Kraniche im Ruderflug - Christiane Schlenzig - E-Book

Kraniche im Ruderflug E-Book

Christiane Schlenzig

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Beschreibung

Kurzgeschichten über Flucht, Vertreibung, Krieg, Einsamkeit. Angelehnt an die Thematik ihrer bisher veröffentlichten Romane, wechselt die Autorin in beeindruckender Sprache zwischen Erinnerung und dem Jetzt. Zwischen Partnerbeziehung und dem Alleinsein. Ein Generationenbogen vermittelt Erlebtes mit all seinen Gefühlsfacetten. Eine kraftvolle Auseinandersetzung mit der Vergangenheit.

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Kurzgeschichten über Flucht, Vertreibung, Krieg, Einsamkeit. Angelehnt an die Thematik ihrer bisher veröffentlichten Romane wechselt die Autorin in beeindruckender Sprache zwischen Erinnerung und dem Jetzt. Zwischen Partnerbeziehung und dem Alleinsein. Ein Generationen-Bogen vermittelt Erlebtes mit all seinen Gefühls-Facetten. Eine kraftvolle Auseinandersetzung mit der Vergangenheit.

Über die Autorin:

Christiane Schlenzig, schreibt Prosa,

Autobiografisches und Fiktives.

Sie ist Mitglied im Berufsverband junger Autoren.

Bisherige Veröffentlichungen in Anthologien, u.a. in:

„Mauerstücke – Erinnerungsgeschichten“, sowie im

Menschenrechte-Lesebuch Amnesty International

„Wer die Wahrheit spricht ...“ bei Edition Roesner,

2012 Debütroman: „Flügel zitternd im Wind“,

2014 Familienroman:

„Zeit zwischen Nacht und Tag“.

Inhalt:

- GRENZEN los -

Ein Ausflug ans Meer

Großvater

Der Schatten

Die Schwärze der Nacht

Unterwegs nach Tschechien

- HALT los -

Aufrecht

Die bunt schillernde Haarspange

Die Kinderschuhe

Segeln ohne Wind

Endlich frei

Grenzen los, Zensur los, endlich.

Mit offenem Mund.

Buchstaben, bunt schillernd,

schaukeln sich fröhlich zu Worten zusammen.

Grenzenlos überschwänglich

verdrängte Sätze zum Klingen gebracht.

Lose Worte formen einen Text,

Zensur los,

Gefahr los,

Nicht mühelos, nein.

Mundtote Jahre schmerzen noch.

Gedanken auf Papier gebracht.

Befreit Worte.

Endlich.

(1989)

I. GRENZEN LOS …

EIN AUSFLUG ANS MEER

Eine Möwe mit aufgeplustertem Gefieder zwischen den Halmen der Gräser. Er hört das Rauschen der Wellen. Die Luft riecht nach Meer, Salz und Frische. Ein Geruch, der an ferne, gute Zeiten erinnert. Kinderspuren im nassen Sand. Das Eingraben, ein beliebtes Spiel. Der Vater musste seine Füße suchen, immer und immer wieder.

Die Ostsee: Jahr um Jahr für Tausende von Urlaubern das beliebte Urlaubsziel. Die Quartiere waren überfüllt, die Campingplätze auch – erschwingliche Preise für jeden. Auch ihn hatte die Ostsee fasziniert – damals.

Heute liegt ein Schatten über allem.

Vorsichtig hebt er den Kopf, um einen Blick auf das Meer zu wagen. Sanfte Schaumkronen auf dem Wasser. Purpurrot die untergehende Sonne, die einer leuchtend goldenen Naht gleich, den Horizont vom Meer trennt.

Er hängt letzte Erinnerungsfetzen auf das Wasser, bis sich eine dicke Angstschicht darüberlegt.

Noch einmal geht er gedanklich alle Arbeitsgänge durch, jede Einzelheit, jeden möglichen Zwischenfall, dann wartet er auf die Dunkelheit.

