Bunter Stoff - Christiane Schlenzig - E-Book

Bunter Stoff E-Book

Christiane Schlenzig

0,0

Beschreibung

Sechs Frauen sitzen in ihrem Stammcafé und feiern ihr dreißigjähriges Jubiläum. Ein spannender Rückblick in die achtziger Jahre im Osten Deutschlands. Einmal wöchentlich trafen sie sich in einer Kulturhausvilla zum Nähen und kreativen Gestalten von Kleidungsstücken. Es wurden Modenschauen organisiert. Ein Hobby, das die Frauen bis heute verbindet. Jede Protagonistin hat ein Eigenleben mit ihren Alltagssorgen, Ängsten und Nöten. Doch die Gruppe hält zusammen. Freundschaft verbindet. Die Zeit der achtziger Jahre, bis hin zur Wendezeit hat ihre Tücken. Was sich so leicht, fröhlich und locker anfühlt, ist einer Diktatur unterworfen, der sich niemand entziehen kann.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 164

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Sechs Frauen sitzen in ihrem Stammcafé und feiern ihr dreißigjähriges Jubiläum. Ein spannender Rückblick in die achtziger Jahre im Osten Deutschlands. Einmal wöchentlich trafen sie sich in einer Kulturhausvilla zum Nähen und kreativen Gestalten von Kleidungsstücken. Es wurden Modenschauen organisiert. Ein Hobby, das die Frauen bis heute verbindet. Jede Protagonistin hat ein Eigenleben mit ihren Alltagssorgen, Ängsten und Nöten. Doch die Gruppe hält zusammen. Freundschaft verbindet. Die Zeit der achtziger Jahre, bis hin zur Wendezeit hat ihre Tücken. Was sich so leicht, fröhlich und locker anfühlt, ist einer Diktatur unterworfen, der sich niemand entziehen kann.

Autorin - Christiane Schlenzig lebt heute in der Oberlausitz bei Bautzen.

Seit 2008 Mitglied im Berufsverband junger Autoren Bonn/Leipzig. Veröffentlichungen in Anthologien und bei Literaturwettbewerben.

Sie schreibt Autobiografisches und Fiktives, gesellschaftskritische Gegenwartsliteratur. 2012 erschien im Engelsdorfer Verlag ihr Debüt Roman: Flügel im Wind, 2014 Roman: Zeit zwischen Nacht und Tag, 2016 Kraniche im Ruderflug-Erzählungen, 2017 Roman Wenn jede Stunde zählt, 2019 Roman Unebene Wege, 2020 Roman Flügel zitternd im Wind, 2.Aufl.

www.christiane-schlenzig.de

Eine der wichtigsten Eigenschaften

wahrer Freundschaft ist zu verstehen

und verstanden zu werden.

Lucius Annaeus Seneca

Für

Andrea, Angelika,

Irmi, Isolde, Regina.

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

1984 – Die VERNISSAGE

INA

HELENE

EVA

HELENE

INA

HELENE

EVA

HELENE

INA

EVA und IHRE GRUPPE

SILKE

INA

SILKE

EVA und ihre MODENSCHAU

HELENE

INA

EVA und IHRE FRAUEN

CLAUDIA

DIE Gruppe WIRD komplett

ARNO

DIE SHOW BEGINNT

HELENE

IM RESTAURANT

MARGIT

EVA

DEZEMBER

ACHTER MÄRZ

1989 – WENDEZEIT

DAS TREFFEN

Die Villa

Quellen aus Wikipedia

Christiane Schlenzig

PROLOG

Viel zu früh stehen sie erwartungsvoll auf dem Bahnsteig. Als der Zug endlich einfährt, spuckt er Jugendliche mit Laptoptaschen, Schüler mit ihren Rucksäcken und Reisende mit Koffern aus.

Aufgeregt suchend halten die Freundinnen Ausschau. Eine schwierige Aufgabe Ina zwischen dem Menschenpulk zu entdecken.

