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Für junge Feenfans, für Irlandliebhaber:innen und die, die es werden möchten – für alle Leser:innen von Marah Woolf »Ich traute mich erst wieder zu atmen, als ich Blakes Zimmertür hinter mir schloss. Langsam ließ ich meine Hand von der Türklinke gleiten. In einem anderen Leben, Blake, würde ich bleiben.« Cait fühlt sich von ihrer Familie im Stich gelassen und fällt in ein tiefes Loch. Sie schmeißt die Schule und somit ihren Traum, Tierärztin zu werden, über Bord. Blake tut alles, um ihr Leben wieder in geordnete Bahnen zu lenken, doch ihm unterläuft ein Fehler. Denn danach hat Cait nur noch ein Ziel – sie will auf die geheimnisvolle Insel Tír na nÓg. Doch der Weg dorthin ist beschwerlich und der Preis ist hoch. »Burning Oceans. Liebe zwischen den Gezeiten« ist der dritte Teil der Burning-Oceans-Trilogie. Die ersten beiden Bände sind ebenfalls bei Piper Wundervoll erschienen. »Eine schöne Geschichte vor einem grandiosen Setting. Leseempfehlung.« ((Leserstimme auf Netgalleyy))
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Veröffentlichungsjahr: 2021
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Cover & Impressum
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Danksagung
May your troubles be less
Your blessings be more
And nothing but happiness
Come through your door
Irisches Sprichwort
Wind brachte den Regen vom Meer herauf zu unserem weiß gekalkten Cottage, das noch nie so viele Besucher gesehen hatte wie an diesem Tag. Dabei fühlte sich alles so falsch an … der leere, hell gebeizte Sarg neben mir und die halbe Bevölkerung Streamstowns schwarz gekleidet in unserem Wohnzimmer zusammengedrängt. Und dann die weißen Lilien, die mit ihrem süßen schweren Duft nach Tod rochen und mir Übelkeit verursachten, obwohl es keine Tote gab. Aber Maureen hatte darauf bestanden, dass wir Mums Abschied nach allen Regeln der irischen Wakezeremonie ausrichteten und einen leeren Sarg aufstellten, wie es sonst bei verschollenen Seemännern üblich war.
Also stemmten Rose und ich die Wahrheit mithilfe eines Gerüsts aus Lügen. Obwohl wir kaum miteinander sprachen, gaben wir vor, Mum wäre ertrunken. Dad glaubte daran. Er wusste es aber auch nicht besser. Genauso die Bewohner des kleinen Küstenortes Streamstown. Ich beneidete sie ein wenig. Immerhin hatten sie eine Version, die denkbar erschien.
Die Leute erzählten sich, auf dem Weg zum kleinen Friar Island, wo sie Zeichnungen machen wollte, wäre Mums Boot gekentert. Davon zeugten die durchnässten Blätter, die die Polizei am Morgen nach ihrem Verschwinden gefunden hatte. Das Meer hatte sie an den Strand gespült. Sie waren wie ein stiller Abschiedsgruß, so weiß wie ihre Gemälde, die gerade in Dublin in einem großen Museum ausgestellt wurden. Somit schaffte es ihre Ausstellung nicht nur in die Presse, sondern auch ihr Verschwinden, denn über die Suchaktionen wurde ausführlich berichtet.
Tagelang suchte die Polizei nach ihr. Aber außer weiterem Papier, das schlaff an den Haken der Fischer hing, verlief jede Spur im Leeren. Nach zwei Wochen wurden die Bergungsarbeiten der Rettungswacht eingestellt. Das Wintermeer toste, und selbst für die erfahrenen Suchkräfte wurde es zu gefährlich, noch weiter nach Mum zu suchen. Der raue Atlantik sollte nicht noch mehr Menschen verschlucken …
»Claire Hickey war eine wunderbare Frau …«, begann Onkel Groch seine Trauerrede, stockte, linste zum Sarg hinüber und nahm einen tiefen Schluck aus seinem Glas. Er stand mitten im Wohnzimmer, umringt wie eine Kuriosität, fuhr sich nervös durch das zerzauste Haar und zupfte an seiner Krawatte. Er war eigens aus Schottland gekommen, um uns zu unterstützen, aber er brauchte selbst Halt, so wie er sich an sein Whiskeyglas klammerte. Wie ein Seemann an einem abgebrochenen Mast kurz vor dem Untergang.
Rose saß neben mir und verzog keine Miene. Sie ertrug Mums Verschwinden mit mehr Fassung als Dad. Wahrscheinlich ahnte sie, dass Mum nun auf Tír na nÓg war.
»Jetzt hat sie auch noch meinen Bruder und ihre Kinder im Stich gelassen!«, lamentierte Tante Irma lautstark und betrachtete kopfschüttelnd das haarige Ungetüm, unseren Onkel Groch. Tante Irma, Dads Schwester, war für die Trauerfeier auch extra aus London angereist. Jetzt griff sie beherzt nach einem Eiersandwich, das meine Freundin Cara den Trauergästen anbot.
Eine von Mums Künstlerfreundinnen spielte Harfe. Bei den sanften Klängen überlief mich ein Schauer und sie bewegten mich tief. Aber es war nicht nur der eigene Schmerz, der mit jedem Ton größer wurde, sondern der Gedanke daran, dass Dad so sehr litt. Seit Tagen hatte er sich nicht blicken lassen und war im Schlafzimmer in der oberen Etage geblieben. Manchmal hatte ich das Gefühl, nicht nur Mum hatte uns verlassen, sondern auch Dad.
»Ich muss mal raus«, sagte ich zu Rose und stand von meinem Stuhl auf. »Ich hole mir etwas zu trinken. Willst du auch etwas?« Die ganze Situation war schwer auszuhalten. Aber ich konnte mit niemandem darüber reden. Selbst mit Rose nicht. Ich befürchtete, dass sie dann ebenso auseinanderfiel wie Mum. Vielleicht erinnerte sich meine Schwester auch nicht mehr daran, dass sie selbst einmal auf der Insel der Ewigen Jugend gewesen war. Schließlich wusste niemand, was Tír na nÓg mit einem Menschen machte. Denn wenn ich den Feengeschichten glaubte, kehrten viele völlig verrückt von dieser Insel zurück. Wenn sie überhaupt je wiederkamen …
Rose schüttelte den Kopf. »Nein, danke. Ich habe keinen Durst. Aber hoffentlich sind bald alle gegangen«, flüsterte sie. Ich nickte zustimmend. Auch ich wünschte mir nichts sehnlicher, als meine Ruhe zu haben. Aber als ich auf die Küche zusteuerte, ertappte ich Maureen, wie sie aus einem Artikel der Irish Times vorlas. Angeblich hatte ein Meereswesen unschuldige Menschen aus ihren Booten ins Wasser gezerrt. Aufgebracht entriss ich ihr den Zeitungsartikel. »Wie können Sie nur?«, schrie ich, knüllte die Zeitung zusammen und stopfte mir das Papier in die Hosentasche.
»Der Bericht war von 1936! Und ich fand ihn total passend, eine echte Rarität!«, erboste sich Maureen. Dann kam sie ganz nahe. »Die Leute werden reden, ob es dir passt oder nicht. Wir müssen sie davon ablenken, andere Theorien entwickeln, um den Tod deiner Mutter zu erklären. Niemand darf von Tír na nÓg erfahren.«
Vor einem Jahr hätte ich über einen derart unwissenschaftlichen Blödsinn den Kopf geschüttelt. Jetzt fiel mein Urteil nicht mehr so vorschnell aus. Ich wusste so viel mehr … und gleichzeitig immer noch nichts. Außer dass sich Maureen nie ändern würde und ganz wild darauf war, andere in ihren Aberglauben hineinzuziehen. Wahrscheinlich um sich mit ihrem angeblichen Wissen zu brüsten. Und dafür nutzte sie Mums Totenwache. Wie ekelhaft!
»Suchen Sie sich einen anderen Platz für Ihre Sensationsgier! Sie wissen genau, dass meine Mutter nicht ertrunken ist!«, platzte es aus mir heraus. Ringsum wurde es still. Wann hatte die Musikerin mit dem Spielen aufgehört? Mehrere Gäste bedachten mich mit mitleidigen Blicken. Maureen dagegen hob die Brauen und wackelte wie eine Taube mit dem Kopf. »So? Und was ist deiner Meinung nach passiert?« Sie starrte mich an und sonnte sich offenkundig in der allgemeinen Aufmerksamkeit. Ich biss mir auf die Unterlippe und ballte die Fäuste. Maureen verlangte mir das Äußerste an Selbstbeherrschung ab.
