Burning Oceans: Im Sog der Gezeiten - Linda Schirmer - E-Book

Burning Oceans: Im Sog der Gezeiten E-Book

Linda Schirmer

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Beschreibung

GÜNSTIGER EINFÜHRUNGSPREIS NUR FÜR KURZE ZEIT! Für Fans von Marah Woolf und Katharina Herzog und für alle, die sich verzaubern lassen wollen von Irland, junger Liebe und Fabelwesen "›Für diesen Zauber, meine liebe Cait, kannst du mich nicht auch noch verantwortlich machen. Das schaffst nur du!‹ Er gab mir einen Kuss auf die Stirn und schaute mich plötzlich ernst an. ›Das nennt man Liebe.‹" Schafe verschwinden, ein Schüler wird verletzt – das beschauliche Örtchen Streamstown an der irischen Westküste ist in Aufruhr. Dabei wollte sich die 17-jährige Cait doch gerade auf die Schule konzentrieren. Als dann auch noch der mysteriöse Blake wieder auftaucht, steht ihr Gefühlsleben vollends auf dem Kopf. Doch Blake braucht Hilfe, denn die geheimnisvolle Insel Tír na nÓg ist in Gefahr ... "Burning Oceans: Im Sog der Gezeiten" ist der zweite Teil der Burning-Oceans-Trilogie.

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Seitenzahl: 472

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© Piper Verlag GmbH, München 2021

Redaktion: Friedel Wahren

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München), mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: saje design, www.saje-design.de

Covermotiv: Mariano Nocetti/unsplash; Alexandr Ivanov/Pixabay

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Cover & Impressum

Zitat

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Danksagung

May the road rise up to meet you

May the wind always be at your back

May the sun shine warm upon your face

And rains fall soft upon your fields

And until we meet again

May God hold you in the palm of His hand

Irisches Sprichwort

Prolog

Wind fuhr mir durchs Haar und streifte meine Wangen. Noch einmal schloss ich die Augen und atmete ihn tief ein, den rauen Atlantik, der mich so sehr an Blake erinnerte.

Das Blaugrün des Meeres, das manchmal heller und manchmal dunkler wirkte, schimmerte auch in seinen Augen. Das Rauschen des Ozeans klang wie seine Stimme, die mir zärtlich ins Ohr flüsterte. Und Blake schmeckte nach Meer, nach Salz, das sich auf die Lippen legte und mich dürsten ließ – nach ihm.

Ich wischte mir über das Gesicht, das vom Gischtwasser benetzt war, und spähte zum Horizont, wo sich die Grenze zwischen Himmel und Wasser auflöste. Irgendwo dort draußen war Blake zu Hause, ein Nachfahre der Túatha Dé Dannan, die zurückgezogen auf der Insel Tír na nÓg lebten. Zumindest erzählten das die Geschichten, die kaum noch jemand kannte. Das bedeutete aber nicht, dass sie weniger der Wahrheit entsprachen.

»Kommst du?«, fragte Rose und streckte mir die Hand entgegen. Ich griff nach der warmen Hand meiner Schwester und folgte ihr vom Boot zurück zum Auto, wo Dad schon auf uns wartete. Er hatte die Beisetzung von Granny aufgrund eines Notrufs verpasst. Nur Mum, Rose, ich und Captain Casey waren dabei gewesen, der aber kein Wort dazu gesagt hatte, als Granny sich mit Paul, der Liebe ihres Lebens, vereinte, um nun hoffentlich glücklich auf Tír na nÓg zu sein.

Sofort stahl sich Blake wieder in meine Gedanken. Ich fuhr mir vorsichtig über die Lippen. Sie schmeckten nach Salz. Mir brannten die Mundwinkel.

Kapitel 1

»Dafür, dass du gerade so gut wie tot warst, machst du einen ziemlich munteren Eindruck.«

»Grrr …«, fauchte die getigerte junge Katze und versuchte sich aufzurichten, obwohl das Narkotikum mit Sicherheit noch nachwirkte.

»Psst! Alles wird gut«, beruhigte ich sie und entfernte den Venenkatheter aus ihrer Vorderpfote. Dafür brauchte ich nur wenige Sekunden, dennoch …

»Autsch!« Das war schon der dritte Kratzer an meinem Handgelenk, den ich nun mit Jod behandeln musste. Ich schloss die Gittertür und seufzte schwer. Wenn sich nur alle Wunden so einfach versorgen ließen …

Blake. Der Schmerz in meiner Brust hatte seit Wochen nicht nachgelassen. Seinetwegen hatte ich den ganzen Sommer in der Tierarztpraxis meines Dad gearbeitet. Denn jeder Gedanke an ihn war wie ein Tritt gegen mein Herz, das den Schmerz bis in die letzten Zellen meines Körpers pumpte. Seinetwegen war ich auch seit der Beisetzung von Granny nicht mehr am Strand gewesen. Ich mied den Atlantik, weil er zu viele Erinnerungen an Blake weckte.

Ein Klirren riss mich aus meinen Gedanken. »Warst du das?« Der milde Schein der Rotlichtlampe, die an einem der Aufwachkäfige hing, verlieh ihren Katzenaugen einen unheimlichen Blick. Aber jetzt verhielt sie sich vollkommen ruhig, so, als würde sie ebenso auf ein weiteres Geräusch warten.

Da! Schritte drangen unter dem Türspalt der Aufwachstation an mein Ohr. War Dad endlich von seinem Call-out zurück?

Ich lief zu Tür, drückte die Klinke herunter und zog. Aber nichts passierte. Das gibt es doch gar nicht. Nochmals rüttelte ich an der Tür, aber sie blieb zu. Jemand hatte mich eingeschlossen. Ich wusste, von außen steckte ein Schlüssel, weil wir sehr große Hunde zum Aufwachen nur auf einem Hundebett lagerten und nicht in einen der Käfige sperrten, bis ihre Besitzer sie wieder abholten.

Aber ich war doch kein Tier, verdammt! Vor Wut schlug ich mit der flachen Hand gegen die Tür. Wieder klirrte es. Ich drehte mich um. Die Katze war gegen den metallenen Futternapf gestoßen. Sie hatte sich vor mir erschreckt, und sie tat mir leid, aber ich war müde und hungrig und wollte einfach nur noch nach Hause. Es war ein sehr langer Tag in der Praxis gewesen. Das konnte nur unsere Rezeptionistin und Aushilfskraft Maureen gewesen sein. Ich knirschte mit den Zähnen.

Sie war leider Bestandteil des Inventars gewesen, als Dad vor einem halben Jahr in dem kleinen irischen Küstenort Streamstown die Tierarztpraxis übernommen hatte, weil der alte Inhaber Dr Sullivan verstorben war.

Noch einmal drückte ich die Klinke nach unten, um mich zu vergewissern, dass ich mich nicht irrte. Aber die verflixte Tür bewegte sich kein bisschen. Alles wird gut, versuchte ich mich jetzt selbst zu beruhigen. Obwohl meine Atmung davon nicht beeindruckt war und sich immer mehr beschleunigte. Langsam bekam ich Beklemmungen in diesem fensterlosen kleinen Raum. Außerdem stieg mir ein stechender Geruch in die Nase. Igitt! Der musste aus dem Mülleimer mit dem Katzenstreu stammen. Mir brannten die Augen.

Aber Dad würde nicht ohne mich nach Hause fahren, oder doch? Was, wenn Maureen nicht nur eine unfähige Rezeptionistin, sondern eine kaltblütige Mörderin war? Der vorherige Besitzer der Praxis, Dr Sullivan, war durch eine Schussverletzung gestorben. Ich bekam meine Gedanken einfach nicht unter Kontrolle.

»Dad!« Wieder hämmerte ich energisch gegen die Tür. »Dad! Hier bin ich!« Die Katze miaute, während ich mir die Seele aus dem Leib schrie. Warum hörte mich denn niemand? Ich warf mich gegen die Tür, als könne ich sie durchbrechen. Was albern war, dennoch …

»Arrrgh!« Ich versuchte es noch einmal … und holte Schwung.

In diesem Moment riss Maureen die Tür auf, und ich schoss an ihr vorbei, wie eine Kanonenkugel, die ihr Ziel verfehlt hatte, und klatschte an die gegenüberliegende Trockenbauwand. Immerhin. Es war kein Mauerwerk.

»Was machst du denn für einen Lärm?« Maureen stand neben mir und begutachtete mich durch ihre Maulwurfsbrille, während ich mir die schmerzende Schulter rieb.

»Sie haben mich eingesperrt! Sie sind doch völlig …« durchgeknallt, verrückt, wahnsinnig. Ich suchte mein Vokabular nach einem passenden Wort ab.