Unter dem Geäst von alten trockenen Kiefernzweigen hält er sein Schlauchboot versteckt. Statistisch gesehen stehen seine Chancen nicht besonders gut …

Ihn fröstelt. Die Versuchung, nach der Kognakflasche zu greifen, die seitlich in seinem Seesack steckt: Nein, die wird er später dringender brauchen.

Letzte Strahlen der späten, sanften Sonne – ein letzter Abglanz, dann sieht er die grellen Scheinwerfer. Die Küstenwache schickt ihren kalten Lichtkegel langsam tastend über den Sandstreifen, das Meer, den Horizont. Die schwarzen Kiefernstämme starren angstvoll regungslos. Er zieht eilig seine warme Wattejacke an und wirft sich auf den Sandboden, den Blick auf die Armbanduhr gerichtet. Jetzt muss er sich konzentrieren. Präzise genau die Zeit stoppen, wann und wo der Scheinwerfer über den Strand und das Wasser gleitet. Nach einer reichlichen Stunde wagt er es.

Er atmet schwer, sein Herz beginnt zu rasen, eine ungewohnte Weichheit dringt in seine Knie.

Er muss schnell und sicher die Berührung mit dem Meer aufnehmen, die kurze Zeitspanne, wenn das suchende Auge des Scheinwerfers weit hinten über dem Horizont steht. Das Boot gleitet ins Wasser. Ein lautloser Paddelschlag, der Konzentration erfordert. Der Wunsch nach Freiheit, nach Leben, nach Überleben, ein reißender Strom von Lebenswillen, gespeist von der Hoffnung, dass er es schafft, gibt ihm Kraft.

Das war vor dreißig Jahren …

Heute läuft er leichtfüßig über den warmen Sandboden am Saum des Wassers entlang, lässt die Schaumkronen auf der Haut spielen.

Langgezogene graublaue Wolkenbänke am hellen Sommerhimmel.

Er lenkt seine Schritte hin zum Festland. Der Seewind bringt eine leichte Brise über die Dünen. Erinnerungen überlagern sich.

Seine Blicke flattern, einer Magnetnadel gleich, sie wollen orten. Er sucht nach dem Stein. Wo ist er? Der dichte Kiefernwald irritiert. Ein Gewirr von Ästen, die hoch in den blauen Himmel ragen. Woran soll er sich orientieren? Es riecht nach Harz und die Nase atmet plötzlich alte Angst.

Er fühlt, trotz des heißen Sommertages, das Frösteln und die Feuchtigkeit des kalten Seewindes von damals.

Was will er hier? Warum ist er bloß hierhergekommen? Er muss weg von diesem grausigen Ort der Erinnerung!

Er setzt sich auf den Sandboden und presst die Handballen gegen die Schläfen, so dass sein Kopf wie in einem Schraubstock zwischen den Fäusten hängt.

Seine Augen wandern weiter über den Sandboden und suchen unter den Kiefern.

Da … zwischen trockenen Kiefernnadeln und Kienzapfen im weißen Sand. Das muss er sein! Er wischt mit der rechten Hand behutsam die kleine Erhebung im Sand frei und hebt den Stein mit beiden Händen hoch, dann dreht er die Unterseite nach oben – sein Herz schlägt höher.

Ein leichtes Schwindelgefühl: Der Stein!

Seine Initialen, eingeritzt mit dem Taschenmesser, darunter das Fluchtdatum – grau, verwaschen jetzt.

Er wollte ein Lebenszeichen hinterlassen, damals.

„Papa, wo steckst du denn? Ich schaffe das nicht allein mit dem Boot“, eine vom Meeresrauschen verschluckte Stimme bringt ihn in die Gegenwart zurück. Er erhebt sich und winkt seiner Tochter:

Den Stein legt er behutsam an seinen Ort zurück, streift mit der Hand über den schuppigen Stamm der Kiefer, schaut nach oben in die Wipfel der Zweige, die Hände klebrig vom Harz: Dass wir beide uns im Alter noch einmal wiedersehen würden …

„Ach, wie stellst du dich denn an“, der Vater ist bei seiner Tochter. Laura mit ihren zu schwarz gefärbten Haaren und zu tief sitzenden Jeans, sie steht vor einem vergilbten, farblosen Etwas und macht sich an einer Hubpumpe zu schaffen.