»Cait«, flüsterte Blake. »Komm mal mit mir!« Er nahm meine Hand und zog mich näher zu sich heran. Sogleich umhüllte mich der salzige Geruch, und ich atmete so tief ein, als stünde ich am Meer. Jeden Tag war Blake bei uns gewesen. Erst hatte ich ihn abgewehrt, mich wie immer gegen die Flut an Gefühlen gestemmt, die er in mir heraufbeschwor, aber nach zehn Tagen und Nächten erfolgloser Suche nach Mum, hatte ich aufgegeben. Weil ich sonst durchgedreht wäre. Schließlich kämpfte ich täglich gegen den Drang an, einen lauten Schrei auszustoßen, weil mich die bedauernden Blicke zu ersticken drohten. Die armen Kinder, deren Mutter, diese Künstlerin, im Meer ertrunken ist. Hoffentlich werden sie nicht genauso verrückt wie ihre Mutter. Oh Gott! Das Schlimme war, dass ich manchmal das Gleiche dachte.
»Die frische Luft wird dir guttun.« Blake zog mich hinaus vor die Haustür, und ich ließ mich treiben, weil der Tag meine letzten Kräfte aufgebraucht hatte. Einige Gäste der Trauerfeier standen neben der Eingangstür und rauchten. Sie blickten uns kurz verlegen an, bis sie ihre Gespräche fortsetzten. Ich hielt den Kopf gesenkt und versuchte mich zu beruhigen.
»Warum tut Maureen das nur? Was bezweckt sie mit ihren Geschichten?«
»Sie will die Leute unterhalten … und ja, vielleicht auch ablenken.«
»Mit Geschichten über Meereswesen, die unschuldige Seeleute aus ihren Booten zerren? Das glaubt ihr doch kein Mensch.«
»Eben. Genau das will sie bezwecken. Indem ihre Geschichten so abstrus klingen, dass niemand ihr glaubt. Und gar nicht erst auf den Gedanken kommt, dass sich hinter dem Horizont noch ganz andere Orte verbergen …«
Ich nickte. Blake meinte Tír na nÓg. Aber dies war nicht der passende Moment, um darüber zu sprechen, denn Mrs Bird trat zu uns.
»Alles Gute für euch! Wenn ihr etwas braucht, dann meldet euch!« Mrs Bird war eine Stammkundin von Dad und hatte einen Vogel. Sie tätschelte mir die Schulter. »Ich muss leider schon los. Mein Romeo wartet auf mich.«
Ich nickte nur und wischte mir mit dem Ärmel fahrig über das Gesicht. »Grüßen Sie Ihren Papagei von mir! Und vergessen Sie nicht, ihm regelmäßig die Krallen zu stutzen!« Ich war selbst überrascht über die Banalitäten, die mir über die Lippen kamen.
Ihr folgten noch weitere Gäste nach draußen, um sich auf den Heimweg zu machen. Wahrscheinlich flohen sie vor Onkel Grochs Ansprache.
»Kannst du dich bitte um die anderen Gäste kümmern?« Ich blickte kurz in Blakes blaugrüne Augen. Dann wandte ich mich ab. »Ich muss zurück zu meiner Schwester.«
Er nickte. »Geh nur! Ich bleibe hier.« Dankbar zog ich mich ins Haus zurück und hoffte, dass er die passenden Worte für die scheidenden Besucher fand.
Es war weit nach Mitternacht, als der letzte Gast endlich gegangen war. Ich fühlte mich völlig erschöpft, aber vermutlich konnte ich wieder nicht einschlafen. Also ging ich zerstreut ins Wohnzimmer, um die letzten Gläser einzusammeln. Ich war mit meinen Kräften am Ende.
»Du bist noch da?« Die Gläser in meiner Hand stießen klirrend aneinander, als ich Blake entdeckte. Er saß im Halbdunkel neben dem Sarg und beobachtete mich, Mums Ausstellungskatalog aufgeschlagen auf dem Schoß. »Ich dachte, alle sind nach Hause gegangen.« Selbst Rose hatte sich in ihr Zimmer zurückgezogen.
Blake legte den Katalog zur Seite, stand auf und trat auf mich zu. »Leg dich hin! Ich übernehme das Aufräumen. Du musst schlafen.« Er nahm mir die Gläser aus der Hand. »Ich bleibe über Nacht und halte Wache.«
»Das ist nicht nötig, denn Mum liegt sowieso nicht drin.« Ich deutete auf den Sarg und fand die ganze Wakezeremonie völlig absurd. Schließlich hatte ich mich den irischen Gepflogenheiten nur angepasst, weil ich mich dem Perfektionismus von Maureen und Mrs McCarthy, der Mutter meiner besten Freundin Cara, nicht widersetzen wollte. Aber am nächsten Tag war Removal, und man würde den leeren Sarg endlich auf dem Friedhof bestatten. Ich würde mich wie erlöst fühlen.
»Es geht wirklich nur darum, ihr einen letzten Dienst zu erweisen. Das gehört sich so«, meinte Blake.
Ich wollte protestieren, öffnete den Mund und schloss ihn gleich wieder. Er hatte recht, ich litt unter Schlafmangel. Die letzte Woche hatte ich so gut wie kein Auge zugetan. Denn nachts, wenn ich im Bett lag, kamen die Zweifel. Vielleicht war Mum doch ertrunken, und ich tröstete mich nur mit dem Gedanken, dass sie sich auf der Insel der Ewigen Jugend befand.
»Du glaubst doch auch, dass sie auf Tír na nÓg ist, oder? Manchmal überlege ich, ob ich mir alles doch nur einbilde, weil es so furchtbar verrückt klingt.«
»Ihr geht es gut. Ich mache mir eher Sorgen um dich. Du siehst blass aus.«
»Ach, mach dir keine Sorgen! Du musst nicht hierbleiben und … « Das war eine fette Lüge, denn Blake sollte unbedingt bei mir sein und durfte nicht auch noch gehen.
Er stellte die Gläser beiseite und drückte mich fest an sich. Ich ließ die Schultern hängen und lehnte den Kopf an seine Brust.
»Danke«, flüsterte ich. Mein Kopf befand sich so dicht an seinem Herzen wie schon lange nicht mehr. Er strich mir über das Haar, und zum ersten Mal seit Mums Verschwinden ließ ich meinen Tränen freien Lauf.
Seitdem Mums Sarg aus dem Haus getragen und auf einem kleinen Friedhof in der Nähe von Cleggan bestattet worden war, hatte sich Dad nicht mehr blicken lassen. Dafür hörte ich schon wieder Tante Irmas Stimme über den Flur hallen. Sie nächtigte bei meiner Schwester, und obwohl ich Rose angeboten hatte, bei mir zu schlafen, hatte sie sich dagegen entschieden. Sowieso steckten die beiden ständig die Köpfe zusammen.
»C-A-I-T?« Ich lag noch im Bett, als ich ihre schwerfälligen Schritte auf der Treppe vernahm. »Schläfst du immer noch? Kannst du uns nicht mal helfen?«
Ich wollte mir gerade das Kopfkissen über die Ohren pressen, als mir einfiel, dass sie ja abreisen wollte. Plötzlich war ich hellwach und zog mir schnell meinen Hoody und meine Jeans an. Heute würde Tante Irma zu ihren Pudeln nach London zurückkehren. Die vermissten sie bestimmt schrecklich, weil sie ihren Kötern immer das Essen vorkaute. Ich konnte Tante Irma tatsächlich nicht mehr ertragen. Ihre laute Stimme, ihr besserwisserisches Gehabe, ihre eingelegten Pickles, die sie aus England mitgebracht hatte und die sie zu jeder Mahlzeit aß. Ich hasste es, wie sie in die in Salz und Majoran eingelegten Gurken biss, dabei den Mund verzog und die Augen zusammenkniff. Ihrer Überzeugung nach regte eine eingelegte Gurke am Morgen ihre sonst stockende Verdauung an. Noch schlimmer waren ihre Kommentare über Mum. Ich fragte mich wirklich, wie Dad und Tante Irma miteinander verwandt sein konnten. Nur zu bereitwillig trug ich ihre Koffer nach unten und verstaute sie in unserem Van. Mit Genugtuung knallte ich die Heckklappe zu.