»Das war ein Versehen.« Die Brille war ihr auf die Nasenspitze gerutscht, und sie verschränkte die Arme vor der Brust. Sie blickte mich an, als hätte ich etwas verbockt. »Wie konnte ich ahnen, dass du dort drinnen rumlümmelst? Ich dachte, du seist mit deinem Vater unterwegs.«

»Ich lümmele nicht rum!«, erboste ich mich. »Und außerdem sollten Sie nicht längst zu Hause sein?« Aber ich wartete keine Antwort ab, sondern schob mich an ihr vorbei. Sie sollte nicht sehen, dass ich Tränen in den Augen hatte, weil ich mich für einen kurzen Moment wirklich gefürchtet hatte.

»Ich hatte noch eine Kundin zu betreuen. Deswegen wäre es gut, wenn du mich nicht so anschreien würdest.«

»Ich schreie überhaupt nicht! Aber das war unmöglich von Ihnen. Das haben Sie mit Absicht gemacht!« Meine Stimme schallte durch den Praxisflur.

»Guten Abend, Caitleen!« Verdutzt hielt ich an der offenen Tür zum Röntgenraum inne, als ich in das Gesicht meiner Geschichtslehrerin Mrs Kavanagh blickte. Sie saß auf dem Röntgentisch, und ihre Beine baumelten in der Luft. Wie immer war sie adrett gekleidet. Sie trug einen lavendelfarbenen knielangen Rock mit passender Jacke und weißen Rosenknöpfen. Mit ihren in Perlmuttton schimmernden Lippen lächelte sie mich an.

»Äh, guten Abend.« Ich sammelte mich. Hätte die Queen von England hier gesessen, ich wäre nicht weniger verblüfft gewesen. »Kann ich Ihnen vielleicht behilflich sein? Ist das ein Notfall?«, fragte ich und scannte den Raum nach einem Tier ab. Aber es war keins zu sehen. Abgesehen von der alten Krähe Maureen, die mir gefolgt war und mich mit gerunzelter Stirn und aufeinandergepressten schmalen Lippen argwöhnisch musterte.

»Danke, Liebes, nicht notwendig«, antwortete Mrs Kavanagh. »Wir sind gerade fertig geworden. Maureen war so nett, ein Röntgenbild zu machen.« Meine Lehrerin sprang vom Tisch und landete sicher auf den Füßen.

»Erin! Ich dachte, wir reden nicht darüber.« Mit Zeigefinger und Daumen schloss Maureen den imaginären Reißverschluss am Mund und starrte Mrs Kavanagh eindringlich an.

Ich verdrehte die Augen und schwieg, weil ich vor meiner Lehrerin nicht völlig die Selbstbeherrschung verlieren wollte.

»Ach was!« Mrs Kavanagh winkte ab. »Caitleen würde uns nie verraten. Und überhaupt, vielleicht brauchen wir mal ihre Hilfe.«

Maureen sog die Luft scharf ein. »Das bezweifele ich sehr, aber ganz, wie du meinst«, sagte sie und wandte sich beleidigt ab.

»Ich habe Probleme mit den Knochen«, fuhr Mrs Kavanagh unbeirrt fort.

»Wirklich?« Meine Brauen schnellten nach oben. Mrs Kavanagh erschien mir recht munter, und sie war bestimmt der gleiche Jahrgang wie die Queen. Fehlte nur noch, dass sie die Fersen zusammenschlug und zu zaubern anfing. Irgendetwas sagte mir nämlich, dass Mrs Kavanagh auch nicht ganz von dieser Welt war … oder zumindest nicht von dieser Erde.

»So ist es. Heutzutage muss man doch immer so lange warten, um einen Termin beim Facharzt zu bekommen«, beschwichtigte mich Mrs Kavanagh und legte mir eine Hand auf die Schulter. »Da ist man schneller tot, als die Ärzte Zeit für einen haben. Aber jetzt habe ich ja die Röntgenaufnahme.« Offenbar amüsierte sie sich über meinen seltsamen Gesichtsausdruck.

»Aber das dürfen wir doch überhaupt nicht! Wir können Tiere röntgen, aber keine Menschen.«

»Na ja, aber verwandt sind wir ja, wenn man einem gewissen Darwin glauben kann«, warf Mrs Kavanagh lachend ein und schritt so selbstverständlich aus dem Raum, dass ich sprachlos zurückblieb.

»Vergiss den Müll nicht, wenn du schon mal da bist!« Maureen deutete auf den Eimer. «Und der in der Aufwachstation stinkt ebenso.« Dann verschwand sie mit Mrs Kavanagh nach draußen.

Mir blieb die Spucke weg. Wie dreist war das denn? Das wollte ich nicht so auf mir sitzen lassen. Am Praxisausgang hatte ich sie wieder eingeholt. Allerdings war Mrs Kavanagh immer noch da, und vor meiner Lehrerin wollte ich keine Szene machen.

»Vergiss nicht abzuschließen!«, befahl Maureen.

»Sie wollen schon gehen? Ich würde mich gern noch mit Ihnen unterhalten«, wandte ich mich an Maureen, aber Mrs Kavanagh antwortete stattdessen.

»Keine Zeit, Liebes. Wir müssen! Aber um eins möchte ich dich bitten.« Die frische Abendluft spielte mit Mrs Kavanaghs grauen Löckchen. »Mein Besuch bleibt natürlich unter uns dreien.« Mit diesen Worten stiegen die beiden Frauen in den silbernen Jaguar XJ6 meiner Lehrerin und brausten davon.

»Das wurde aber auch Zeit! Ich bin längst fertig mit meinen Arbeiten hier. Die Katze ist versorgt und schläft, aber du kannst dir nicht vorstellen, was Maureen vom Stapel gelassen hat!«, donnerte ich los, als ich mich auf dem Rücksitz von Dads blauem Van niederließ.

»Bitte keine Gespräche über die Praxis! Das nervt tierisch. Außerdem fühle ich mich immer so ausgeschlossen!« Meine Schwester Rose saß auf dem Beifahrersitz und motzte mal wieder herum. Ich griff nach dem Dutt auf ihrem blonden Schopf und tat so, als würde ich wie an einem Radioknopf das Tuning einstellen.

»Kann den Sender mit der guten Laune nicht finden.«

»Lass das!«, fauchte Rose zurück. »Hätte ich bei Sinéad schlafen dürfen, hättet ihr jetzt eure Ruhe vor mir.«

Aha, daher wehte der Wind! Meine kleine Schwester hatte gehofft, bei ihrer Freundin übernachten zu dürfen. Das erklärte den Schmollmund und den missbilligenden Blick.

»Ist okay, mein Schatz! Wir können uns gern über etwas anderes unterhalten. Zum Beispiel über deinen Ballettunterricht. Wie lief es denn heute?« Dad wandte sich kurz Rose zu, bevor er sich wieder auf die Straße konzentrierte. Es folgte ein weiteres Stöhnen. Dad nahm es gelassen und schob ein Tape ins Radio. Lautes Rumtata drang mir ans Ohr.

»Dad!«, riefen Rose und ich gleichzeitig. Daraufhin drehte Dad die Musik leiser.

»Ich dachte, du hörst gern Klassik, seitdem du Ballett machst.« Nun klopfte Dad tatsächlich am Lenkrad den Rhythmus mit.

»Ist das dein Ernst?«, fragte ich. »Marschmusik?«

»Das hat eurem Grandad immer gefallen«, konterte Dad leicht beleidigt.

»Paul?«, fragte ich und biss mir sofort auf die Unterlippe, weil Rose sich abrupt zu mir umwandte und mich scharf musterte.

»Wer ist Paul?«, hakte Dad interessiert nach.

»Ich meinte Walter«, korrigierte ich mich. »Trotzdem ist seine deutsche Herkunft kein Grund, uns mit Marschmusik zu quälen.«

»Cait scheint inzwischen schon Namen durcheinanderzubringen. Das kommt davon, wenn man zu viel in der Praxis arbeitet und kein Sozialleben mehr hat.«

»Sehr witzig«, motzte ich. Dennoch war ich dankbar für ihren Kommentar, denn so fragte Dad nicht weiter nach. Schließlich hatte er keine Ahnung von Mums richtigem Grandad, der vierzig Jahre lang auf Tír na nÓg verschollen gewesen war und vor ein paar Monaten plötzlich auftauchte, nur um sich dann mit unserer geliebten Granny auf dem Atlantik zu vereinen und vom Wind forttragen zu lassen.

»Mach lieber wieder Dolly Parton an!« Rose suchte bereits im Handschuhfach nach weiteren Kassetten. Wir waren bestimmt die einzigen Teenager, die noch wussten, was Kassettentapes waren. Dad erstand die immer bei eBay und freute sich über seine Schnäppchen.

»Ach apropos Dolly, habe ich euch schon erzählt, dass ich heute bei einem Schaf einen Gipsverband angelegt habe?«, fing Dad an zu erzählen. »Mal schauen, wie lange der hält!«

Roses Stöhnen klang bis zu mir nach hinten.