Als der Bahnsteig sich lichtet, sehen sie am Ende des Zuges eine ältere Dame in dunkelblauem Kostüm. Ein leuchtendrotes Tuch um den Hals geschlungen. Umstellt von zwei großen Koffern.

Die Hochsteckfrisur ist von grauen Strähnchen durchzogen. Vage erkennen sie die Freundin.

Sie winken, doch Ina rollt ihre Koffer, ohne sich umzuschauen, zum Taxistand, hebt den Arm, als demonstriere sie einen Zaubertrick und nähert sich einem Taxi.

»Das gibt es doch nicht, stolziert an uns vorbei, als käme sie von einem anderen Planeten.«

Eva rennt ihr hinterher:

»Hallo Ina. Du bist es doch, oder?«

Indem sie sich umdreht, wäre die Lady fast über ihre Koffer gestolpert.

»Oh, ich habe euch wirklich nicht erkannt.«

»Sag jetzt nicht, wir wären alt geworden.«

Sie lachen und liegen sich in den Armen.

Helene nimmt die Koffer an sich und zieht sie geräuschvoll zu ihrem Auto. Sie fahren über die Spreebrücke mit dem beeindruckenden Blick auf die Altstadt, die Stadtmauer mit den Wehrtürmen, die alte Burg und den Dom.

Ina sitzt vorn und redet aufgeregt.

Aus der schweigsamen, stillen Ina ist eine redegewandte Frau geworden.

Alles ist wieder da. Die Zeit, da sie frisch verliebt Hand in Hand mit Arno durch die Gassen der Altstadt lief.

Die Zeit, als er mit seiner Musikbox die Modenschauen begleitet hatte.

Zeit der Angst, als sie fröstelnd, zitternd mit Arno aus dieser Stadt flüchtete.

Sie legt beim Reden eine Atempause ein, zeigt, als sie ins Zentrum fahren, auf das neue Einkaufscenter: »Super, ist ja wie im Westen.« Eva klopft vom Rücksitz empört auf Inas Schulter: »Na sag mal, du denkst wohl nach dieser langen Zeit immer noch in zwei Welten?« Als habe sie die Worte der Freundin nicht gehört, schwatzt sie weiter. »Wir kommen zurück«, sie hebt anerkennend den Daumen hoch. »Arno hat sich für eine Assistenzarztstelle im Oberlausitzklinikum beworben. Wir haben am Schülertor eine Wohnung gemietet. Sie muss nur noch renoviert werden.«

Die Autofahrt vom Bahnhof in die Innenstadt gleicht einer Zeitschleuse, die Ina im Schnelldurchlauf für die Freundinnen geöffnet hat.

Am Ibis Hotel setzen sie die Freundin ab, tragen ihr die Koffer zur Rezeption und verabschieden sich.

»Bis morgen Nachmittag siebzehn Uhr in unserer Stammkneipe.«

»Und bitte pünktlich, okay?«

Sie treffen sich im Café am Postplatz. Ein Café, das es schon vor dreißig Jahren gab. Mit Stühlen und Tischen aus dunklem Holz, historischen schwarz-weiß Fotos an den Wänden.

In den neunziger Jahren hatte es sich schnell von der Vergangenheit verabschiedet. Es sieht nun genauso aus wie alle Cafés der Welt.

Bunte abstrakte Acrylbilder an den Wänden. Eine lange Bar, eine Espressomaschine, die ununterbrochen gurgelt und zischt.

»Heute feiern wir ein Jubiläum«, sagt Eva. Der Kellner schiebt sich galant mit seinem Tablett an den herumstehenden Koffern und Taschen vorbei. Nachdem er die Sektgläser verteilt hat, zeigt er auf die alten Lederkoffer: »Da habt ihr euch ja etwas Lustiges einfallen lassen. Wer ist denn der Jubilar?«

»Wir alle«, ruft Eva.

»In den Koffern ruht unsere Vergangenheit.«

Sie steht auf und erhebt ihr Glas:

»Auf unsere dreißigjährige Freundschaft!«

Sie reden über Wichtiges, Unwichtiges.