»He, warte! Die müssen auch noch mit.« Rose quetschte sich mit zwei Koffern durch die Haustür.
»Nimmt Tante Irma etwa unseren ganzen Haushalt mit nach London?«, zischte ich, nahm aber Rose einen Koffer ab und öffnete die Tür zum Kofferraum erneut.
»Nonsens!« Rose hob den zweiten Koffer hinein.
»Moment mal!« Ich hielt inne und strich über das Leder. »Gehört der braune Koffer nicht Mum?«
»Stimmt, aber den braucht sie wohl nicht mehr. Ich hingegen schon, denn ich kehre nach London zurück.«
»Du willst was?« Fassungslos starrte ich meine Schwester an.
»Ich ziehe zu Tante Irma«, erwiderte Rose achselzuckend. Dann schmiss sie die Heckklappe zu.
»Aber du kannst uns doch jetzt nicht alleinlassen!«
»Hier kann ich nicht bleiben«, erklärte sie. »Ich will endlich eine ordentliche Ballettausbildung haben! Und in dieser Einöde ist das ja kaum möglich.«
»Aber doch nicht so kurz nach Mums Verschwinden! Außerdem musst du erst die Schule beenden. Und was ist mit Dad? Hast du mal an den gedacht? Er braucht dich!« Und ich brauchte sie. Nun wollte mich meine kleine große Schwester auch noch verlassen. Wie sollte ich das überstehen? Ich öffnete die Heckklappe wieder und zerrte Roses Koffer heraus.
»Das kannst du vergessen!«, stieß ich hervor und stellte den Koffer neben mir ab.
Rose verdrehte die Augen und verschränkte die Arme. »Es wäre auch Mums Wunsch gewesen, dass ich meinem Traum folge.«
»Welchem Traum denn?«, fragte ich spitz. »Wir stehen vor einem Scherbenhaufen.« Mit den Händen deutete ich einen Riesenberg an. »Es gibt keine Träume mehr!«, fuhr ich fort und betonte dabei jedes einzelne Wort.
»Ich weiß nicht, was aus deinen Träumen geworden ist, aber ich will immer noch Tänzerin werden. Dafür werde ich kämpfen, und ich empfehle dir, es mir gleichzutun.« Rose griff nach dem Koffer, aber ich war schneller und umklammerte den Griff. »Das ist so egoistisch von dir! Nur wegen diesem dummen Rumgehopse!«
»Lass los!« Rose riss heftig an dem Koffer. Aber ich gab nicht nach und hielt fest, bis meine Armmuskeln vor Anstrengung zitterten.
»Und überhaupt, warum erzählst du mir erst jetzt davon? Vollendete Tatsachen hinter meinem Rücken zu machen, ist echt daneben!« Meine Wut flammte von Neuem auf.
»Weil ich wusste, dass du so reagieren würdest.« Rose zerrte an dem Gepäckstück, und es kam fast zu einer Rangelei.
»Ich wäre dann so weit.« Plötzlich stand Tante Irma neben uns. Vor Schreck ließ ich den Koffer los. Rose verlor das Gleichgewicht und landete mit dem Hinterteil auf dem Kies. »Hast du dir wehgetan?« Ich reichte ihr die Hand, aber sie griff nicht danach, rappelte sich allein auf und klopfte sich den Hosenboden sauber.
Tante Irma begutachtete mich von Kopf bis Fuß und schüttelte den Kopf. Vor Verlegenheit strich ich mir eine Haarsträhne von der schweißnassen Stirn.
Sie atmete tief durch und setzte zu einer Erklärung an. »Ich weiß, es ist ein Schock für dich, aber hier …« Sie deutete auf unser Haus, das abgesehen von den drei Fichten nur von Bog und Bergen umgeben war. »Hier kann Rose unmöglich bleiben.«
»Hier hat sie alles, was sie braucht!«, brachte ich störrisch hervor.
Tante Irma schnalzte mit der Zunge. »Ich hatte erst überlegt, ob ich euch beide aufnehme, aber dafür ist mein Londoner Apartment zu klein. Abgesehen davon hast du sowieso nur noch ein paar Monate. Wenn du möchtest, könnte ich meine Freundin Beth fragen, ob du während deines Studiums bei ihr wohnen kannst. Sie braucht dringend Hilfe im Haushalt.«
»Ich will überhaupt nicht studieren! Wer hat denn diesen Unsinn über mich verbreitet?« Ich ging einen Schritt auf sie zu. »Und bei deiner bescheuerten Freundin will ich sowieso nicht wohnen. Die hat eine fette Warze im Gesicht und furzt immerzu. Sie ist noch schlimmer als Onkel Groch!«
»Wir müssen los, wenn wir das Shuttle zum Dubliner Flughafen nicht verpassen wollen.« Dad trat aus der Tür. Sein Gesicht war so blass, dass die dunklen Augenringe noch deutlicher zu sehen waren. Ich hatte ihn seit Tagen nicht zu Gesicht bekommen. »Dad?« Ich warf ihm einen fragenden Blick zu, weil er sich mit dem Autoschlüssel in der Hand der Fahrertür näherte. »Hast du davon gewusst? Du kannst Rose doch nicht bei Tante Irma wohnen lassen!« Fassungslos starrte ich ihm nach, wie er schweigend in den Van stieg und die Zündung startete. Ich schluckte. Er sprach immer noch nicht mit mir.
»Wir telefonieren, einverstanden? Jeden Tag!« Rose wollte mich umarmen.
»Ach, bleib doch dort, wo der Pfeffer wächst! Jeder hat davon gewusst. Nur ich nicht! Seid ihr jetzt alle gegen mich?« Ich stieß Rose von mir. »Ich hasse dich! Ich hasse euch alle!« Ohne mich noch einmal umzudrehen, stürmte ich nach drinnen. Ich rannte die Treppe zu meinem Zimmer hinauf, knallte die Tür zu, schmiss mich aufs Bett und presste das Gesicht ins Kissen. Dann stieß ich einen lauten Schrei aus, der aus der Tiefe meines Herzens kam. Er hatte nur darauf gewartet losgelassen zu werden. Seit Wochen hatte er in mir gehockt, und ich hatte ihn gezähmt, gedrosselt, gefügig gemacht. Weil ich funktionieren musste, weil ich dachte, die Familie zusammenhalten zu müssen. Aber jetzt war Schluss damit. Ich würde mich um niemanden mehr kümmern. Hier würde ich liegen bleiben bis zum Ende meiner Tage. Bis ich nur noch ein Häufchen Staub war … oder was auch immer dann noch von mir übrig blieb.
Auch während der nächsten Tage gingen Dad und ich uns weiterhin aus dem Weg. Wir verkrochen uns in unseren Zimmern und leckten uns die Wunden. Ich suchte nur das Bad auf oder warf mir in der Küche etwas zu essen ein, damit ich überlebte. Nur zweimal begegneten Dad und ich uns im Flur. Wir sahen uns an wie Gespenster, die überrascht waren, dass es mehr als nur einen Geist gab, der durchs Haus schwebte.
Dad sah schrecklich aus. Dunkle Ringe lagen unter seinen Augen, sein Haar und sein Bart waren grau und zerzaust, die Wangen wirkten total eingefallen. Auch wenn er fast vierundzwanzig Stunden im Schlafzimmer verbrachte, wusste ich, dass er ebenso wenig Ruhe fand wie ich. Fast jede Nacht hörte ich seine Schritte im Flur, wie er die knarrenden Treppenstufen hinunterstieg und die Haustür öffnete, nur um sie kurz darauf wieder zu schließen. Als hoffe er, Mum stünde davor. Aber jedes Mal waren es nur die rauen Winterwinde, die ums Haus jagten, an der Tür rüttelten und Dad zu verspotten schienen. Niedergeschlagen tappte er dann wieder die Treppen herauf.
An diesem Abend jedoch hatte sich der Wind ein wenig gelegt, und ich hörte, wie er den Motor des Vans startete und davonfuhr.