Um neun Uhr abends kamen wir endlich an unserem Cottage an. Es war ein sehr langer Tag in der Praxis gewesen. Ich war durchgefroren, müde und hungrig. Ein fettes Sandwich Spezial mit geschmolzenem Cheddar, Schinken und Zwiebeln hätte die Lösung eines meiner Probleme sein können.

Hoffentlich lag Mum bereits im Wohnzimmer auf dem Sofa und quälte mich nicht mit einer ihrer rohköstlichen Variationen. Schnell stieg ich in mein Zimmer hinauf, griff nach einem Pullover, der weniger nach Tier roch, zog mich um und wusch mir die Hände.

»Wer oder was ist das?«, schoss es mir unüberlegt aus dem Mund, als ich die Küche betrat. Mum war noch auf, und neben ihr am Küchentisch hockte ein struppiges rothaariges Etwas. Bartbehaarung war ja wieder in Mode, aber musste sie immer so übertrieben werden? War das ein verrückter Künstlerfreund von Mum? Zu allem Überfluss roch die Kreatur so streng, dass meine Bemühungen, den Praxisgeruch loszuwerden, umsonst gewesen waren.

Mum antwortete mir mit gerunzelter Stirn und zornigem Blick. »Das ist Onkel Groch. Bekanntlich kann man dich und Rosemary ja nicht allein lassen …« Mums scharfer Ton gefiel mir gar nicht. »Daher hielt ich es für eine gute Lösung, wenn er für eine Weile bei uns lebt.« Das war Mums Anspielung darauf, dass ich Rose im Mai abends allein gelassen hatte, um heimlich mit Blake zu einem Ball zu gehen. Dass dies eine Katastrophe nach sich zog und Rose daraufhin drei Wochen lang verschwunden war, hatte jedoch niemand ahnen können.

»Außerdem kann ich gut ein paar helfende Hände in diesem Haushalt gebrauchen.« Mum wies auf das schmutzige Geschirr, das sich in der Spüle stapelte. Anscheinend hatten Rose oder ich gerade Küchendienst.

»Das soll wohl ein Witz sein. Wir brauchen hier keinen Anstandswauwau!«, entfuhr es Rose, die sich neben mich gestellt hatte und die Arme vor dem Oberkörper verschränkte. Der Begriff konnte beim Anblick meines haarigen Onkels nicht passender sein. Groch hatte buschige Augenbrauen, die über seiner langen Nase zusammenwuchsen. Sein Kopfhaar war orangerot und stand wild nach allen Seiten ab. Außerdem war es schwer zu sagen, wo die Haare aufhörten und der Bart anfing.

Dad schien von dem Komplott gegen uns gewusst zu haben, denn er setzte sich ohne ein Wort an den Tisch. Ich sah, wie er bei Roses Vergleich grinsen musste, das Gesicht aber rasch hinter seiner Tageszeitung vor Mum verbarg. Er kannte die Minenfelder in unserem Haus genau und war schlau genug, nicht hineinzutappen … im Gegensatz zu mir.

Mum dagegen tat so, als hätte sie Roses bissigen Kommentar überhört, und fuhr mit ihren Lobreden fort.

»Onkel Groch ist extra von Schottland angereist und bietet uns seine Hilfe an. Seine Familie war sehr besorgt wegen Roses Versch…« Hier stockte sie. Der bloße Gedanke an Roses Verschwinden und das Feuer, das in jener Nacht ausgebrochen war, machte sie – trotz unzähliger Therapiestunden – immer noch fix und fertig. »Jedenfalls freue ich mich, dich endlich bei uns zu haben. Es ist eine Schande, dass wir so lange nichts voneinander gehört haben.« Mum tätschelte Onkel Grochs Hand, und ich legte die Stirn in Falten.

Lange nichts voneinander gehört? Das war wohl ein Witz, oder? Wir hatten noch nie etwas von unserer Verwandtschaft in Schottland gehört. Danke, Mum! Gab es sonst noch etwas, was wir nicht wussten?

»Ist er jetzt so etwas wie ein Au-pair-Junge?«, hakte ich nach. Immerhin war ich schon siebzehn und brauchte wirklich keinen Aufpasser.

Mum ignorierte meine Anmerkung. »Groch hat eine anstrengende Reise hinter sich. Er wohnt sehr abgelegen in Kil… irgendwas. Du musst uns unbedingt später davon erzählen.«

Nein. Das wollen wir ganz sicher nicht hören.

»Kintyre!«, korrigierte Onkel Groch und kratzte sich am Rücken.

»Ach, genau, Paul McCartney!« Dad war plötzlich hellwach, faltete die Zeitung zusammen und begann zu singen. »Mull of Kintyre … Oh, mist rolling in from the sea.«

Onkel Groch stimmte mit seiner tiefen Bassstimme ein. Ich verdrehte die Augen.

Kintyre? Das lag bestimmt in den weiten schottischen Highlands, wo es nichts als Moos und Wollgras gab. Und Flöhe. Er kratzte sich schon wieder. Diesmal hinter den Ohren. Ob ich ihm heimlich ein Flohmittel verpassen sollte? Und wenn ja, welches? Für Hunde oder für Katzen?

»Nun ja«, räusperte sich Onkel Groch, als ihm und Dad endlich die Lyrics des Songs ausgegangen waren. »Ich wohne etwas abgelegen. Bei euch werde ich mich daher bestimmt auch wohlfühlen. Hier soll es noch mehr regnen als bei uns.« Ein tiefes, rauchiges Geräusch drang aus seiner Kehle. Rose und ich tauschten vielsagende Blicke.

»Jedenfalls freue ich mich sehr, euch wiederzusehen.« Er erhob sich, kam auf uns zu und öffnete die Arme.

Spontan wollte ich die Flucht ergreifen, aber Mums Gesichtsausdruck hatte sich in den eines angriffslustigen Wachhunds verwandelt. Also beugte ich mich meinem Schicksal. Onkel Groch war so klein, dass mich seine struppigen Haare an der Nase kitzelten und ich niesen musste. Zuerst umarmte er mich und klopfte mir auf den Rücken wie einer alten Stute und lachte immerzu. Dann blickte er mich von unten herauf an.

»Groß bist du geworden, Cait!«, sagte er und packte meine Schultern. »Als ich dich das letzte Mal sah, konntest du noch nicht mal laufen und hast bitterlich geweint, weil deine Mutter dich nicht aus dem Napf meiner Katze essen ließ. Wie die Zeit vergeht!« Er schüttelte den Kopf und grunzte.

»An unsere Begegnung kann ich mich leider gar nicht erinnern.« Kein Wunder also, dass ich Onkel Groch aus meinem Gedächtnis verbannt hatte. Meine Schultern schmerzten unter seinen Pranken. Onkel Groch war zwar klein, aber Kraft schien er zu haben.

»Sorry, aber du tust mir weh!«

Sofort ließ er los. »Oh, entschuldige bitte!« Schuldbewusst blickte er mich an. »Ich habe einen starken Griff.«

»Das glaube ich dir gern!«, erwiderte ich und rieb mir die Oberarme. Bestimmt blieben mir von meinem Aufprall in der Praxis und von dieser Umarmung zwei blaue Flecke.

Mum warf einen Blick auf ihre goldene Armbanduhr. »Ach, schon so spät!« Hektisch sprang sie auf und holte die große Schüssel von der Anrichte. Die stellte sie feierlich wie eine Torte in die Mitte des Tischs. Leider enthielt sie nur Salat. Jede Menge Salat.

Mit zwei Salatgabeln häufte Mum Onkel Groch eine große Ladung auf den Teller.

»Nicht so viel! Danke. Schließlich muss das Hauptgericht noch reinpassen.« Onkel Groch blickte vielsagend zum Herd hinüber, wo ein großer Topf Dampfwolken ausstieß, fast so wie unser alter Sterilisator in der Praxis.

»Oh!« Mum warf Onkel Groch einen entschuldigenden Blick zu. »Das ist der Hauptgang.« Sie deutete auf den Salat, aus dem die Pinienkerne wie kleine weiße Maden herausschauten. »Heute blieb mir nicht viel Zeit zum Kochen. Den ganzen Tag war ich im Atelier. Also, noch ist es kein Atelier, sondern die reinste Baustelle, aber … nun ja …« Mums Blick richtete sich auf den Topf. »Und das da ist leider nur mein Kombucha. Ich bereite mir immer eine ganze Wochenration davon zu.«

»Überhaupt kein Problem!« Onkel Groch lächelte tapfer, schob sich ein paar Salatblätter in den Mund und kaute unverhältnismäßig lange darauf herum. Rose und ich mussten kichern. Noch jemand in diesem Haushalt, der auf Mums Kochkünste abfuhr. Dad ließ sich überhaupt nichts anmerken. Er hatte bestimmt gewusst, wer heute zu Besuch kam, und lobte ihr Dressing. Seine Gelassenheit war bestimmt nur darauf zurückzuführen, dass er bei seinem Call-out bereits von Mrs Keane, der Frau des Farmers, gefüttert worden war. Wenn ich mich recht erinnerte, musste jeder, der den Fuß auf ihre Farm setzte, mindestens einen großen Teller Bratkartoffeln mit Ei und Speck und zum Nachtisch drei faustgroße Scones mit Brombeermarmelade vertilgen.