Schwatzen, erinnern sich.

Wie sie so dasitzen, sind sie alle irgendwie noch sie selbst, ohne Verkleidungen und Alterskrusten.

»Modemädels« nennen sie sich.

Warum?

Das ist eine lange Geschichte …

1984 – Die VERNISSAGE

Die Villa umgeben von einer weitläufigen Parkanlage. Hecken, Sträucher, Bäume säulenartig zu beiden Seiten des Weges. Efeu windet sich um die Stämme.

Sie gehen, an Wachholder und Rhododendron vorbei, zum prunkvollen Eingangsportal. Eine Besucheransammlung an der Garderobe.

Eva grüßt mit einem Kopfnicken die Anwesenden, geht auf die Galeristin zu und stellt ihre Begleitung vor. Man reicht zur Begrüßung ein Glas Sekt. Sie prosten sich zu.

Eva zeigt nach oben. Zwei stattliche Säulen, zieren den Treppenaufgang zur ersten Etage. »Schau einmal, das Rondell aus Glas über dir, typisch Jugendstil. Leider ist die Turmkuppel im Krieg zerstört und das Dach nur notdürftig restauriert worden. Die geschwungenen Formen an den Decken kann man noch vage erkennen. Ranken, Pflanzen- und Symbolmotive hat man großzügig mit hellgrauer Wandfarbe übermalt.«

Als sie zum Saaleingang gehen, Entrüstung. »Guck dir das mal an, an den hochwertigen Flügeltüren sind mit Reißzwecken Plakate angepinnt. Wie kopflos.« Sie zischelt ihrer Freundin leise ins Ohr: »Die Kulturverantwortlichen scheinen wenig Sinn für geschichtsträchtige Baukunst zu haben.«

Während Eva mit den Initiatoren der Ausstellung spricht, schaut Helene sich unsicher um. Sie kennt hier niemanden, hält sich krampfhaft an ihrem Sektglas fest.

Warum ist sie eigentlich mit der Freundin mitgegangen? Sie spürt einen Druck in der Magengrube und sucht zwischen dem Besucherpulk nach einem Fluchtweg. Doch sie muss feststellen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen, kann sie aus diesen Räumen nicht entkommen.

Sie nippt an ihrem Glas, und spürt im Nacken einen Blick auf sich gerichtet.

Es gibt Menschen, die so enorm viel Raum beanspruchen, dass sie präsent sind, bevor man sie überhaupt gesehen hat. Er steht am Empfangsbüfett, seine Augen schauen auffällig lange in ihre Richtung. Sie weiß nicht, ob er ins Nirgendwo starrt, oder zu ihr. Dann ist Eva wieder neben ihr, ein Lächeln unter Freundinnen, sie stoßen mit ihren Sektgläsern an. Die Kuratorin beginnt mit der Eröffnungsrede.

Als kenne sie das Gangmuster eines geheimen Labyrinths, zieht Eva sie, nach der Eröffnung, durch die Menge der Vernissagebesucher, hin zum Buffet. Ein langer Tisch, reich bestückt mit bunten Partyhäppchen. »Man kann hier von allem kosten so viel man möchte.«

Der Mann mit dem aufdringlichen Blick steht bereits, ausgestattet mit aufgefächerten Häppchen, am Ende der Tafel und schaut ihr direkt in die Augen. Helene spürt eine Hitzewelle im Gesicht, als Eva ihr den Herrn vorstellt: »Das ist Herr Berger, wir kennen uns von kulturellen Veranstaltungen.« Sein charmantes Lächeln schwebt durch die Luft und schlägt in ihr ein, als er sie anspricht: »In welcher Mission sind Sie hier?«

Blöde Frage, denkt sie, und ihre prickelnden Gefühle zerplatzen augenblicklich wie die Blasen in ihrem Sekt. Eva rettet die Situation: »Wir werden demnächst hier ein kulturelles Zentrum eröffnen.« Sie erhebt ihr Glas und lächelt in die Runde. »Auf unsere Zukunft und die gemeinsamen Aktivitäten in diesem Haus«, kippt den Sekt in sich hinein, hält das leere Glas ihrem Gegenüber hin: »Können Sie uns noch einmal Sekt nachfüllen lassen, Herr Berger?« Ein seltsamer Glanz liegt in Evas Augen, als sie dem Mann die Gläser hinhält. Sie schaut ihm hinterher. Wie er läuft, denkt Helene, so selbstbewusst, Schritt vor Schritt, mit den leeren Gläsern in den Händen.