Es störte mich nicht, allein im Haus zu sein. Es machte sowieso keinen Unterschied, ob Dad da war oder nicht. Aber weil ich keine Lust hatte, weiter in meinem Buch zu lesen, trat ich ans Fenster, öffnete es und starrte nach draußen. Es war ungewöhnlich ruhig. Die lose Regenrinne schwieg, der Mond zeigte sich in seiner ganzen runden Pracht und erhellte die sanften Hügel und den Bog, der hinter der kleinen Hütte im Garten begann.
Tief atmete ich die kühle Abendluft ein, die wie immer leicht nach Meer roch, und überlegte, was Dad in die Nacht hinausgetrieben hatte. Wollte er seine Arbeit in der Praxis wieder aufnehmen? Oder war er bei einem Notfall? In den letzten Tagen hatte unser Telefon hin und wieder geklingelt. Das konnte Kundschaft gewesen sein, vielleicht aber auch Rose. Deswegen ging ich nie ran. Niemals hätte ich es ertragen, wenn sie mir von ihrer dämlichen Tanzerei am Royal Academy of Dance vorgeschwärmt hätte. Dass sie alles so schnell hinter sich lassen konnte, fand ich unfassbar. Machte ihr der Verlust von Mum denn so gar nichts aus? Und überhaupt, konnten wir uns eine so teure Ballettausbildung überhaupt leisten? Jetzt, da Dad nicht arbeitete, fragte ich mich, wie lange wir wohl noch zurechtkamen.
Mein Magen gab ein unanständiges Geräusch von sich und erinnerte mich daran, dass ich etwas essen sollte. Ich stieg in die Küche hinunter und öffnete den Kühlschrank, der sich seit Mums Verschwinden fast wie von Zauberhand mit Schüsseln und Töpfen füllte. Ich entdeckte auch frische Eier und Milch. Den Kühlschrank hatte ich noch nie so voll gesehen … selbst als Mum noch bei uns gelebt hatte. Wir besaßen Tonnen an Lebensmitteln.
Caras Mum kam fast jeden Tag vorbei und brachte uns Eintöpfe. Blakes Tante Brenda hatte ihren berühmten Whiskeykuchen auf dem Tisch abgestellt. Daneben lag eine Packung Jaffa Cakes; die hatte bestimmt Maureen beigesteuert.
Mich überforderte das Angebot, also griff ich nur nach einem Stück Rührkuchen, aß und schluckte, aber der Appetit war mir schon wieder vergangen. Also legte ich den Kuchen beiseite und machte mir stattdessen einen Tee. Mit der dampfenden Tasse setzte ich mich an den Küchentisch und starrte auf die karierte Wachstuchdecke.
Als ich Dads Auto die Einfahrt herauffahren hörte, wollte ich mich schnell in mein Zimmer verkriechen, damit ich ihm und seinen vorwurfsvollen Blicken nicht begegnen musste. Aber dann entschied ich mich dagegen und blieb sitzen.
Aber Dad kam nicht ins Haus. Die Tür blieb verschlossen, und keine schweren Schritte schlurften über die Treppe herein. Vielleicht hatte ich mich geirrt, und es war überhaupt nicht Dads Auto. Shit! Hatte Dad überhaupt die Haustür abgeschlossen? Vielleicht war es Sean, der ehemalige Landlord von Grannys Cottage, das wir inzwischen bewohnten. Er war schon häufiger überraschend und vor allem zu den ungelegensten Momenten aufgetaucht, weil er sich bei uns in der Küche bedienen wollte. Der alte Gierschlund.
Ich trat ans Fenster und schob vorsichtig die Gardine zur Seite. Aber im Licht der Außenbeleuchtung stand nicht Sean, sondern Dad. Er machte sich am geöffneten Kofferraum zu schaffen. Ich drückte die Nase an die Fensterscheibe. Es waren Leinwände, die er aus dem Laderaum zog. Was wollte er denn damit? Musste er Mums Galerie in Streamstown räumen? Dann stapelte er die Bilder auf einen Haufen. Ich runzelte die Stirn. Auch wenn ich nicht viel für Kunst übrig hatte, waren es immerhin Mums Bilder, die er da lieblos aufeinandertürmte. Vielleicht waren es nicht ihre besten Arbeiten, aber ihre neusten Bilder hingen in einem Dubliner Museum. Ich hatte sie mir selbst noch nicht angeschaut, trotzdem konnte er wirklich vorsichtiger damit umgehen. Mums Werke wurden in Dublin ziemlich gefeiert. Bei der Erinnerung an sie wurde mir die Kehle eng. Ich brauchte einen Schluck Wasser.
Als ich mit einem Glas zurück ans Fenster trat, schüttete Dad gerade eine Flüssigkeit aus einem Kanister auf den Bilderberg. Ich brauchte einen Moment, bis ich realisierte, was er vorhatte. Er wird doch nicht … Mein Glas krachte zu Boden und zersprang auf den Fliesen. Ich rannte in den Flur und riss die Haustür auf.
»Dad!«, schrie ich. In diesem Moment schoss eine riesige Stichflamme zum schwarzen Nachthimmel hinauf und versperrte mir die Sicht. Ich wich zurück, und obwohl das Feuer in einiger Entfernung vom Haus loderte, spürte ich die Hitze auf dem Gesicht.
Ich riss die Jacke vom Haken, schlüpfte in meine Stiefel und rannte hinaus.
»Was machst du da?«, schrie ich Dad an. Er saß auf einem alten Stuhl und starrte gedankenverloren in die Flammen, die sich in rasender Geschwindigkeit durch Mums Gemälde fraßen.
»Dad!«, rief ich erneut und packte ihn an den Schultern. »Du kannst die Bilder doch nicht vernichten!«
Er zuckte zusammen, musterte mich mit gläsern verschwommenem Blick und schien mich gar nicht wahrzunehmen.
»Es ist doch alles, was uns von Mum noch bleibt.« Die Holzrahmen gingen in Flammen auf, und die Ölfarbe auf den Leinwänden bildete unter der Hitze Bläschen wie bei einem Hautausschlag. Das Knacken des Feuers klang wie das Zerbrechen von Knochen. Mir lief ein Schauer über den Rücken. Ich wollte nach einem der Gemälde greifen, aber die Flammen waren schneller und rissen es mir aus der Hand. Noch einmal versuchte ich danach zu greifen, doch Dad packte mich am Handgelenk, das er aber sofort wieder erschrocken losließ, als wäre ich eine böse Erinnerung, die zum Leben erwacht war.
»Lass das und geh schlafen!«, befahl er mir mit scharfer Stimme. »Dann richtest du wenigstens keinen Schaden mehr an.«
Seine Worte fuhren mir wie ein Messer durchs Herz.
Dad würde mir nie verzeihen. Ich hatte das Fenster geöffnet, genau wie meine alte Geschichtslehrerin Mrs Kavanagh es mir geraten hatte. Luft ließe sich nicht einsperren, hatte sie letztes Jahr im Dezember gesagt. Und ich hatte ihren Rat befolgt, ohne an die Konsequenzen zu denken, und Mum freigelassen.
»Es tut mir leid!« Ich wollte Dad umarmen, mich an ihn klammern, als wäre er die letzte Planke, die auf dem Meer trieb. »Das wollte ich nicht. Es tut mir so leid!«
Ich haderte mit mir. Sollte ich ihm von Tír na nÓg erzählen? Ungewissheit konnte schließlich noch mehr schmerzen als die Wahrheit. Denn sie höhlte einen aus, langsam und stetig, bis nur noch eine Hülle übrig blieb und man in sich zusammenfiel. So ungefähr jedenfalls. Ich befürchtete einfach, in Dad würde sich die Dunkelheit einnisten wie bei Mum. Die war nie verschwunden, sosehr sie auch dagegen angekämpft hatte. Mir kamen die Tränen.
Dads Stuhl knarrte, als er langsam den Kopf hob und mich ansah. Das Feuer tauchte sein Gesicht in ein warmes Licht und erzeugte gleichzeitig dunkle Schatten. Er schien um Jahre gealtert zu sein. Schmerz hinterlässt nicht nur Spuren im Herzen, sondern gräbt Furchen ins Gesicht. Tränen liefen ihm die Wangen hinunter. »Nicht weinen, bitte! Es tut mir auch leid …« Er hielt inne und rieb sich über das Gesicht. »Hol dir einen Stuhl und verabschiede dich von Claire!« Ich schluckte. Dies war Dads ganz persönliche Abschiedszeremonie. Etwas, das er allein geplant hatte. Er hätte nie zugelassen, dass sich die Flammen bis zu unserem Cottage ausbreiteten. Endlich verstand ich ihn.