»Wer zeigt Onkel Groch morgen die Gegend?«, fragte Mum in die Runde und goss uns Wasser ein, obwohl ich gar keinen Durst hatte nach den Teemengen, die ich in der Praxis in mich hineingeschüttet hatte.

»Ich muss Hausaufgaben machen«, lautete meine Antwort, bevor ich überhaupt zum Nachdenken kam.

»Ich habe Training.« Rose grinste mich siegessicher an. »Und übrigens sind noch Ferien. Aber netter Versuch, Schwesterherz.«

Ich blickte meine Schwester böse an.

»Prüfungsvorbereitungen meinte ich natürlich. Außerdem muss ich morgen in der Praxis helfen, nicht wahr?«, flehte ich Dad an.

Dad schaute von seinem Teller auf. »Morgen ist geschlossen. Bin auf einer Weiterbildung.« Er konnte sein Grinsen kaum verbergen. Seine Schultern zuckten verräterisch, während er hoch konzentriert die Pinienkerne aufspießte.

»Ach, die, ja, die hätte ich beinahe vergessen! Und da wollte ich doch mitkommen«, behauptete ich energisch und stieß Dad unter dem Tisch mit dem Fuß an.

»Wolltest du? Die Einladung ging nur an mich, aber wenn du unbedingt darauf bestehst …«

»Ihr seid unmöglich!«, zischte Mum uns an, nachdem Onkel Groch aufgestanden war, um seine restlichen Taschen aus ihrem kleinen Renault Clio zu holen, den sie sich endlich zugelegt hatte.

Rose und ich mussten abspülen, aber das war uns diesmal nur recht. Endlich hatten wir Gelegenheit, nach dem Dinner noch etwas Anständiges zu essen.

Mum, Dad und der Onkel hatten sich ins Wohnzimmer zurückgezogen. Ich hörte, wie Onkel Groch von seinen Erfolgen beim Baumstammwerfen erzählte. Früher hätte man dafür noch Schafe genommen, aber der Tierschutz sei inzwischen strenger geworden.

»Ich weiß nicht, wie Mum auf die Idee kommen konnte, diesen Typen bei uns einziehen zu lassen. Bestimmt haart der Kerl, und sie hasst doch Tierhaare.« Rose schob sich einen Rest Weißbrot in den Mund.

»Und du krümelst!«, schimpfte ich, weil ich den Küchentisch nun schon zum zweiten Mal abwischte. Dennoch musste ich meiner Schwester in diesem Punkt recht geben. Dads lockere Einstellung Tierhaaren gegenüber war häufig ein Streitthema zwischen meinen Eltern. Allerdings hätte Mum wissen müssen, dass bei einer Beziehung mit einem Tierarzt Haare nicht ausblieben. Es sei denn, sein Patientenkreis hätte größtenteils aus Nacktmullen bestanden.

Aber ich wusste aus Erfahrung, dass die meisten Kunden Tiere mit hübschem weichem Fell und Kulleraugen bevorzugten. Dagegen hätte so ein blinder und faltiger Nacktmull eben schlechte Karten gehabt. Zumindest in der Kategorie süßestes Haustier. In der Kategorie süßeste Oberstufenschülerin traf das nicht zu, weswegen schließlich sogar ich mir die Beine rasierte.

Kapitel 2

Was Onkel Groch an Haaren zu viel hatte, hatten die Konferenzbesucher am nächsten Morgen im Ballynahinch-Hotel zu wenig. Mir fielen sofort die vielen grauhaarigen oder glatzköpfigen Teilnehmer auf, als ich den Saal mit den schweren Kronleuchtern betrat.

Wegen eines Hausbesuchs, den Dad heute Morgen unbedingt noch hatte machen müssen, und eines kurzen Zwischenstopps in der Praxis waren wir mal wieder zu spät gekommen, obwohl das Hotel nur fünf Meilen von Streamstown entfernt lag. In der großflächig angelegten Parkanlage, die das herrschaftliche Gebäude umschloss, fand die Weiterbildung statt. Die war so gut besucht, dass Dad und ich nicht zusammensitzen konnten, weil so gut wie alle Plätze belegt waren. Während ihm von einem Kollegen sofort ein Sitzplatz angeboten wurde, blieb für mich nur noch der einzige freie Stuhl im ganzen Plenum neben einem älteren Herrn mit Glatze. Seine Nase bog sich gehörig nach unten, und mit seinen Mundwinkeln war es ganz ähnlich. Das konnte heiter werden.

Während ich mich in meiner Stuhlreihe vorbei an den grau melierten Herren zu meinem Platz durchschob, wandte er mir langsam seinen Blick zu, nickte kaum merklich zur Begrüßung und nahm seine Mappe vom Stuhl. Als ich mich setzte, quietschte es furchtbar unanständig, und vor Peinlichkeit bekam ich wieder meine altbekannten roten Flecken im Gesicht. Dann versuchte ich mich auf den Redner am Pult zu konzentrieren, der über das Thema Tuberkulosebekämpfung bei Rindern dozierte. Ein Vortrag über Großvieh war nicht unbedingt mein Traumthema, und so schweifte ich gedanklich immer wieder ab. Als das zweistündige Rahmenprogramm verkündet wurde – Lachsfischen und Tontaubenschießen –, wurde ich aber wieder hellwach. Die Mitteilung rief auch bei den Teilnehmern hellste Begeisterung hervor. So als würde man Kindern versprechen, jeden Tag unbeschränkten Zugang zu Süßigkeiten zu bekommen.

Oh, Mann, was hatte ich mir da nur eingebrockt! Vielleicht wäre ein Vormittag mit Onkel Groch doch besser gewesen. Ich hätte ihm den Connemara National Park zeigen können. Vielleicht wären wir dort auf wilde Bergziegen gestoßen, die ihre Nähe schon durch ihren stechenden Geruch ankündigten. Da hätte er sich bestimmt wie zu Hause gefühlt.

Ich stöhnte und freute mich schon jetzt auf die Pause. Ich plante, das Büfett zu stürmen und dann eine Runde im anliegenden Park zu drehen, während die anderen 99 Prozent der Teilnehmer zum Angeln oder Tontaubenschießen aufbrachen. Das Anwesen war zwar auch alt, aber im Gegensatz zum Publikum bestimmt eine Augenweide, zumindest wenn man den zahlreichen touristischen Beschreibungen glaubte.

»Und morgen, meine Herren, und natürlich schließe ich Sie, junge Dame, nicht aus …«. Der Redner warf mir ein Lächeln zu. »Morgen widmen wir uns dem Thema Körperhöhlenergüsse!«

Okay. Morgen würde ich definitiv zu Hause bleiben. Mit diesen alten Herren an meiner Seite würde ich das Thema unmöglich überstehen, und Dad konnte mir ja einfach seine Aufzeichnungen überlassen. Da las ich mich doch lieber selbst in das Thema ein. Außerdem starrte mich der Typ mit der Glatze schon wieder so komisch von der Seite an. Um ein Haar hätte ich mich umgedreht und ihm die Zunge rausgestreckt. Aber dann erlöste mich die Pause von seinen Blicken, und ich folgte Dad ins Hotelrestaurant.

Nach der Mittagspause, den Bauch voll mit Lachs in Sahnesoße und zwei Tassen Kaffee, schwang ich die Hoteltür auf und trat an die frische Luft. Ein leichter Nieselregen benetzte mir das Gesicht, aber das war überhaupt kein Grund, noch länger im Hotel zu bleiben. Schon beim Mittagessen hatten einige Gäste selbstgefällig von ihren Jagderfolgen erzählt. Als ob das irgendjemanden ernsthaft interessierte. Selbst Dad blickte schon leicht genervt, als einer von denen wieder von den Speziallichtern anfing, die er auf seinem Rover für nächtliche Jagdausflüge montierte. Die Tiere verfielen, von dem starken Licht geblendet, in eine Schockstarre … ideal für einen Treffer. Ich mochte keine Jäger.

Die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, lief ich über den Parkplatz und folgte der schmalen Teerstraße, vorbei an Rosenbeeten und einem perfekt gepflegten Rasen. Palmen und gigantische Rhododendronbüsche wuchsen überall in dem riesigen Hotelgarten. Ich überquerte eine kleine Steinbrücke, an deren Mauern orangefarbene Montbretien sprossen. Seitlich führte ein unscheinbarer Pfad zum Bachufer hinunter. Um auf den bemoosten Stufen nicht auszurutschen, musste ich mich an der Mauer abstützen. Unten angekommen, entdeckte ich Laubbäume, die den Wegesrand säumten, und meterhohe Farne.