»Woher kennst du den Herrn?«, fragt sie die Freundin.

»Den Berger? Er ist Mitglied im Kulturbund, organisiert Kunstausstellungen im Museum. Ich kenne ihn von diversen Veranstaltungen.

Sein Gebaren hat etwas von Großspurigkeit. Er weiß wohl sehr genau, dass er ein Schönling ist.«

Was macht er beruflich, will Helene fragen, aber da sieht sie Berger mit den vollen Sektgläsern jonglierend in den Saal zurückkommen.

Berger prostet ihr zu, ein kurzer Blick, der sich lang anfühlt. Sie hält sich am Stiel ihres Sektglases fest, als er fragt: »Was machen Sie so beruflich?«

Eva hat die Anspannung bemerkt, sie kennt ihre Freundin zu gut, weiß, dass diese Konversationen gar nicht mag, und versucht, Berger abzulenken. Sie spricht über die Ausstellung, über zeitgenössische Kunst, über kreative Gestaltung und die vielfältigen Aufgaben des Kulturhauses.

Doch dann reißt Berger mit ausufernden Anekdoten das Gespräch an sich. Mehr Nebensätze als Hauptsätze, wo am Ende kein Finale in Sicht scheint.

»Die Villa, Anfang des 20. Jahrhunderts als repräsentatives Jugendstilwohnhaus eines wohlhabenden Industrieellen erbaut, noch vor dem zweiten Weltkrieg in Staatseigentum übergegangen, hatte die Kriegswirren fast unbeschadet überstanden.

Das Gebäude diente als Hospital, als Flüchtlingsunterkunft und nach einer Renovierung in den siebziger Jahren zunächst als Jugendclub, schließlich wurde es Kulturhaus.«

Er faselt von kulturpolitischen Programmen, über kulturelle und künstlerische Selbsttätigkeit der Arbeiterklasse innerhalb betrieblicher Kulturpläne. Über Gestaltung von Gegenwartsproblemen.

Eva redet ihm dazwischen, versucht es zumindest. Sie spricht von ihrer Aufgabe, die Volkskunst zu fördern. »Ich werde hier wöchentlich am Nachmittag Kurse für textiles Gestalten abhalten.«

Helene beneidet Eva um ihre Redegewandtheit und ihren Charme.

Sie kommt sich vor wie ein Gänseblümchen neben einer Rose.

Als der Direktor des Hauses hinzukommt, versiegt der Redefluss.

»Hallo Herr Berger. Ich habe gehört, dass Sie den Laden ihres Vaters übernehmen wollen? Schade!

Ich habe gedacht, mit einer Qualifizierung hätten Sie das Kreiskabinett für Kulturarbeit leiten können.« Bergers Mundwinkel verziehen sich zu einem missmutigen Bogen.

Er leert hastig sein Sektglas, verabschiedet sich ganz unvermittelt mit einem Kopfnicken in alle Richtungen und geht schnellen Schrittes davon.

Helene spürt, dass auch Eva sich am liebsten entfernt hätte, aber nun wird sie vom Direktor des Kreiskabinetts belagert und muss ihm von den zu erwartenden kulturellen Aktivitäten berichten. Sie steht stumm daneben, entfernt sich schließlich unauffällig, stellt ihr leeres Sektglas auf die Ablage, geht in den Ausstellungsraum.

Ihr Blick fällt auf ein Kunstwerk gleich neben dem Eingang: Collage ohne Titel, der Name der Künstlerin ist ihr fremd.