Kurze Zeit später saß ich neben ihm, und schweigend beobachteten wir, wie sich die Flammen an Mums Bilder satt fraßen, kleiner wurden und verglühten. Ihre Gemälde hatten eine angenehme Wärme verbreitet. So etwas hatte Mum nie geschafft. Die Wärme hüllte uns ein und machte uns ganz schläfrig.
»Es ist Zeit, ins Bett zu gehen.«
Ich öffnete die Augen. Blake stand vor mir. Hinter ihm schien der Mond und zeichnete seine Umrisse in die Nacht. Ich streckte mich und rieb mir die Arme. Nur ein klein wenig Glut erinnerte noch an das Feuer.
Mein Blick fiel auf den leeren Stuhl neben mir. »Wo ist Dad?« Ich hörte, dass in meiner Stimme schon wieder ein Hauch von Panik mitschwang. Ich wollte aufspringen, aber meine Beine waren völlig steif.
»Er liegt im Bett und schläft. Und jetzt bringe ich dich auch nach oben.«
Ohne ein weiteres Wort schob mir Blake einen Arm unter die Beine, den anderen hinter den Rücken und trug mich die Treppe hinauf in mein Zimmer.
Mit der Schulter stieß er die Zimmertür auf und legte mich sanft aufs Bett. Dann deckte er mich zu. »Schlaf dich aus! Ich komme wieder und mache dir einen starken Kaffee, so wie du ihn magst.« Er kniete sich vor mein Bett, strich mir sanft über die Wangen und küsste mich auf die Stirn.
»Kannst du nicht hierbleiben?« Ich sah in seine blaugrünen Augen, die mich liebevoll, aber auch voller Sorge betrachteten.
»Ich setze mich in die Küche und bleibe noch ein wenig. Wenn du etwas brauchst, rufst du einfach.«
»Kannst du dich nicht neben mich legen? Lass mich nicht allein! Bitte.«
»Ich weiß nicht, was dein Dad davon halten würde, mich in deinem Bett zu entdecken«, meinte er schmunzelnd. »Aber in Ordnung. Ich warte hier, bis du eingeschlafen bist.« Blake gab mir einen weiteren Kuss auf die Stirn und setzte sich auf die Bettkante. Aber das war viel zu weit entfernt. Ich fror und sehnte mich danach, in seinen Armen zu liegen. Offenbar bemerkte er meinen Blick, denn ohne ein weiteres Wort zog er seine schwarze Lederjacke und die Schuhe aus. Dann löschte er das Licht im Zimmer und kehrte leise zu mir zurück. Ich hob die Decke an, aber er legte sich einfach nur neben mich.
Recht hatte er, denn Dad würde mit Sicherheit ausflippen, wenn er mich hier mit ihm im Bett fand.
»Bleibst du bei mir?«
»Ich war nie fort«, flüsterte er mir ins Ohr.
Ich war mir nicht sicher, ob das eine wirklich zufriedenstellende Antwort war.
»Bleibst du für immer bei mir?« Der Gedanke, ich könnte auch noch Blake verlieren, nahm mir den Atem.
»Psst!« Blake legte mir einen Finger auf die Lippen. »Dein Dad!«
Ich hörte seine Schritte, wie er ins Badezimmer ging, und kurz darauf die Toilettenspülung sowie das Gluckern der Wasserleitung. Ich wagte erst wieder Luft zu holen, als Dad die Schlafzimmertür hinter sich schloss.
»Das war knapp!« Ich kicherte. Für einen kurzen Moment vergaß ich meinen Schmerz und fühlte mich wie ein ganz normales Mädchen, das seinen Freund im Zimmer versteckte. Nur dass es sich bei Blake um keinen normalen Jungen handelte. Er stammte von den Túatha De Dannan ab, einem Volk, das vor Jahrtausenden nach Irland gekommen war und inzwischen nicht mehr allein auf Tír na nÓg, sondern auch unter den Menschen lebte. Ich selbst war ebenfalls eine von ihnen, zumindest teilweise. Schließlich stammte Granny von dieser geheimnisvollen Insel, und ein Schatten war über unsere Familie gefallen, als sie sich in einen Menschen verliebt hatte. Das war mein Grandad.
»Was denkst du schon wieder?« Blake fuhr mir mit der Hand über die Stirn, dann über den Nasenrücken und hinunter zum Mund. Seine Finger umfassten sanft mein Kinn, und seine Lippen streiften meinen Mund. Dann ließ er wieder viel zu viel Abstand zwischen uns. Ich schlang ihm die Arme um den Hals und zog ihn näher an mich heran, denn ich wollte der Kälte, die seine scheinbare Ablehnung mit sich brachte, keinen Raum geben.
Aber er löste sich aus meiner Umklammerung.
»He!«, erwiderte ich empört.
»Du musst schlafen.« Seine Lippen waren dicht an meinem Mund, und Meeresduft spielte mit meinen Sinnen.
Plötzlich konnte ich ein Gähnen nur mit Mühe unterdrücken. Eine Welle von Müdigkeit überrollte mich und zog mich hinab ins Reich der Träume.
Als ich erwachte, hörte ich von draußen Vogelgezwitscher. Jemand hatte das Fenster geöffnet. Frische Luft erfüllte mein Zimmer, es duftete nach Frühling und seinen warmen Versprechen. Ich hatte mehrere Stunden durchgeschlafen, und dies nur, weil Blake bei mir gewesen war. Und vielleicht war Brendas Whiskeykuchen auch nicht ganz unschuldig daran. Ich drehte mich auf den Bauch und vergrub das Gesicht im Kissen, weil ich mich vergewissern wollte, dass die vergangene Nacht kein Traum gewesen war. Und tatsächlich fand ich auf meinem Kopfkissen ein seidig glänzendes schwarzes Haar.
Als ich nach dem Zähneputzen in die Küche kam, war ich überrascht, Dad statt Blake am Küchentisch anzutreffen. Er hatte den Kopf in die Hand gestützt und schien zu schlafen. Neben ihm lagen frisches Brot und Butter. Ich füllte den Kessel mit Wasser und stellte ihn auf den Herd. Dad hob den Kopf. Auf seiner unrasierten Wange leuchtete der Abdruck seiner Hand. Verschlafen rieb er sich über die Augen.
»Möchtest du auch eine frische Tasse Tee? Oder doch Kaffee?«, fragte ich so gut gelaunt wie möglich. Ich wollte davon ablenken, dass Blake bei mir gewesen war. Hatte Dad etwas mitbekommen? Jedenfalls fühlte ich mich so gut wie schon lange nicht mehr. Ich wollte Dad gern etwas von meinem Enthusiasmus weitergeben. Wenn ich ihm zeigte, wie ich jetzt besser klarkam, würde er es auch schaffen.
Dad gähnte. »Kaffee. Ja, Kaffee klingt gut«, antwortete er. Neben ihm lag eine aufgeschlagene Zeitung, die ich schnell zur Seite räumte, um Frühstück zu machen. Ich deckte den Tisch mit Tellern, nahm Eier aus dem Kühlschrank und machte mich daran, sie an der Pfanne aufzuschlagen.
»Möchtest du lieber Rührei oder Spiegelei? Noch hast du die Wahl.« Ich drehte mich zu Dad um, hob den Holzlöffel und lächelte ihn an.
»Vielleicht lieber Rührei.« Dad schlug die Zeitung auf, ich wandte mich wieder dem Herd zu und drehte die Temperatur herunter.
Kurz darauf kratzte ich das Ei aus der Pfanne und lud es auf seinem Teller ab.
Dad sah von seiner Zeitung auf. Sein Blick fiel auf den gedeckten Tisch.
»Ich …« Dad schüttelte den Kopf. »Ich muss los.« Er sprang auf, schnappte sich seine Jacke und hastete aus der Küche. Kurz darauf knallte die Haustür, der Motor seines Vans sprang an, und der Wagen entfernte sich.
Noch immer hielt ich die Pfanne in der Hand. Aber ich begriff mein Missgeschick. Auf dem Tisch standen vier Teller … zwei Teller zu viel. Wie konnte ich nur so achtlos sein? Ich hatte Dad mit meiner guten Laune anstecken wollen, damit aber das Gegenteil bewirkt. Ich stellte die Pfanne auf den Herd zurück und ließ mich auf den Küchenstuhl fallen.
