißen Flokati-Hund gerne im seidenen Morgenmantel um den Block führte, dabei Spitze rauchte und an bessere Zeiten zurückdachte; ihm gegenüber wohnte ein Kellner aus dem »Rasenden Roland«, der gerne erzählte, dass er der glücklichste Mensch der Welt wäre, wenn er nur Kinder bekommen könnte. Wie die beiden zu ihren Wohnungen gekommen waren, wussten Wladimir und Tom nicht, konnten es sich aber denken.

Im zweiten Stock rechts lebte zurückgezogen und still ein Krankenpfleger und links, unter der Wohnung von Wladimir, eine Frau, die Tom und er nie richtig zu sehen bekamen, weil sie wie ein Phantom durchs Treppenhaus huschte. Wie die zu ihrer Wohnung gekommen war, konnten sie sich nicht erklären. Auf ihrem Klingelschild stand in geschwungener Schrift »Gschwind«.

Tom: »Ihr Name scheint Programm zu sein.«

Die Wohnung neben Wladimirs sollte im Verlauf des Sommers noch renoviert werden, und oben, im vierten, hatte man die beiden Wohnungen für eine Männer-WG zusammengelegt.

Wladimir: »Hoffentlich bin ich nie so betrunken, dass ich mich in der Wohnungstür irre.«

Alexandra, König Ottos Hofdame, war wirklich jung, vielleicht sogar jünger als Paul, und er war der Jüngste von ihnen. Als sie die Tür öffnete, fragte Paul als Erstes in seiner unverblümten Art: »Du bist Alexandra? Sag mal, wie ist das denn so, wenn ihr euch seht? Sagt Wladimir dann Mutti zu dir?«

Paul sagte oft Dinge, die der Situation nicht angemessen waren. Manchmal beneidete Tom ihn dafür. Er wäre auch gerne mal nicht nett und einfühlsam gewesen.

Weshalb Wladimir sich einen LKW geliehen hatte, um die Bücher seines Vaters abzuholen, klärte sich von selbst, als sie |15|die Wohnung betraten. König Otto hatte nicht nur in einer Bibliothek gearbeitet, er hatte in einer gelebt. Es war bedrückend. Kaum ein Quadratzentimeter Wandfläche, der nicht von Büchern bedeckt war. Selbst Handtücher und Teller in Bad und Küche mussten sich ihren Platz von Büchern streitig machen lassen. Im Schlafzimmer standen die Regale in Reihen und hielten das Bett in der letzten freien Ecke gefangen.

Die Wand hinter dem Konzertflügel im Wohnzimmer war Noten vorbehalten, Hunderten von Einzelausgaben und kleinen Heftchen. Tom stand wie vor einem Monument. Zuerst konnte er kein System erkennen, weil die Ausgaben nicht nach Komponisten geordnet waren. Als er sich zu vertiefen begann, erkannte er jedoch, dass sie nach Erscheinungsdatum angeordnet waren – aufgeschnürt wie Perlen auf dem Faden der Zeit. Als sei sie das einzig unumstößliche Kriterium, dem sich alles andere zu beugen habe. Daher auch keine Sammlungen: die hätten Stücke unterschiedlicher Entstehungsdaten enthalten. Wahllos zog Tom einen Band heraus – Scarlatti-Sonaten. Das Papier war alt, aber auffällig unbefleckt. Die Bindung knackte, als er die Seiten auseinanderdrückte.

Alexandra stand plötzlich hinter ihm. Irgendwie glitt sie lautlos durch die Wohnung, als hätte sie Luftkissen unter ihrem Rock. Er wollte etwas sagen.

»Die sehen alle so unbenutzt aus.«

»Er konnte nicht spielen.«

»Er konnte nicht spielen?«

»Nein.«

»Wozu dann die ganzen Noten?«

»Wenn er nicht las, hörte er Klaviermusik. Die Dinge, die er hörte, wollte er in gedruckter Form – als Buch, wenn du so willst.«

»Konnte er denn Noten lesen?«

»Auf seine Art schon, denke ich.«

|16|»Auf seine Art?«

»Er hätte wohl gesagt, er sieht etwas in ihnen.«

»Und er hat nie gespielt?«

»Nein.«

Tom stellte sich König Otto vor, wie er über einem Band mit Beethoven-Sonaten saß wie ein Kaffeesatzleser, und schwankte zwischen Hochmut und Hochachtung.

»Darf ich?«, fragte er und deutete auf den Flügel.

»Er gehört Wladimir«, sagte Alexandra.

Da Tom nicht wusste, wie er ihre Antwort zu deuten hatte, blieb er stehen, mit den Noten in der Hand. Er erwartete, dass sie etwas Erklärendes anfügen würde, aber sie lächelte nur entfernt und schwebte leise aus dem Zimmer. Genauso verschroben wie ihr König, dachte Tom.

Sie fuhren nachts zurück. Bereits am Nachmittag hatte sich unbemerkt ein Nieselregen eingestellt, der sie bis nach Berlin begleitete. Die Wischblätter waren zerschlissen, die Nacht verschwamm zu einem Kinderbild, dessen Farben ineinanderliefen. Tom wusste nicht, warum, aber er saß schon wieder in der Mitte. Die Sitzbank bot nur Platz für eine Hälfte seines Hinterns, die andere musste mit der Konsole vorliebnehmen und wurde langsam von der Hitze des Motors gegart. Wenn Wladimir schalten wollte, musste Tom zur Seite rücken. Sie fuhren mit offenen Fenstern. Die Heizung war kaputt, das hieß, man konnte sie nicht abstellen. Die Luft, die zu beiden Fenstern hereindrang, vereinigte sich über seinem Sitzplatz zu einer Windhose, in deren Auge er saß. Einmal wirbelte minutenlang ein Kaugummipapier um ihn herum. Versuchte er sich zu bewegen, wurde ihm entweder der Arm oder der Kopf weggerissen.

Paul und Wladimir unterhielten sich an ihm vorbei, während er in Gedanken versunken war, die ihn umkreisten wie das Kaugummipapier. Irgendwann fragte Paul, ob Wladimir sich vorstellen |17|könne, mit Alexandra ins Bett zu gehen. Da hakte Tom ein: »Tut mir leid, aber bevor ihr beiden darüber philosophiert, ob die Freundin von Wladimirs verstorbenem Vater zum Abschuss freigegeben ist, muss ich mal was loswerden: Ich fand es unmöglich, wie du bei Alexandra mit der Tür ins Haus gefallen bist! Sie zu fragen, ob Wladimir Mutti zu ihr sagt … Die hat gerade ihren Mann verloren!«

Paul: »Du meinst, ich hätte das lieber nicht sagen sollen?«

Tom: »Natürlich nicht. Das war völlig – entschuldige das Wort – pietätlos.«

Paul: »Wladimir?«

Wladimir zog die Schultern hoch: »Keine Ahnung. Schon möglich.«

Tom war müde. Morgen würden sie die mühsam eingeladenen Bücherkisten in Wladimirs Wohnung tragen müssen, eine schwerer als die andere. Er dachte an Helen, die er in Gedanken in Berlin gelassen hatte, und daran, dass er morgen auch nicht wissen würde, wie es mit ihnen weitergehen sollte.

[Menü]

|18|Helen

Tom wusste noch immer, was Helen an jenem Tag vor acht Jahren getragen hatte, und konnte sich an den Stand der Sonne und die langen Schatten auf ihrem müden Gesicht erinnern.

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