„Ich habe das Boot mit meiner eigenen Luft aufgeblasen. Mein Rekord waren sieben Minuten!“ Der Vater setzt sich neben die Bootshaut, die muffig und nach altem Gummi riecht.

„Wollen wir wirklich mit diesem alten Boot aufs Wasser? Das ist viel zu klein für uns beide. Es schaukelt wie eine Nussschale mit uns auf den Wellen. Das macht keinen Sinn, Papa!“ Die Tochter mault.

„Lass es uns versuchen! Du bist doch sonst so abenteuerlustig …“

„Irgendetwas ist mit dir. Das merke ich schon seit unserer Abreise.“ Die Tochter wartet auf eine Erklärung.

---

Er war gestrandet. Durchfroren – fast bewusstlos – krank. Das Auffanglager. Das Misstrauen. Die vielen bohrenden Fragen. Wieder Verhöre – jetzt von der anderen Seite.

Er wurde gesund aus dem Lager entlassen – schneller als andere, bekam eine Arbeitsstelle zugewiesen und eine Wohnung.

Doch fühlte er sich wie ein Tiefseetaucher, der die Sonne vom Meeresboden aus sehen wollte.

Frei? Freiheit? Gab es das überhaupt? Er blieb ein Kritiker, ein Zweifler. Ein Fremder.

Nun sitzt er auf dem Sandboden und denkt zurück. Ein Teil von ihm schreitet ständig voran und hat Erfolg, der andere nagt gefräßig an ihm. Er hatte geglaubt, seine Vergangenheit ließ ihn einfach so los.

Die Tochter, welche Rolle spielt sie in seinem Leben? Sie bewohnt eine Welt, die ihm unbekannt ist. Eine Welt voller Geschichten und Fragen, die ihm fremd sind.

Sie kippt vor ihm gelangweilt den Inhalt des zweiten Packsackes auf den Sandboden: Eine leere Trinkflasche, ein Strick, ein Plastbeutel mit Schraubventilen, ein Paddel: „Moment mal, da hängt noch etwas …“ Sie fühlt und angelt und greift mit der Hand auf den Grund. Ein spitzer Gegenstand hat sich in der Stoffnaht festgehakt. Mit einigen Mühen fischt sie ein kleines graues Betonstück heraus.

„Was ist denn das, Papa?“ Der Vater ist überrascht. Er hatte diesen kleinen Zementblock verloren geglaubt: „Das ist ein Stück Mauer.“

„Was für eine Mauer?“

„Na, von der Mauer! Die, die durch Berlin ging.“

„Ach, Mauer, Mauerstücke, Mauergeschichten … ich kann es nicht mehr hören. Eure schlimme Vergangenheit. Schon mal was von Mexiko gehört? Oder Nord- und Südkorea? Oder fahr doch mal nach Zypern, von Süd nach Nord! Weißt Du eigentlich, dass die Mauer in Israel doppelt so hoch ist, wie eure war?“

Er sieht, wie sie seine Reliquie in den Händen hin und her wendet, sie in die Höhe wirft. Beim Auffangen eine kleine Schürfwunde am Zeigefinger. Die Tochter schiebt den Zeigefinger zwischen die Lippen. Und, als müsse sie ihre aggressiven Worte mit diesem Stein aus der Luft zurückholen: „War das wirklich so schlimm, wie alle erzählen?“ „Ich habe dieses Mauerstück eigenhändig herausgeschlagen, damals.“ Die Tochter betrachtet den grauen Klumpen und legt ihn zurück zu den anderen Dingen.

---

Die Tage glitten dahin, wie ein Zug auf vorgeschriebenen Gleisen. Die Jahre verschmolzen langsam miteinander. Irgendetwas hatte angefangen, seinen Alltag zu überwuchern. Seine Hoffnungen, sein freudiges Vertrauen, seine Erwartungen waren brüchig geworden. Sein Tagesablauf hatte sich gegen ihn erhoben und verlangte eine neue Orientierung.