Lustlos stocherte ich in meinem Ei herum. Ich hatte es mal wieder vermasselt. Voller Wut schmiss ich die Gabel auf den Teller. Gelbe Eispritzer trafen mein Shirt. »Verdammt!« Doch bevor wieder eine Welle der Selbstvorwürfe über mich hereinbrach, raffte ich mich auf und tat etwas völlig Überraschendes.
Ich nahm Mums Auto und fuhr zur Schule.
In der hintersten Ecke des Schulparkplatzes fand ich noch eine freie Lücke und parkte den Renault Clio von Mum. Ich stellte den Motor ab und legte die Stirn aufs Lenkrad. Für einen kurzen Moment überlegte ich, einen Rückzieher zu machen und wieder nach Hause zu fahren. Vielleicht mutete ich mir einfach zu viel zu. Aber dann schlich sich Blake wieder in meine Gedanken, und das verlieh mir neuen Aufschwung. Ich würde es schaffen. Die ersten neunzig Minuten des Unterrichts hatte ich sowieso schon verpasst, dann würde der Rest des Tages wie im Flug vergehen. Ich musste nur mein Ziel vor Augen haben … meinen Schulabschluss machen, damit ich endlich Tiermedizin studieren konnte.
Mittlerweile hatte sich der Himmel zugezogen, und dicke Tropfen fielen auf meine Kapuze, als ich vom Parkplatz aus auf das Schulgebäude zusteuerte, einen grauen Betonklotz mit einer großen gläsernen Eingangsfront, über der in klobigen Lettern Streamstown SecondarySchool stand. Meinen Rucksack hatte ich über die Schulter gehängt und wich vorsichtig den Pfützen aus.
In der Aula tummelten sich zahlreiche Schüler. Es war die erste große Pause, und ich versuchte mich zu erinnern, welches Fach mich erwartete. Die Donnerstage begannen immer mit Geschichte, und danach stand Französisch auf dem Programm. Ich atmete noch einmal tief durch und stieg langsam die Stufen zum ersten Stock hinauf. Andere drängten sich an mir vorbei, weil das Klingeln die nächste Schulstunde ankündigte. Selbst Andrej, mein bester Freund und Mitverschworener unseres ausgefallenen Trios, lief an mir vorbei, ohne auf mein »Hallo« zu reagieren. Verwundert sah ich ihm nach. Mit mir schien an diesem Tag wirklich niemand zu rechnen.
Bevor ich in den entsprechenden Korridor einbog, blieb ich stehen. Veronica stand vor dem Klassenzimmer, umgeben von einer Traube von Mitschülerinnen.
»Und die Leute sind völlig ausgetickt, als sie meinen neuen Song hörten …« Veronica wedelte mit den Armen, um die Begeisterungsrufe der Fans zu untermalen.
Meine Freundin Cara stand ein paar Schritte von mir entfernt, und ich beobachtete, wie sie ihre rote Lockenmähne schüttelte.
»Ich kann mir echt nicht vorstellen, wer sich so was antut. Der Name allein … Fairywings. So ein Schwachsinn! Und dazu noch ihre quietschende Stimme. Das kann doch keiner ertragen«, sagte sie zu Andrej, der neben sie getreten war. Veronica hielt inne und wandte sich um.
»Na, McCarthy, eifersüchtig? Dabei bist du doch schon glücklich, wenn du nur den Antrag auf Sozialhilfe korrekt ausgefüllt hast.« Veronica öffnete die pinkfarbenen Lippen zu einem gekünstelten Lächeln.
Ich konnte es mir nicht verkneifen, auf Caras kugelrunden Bauch zu starren, der sich unter ihrem grünen Parka wölbte.
»Du kriegst mich nicht!« Cara hakte bei Andrej unter und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Veronica bedachte sie mit bösen Blicken.
»Ich frage mich, wann die Tierarztpraxis mal wieder öffnet. Lilli bräuchte dringend eine Impfung«, meinte Babs.
»Als würde das irgendjemanden interessieren!« Veronicas Augen bildeten schmale Schlitze, und sie ließ Andrej nicht aus den Augen.
»Aber im Impfpass steht …«
»Der Tierarzt ist wahrscheinlich völlig verstört, weil sich seine Frau ins Meer gestürzt hat. Das Wetter kann aber auch depressiv machen«, meinte Veronica und wies auf ihre edlen Lederschuhe, die vom Regen durchfeuchtet waren. »Meine italienischen Stiefel machen das auch nicht mehr lange mit. Komm, wir müssen jetzt rein!«
Wie angewurzelt blieb ich stehen und musste erst einmal Veronicas Worte verdauen.
»Du … «, setzte ich an, zog die Kapuze noch tiefer und überlegte, was ich als Nächstes tun sollte. Veronica anschreien oder ihr die Augen auskratzen? Ich entschied mich fürs Multitasking. Aber leider trat Andrej zwischen mich und das blonde Biest.
»Schön, dass du wieder da bist! Cara hat dich schon vermisst. Stimmt doch, oder?« Vorsichtig stieß er Cara in die Seite, die endlich ihre Stimme wiederfand und mich am Arm zog. »Nimm sie nicht zur Kenntnis! Gegen Dummheit ist kein Kraut gewachsen.«
»Ich bringe dich um!«, fauchte ich Veronica an, fuhr meine unsichtbaren Krallen aus und trat an sie heran. Ihre Freundinnen starrten mich mit einer Mischung aus Bedauern und Neugierde an. Aber niemand getraute sich, ein Wort zu sagen.
»Ernsthaft?« Veronica verschränkte die Arme und musterte mich angriffslustig.
»Du bist so ein Ekel! Wäre ich nicht schwanger, würde ich dir eine reinhauen«, mischte sich nun auch Cara ein.
»Ist deine letzte Strafe schon wieder in Vergessenheit geraten, McCarthy? Hast wohl lange nicht nachgesessen, wie? Außerdem kann Cait ja auch nichts dafür, dass sie eine verrückte Mutter hatte.« Veronica tippte sich an die Schläfe und riss die Augen auf. »Hat jemand die Fotos von ihr im Saint-Vincent’s-Hospital gesehen? Sie hat das ganze Krankenhaus zerlegt.«
»Hör nicht hin!« Andrej nutzte den Moment, um uns ins Klassenzimmer zu schieben.
Mein Puls hatte sich dermaßen beschleunigt, dass ich zu platzen drohte. Ich war kurz davor, mich von Andrej loszureißen und auf Veronica loszustürmen. Vor Wut schäumend starrte ich sie an. In ihren schmalen Katzenaugen blitzte tatsächlich für einen Moment so etwas wie Angst auf.
»Bonjour la classe!« Mrs Chevalier betrat das Klassenzimmer. Als sie mich sah, wechselte ihr Blick in Sekundenschnelle von überrascht zu mitleidig. Sie trat an meinen Tisch. »Ich bedaure deinen Verlust zutiefst, Cait. Sei tapfer, ma chérie!« Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte, und nickte nur leicht. Zum Glück machte Mrs Chevalier nach ihrer Gefühlsanwandlung auf dem Absatz kehrt und begann mit dem Unterricht.
»Ich hoffe, Sie lernen jeden Tag für die Abschlussprüfungen, Mesdames et Messieurs!«, donnerte sie los. Ein Raunen erhob sich in den Reihen. In drei Monaten war es schließlich schon so weit, und ich hatte noch absolut keinen Plan, wie ich die Tests schaffen sollte. Mrs Chevalier ließ uns erst mal dialogisches Sprechen üben. Doch Cara hatte da wohl etwas missverstanden und begann ein Gespräch, das so gar nichts mit Französisch zu tun hatte.
»Das mit deiner Mutter tut mir wahnsinnig leid. Sag mir, was ich tun kann!«
»Nichts. Rein gar nichts. Ich möchte nur noch den Rest des Schuljahres überleben, und dann bin ich hier weg.« Das letzte positive Fünkchen, das ich heute Morgen zum Glimmen gebracht hatte, war mittlerweile gänzlich erloschen. Ich hatte gedacht, ich würde es schaffen. Ständig hörte ich Stimmen. »Sie hat sich das Leben genommen!«, schallte es aus allen Ecken des Klassenzimmers. Oder kamen die Stimmen sogar aus den Lautsprechern, durch die sonst blechern das Pausenläuten hallte?