Ein Auge schaut auf sie herab.

Schwarz auf weißem Grund. Mehrere Bleistiftstriche ineinander verflochten. Das dunkle Auge, der Blick.

Schwarzweiß kennt keine Zwischentöne, differenziert nicht, unterscheidet nicht, denkt sie.

Das Augenlid bewegt sich, die Wimpern flattern.

Hat der Sekt ihren Blick getrübt?

Der Augapfel wird groß und größer, die Pupille deutet nach unten.

Ein helles Blau, wolkenartig mit Acryl an den rechten Rand des Bildes gepinselt. Blau, die Farbe des Vertrauens, der Klarheit, der Ruhe und Harmonie. Das Blau, es hat gerade eben etwas in ihr zum Schwingen gebracht.

Als sie sich an den plaudernden Besuchergrüppchen vorbeischlängelt, ist es, als schaue das Auge ihr hinterher. Sie geht in den Eingangsbereich, nimmt in der Garderobe ihre Jacke in Empfang und läuft nach draußen.

In der Parkanlage neben einer hohen Buchsbaumhecke sieht sie Berger, sie zuckt zusammen. Ihr ist klar, dass sie keine Chance hat, unbemerkt an diesem Mann vorbeizukommen.

Sie verharrt einen Moment, das Kunsterlebnis noch in sich: Denk an das Blau, sagt ihre innere Stimme. Sie richtet sich auf und geht selbstbewusst auf Berger zu. Als sie vor ihm steht, schaut er ihr direkt in die Augen: »Sie gefallen mir.«

Er überrascht sich wohl selbst damit. Er errötet bis an die Haarwurzel und kommt ins Stottern: »Ich kann viel reden, wenn es um Sachliches geht, aber …«, er stockt, der Anflug eines Lächelns zuckt um seine Lippen. »… aber hier«, er klopft mehrmals auf seine Brust.

»Hier drinnen etwas herausholen und in Worte fassen, das fällt schwer.«

Sie schaut zu Boden, als wolle sie in die Unterwelt abtauchen. Im Schutz der Buchsbaumhecke und eines rotblühenden Rhododendron spürt sie ein Kribbeln in der Magengegend.

Mit brennendem Hals und trockenem Mund versucht sie ein Lächeln. Berger nimmt ihre Hand:

»Komm, wir trinken Brüderschaft.«

In der Kneipe am Ende der Straße sitzen sie sich gegenüber, lassen die Gläser klingen.

Für Anfänge musste man sich entscheiden, Enden kommen von allein. Sie denkt an die zeitweiligen Studentenlieben, das Straucheln von einem Affärendesaster ins nächste.

Hier fühlt es sich anders an.

Mit Uwe Berger gab es einen Anfang.

Einen Anfang mit Spaziergängen,

Gesprächen,

mit Nähe,

die langsam anwuchs.

INA

Von Montag bis Freitag saß Ina im Sekretariat des Chefarztes. Acht Stunden, die vorgegebenen Pausen inklusiv.

Sie tippte auf der Schreibmaschine herum, sortierte Post, wartete auf den Feierabend.

Wenn der Chef kam, waren Bleistift und Stenografierblock im Einsatz.

Ihr Arbeitsplatz, ein kleiner Raum, schmale trübe Fensterfront, graue Wände. Wenn sie den Blick von der Schreibmaschine hob, schaute an der Wand mit strengem Brillenblick, in Gold gerahmt, der Staatsratsvorsitzende zu ihr herab. An den Beobachter hatte sie sich gewöhnt, an die Beengtheit des Raumes nicht. Das Fenster konnte man wegen der Lärmbelästigung selten öffnen.

Ihr Chef, Herr Professor Doktor Wiedemann, hieß Benedikt mit Vornamen.

Ben nannten ihn alle und wenn die Kollegen ihn mit langen Schritten durch den Korridor stapfen hörten, klang das Ben, Ben, wie ein aufprallender Ball.