Den für die Hotelgäste angelegten Waldweg bedeckten lose Blätter, die bereits Ende August von den Bäumen gefallen waren. Ich begleitete den Bach für eine Weile, bis er sich langsam zu einem Fluss weitete. An einer etwas flachen Stelle ging ich in die Hocke und tauchte die Finger ins kalte Wasser. Der Fluss rauschte leise am steinigen Ufer entlang. Wohin würde sein Lauf ihn wohl führen? Traf er irgendwann ins Meer … zu Blake?

Ich überlegte, wie viel Zeit bereits vergangen war. Die Mittagspause sollte zwei Stunden dauern. Wie lange war ich schon unterwegs? Ich hatte nicht daran gedacht, mein Handy mitzunehmen, das wegen des mangelnden Funknetzes in der ganzen Gegend höchstens noch als Uhr zu gebrauchen war.

Mit der nassen Hand fuhr ich mir übers Gesicht, als könne ich meine Erinnerungen an Bake einfach wegwischen. Ich wollte nicht schon wieder an ihn denken und kühlte mir die heiße Stirn.

Plötzlich zerschnitt ein Ruf die Stille. Einige Enten erhoben sich aufgeschreckt in die Lüfte. Auch ich stand auf, um besser hören zu können.

Erneut drang die Stimme an mein Ohr. Sie war laut und kraftvoll und gehörte ganz eindeutig einer Frau.

Für einen Moment hörte das Wasser auf zu rauschen, die Blätter bewegten sich nicht, und mein Herzschlag setzte aus. Ich bildete mir ein, seinen Namen zu hören … Blake.

Rief ihn jemand? Oder hatte die Sehnsucht einen Weg aus meinem Herzen gefunden? War sie die Lügen leid, die ich mir in dunklen Stunden immer wieder vorsagte? Ich will Blake nicht wiedersehen, nie wieder.

Bevor ich meinem Verstand wieder den Vortritt ließ, rannte ich in Windeseile den holprigen Weg entlang, streifte dornige Zweige und merkte erst später, dass sie mir die Arme und den Hals zerkratzt hatten.

Völlig außer Atem erreichte ich die Hotelrezeption. Strähnen hingen mir in die Augen, Schlamm klebte an meinen Stiefeln, und in meinem Herzen keimte Hoffnung auf.

»Keine Hektik! Das Seminar hat noch nicht angefangen.« Erstaunt lächelte mich Dad an, als ich völlig außer Puste vor ihm stand. Er unterhielt sich mit dem kleinen blassgrauen Typ, der neben mir gesessen hatte und mich mit seiner schuppigen Haut an eine Amphibie erinnerte.

»Meine Tochter ist sehr ehrgeizig. Sie will nie etwas verpassen.« Stolz legte mir Dad einen Arm um die Schultern, während ich den Raum nach Spuren von Blake sichtete. »Jedenfalls freut sich Caitleen, Sie kennenzulernen!« Nein, das tut sie ganz sicher nicht!

»Die Freude ist ganz meinerseits. Mein Name ist Frank Mullen. Ich arbeite für das Ministerium für Landwirtschaft.«

Er richtete den Oberkörper auf und reichte mir seine kühle, feuchte Hand, die ich tapfer schüttelte. Der Typ war mir unheimlich. Mit seinen leicht hervorstehenden großen Augen starrte er mich an, als wäre ich ein kleines Insekt, das er jeden Moment verschlingen konnte. Sein breites Grinsen passte überhaupt nicht zu seinem gierigen Blick.

Von ihm unbeobachtet wischte ich mir die Hand hinter dem Rücken ab, und mein pochendes Herz erinnerte mich wieder daran, dass ich weiter nach Blake suchen wollte. War er wirklich hier? Oder spielte mir meine Wahrnehmung einen Streich? In dieser Gegend konnte ich nicht sicher sein, was real oder irreal war. So viel hatte ich bereits schmerzhaft erfahren müssen. Die Kratzer auf meiner Haut brannten. Kleine Blutstropfen hatten sich an den Wunden bereits zu dunkelroten Perlen verkrustet.

»Vielleicht können Sie uns mehr über Ihre Arbeit erzählen.« Dad lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf Mr Mullen. Seine Stimmung hatte sich mal wieder in ungeahnte Höhen geschraubt. Aber in meinen Gedanken hatte sich Blake festgesetzt. Mein Atem ging immer noch viel zu schnell, und die Wangen brannten mir. Das spürte ich immer sofort. War er vielleicht hier? Den ganzen Sommer über hatte ich mich nicht getraut, das gelbe Häuschen seiner Tante Brenda aufzusuchen. Ich sehnte mich nach ihm, und gleichzeitig fürchtete ich ein Zusammentreffen.

»Meine Tochter ist sehr wissbegierig und möchte einmal in die Fußstapfen ihres Vaters treten«, erzählte Dad munter weiter. Dabei klopfte er mir anerkennend auf die Schultern.

»D-A-D! Bitte!« Ich hatte keine Lust, so vorgeführt zu werden.

»Wie erfreulich, einen jungen Menschen zu treffen, der noch über einen gewissen wissenschaftlichen Ehrgeiz verfügt! Auch ich war immer sehr zielstrebig und diszipliniert. Und ich habe hart auf mein Ziel hingearbeitet. Nur so konnte ich meine leitende Position erringen.«

Unruhig wechselte ich von einem Fuß auf den anderen und spähte zur Hotelbar hinüber, aus der ein Mädchen in typischer Arbeitskleidung – schwarzer Rock, weiße Bluse – heraustrat. Das Haar hatte sie am Hinterkopf zu einem Knoten geschlungen. Sie trug ein silbernes Tablett und wollte uns Drinks bringen. Ich erkannte ihre dunkel gefärbte Stimme sofort, die gleichzeitig rauchig und irgendwie sexy klang. Es war die Frau, die ich im Wald gehört hatte und Mr Mullen nun ein lüsternes Grinsen entlockte, als er einen Whiskey für sich und Dad bestellte. Dad aber lehnte höflich ab. Auch ich wollte nichts trinken und versuchte, dem Gespräch der beiden Männer zu folgen. Dann merkte ich jedoch, wie ich in Gedanken abschweifte, zu Blake, der wieder alle meine Sinne erfüllte.

»Wir kümmern uns um die Belange der Viehhaltung in Connemara«, erklärte Mr Mullen, der immer noch die attraktive Bedienung angaffte, die gerade mit den Hüften einen Türflügel aufstieß. Um ein Haar hätte ich einen Würgelaut ausgestoßen. Der Typ wurde mir immer unsympathischer.

»Es gibt Farmer, die sich nicht an die gesetzlichen Vorschriften halten. Und das trifft natürlich auf alle Tierbesitzer zu. Sie halten doch Augen und Ohren offen, nicht wahr? Sie würden uns Zuwiderhandlungen doch immer melden, oder? Eine gewisse Ordnung muss sein.«

»Ähm … natürlich halte ich mich an alle Bestimmungen«, beteuerte Dad leicht irritiert und legte die Stirn in Falten.

»Ich sage das ja nur, weil Sie der neue Tierarzt sind und uns an einer guten Zusammenarbeit liegt.« Mr Mullen lächelte zufrieden. »Dr. Sullivan war da etwas nachlässig, um nicht zu behaupten stümperhaft.«

»In fünf Minuten geht es mit dem Seminar weiter. So langsam könnten wir«, meinte Dad, ohne auf den Beamten zu achten, und wies in Richtung Konferenzraum. Dabei warf er mir einen Blick zu, der alles andere als Begeisterung für Mr Mullen zeigte.

»Ich müsste bloß vorher noch mal auf die Toilette … der Kaffee …«, sagte ich schnell, als Mr Mullen Luft holte und mir damit die Gelegenheit zur Flucht bot. Den Spruch, dass Langweile auch tödlich sein konnte, kannte er wahrscheinlich nicht.

»Wissen Sie, wo die Toiletten sind?«, hakte Mr Mullen nach.

Schnell winkte ich ab. Der tat ja so, als wüssten wir hier überhaupt nichts. »Danke! Ich kenne mich hier bestens aus.« Selbstsicher marschierte ich los.

Der mit einem Perserteppich ausgelegte Gang dämpfte meine eiligen Schritte, die zum hinteren Teil des Hotels führten. Mr Mullens Worte, dass es in der Bar auch eine Toilette gebe, hallten zwar noch in mir nach, doch was ich am anderen Ende des Gangs im angebauten Seitenflügel suchte, war Blake und kein verdammtes Klo.

Der Gedanke nämlich, dass Blake sich hier irgendwo aufhalten könne, machte mich wahnsinnig. Wie verrückt rannte ich die Treppe zur nächsten Etage hinauf. Aber bis auf eine Reinigungshilfe, die mir mit Schaufel und Besen entgegenkam, wirkte alles wie ausgestorben. Nur die vielen Zimmer mit ihren verschnörkelten goldenen Nummern wiesen darauf hin, dass hier sonst immer die Hölle los war. Aber wahrscheinlich hatten sich die meisten Touristen bereits auf den Heimweg gemacht, denn dies war das letzte Wochenende vor Beginn des neuen Schuljahres. Zusätzlich hatte der Wetterbericht für die nächsten Tage wieder keine Sonne vorhergesagt, vielmehr nur Wolken und vereinzelt Regen … die Standardwetterprognose eben.

Genervt blieb ich stehen und lehnte mich an eine Zimmertür. Was suchte ich hier nur? Zu denken, dass Blake in der Nähe sein könnte, war einfach absurd. Mir war einfach nicht zu helfen. Ich stieß einen Seufzer aus. Und obendrein war ich auch noch bei der langweiligsten Konferenz der Welt gelandet.

Auf einmal öffnete sich die Tür hinter mir, und ich stolperte rückwärts in den Raum. Mit festem Griff packten mich zwei Hände an den Schultern und pressten mich gegen die Wand. Eine Hand legte sich mir hart auf den Mund und unterdrückte meinen Aufschrei.

Kapitel 3

Sofort roch ich das Meer, und die Knie wurden mir weich, sonst hätte ich sie als Waffe eingesetzt. Der Salzgeruch stieg mir in die Nase, mein Herz pochte wie wild, und meine Haut prickelte.

Langsam passten sich meine Augen an das schwache Tageslicht an. Es drang durch den schmalen Schlitz der Vorhänge vor den bodentiefen Fenstern. Ich erkannte die Umrisse seiner schlanken Gestalt. Sofort wollte ich mich an Blakes Brust schmiegen, um seinen Duft noch tiefer einzuatmen. Doch dann kämpfte ich entschlossen gegen das unbändige Verlangen an. Hatte ich seinetwegen nicht den ganzen Sommer über gelitten? Seine Gegenwart raubte mir den Atem … und den letzten Nerv.

»Cait, ich habe dich so vermisst«, flüsterte Blake. Leicht strich er mir mit den Fingern über die Wange und zeichnete zärtlich meine Lippen nach. Dann fuhr er mir über den Nacken, zog mich sanft an sich heran und umschloss mich mit seinen Armen … endlich. Ich spürte, wie sich seine Brust hob und senkte. Es war, als würde sich mein Herz dem Rhythmus seines Atems anpassen.

»Ich kann nicht glauben, dass du mir die ganze Zeit so nahe gewesen bist.«

»Psst, nicht so laut!« Blake legte mir einen Finger an den Mund, während seine Augen mich so eindringlich musterten, als könne er bis in mein tiefstes Inneres blicken. Dann würde er erkennen, dass ich mich nach seinem schwarzen Haar und seinen schön geschwungenen Lippen gesehnt hatte. Nach seinen zärtlichen Blicken, aber auch nach dem schelmenhaften Lächeln, das ich ihm immer wieder entlockt hatte und das mein Herz höherschlagen ließ.

Und dass ich den ganzen Sommer über gelitten hatte … seinetwegen. Und dass ich mich wie ein alleingelassener Welpe gefühlt hatte, der nicht wusste, wo er hingehörte. Aber wollte ich es wirklich herausfinden? Würde seine Anwesenheit mich nicht wieder ablenken? Nur noch dieses eine Schuljahr, dann konnte ich endlich Tiermedizin studieren und mir ein anderes Fachgebiet aussuchen als die immer gleiche Rinderthematik, die hier zur Tagesordnung gehörte.

Blakes Blick umschmeichelte mich wie ein hungriger Kater die Beine seines Frauchens. Ich schloss die Augen und genoss den Augenblick. Vielleicht gab es doch die Möglichkeit, dass wir irgendwo zusammen sein konnten.

Dann aber schob sich Tír na nÓg in meine Gedanken, ein Ort, der bisher nur Ärger gemacht hatte. Ich stieß einen leisen Seufzer aus. Es war so einfach, sich in Blakes Gegenwart treiben zu lassen.

»Was machst du hier?«, fragte ich ihn und löste mich aus seiner Umarmung.

»Ich arbeite hier.« Mit einem verschmitzten Lächeln legte er mir eine Hand an das Kinn. Verdutzt räusperte ich mich und trat zur Seite. Ich brauchte unbedingt Abstand, von der Wand hinter mir und von Blake vor mir.

Trotzdem konnte ich den Blick nicht von ihm abwenden. Durfte ich ihm glauben? Seit wann arbeitete Blake denn in einem Hotel? Ich kniff die Augen zusammen. War das wieder eine seiner Lügen? Ich war immer davon ausgegangen, dass er von seiner Familie finanziell unterstützt wurde. Anderseits musste ich mir mal wieder eingestehen, dass ich rein gar nichts über ihn wusste.

»Seit wann musst du denn arbeiten?«, hakte ich argwöhnisch nach.

»Mein Vater hat mich darum gebeten. Und was hat dich hierher verschlagen?«

»Ich begleite meinen Dad und hatte gerade eine Vorlesung über …«

Einen Moment mal! Ich hielt inne, denn schließlich hatte ich gar keine Veranlassung, ihm irgendetwas zu erzählen. Und er hatte wirklich ein Talent, von sich abzulenken. Das war mal wieder so typisch.

»Und du kellnerst hier? Oder trägst du Koffer hoch?«, fragte ich spitz, und mir missfiel mein eigener scharfer Ton. Aber ich hasste es, wenn sich mein Verstand in seiner Anwesenheit verflüchtigte.

Er lachte los. »Nicht ganz! Ich bin ein Hüter des Unfassbaren.«

Jetzt musste auch ich lachen. »Wie originell! Lass mich raten – du darfst mir nichts über deine Arbeit erzählen. Das ist tatsächlich unfassbar.« Diese ganze Geheimniskrämerei war tatsächlich eins unserer Probleme gewesen, weshalb wir nicht einfach wie ein ganz normales Teenagerpärchen zusammen sein konnten.

»Du denkst schon wieder viel zu viel nach. Es steht auf deiner Stirn geschrieben«, kommentierte Blake meinen kritischen Blick und fuhr mir mit den Fingern über die Stirn. Auf der Stelle entspannte ich mich.

»Ich passe auf, dass unsere Geheimnisse auch geheim bleiben«, antwortete Blake vieldeutig.

Nur mit Mühe unterdrückte ich ein Augenrollen. »Dabei lässt du dich nur gerade erwischen. Ich nehme an, das hier ist nicht dein Zimmer«, sagte ich lässig. Dabei deutete ich auf das Jackett, das auf einem Bügel hing und dem Aussehen nach nicht seiner Altersklasse entsprach.

»Ich war dabei, die Zimmerbar aufzufüllen, als du mir in die Arme gefallen bist«, erklärte Blake schlagfertig und schien sich prächtig zu amüsieren.

Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Sicher doch! Hier im Halbdunkel füllst du leere Kühlschränke auf. Ich vermute eher, dass du spionierst.« Die Frage war nur, was er herauszufinden hoffte. »Aber wenn man jemanden ausspioniert, sollte man cleverer vorgehen … und vor allem charmanter.« Ich strich mir eine Strähne aus dem Gesicht.

»War ich das nicht?« Blake lächelte übermütig.

»Wenn du es galant findest, eine Frau in den Bog zu schicken oder beim Treffen im Café einfach sitzen zu lassen, dann kann ich nur müde abwinken.«

»Ich habe was für dich. Dreh dich mal um!« Blake ging einfach über meine Anschuldigungen hinweg.

»Du musst mir endlich sagen …«

»Sei doch bitte für einen Moment mal still!« Blake schmunzelte, und ich gab nach. Folgsam kehrte ich ihm den Rücken zu, als ich im nächsten Augenblick spürte, wie sich seine Finger langsam an meinem Nacken entlangtasteten.

Ich schauderte unter seiner Berührung, die wellenartig durch meinen Körper floss und meinen Atem beschleunigte.

»Du hast dich verletzt?« Er hielt inne, und ich drehte mich zu ihm um.

»Das sind nur ein paar Kratzer. Nichts weiter …« Ich wollte nicht, dass er aufhörte. Es tat so gut, seine Hände auf meiner Haut zu spüren.

»Ich sehe dich morgen.« Flüchtig küsste er mich auf die Wange. Dann rannte er zum Fenster und öffnete es.

»Aber du wirst doch nicht …«

Blake wandte sich noch einmal um. »Trau ihm nicht!«, unterbrach er mich und mit einem Satz sprang er zum Fenster hinaus.

Ich erstarrte. Blake war tatsächlich gesprungen. Aber bevor ich mich regen konnte, versetzte mir die Türklinke einen schmerzhaften Schlag in den Rücken.

Ich schrie laut auf, sprang zur Seite und rieb mir über die schmerzende Stelle.

Das Licht wurde angeknipst und leuchtete auf die Glatze von Mr Mullen.

»Caitleen, was machen Sie denn hier?«, fragte er verdattert und schien genauso überrascht zu sein wie ich.

»Das Gleiche könnte ich Sie fragen.« Argwöhnisch beäugte ich ihn. Wahrscheinlich war er mir gefolgt und wollte mir hinterherschnüffeln.

»Dies ist mein Zimmer«, antworte er.

»Oh!« Verdammt. Von den Dutzenden von Zimmern, die es in diesem Hotel gab, war ich ausgerechnet in dem von Mr Mullen gelandet. Verunsichert schweifte mein Blick zum Fenster. Nach Blakes Abgang bewegten sich die Vorhänge immer noch leicht hin und her. Hoffentlich war ihm nichts passiert.

»Ich dachte, hier geht es zur Toilette«, erklärte ich und spielte das Unschuldslamm. »Aber schön haben Sie es hier. Wenn unsere Tante Irma aus London uns mal besuchen kommt, werde ich dafür sorgen, dass sie dieses tolle Zimmer bekommt. Bestimmt mag sie das Hotel. Sie hat übrigens fünf Pudel mit glänzendem Fell«, sprudelte es weiter aus mir heraus. Ich musste Mr Mullen von Blake ablenken. Auch wenn ich keine Ahnung hatte, welches Spiel Blake spielte.

Aber Mr Mullen hörte mir überhaupt nicht zu. »Wer hat das denn offen gelassen?« Er deutete mit dem Kopf zum Fenster. »War hier etwa noch jemand im Zimmer? Meine Unterlagen sind auch ganz durcheinander. Waren Sie das etwa?«

»Oh, das muss der Wind gewesen sein! Das Fenster habe ich offen gelassen. Der Ausblick ist einfach grandios.«

»Es zeigt auf den Innenhof, und bis auf die Wäschetonnen habe ich noch nichts Spannendes entdeckt.« Mr Mullen bewegte sich schnurstracks in Richtung Fenster.

Ohne nachzudenken, stürzte ich hinterher und stieß ihn leicht zur Seite. Er taumelte und musste sich an einem Lehnsessel abstützen. Ich nutzte diese Sekunde der Verwirrung und schaute rasch aus dem Fenster. Blake balancierte das schmale Gesims an der Außenfassade entlang und versuchte, sich zu einem benachbarten Balkon hinüberzuhangeln. Er sah kurz zu mir auf und grinste mich frech an. Erleichtert wollte ich zurücklächeln, aber da fühlte ich schon Mr Mullens Hand in meinem Nacken. Ich wich zurück, schloss eilig das Fenster und zog die Vorhänge komplett zu. Dann stellte ich mich schützend davor. Der Puls schlug mir bis zum Hals, und ich konnte nur hoffen, dass Mr Mullen eine schlechte Nase hatte. Der ganze Raum roch nach Blake.

»Was sollte das denn?«, fragte er genervt und bedachte mich mit einem wütenden Blick.

Ich schluckte.

»Ich glaube, das Wetter schlägt um. Heute Nacht soll es stürmisch werden. Nicht dass der Wind hier noch mehr durcheinanderbringt.« Ich blies die Backen auf und sah wahrscheinlich aus wie ein japanischer Kugelfisch. Oder wie eine Vollidiotin. »Sie als Dubliner haben ja keine Ahnung, wie es hier an der Westküste zugeht. Da weht Ihnen sogar …« Hier musste ich kurz überlegen, denn Haupthaar hatte er ja keins mehr. »Da weht Ihnen sogar der Hut davon.«

»Aber ich trage doch gar keine Hüte!« Mr Mullen sah jetzt noch verwirrter aus und schielte erneut zu den Vorhängen hinüber. Dann trat er dicht an mich heran. Ich wollte ihm ausweichen, aber sein erzürnter Blick hielt mich gefangen. »Caitleen Welsh«, mahnte er mich, »wenn ich feststellen muss, dass mir Unterlagen fehlen oder dass Sie sogar an meinem Rechner waren, wird es sehr unangenehm für Sie. Dann muss ich mir die Praxis Ihres Vaters näher ansehen. Wir vom Amt finden immer einen Fehler. Haben wir uns verstanden?«

Ich konnte nur nicken, weil mein Hals so furchtbar trocken war. Die Sache gefiel mir ganz und gar nicht. Und was immer Blake hier gemacht hatte, ich konnte nur hoffen, dass mich das nicht in noch größere Schwierigkeiten brachte. Dad konnte absolut keine Probleme in der Praxis gebrauchen … ebenso wenig wie ich selbst. Aber dem Anschein nach steckte ich schon wieder viel zu tief im Schlamassel.

»Die Fortbildung geht jetzt weiter. Ich muss zu den anderen Konferenzteilnehmern zurück. Nicht dass mein Dad mich noch sucht. Er wird schnell nervös.«

»Natürlich!« Mit einem breiten Grinsen ließ er von mir ab. Erst jetzt wagte ich, wieder zu atmen. »Zur Sicherheit begleite ich Sie wieder hinunter. Ich möchte vermeiden, dass Sie sich noch mal verlaufen.«

»Mhm«, erwiderte ich, lächelte tapfer und öffnete vorsichtshalber einfach schon mal die Zimmertür. Auf keinen Fall wollte ich mit Mr Mullen allein sein.

Als ich wieder im Vortragsraum saß, atmete ich tief durch. Dad hatte wohlwollend registriert, dass ich wieder anwesend war (zumindest körperlich), und ich tat so, als würde ich mir fleißig Notizen über Lungenleiden beim Rind machen. Meine Hand zitterte immer noch, denn innerlich war ich noch völlig durch den Wind. Die Begegnung mit Mr Mullen hatte mir einen Schreck eingejagt, und das Wiedersehen mit Blake – und auch sein spektakulärer Abgang – war tatsächlich ein Schock für mich gewesen. Ich machte mir Sorgen um ihn und hoffte, dass er sich nicht verletzt hatte. Gleichzeitig grübelte ich, was die ganze Heimlichtuerei von Blake mal wieder sollte. Und in welche Falle ich gerade getappt war. Allerdings kam ich zu keinem sinnvollen Ergebnis, und das lag auch daran, dass mich Mr Mullen nicht aus den Augen ließ.

Am Ende des Tages standen die Konferenzteilnehmer in der Hotelbar zusammen, genehmigten sich ein paar Drinks und tauschten sich über neue Erkenntnisse der Fliegenfischerei aus. Ich hatte mich mittlerweile ein wenig beruhigt und stand gelangweilt daneben, nippte an meinem Apfelsaft und musste mich den neugierigen Fragen meines Dads stellen.

»Wo bist du so lange gewesen?« Dad stellte sein Halfpint auf der Theke ab.

Sicherheitshalber ging ich nicht auf seine Frage ein. »Morgen begleite ich dich wieder zur Konferenz.« Auch ich stellte mein Apfelsaftglas geräuschvoll ab, um meiner Aussage den nötigen Nachdruck zu verleihen.

»Ich dachte, die alten Säcke langweilen dich.« Dad wischte sich über den Mund, um den Schaum aus seinem Bart zu entfernen.

»Geht’s noch lauter?«, zischte ich zurück. Schließlich stand die Truppe des Ministeriums nur drei Schritte von uns entfernt, auch wenn ihre Aufmerksamkeit inzwischen von den Fischpräparaten an der Wand in Anspruch genommen wurde. Sie diskutierten eifrig über die silberne Tafel, an der die erfolgreichsten Angler eingraviert waren. Wahrscheinlich so etwas wie eine Forbes-Liste für Fliegenfischer. Männer können so albern sein … Ich schüttelte den Kopf, bis mir Blake wieder einfiel, der hoffentlich nicht wie eine Fliege an der Außenmauer des Gebäudes klebte, weil ich es noch nicht geschafft hatte, das Fenster wieder zu öffnen. Ich musste unbedingt nachsehen. »Ich gehe schon mal raus. Bestell dir ruhig noch was!«, sagte ich zu Dad.

»Lieber nicht, ich muss noch fahren. Es wird Zeit, dass du deinen Führerschein machst und mich herumkutschierst.«

»Gut. Dann warte eben kurz auf mich, bin gleich zurück.« Ich holte meine Jacke aus der Garderobe und ging nach draußen zum linken Seiteneingang des Hotels. Im Innenhof war zu meiner Erleichterung von Blake keine Spur mehr zu sehen. Aber hinter Mr Mullens Fenster – falls es sein Zimmer war – brannte Licht. Keine Ahnung, ob Blake irgendwie wieder eingestiegen war oder ob Mr Mullen sein Zimmer wieder bezogen hatte. Wie auch immer, so ermahnte ich mich … was Blake dort zu tun hatte, ging mich nichts an. Ich wollte mich ganz sicher nicht mit dem Ministerium anlegen, und ebenso wenig wollte ich, dass Blake sich schon wieder in meinem Herzen einnistete, was mir nach dem aufregenden Nachmittag immer schwerer fiel. Denn meine Sehnsucht nach ihm hatte sich klammheimlich erneut in mir ausgebreitet und schnurrte mit gewisser Genugtuung in meiner Brust.

Kapitel 4

Am nächsten Morgen saß ich mit knurrendem Magen im Konferenzraum. Ich hatte verschlafen, und somit war mir keine Zeit für ein anständiges Frühstück geblieben. Dad hatte mir zwar auf dem Weg zum Auto eine Scheibe Toast mit Marmelade in die Hand gedrückt, aber die konnte nicht annähernd die endlosen und todlangweiligen Vorträge überbrücken. Der dicke Zeiger an der mit metallenen Blumenranken verzierten großen Uhr, kroch nur gemächlich voran.

Tuberkulose war eigentlich ein interessantes Thema, aber ich musste immerzu an Blake denken. Was er wohl gerade machte? Ich schaffte es jedenfalls nicht, mich zu konzentrieren, und mein Blick schweifte zwischen Tür und Uhr hin und her. Erfreulich war lediglich, dass anscheinend nicht nur ich, sondern auch Mr Mullen ziemlich müde war und mich mit unangenehmen Seitenblicken oder gar Gesprächen verschonte. Jedenfalls verschlief er die letzte halbe Stunde der Vorlesung.

Um ein Uhr bewegten sich schließlich alle Konferenzteilnehmer in Richtung Hotelrestaurant. Unauffällig hielt ich immer wieder Ausschau nach Blake, sogar während des Mittagsbüfetts. Wo arbeitete er angeblich? Füllte er Minibars in Hotelzimmern auf? Oh, dieser Typ machte mich wahnsinnig! Bei jedem Hotelangestellten schreckte ich auf, denn auf den ersten Blick sahen alle gleich aus mit ihren schwarzen Hosen und weißen Hemden. Trug Blake gestern eigentlich auch die Hoteluniform?

Warum war ich so verdammt unaufmerksam? Ich ärgerte mich mal wieder so über mich selbst, dass ich zum Erstaunen meines Dads sogar das Dessert ausschlug. Und das, obwohl das Eton Mess mit zerkrümeltem Baiser, Beeren und ganz viel Sahne wirklich verlockend aussah.

Nach dem Mittagessen wollten die Konferenzteilnehmer wieder zum Fliegenfischen am Owenmore River. Jeder erhielt Gummistiefel, eine Angel und den dazu passenden Fliegenköder. Ich hatte kein Interesse an diesem albernen Sport und lehnte dankend ab. Statt Fische zu angeln, wollte ich lieber Blake ködern und hoffte, dass er dann anbiss.

Die Frage war nur, wo er sich versteckt hielt. Die über 48 Zimmer im Hotel zu durchforsten, erschien mir unangebracht. Mit dem riesigen Hotelgrundstück anzufangen, das mehrere Hundert Hektar maß, klang auch nicht wirklich verlockend. Also beschloss ich, zuerst in der Hotelbar nachzufragen, in der ich gestern meinen Apfelsaft getrunken hatte.

In dem gemütlichen Barroom prasselte ein Feuer im Kamin und spendete eine wohlige Wärme. Drei schlichte Bronzeleuchter hingen von der hohen Decke herab und erhellten die holzvertäfelte Public Bar und die Lounge. An den kleinen runden Tischen saß noch niemand. Nur eine junge Frau in weißer Bluse stand hinter der Theke und spülte Gläser. Ihr dunkles Haar hatte sie zu einem lockeren Dutt geschlungen, der sich an der Rückseite der Bar spiegelte. Ich kannte sie schon vom gestrigen Tag. Sie hatte unsere Bestellung aufgenommen und – wie ich vermutete – vorher im Freien Blakes Namen gerufen.

»Hier hat wohl jemand keine Lust zum Fischen.« Das Mädchen griff nach einem weiteren Glas und tauchte es ins Spülbecken.

Ich schüttelte den Kopf.

»Möchtest du vielleicht etwas trinken?«

»Warum nicht? Könnte ich einen Blick in die Karte werfen?«

»Natürlich!« Sie griff unter die Theke und reichte mir die braune Mappe.

»Außerdem suche ich jemanden«, sagte ich so beiläufig wie möglich. Einen wunderschönen Jungen mit schwarzem Haar und den unergründlichsten blaugrünen Augen, denen ich je begegnet bin.

Ich schlug die Getränkekarte auf und hielt sie mir interessiert vors Gesicht. Nur so als Schutzschild, damit niemand auf dumme Gedanken kam, da sich meine Wangen schon wieder verräterisch röteten.

»Hier arbeiten ungefähr sechzig Leute. Wer darf es denn sein?«

»Ähm … ein junger Mann.« Ich linste kurz über den Kartenrand. Das Mädchen lächelte mich an und polierte mittlerweile die Gläser. Dabei hielt sie sich ein Weinglas vor das hübsche Gesicht und untersuchte es auf Wasserflecken.

»Blake ist sein Name.« Ich versteckte mich wieder hinter der Karte und wusste, dass ich ein höchst albernes Verhalten an den Tag legte. Aber ich kam mir in Gegenwart der Barfrau völlig klein und unwichtig vor. Dabei wollte Blake mich doch, oder etwa nicht?

Ich hörte, wie sie das Glas ins Regal stellte und sich anschließend zu mir umwandte. Ich hob den Blick. Die Bedienung warf das Geschirrtuch lässig über die Schultern und stützte die Hände auf dem Tresen ab.

»Meinst du den großen und unglaublich gut aussehenden jungen Mann mit den schwarzen Haaren?« Sie zwinkerte mir zu.

Mir entwich ein abfälliges Zischen, und ich machte eine entsprechende Handbewegung. »Na ja, er ist recht groß, aber … dafür ziemlich schlaksig. Sein T-Shirt spannt über seine Brust, weil er es immer eine Nummer zu klein kauft.« Oh Gott, was Blöderes fiel mir tatsächlich nicht ein. Schlaksig stimmte nicht, und sein Oberkörper … ach ja, ich seufzte, aber schließlich wollte ich ihr Blake nicht gleich auf dem Tablett servieren. Es nervte mich regelrecht, dass sie von ihm angetan war. Dies war mein Revier.

»Er sollte eigentlich schon hier sein.« Das Mädchen schüttelte den Kopf und lächelte wieder. »Aber ständig schwirrt er davon. Dabei hat er versprochen, mir zu helfen, wenn die ersten Gäste zum Afternoon Tea eintrudeln. Es gibt unseren legendären hausgemachten Apple Pie. Willst du schon mal ein Stück? Dürfte gleich fertig sein.«

Großartig. Die Kellnerin war also nicht nur gut aussehend, sondern auch nett. »Später, danke«, murmelte ich missgestimmt und überlegte, ob ich besser hier bleiben oder weiter nach Blake suchen sollte. Jede Minute war schließlich wichtig, bevor ich wieder zur Konferenz musste.

Plötzlich trat Blake aus der Seitentür und gesellte sich zu der jungen Frau hinter dem Tresen, die er zu meiner Erleichterung mit »Hi, Shauna!« recht unspektakulär begrüßte. Er schien sich gerade erst umgezogen zu haben, denn er krempelte sich noch die Ärmel seines weißen Hemdes hoch. Auch in seiner Dienstkleidung sah er unheimlich gut aus. »Das mit dem schlaksig habe ich übrigens gehört. Und dass mir die T-Shirts zu klein sind, muss ich Tantchen mal sagen. Ist mir noch gar nicht aufgefallen, dass sie sich mit der Größe so vertan hat.« Er strahlte über das ganze Gesicht, und ich sah ihm an, dass er um ein Haar in schallendes Gelächter ausgebrochen wäre. Er hatte mich natürlich sofort durchschaut, und ich bezweifelte stark, dass er sich von seiner Tante die T-Shirts kaufen ließ.

»Ich weiß jedenfalls, was sich gegen schlaksige Arme tun lässt.« Shauna kniff Blake in den Bizeps und lachte. »Nämlich Gläser polieren und schwere Tabletts tragen.«

Mein Blick schweifte von den muskulösen Unterarmen zu Blakes Hemdleiste, die nicht bis oben zugeknöpft war, sodass ich seine Kette kurz aufblitzen sah.

»Nun, junge Frau, was kann ich für Sie tun?«, fragte mich Blake. Wie gern hätte ich ihm über die samtweiche Haut gestrichen und die Wange an seine Brust geschmiegt.

»Ich weiß nicht …«, räusperte ich mich, um wieder zur Besinnung zu kommen. Verdammtes Dopamin im Kopf! Eigentlich wollte ich mit Blake allein sein, aber das konnte ich schlecht verlangen. Aber wenigstens konnte ich in seine schönen blaugrünen Augen schauen, deren Aufmerksamkeit nur mir galt und die mich schon wieder in einen Traumzustand versetzten.

»Du bist übrigens mal wieder zu spät«, mischte sich nun Shauna ein.

»Ich hatte eben noch zu tun.« Blake grinste mich wieder an.