Dieser furchtbare Gedanke war mir überhaupt noch nicht gekommen. Hegte Dad etwa die gleiche Vermutung? Ich spürte förmlich, wie mir die Farbe aus dem Gesicht wich. Und was war, wenn Veronica sogar recht hatte? Vielleicht hatte Mum sich wirklich … ich mochte mir den Gedanken gar nicht ausmalen. Vielleicht war Tír na nÓg eine fette Lüge? Und ich war auch noch an allem schuld?
»Möchtest du nach draußen?«, fragte mich Cara. »Du siehst nicht gut aus.«
»Wie soll ich denn sonst aussehen?«, fuhr ich sie an.
»Sorry, so war das nicht gemeint. Du bist nur furchtbar blass.«
Ich hatte gedacht, das Schuljahr hier beenden zu können. Aber mich hielt nichts mehr. Alles erschien mir sinnlos. Zwei Schüler trugen etwas auf Französisch vor, aber ihre Worte flossen an mir vorbei, und ich hörte nur ein Rauschen. Es war kein angenehmes Geräusch. Keine Meereswellen. Nein, es hörte sich wie eine Störung an. Eine technische Störung. Alles wirkte fehlerhaft. Mrs Chevaliers Vortrag über die Geschichte der Katharer in Südfrankreich. Schüler, die sich Notizen machten. Und dann Veronica, die sich selbstgefällig durch das Haar strich, sobald sich Mrs Chevalier zum Whiteboard umdrehte. Das Rauschen wurde lauter. Es umhüllte meinen Kopf wie ein Summen. Nein. Es war eher ein Dröhnen. Andrej saß in der Reihe neben mir und musterte mich besorgt. Er flüsterte etwas, aber ich verstand nichts. Ich schüttelte nur den Kopf und wollte ihn abwimmeln. Sieh mich nicht so an! Das sagte ich nicht, sondern dachte es nur. Konzentrier dich! Mrs Chevalier schrieb einige Wörter an das Whiteboard. Dieses verdammte Weiß. Ich hasste es. Weiß. Die Buchstaben drehten sich. Plötzlich schmerzte mein Kopf. Das Dröhnen verwandelte sich in ein Hämmern.
Ich konnte es nicht ertragen. Ich konnte überhaupt nichts mehr ertragen. Da wandte sich Veronica zu mir um und flüsterte ihrer Banknachbarin etwas zu. Das war zu viel! Ich sprang auf und schrie laut. »Hört auf, so blöd zu glotzen! Meiner Mum geht es gut. Sie ist auf Tír nanÓg bei ihren Eltern.« Mein Herz klopfte wie wild, meine Brust hob sich rasend schnell, und ringsum wurde es totenstill. Alle starrten mich entsetzt an. Selbst Mrs Chevalier blieb für einen Moment der Mund offen stehen.
»Lass uns gehen!« Cara zerrte an meinem Ärmel.
»Das ist ein guter Vorschlag, Cara.« Die Lehrerin nickte und trat zu uns an den Tisch. »Du solltest dir eine Pause gönnen. Vielleicht kann dir Miss Kelly helfen, unsere Vertrauenslehrerin.«
»Jetzt sagen Sie mir bitte nicht, ich soll meine Gefühle malen«, platzte ich heraus und zitterte vor Zorn. Wieso wussten alle, was gut für mich wäre, aber überhaupt nichts war gut. Ich schnappte meinen Rucksack und rannte aus dem Klassenzimmer. Cara folgte mir, aber mit ihrem dicken Bauch war sie viel zu langsam. Ich stürzte die Treppe hinunter und stieß dabei den Wassereimer unseres Hausmeisters Barnes um. Er entfernte gerade die Kritzeleien am Geländer. Der Eimer polterte die Treppen hinunter, und das Wasser ergoss sich über die Steinstufen.
Barnes rief mir etwas hinterher, aber ich blendete ihn aus. Ebenso Cara, an der ich kurz darauf vorbeifuhr. Ihre Wangen glühten im gleichen Rot wie ihre Haare. Hoffentlich ging es ihr gut, doch ich konnte sie nicht danach fragen. Ich konnte nicht anhalten, obwohl sie mir leidtat, wie sie da völlig durchnässt im Regen stand und wild gestikulierte. Aber ich musste weg von hier, bevor ich vollkommen zusammenbrach. Also fuhr ich geradewegs nach Streamstown … zu Blake.
Da man nicht an dem kleinen Hafen parken durfte, lief ich die letzten hundert Meter durch den strömenden Regen bis zu Brendas gelbem Häuschen.
»Blake! Ist er da? Ich muss ihn sehen. Sofort!« Ohne eine Antwort abzuwarten, schob ich mich an Brenda vorbei. Sie schloss die Tür und folgte mir durch den dunklen Flur.
»Darling, geht es dir nicht gut?«, fragte sie, während ich eine Tür nach der anderen aufstieß. »Willst du dich aufwärmen? Suchst du das Bad?«
»Wo ist er?« Ich wandte mich zu ihr um und kämpfte mit den Tränen.
»Blake? Er ist noch unterwegs, aber sicher kommt er bald wieder.« Brenda kam näher und legte ihre Hand auf meine Schulter. Ich schluckte, und Tränen rannen mir über die Wangen.
»Oh, Liebes …« Brenda umarmte mich. »Es muss so schwer für dich sein.«
»Ich habe sie alle verraten! Ich bin an allem schuld!«
»Schätzchen, wovon sprichst du?«
Ich hob den Kopf und wischte mir über das Gesicht. Brenda reichte mir ein Taschentuch aus ihrer violett geblümten Küchenschürze.
»Alle denken, Mum hätte sich ins Meer gestürzt.«
»Nun, das sollen sie ja auch glauben. Schließlich können wir nicht herumerzählen, dass …« Sie rang nach Worten. »Nun ja, du weißt, was ich meine.«
»Ach, das kommt ja noch hinzu. Ich habe laut erklärt, dass Mum auf Tír na nÓg ist. Ich habe sie alle verraten. Schreckliches wird passieren!«, rief ich und erzählte ihr von meiner Befürchtung.
»Liebes, mach dir keine Gedanken! Niemand wird dir glauben.«
»Nein?« Verstört schaute ich sie an.
»Sie denken höchstens, du wärst ein bisschen … nun ja…« Brenda tippte sich an die Schläfe.
»Oh!« Sie würden denken, ich wäre verrückt. Natürlich. So verrückt wie Mum, die sich vor Verzweiflung ins Meer gestürzt hatte. Das würde dann prima in ihre Theorie passen.
»Möchtest du mir Gesellschaft leisten und auf Blake warten? Ich wollte mir sowieso gerade einen Tee machen, und du weißt ja …«
»Eine gute Tasse Tee löst alle Probleme«, vervollständigte ich ihren Satz niedergeschlagen.
»Nun, damit könntest du recht haben«, schmunzelte Tante Brenda. »Ich habe auch eine Packung Zitronenkekse, die trösten mich immer.«
»Danke. Aber ehrlich gesagt, würde ich mich lieber etwas ausruhen. Ich bin müde und … « Ich war erschöpft. Ich brauchte Blake. Wo blieb er nur?
»Dann leg dich hin! Die letzte Tür führt in sein Zimmer. Blake hat sicher nichts dagegen. Und nimm dir ein paar trockene Sachen aus seinem Schrank. Ich hoffe, du findest etwas. Auch wenn seine Auswahl bescheiden ist. Immer diese weißen Shirts … Aber ich darf ihm nichts zum Anziehen kaufen und auch seine Wäsche nicht machen. Ein paar warme Pullover müsste er aber haben. Ich bringe dir den Tee ins Zimmer. Danach muss ich leider auch los. Mrs Flaherty wartet auf mich.«
»Kein Problem«, beeilte ich mich zu sagen. Ich wollte nicht über mich sprechen, ich wollte allein sein. Und wenn Blake schon nicht da war, wollte ich mich wenigstens in seinem Bett vergraben.
Vorsichtig stieß ich die Türe zu Blakes Zimmer auf. Einige seiner T-Shirts hingen tatsächlich über einem Stuhl. Sein Schreibtisch hingegen wirkte aufgeräumt, genauso wie der Rest des Zimmers. Ich trat an sein Bücherregal und strich über die zahlreichen Buchrücken, die mit Rillen versehen waren. Neben seinem Bett war ein weiterer Stapel. Ich erkannte die Bücher, die Blake als Bay immer gelesen hatte. Ich nahm einen Roman heraus und hielt ihn an die Brust. Ich vermisste Bay, aber ich sehnte mich nach Blake. In jedem anderen Zustand hätte ich mir tatsächlich ein Buch genommen und darin gelesen. Aber im Augenblick würde keine Zeile meine innere Leere füllen. Also stellte ich das Buch zurück. Wieder wandte ich mich im Zimmer um, nahm eins der Shirts vom Stuhl und vergrub das Gesicht darin. Die Sehnsucht nach Blake wuchs mit jedem Atemzug, und seufzend sog ich den Duft nach Meer in mich ein. Doch dann hielt ich inne. Was sollte Brenda denken, wenn sie mich mit Blakes Shirt vor dem Gesicht sah? Also hängte ich es wieder über die Stuhllehne. Dabei entdeckte ich die offene Schreibtischschublade. Vorsichtig zog ich sie weiter auf und tastete mit der Hand das dunkle Holz ab. Was war das? Die kühle, glatte Oberfläche kam mir bekannt vor. Ich holte die faustgroße Muschel heraus und betrachtete sie. War das nicht die schneckenförmige Muschel, die ich bei meinem Ausritt mit James letztes Jahr am Strand verloren hatte? Wie war die in Blakes Schreibtisch gelangt? Ich strich über das kühle Perlmutt und hielt sie mir ans Ohr.
Es klopfte zweimal kurz hintereinander. Erschrocken legte ich die Muschel zurück, drehte mich um und stieß das Fach mit dem Hintern zu. Davon bekam ich sicherlich einen dicken blauen Fleck. Recht so, gestand ich mir selbst ein.
Die Tür öffnete sich, und Brenda kam mit der versprochenen Tasse Tee und einem Handtuch herein. »Alles in Ordnung? Darling, du wirst dich erkälten, wenn du die nassen Klamotten nicht ablegst.«
»Ich wollte mir gerade einen Pullover von Blake anziehen.« Dann trat ich vom Schreibtisch weg, denn Brenda sollte nicht hinter meine Schnüffelei kommen. Dankbar nahm ich ihr die Teetasse ab. Es war die Tasse mit meinem Namen … es war Blakes Tasse. Die Wärme in meinen Händen fühlte sich wunderbar an. Ich nahm einen Schluck und musste husten.
»Oje, jetzt bist du schon erkältet! Nun, der Tee wird helfen. Du weißt ja, ich habe meine Geheimrezepte.« Verschwörerisch zwinkerte mir Brenda zu. Ich nickte und setzte vorsichtig zum Trinken an. Nach wenigen Schlucken brannte mein ganzer Hals. Das musste an Brendas Medizin liegen. Was auch immer es war, es wärmte mich sofort.
»Brauchst du noch etwas? Falls du hungrig bist … in der Küche habe ich Toast. Aber jetzt muss ich los.« Ich sah, dass Brenda schon in ein Ungetüm von einem Mantel geschlüpft war. Durch den schweren Brokatstoff mit dem Paisleymuster wirkte sie noch fülliger als sonst.
»Ich komme klar.« Ich lächelte sie an. Wie nett von ihr, sich um mich zu kümmern! Aber ich wünschte mir nichts sehnlicher, als mich in Blakes Bett zu legen und zu schlafen. »Ich ziehe mich nur noch um. Dann fühle ich mich wie neugeboren.«
Brenda nickte. »Tu das. Also bis später!« Zum Abschied hob sie die Hand, an der bereits ihre Handtasche baumelte.
»Danke für den Tee!«, rief ich ihr noch hinterher, aber da fiel die Haustür bereits ins Schloss. Erleichtert atmete ich auf. Endlich war ich allein. Das tat gut. Dennoch wurde es höchste Zeit, mich auszuziehen. Ich schob Blakes Shirts zur Seite und hängte meine nassen Sachen über den Stuhl. Fast automatisch nahm ich die Muschel aus der Schublade und drückte sie an die Brust. Ich sehnte mich nach Blake. Er sollte mich in den Armen halten und trösten. Plötzlich kam ich mir vor wie der einsamste Mensch auf Erden. Ich schloss die Augen und hielt die Muschel wieder ans Ohr. Das Rauschen drang in mich ein, und mein Atem breitete sich wellenförmig im ganzen Körper aus.
Ich wusste, dass das Rauschen auf Geräuschen beruhte, die im Muschelinnern hin- und herschwangen. Gleichzeitig wusste ich auch, dass es Blake war. Oder besser, dass Blake so war. Mein Blake, der alles um mich herum aufnahm und als sanftes Meeresrauschen zurückwarf.
»Hey!« Jemand hauchte mir ins Ohr und strich mir das Haar aus dem Gesicht. Blake war gekommen. Seine sanfte Stimme und der Meeresduft, der ihn immer begleitete, hätte ich überall erkannt. Ich blinzelte. Blakes Zimmer war mittlerweile in ein dämmriges Licht getaucht. Schemenhaft wurde seine Gestalt sichtbar. Sein Haar stand nach allen Seiten ab. Ich wollte ihm über den Kopf streichen. Aber die Muschel, die leicht gegen meinen Bauch drückte, hielt mich zurück. Was nun?
»Welch schöne Überraschung in meinem Bett!« Blake beugte sich zu mir herab und gab mir einen flüchtigen Kuss auf die Stirn. »Wie geht es dir?«
»Gut«, antwortete ich knapp. Krampfhaft überlegte ich, wie ich die Muschel so schnell wie möglich verstecken konnte. Blake sollte nicht wissen, dass ich in seinen Sachen gewühlt hatte. Brenda hatte bereits angedeutet, dass Blake nicht mochte, wenn man in seinen Sachen herumkramte.
»Wo bist du gewesen?« Ich musste ihn ablenken. Nebenbei versuchte ich, die Muschel unauffällig auf die andere Seite des Bettes zu schieben.
»Ich musste Verschiedenes erledigen.« Blakes Blick fiel auf meine linke Hand … oder eher auf den Maulwurfshügel, der sich in Richtung Kopfkissen bewegte. »Was hast du da?«
»Nichts. Ich war müde und habe mich nur etwas ausgeruht«, antwortete ich, bauschte die Decke und zog sie bis unters Kinn herauf.
»Du scheinst aber ziemlich unbequem zu liegen.«
»Nein. Alles in Ordnung«, beeilte ich mich zu sagen. »Ich wollte mich nur ausstrecken.«
»Du hast da doch etwas …« Blake grinste, und seine Hand wanderte unter die Decke. Ich spürte seine Finger auf dem Bauch. Mein Körper kribbelte, als durchschössen ihn tausend kleine Stromstöße. Blake zuckte zusammen. Verblüfft sah er mich an.
»Sorry!«, entschuldige ich mich sofort. »Die Muschel hat einfach nur Ähnlichkeit mit einer, die ich mal am Strand verloren hatte.« Den Teil, dass ich dabei mit James eng umschlungen auf dessen Pferd gesessen hatte, ließ ich aus. »Ich habe sie zufällig hier gefunden. Ich wollte nicht in deinem Schreibtisch wühlen. Aber das Schubfach stand offen …« Ich stockte. Die Ausflüchte hatten doch keinen Sinn. Ich gab auf. »Eigentlich gehört sie mir. Du hast sie mir geschenkt. Also, als du noch Bay warst. Zu meinem siebzehnten Geburtstag.« Mit diesen Worten wechselte ich in den Verteidigungsmodus.
Blake antwortete mir mit zusammengekniffenen Augen. »Es geht mir nicht um die Muschel. Sondern um dich.« Er schmunzelte. »Du bist ja völlig nackt!«
»Oh.« Jetzt fiel es mir wieder ein. Ich hatte mich bis auf meinen Slip komplett ausgezogen. Das musste an Brendas Zaubergetränk liegen.
»Du wirst dich noch erkälten!« Blake griff nach der Decke und zog sie mir bis zum Kinn hoch. »Soll ich dich etwas allein lassen? Möchtest du weiterschlafen?«
Ende der Leseprobe