Sie saß an ihrem Schreibtisch, da sie den Chef schon außer Haus vermutete, nahm sie ihren Zettelblock, um eine Einkaufsliste zusammenzustellen. Die Tochter feierte am Wochenende ihren zehnten Geburtstag. Sie hatte die halbe Klasse eingeladen, es sollte eine »super tolle Party« werden, so die Worte der Tochter. Sie sieht die bettelnden Augen: »Bitte Mama, Süßigkeiten, Luftballons, Liebesperlen und Knusperflocken.«

Ein Zusammenzucken, als sie plötzlich die Ben-Ben-Schritte hörte. Sie schob ihre Notizen unter den Stenoblock, da stand der Chef auch schon hinter ihr und legte die Hand auf ihre Schulter.

Sie neigte dazu – wie so oft –, diese anzügliche Männerhand abzuschütteln, die sich feucht und schwer anfühlte.

Hatte er ihre Einkaufsliste gesehen?

»Frau Meier, ist der Bericht fertig? Er muss heute noch raus«, sein Blick hing auf dem Stenogrammblock – »böhmische Dörfer«, wie er das Stenografierte bezeichnete.

»Herr Chefarzt, ich bin drüber, der Bericht geht heute noch in die Post«, sie kam ins Stottern. »Das Farbband muss ausgewechselt werden«, und zeigte auf die Schreibmaschine.

Er vertraute ihr, gab seine Unterschrift auf das weiße unbeschriebene Blatt, links unten neben seinem Stempel, und verabschiedete sich ins freie Wochenende.

Als er den Raum verlassen hatte, die Tür zukrachte, klingelte das Telefon: »Chefsekretariat Professor Doktor Wiedemann, … ja okay, die Berichte gehen heute noch in die Post.« Jetzt musste sie eilen, das Farbband war nur eine Ausrede …, manchmal konnte sie ihren Chef um den Finger wickeln. Die Schreibmaschine klapperte, das Stenografierte war schnell unter ihren Fingern in die Maschine getippt, das Papier rausgedreht, gefaltet, eingetütet, frankiert, zur Poststelle gebracht. Feierabend.

Feierabend mochte gut klingen für Chefs und Männer die sich nicht verantwortlich fühlen.

Verantwortlich für Familie, für Haushalt, Einkäufe, Essen, Trinken oder eben für die Geburtstagsparty der Tochter.

Sie radelte im Eilzugstempo zum Konsum. Wenn sie Glück hatte, gab es all die Zutaten für den Kuchen, der heute Abend noch gebacken werden musste. Butter, Zucker, Mehl, Eier …

Eventuell bekam sie eine Tüte Schokoriegel und ein – vielleicht auch zwei – Gläschen mit den Liebesperlen. Wenn sie ganz großes Glück hatte, sogar die begehrten Knusperflocken. Ach, in den Schreibwarenladen musste sie auch noch.

Luftballons, bunte Papierschlangen. Geschenkpapier, Schleifenband.

Sie radelte durch die von Abgasen schwere Luft ihrem Ziel entgegen.

Die Sonne warf blendende Lichtstreifen auf die Straße. Hinter und neben ihr knatterten die Motoren der Autos. Indem sie versuchte, mit dem Rad die löchrigen Stellen in der Asphaltdecke zu umrunden, warf sie einen kurzen Blick auf ihre Armbanduhr: Eine halbe Stunde blieb ihr bis zum Ladenschluss.

Ich muss eilen. Gut, dass Pia bei der Oma übernachtet, so habe ich genug Zeit, den Geburtstagstisch aufzubauen.

Das neue Fahrrad werde ich mit einem Tischtuch verhängen, damit der Blick der Tochter erst einmal an Kerzen, Geburtstagstorte und den Päckchen von der Verwandtschaft haften bleibt. Ich sehe schon ihre strahlenden Augen, wenn ich das große Geschenk enthülle.

Eine nächste Gedankenspur führte sie zu Martin. Musste er am Geburtstag seiner Tochter zum Wochenendseminar nach Berlin fahren?

Als sie mit ihm vor vierzehn Tagen über Pias Geburtstag sprach, über die anstehende Kinderparty und das neue Fahrrad als Geschenk, hatte Martin ohne Zögern zu allem seine Zustimmung gegeben. Nun war wohl das wichtige Datum der Tochter wieder einmal in eines seiner Gehirnwindungen abgerutscht. Es war nicht das erste Mal, dass er diesen besonderen Tag vergessen hatte. Wochenendseminar? Manchmal wurde sie misstrauisch und fragte sich: Beginnen diese Seminare wirklich schon an einem Freitagvormittag?

Bei dem Gedanken an Martin brachte sie ihr Rad auf Hochtouren.

Nachdem die Tochter geboren war, schien alles zusammenzubrechen. Wenn sie miteinander redeten, führten sie ihre Gespräche nicht zu Ende. Sie rissen Gräben auf, aber schütteten sie nicht zu, sondern gingen im Alltag einfach um sie herum.

Wenn Martin nach Hause kam, ein flüchtiger Kuss, den sie wie einen harten Gummiball auf ihren Lippen spürte. Der Sinn ihres Lebens bestand ausschließlich darin, neben ihrem Beruf für die Tochter dazusein, Hausaufgaben mit ihr zu erledigen, Einkäufe, Wäsche. Ununterbrochen im Haushalt für Ordnung zu sorgen. Ordnung, die ihrem Mann nur auffiel, wenn sie nicht herrschte. Er hatte Eigenschaften in die Beziehung mitgebracht, die sie auch nach zehn Jahren noch fremd und seltsam fand, Eigenschaften, die sie tödlich nerven konnten.

Er redete nur mit ihr, wenn er ausgeruht war, an freien Wochenenden oder im Urlaub. Im Alltag – wenn er denn einmal anwesend war – rannte er übelgelaunt durch die Wohnung oder verkroch sich mit einer Zeitung in seine Sesselecke.

Der Mann, von dem sie manchmal träumte, hatte kein Gesicht, eine sanfte Stimme nur. Sie sah ihn auf sich zukommen. Er beugte sich zu ihr herunter: Kann ich dir behilflich sein?

Manchmal schlich er sich weg in verschwommene, unbekannte Welten.

Wenn sie von ihm träumte, fühlte sie sich geborgen und für nichts verantwortlich …

Doch es war nur ein Traum.

Ihr Kopf brummte, sie trat kräftig in die Pedale, unter ihr drehten sich die Räder, hinter der Stirn, Grübelräder, Gedankenräder. Plötzlich krachte etwas Metallenes gegen ihre Schulter, sie kippte zur Seite. Laute Geräusche schwirrten um sie herum, ihr Herz schlug viel zu schnell, ihr Brustkorb fühlte sich eng an.

Eine Frauenstimme dröhnte schrill an ihr Ohr, überschlug sich kreischend und wurde aufgesogen von einem lärmenden Stimmengewirr. Dann Stille. Die von Abgasen stickige Luft füllte sich mit Dunkelheit.

Dunkel, schwärzer als schwarz.

Wie ein großes Loch.

Langsam und widerstandslos ließ sie sich fallen.

Wie lange mochte die Zeit angedauert haben?

Ein Feuerstrahl blitzte auf, ein Schmerz, als schneide jemand mit einem scharfen Messer ihren Kopf in zwei Hälften.

Sie versuchte die Augen zu öffnen, sah verschwommen die Umrisse eines fremden Gesichtes über ihr.

Wo bin ich?

Warum liege ich in einem fremden Bett?

Was sollen die Schläuche in Nase und Arm?

Plötzlich eine tiefe Stimme, die Wörter formte, überirdische Sätze.

»Sie sind hier in der Notfallambulanz. Sie hatten einen Unfall.«

Mit groben Fingern drückte jemand ihre Augenlider nach oben und leuchtete mit einer Taschenlampe.

Was soll das, will sie sagen, doch die Worte an ihrem Ohr waren stärker: