Butterbrezeln und Betrüger - Cindy Jäger - E-Book

Butterbrezeln und Betrüger E-Book

Cindy Jäger

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Beschreibung

Ein skurriler Mordfall, eine Amateurdetektivin mit Vergangenheit und jede Menge schwäbischer Humor! Das idyllische Weilheim am Fuß der Schwäbischen Alb ist um eine Einwohnerin reicher: Katrin Schimmelpfennig, ihres Zeichens ehemalige Trickbetrügerin, kann alles – außer Schwäbisch. Damit der Start in ihr neues Leben perfekt wird, sucht sie Anschluss bei den Landfrauen. Doch ausgerechnet in deren Backhäusle liegt plötzlich eine Leiche. Um ihre neuen Bande zu stärken, will Katrin helfen. Also stellt sie private Ermittlungen an und versucht gleichzeitig, der Mordkommission aus dem Weg zu gehen, damit ihre Vergangenheit unentdeckt bleibt. Ein irrwitziger Spagat! Cindy Jägers humorvoller Cosy-Krimi "Butterbrezeln und Betrüger" besticht durch spritzigen Humor, liebenswerte Charaktere und jede Menge Lokalkolorit. Tauchen Sie ein in die malerische Landschaft Schwabens und begleiten Sie die sympathische Amateurdetektivin Katrin bei ihren turbulenten Ermittlungen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 355

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Cindy Jäger wuchs in der Nähe von Leipzig auf und war als Lehrerin in Berlin und Ungarn unterwegs. Heute wohnt sie im idyllischen Weilheim am Fuß der Schwäbischen Alb. Ideen für ihre Krimis und Familiengeheimnisromane findet sie bei ihrer Arbeit als Qualitätstesterin und beim Wandern. Sie möchte noch andere Genres ausprobieren und hätte nichts dagegen, ihre Bücher immer dort zu schreiben, wo sie spielen.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2025 Emons Verlag GmbH

Cäcilienstraße 48, 50667 Köln

[email protected]

www.emons-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Shutterstock/BartTa; Creative Photo Focus

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Christiane Geldmacher, Textsyndikat Bremberg

Übersetzung Deutsch-Schwäbisch: Sylvia Scheufele

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-254-3

Schwaben Krimi

Originalausgabe

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

Prolog

Es war so schwierig, gute Leute zu finden – da ging es der schwäbischen Betrügerbranche nicht besser als dem Daimler.

’s Kätzle lümmelte träge rauchend in dem zerschlissenen Bürostuhl und warf dem Neuen lauernde Blicke zu. Der Junge gab sich cool unter seiner Schildmütze, aber sie war schon zu lange im Geschäft, als dass sie sich davon täuschen ließe. Sein magerer Körper wurde fast vom Besuchersessel vereinnahmt, wodurch er so hilflos wirkte wie ein neugeborenes Katzenbaby. Von draußen näherten sich Schritte, und sie sah, wie sich die blassblauen Augen des Jungen an die einzige Tür hefteten, bis sich das Geräusch wieder in der Ferne verlor. Er zog den Mützenschild noch tiefer ins Gesicht, aber ’s Kätzle hatte bereits genug gesehen. Schmatzend saugte sie an der Zigarette und ließ den Neuen zappeln. Eine Minute. Dann noch eine.

»Also, was geht?«, meldete sich der Junge in einem sorgfältig einstudierten gleichgültigen Tonfall zu Wort.

Schweigen hält er nicht aus, dachte ’s Kätzle, lächelte undurchdringlich statt einer Antwort und blies hellen Rauch in seine Richtung. Mit kaum merklichem Nicken gab sie der dritten Person im Raum ein Zeichen.

Der bärtige Rausschmeißertyp namens Schulzi hatte bisher regungslos neben dem Neuen gestanden. Im toten Winkel, sodass der Junge ihn trotz seiner Körperfülle vergessen zu haben schien. Erschrocken zuckte er zusammen, als sich Schulzis muskelbepackter Arm in sein Blickfeld schob und ihm ein gefaltetes Blatt Papier an die magere Brust drückte. ’s Kätzle rollte mit den Augen, drückte die Zigarette in einem altmodischen Aschenbecher aus und sah zu, wie die Kippe von der Metallklappe verschluckt wurde. Dann wandte sie ihren Blick abermals dem Neuen zu. Zitterten seine Hände, als er das Blatt auseinanderfaltete? Er hatte den Mützenschirm tief ins Gesicht gezogen, darunter konnte sie erkennen, wie sich seine Lippen bewegten, während sein Blick über die Worte glitt.

Ach du meine Güte, dachte ’s Kätzle. Natürlich kannte sie den Ausdruck bereits auswendig.

Lene Bäuerle, 84, verwitwet, Wohnort Weilheim.

Ein Sohn, lebt in Stuttgart. Zwei Enkel, einer macht gerade Abi am Schlossgymnasium Kirchheim, einer studiert Physik in Tübingen. Herz-OP vor vier Jahren. Geht zweimal die Woche zum Koronar-Sport. Pflegedienst einmal die Woche für Arbeiten im Haushalt. Geht jeden Nachmittag zum Bäcker, ein Kaffee und ein süßes Stückle, meistens Flachswickel oder Rosinenzopf.

Der Neue hob ruckartig den Kopf. »Woher wisst ihr das alles? Überwacht ihr die Leute?«, wollte er wissen. »Braucht ihr dafür jemanden? Ich kann mich gut unsichtbar machen. Ich –«

»Du schwätzt zu viel«, unterbrach ihn Schulzi.

’s Kätzle hob die Linke und winkte den Bärtigen heran. Routiniert schüttelte Schulzi eine Zigarette aus der Packung und hielt sie ihr hin. »Unsere Informationsquelle sprudelt auch ohne dich, mein Kleiner«, krächzte sie, während Schulzi ihr Feuer gab.

Normalerweise hätte der Junge sicher gegen so eine Bezeichnung protestiert, aber er verhielt sich ruhig und blickte sie gespannt an. ’s Kätzle beschloss, dass sie genug mit ihm gespielt hatte. Es war Zeit fürs Geschäft.

»Deine Aufgabe ist es, die gute alte Lene dazu zu bringen, uns ein bisschen Geld zu überlassen. Gerne auch ein bisschen mehr.«

Mit der Rechten bediente sie eine kompliziert aussehende Telefonanlage, und Schulzi reichte dem Neuen ohne viel Federlesen den Hörer. Verdattert nahm er ihn entgegen, und seine Augen weiteten sich vor Schreck, als er das Rufzeichen hörte.

»Lene Bäuerle«, knarzte es bereits am anderen Ende.

Der Neue sagte gar nichts, sondern starrte nur den Hörer an.

»Ja? Wer ist denn da?«

»Äh … hallo … Hier ist … äh … Rate mal.«

’s Kätzle nickte. Sie hatte schon geglaubt, er würde seinen richtigen Namen nennen, aber er hatte noch mal die Kurve gekriegt.

Frau Bäuerle hatte indes keine Lust zu raten. »Wer ist denn da?«

»Ich habe schon länger nicht mehr angerufen. Tut mir leid.«

Sehr gut, dachte ’s Kätzle. Vielleicht war doch nicht Hopfen und Malz verloren.

»Und wer bist du?« Die alte Dame am anderen Ende gab nicht klein bei. Entgegen der allgemeinen Annahme war es gar nicht so einfach, alte Leute übers Ohr zu hauen. Von den meisten sahen sie keinen Cent. Man musste lange und ausdauernd die Telefonlisten abarbeiten, damit einem ein gutgläubiger, verängstigter oder dementer Senior ins Netz ging, aber dann konnte es schon mal ein paar Tausender regnen.

»Ich musste so viel lernen …« Der Kleine war nicht schlecht, aber Frau Bäuerle hatte anscheinend wenig Geduld.

»Wenn du mir nicht sagst, wer du bist, lege ich auf.«

»Aber Oma, warum bist du denn so aufgeregt? Das ist doch nicht gut für dein Herz!«

»Nenn mich nicht ›Oma‹! Du bist nicht mein Enkel. Du bist einer von den Betrügern, vor denen die Zeitung warnt!«

»Nein, was –« Weiter kam er nicht, denn das Freizeichen ertönte. »Scheiße«, murmelte der Neue, und Schulzi nahm ihm den Hörer ab.

’s Kätzle ließ die aufgerauchte Zigarette im Aschenbecher verschwinden. Pech gehabt. Das passierte öfter, deshalb machte sie sich keine Sorgen. Der Junge hatte keinen Namen genannt, und die Nummer ließ sich nicht zurückverfolgen. Sie hoffte bloß, dass die Alte keinen zweiten Herzinfarkt kriegte. Mit einer anderen Masche konnten sie es in zwei Wochen erneut bei ihr probieren, und das würde sie dann selbst übernehmen. Vielleicht als Anruferin von der Krankenkasse, wegen einer Medikamentennachzahlung oder so etwas in der Art.

Der Neue sah bedröppelt drein. Sein Gesicht war so jungenhaft unschuldig, dass sie ihn fast getröstet hätte. Aber nur fast. Mit dem Gesicht konnten sie etwas anfangen, es würde noch lange jugendlich aussehen. Jetzt musste man ihn erst einmal einlernen und an der kurzen Leine halten. Und wenn er sich als komplette Katastrophe herausstellte, musste sich Schulzi etwas einfallen lassen.

»Jetzt zeige ich dir mal, wie das geht, Kleiner. Spitz die Ohren.« Sie ließ sich eine Zigarette geben und griff zum Hörer.

Der Junge kramte in seinem Rucksack, zog einen zerfledderten Block samt angeklemmtem Kuli heraus und blickte sie erwartungsvoll an. Und da hieß es, die Jugend von heute hätte keine Lust zu lernen! ’s Kätzle konnte sich ein kaltes Lächeln nicht verkneifen, als sie die nächste Nummer wählte.

Liebesgrüße aus Berlin

Katrin Schimmelpfennig hatte immer von einer kleinen Bar in Manhattan geträumt. New York schien ihr der geeignete Ort, ihrem Leben als Nachtschwärmerin die Krone aufzusetzen. Am besten in einem der Luxushotels, gehobene Klientel inbegriffen. Sie sah die mit Chintz gepolsterten Barhocker vor sich, auf denen Männer in Anzügen und Frauen in figurbetonten Cocktailkleidchen vertraulich miteinander plauderten. Das gedämpfte Licht schluckte nicht nur die Gesichtsfalten ihrer Gäste, sondern auch deren geflüsterte Geheimnisse.

Sicher würden sich Künstler und Prominente, die ihre Diskretion zu schätzen wussten, dorthin verirren. Aber die schillerndste Gestalt würde sie selbst sein. Sie würde sich endlich nicht mehr verstellen müssen, sondern ungeniert ihre geliebten Paillettenkleider tragen, an einem angesagten Trendcocktail nippen und verrucht rauchend die Gäste beobachten.

Ein lautes Hupen riss sie aus ihren Tagträumen und machte ihr deutlich, dass sie sich nicht in der amerikanischen Glitzermetropole befand, sondern in der schwäbischen Provinz.

»Dädet Se vielleicht amol von dr Stroß ronterganga?«

Irritiert lüftete sie ihre Sonnenbrille. Die Aprilsonne brachte sie zum Blinzeln, und sie sah kaum den schwarzen Daimler, der fast die ganze Gasse ausfüllte. Ohne es zu merken, musste sie vom Fußweg auf die Straße getreten sein. Was nicht verwunderlich war, denn beides befand sich auf gleicher Ebene. Außerdem waren Fußwege und Straßen winzig im Vergleich zu den Dimensionen, die sie aus Berlin kannte, wo sie den größten Teil ihres Lebens verbracht hatte.

Ein Doppelhupen schallte durch die enge Gasse, und der Fahrer gestikulierte auffordernd. Katrin zwinkerte ihm zu und setzte sich mit einem gekonnten Hüftschwung in Bewegung, woraufhin er dicke Backen machte. Ganz so glorreich war ihr Abgang allerdings nicht, denn der dünne Absatz ihrer Schlangenlederpumps blieb im Straßenpflaster stecken. Mit einem wenig damenhaften Ruck befreite sie ihren Schuh und betrachtete das Malheur, während der Daimler vorbeiglitt und seitlich vor der Bäckerei Scholderbeck einparkte.

»Klasse«, fauchte sie, »jetzt hat Weilheim mein drittes Paar Pumps ruiniert!«

Der ältere Daimlerfahrer, gediegen in teuren schwarzen Lederschuhen, dunkelblauer Stoffhose und Strickpullover aus Kaschmir, stieg aus seiner Limousine, als würde ihm die ganze Gasse gehören, und betrachtete sie ungläubig von Kopf bis Fuß. Aus Gewohnheit taxierte ihn Katrin und kam schnell zu dem Schluss, dass er zwar wohlhabend war, sein Geld aber nicht leichtfertig zum Fenster hinauswerfen würde. Also kein Kandidat zum Anbandeln und Ausnehmen, selbst wenn sie diese Routine nicht vor geraumer Zeit in Berlin zurückgelassen hätte wie alles andere.

Mit einer fließenden Bewegung schob sie sich die Sonnenbrille ins Gesicht und strafte ihn mit Nichtachtung, indem sie sich dem Gebäude auf der anderen Straßenseite zuwandte. Das Schild in einem der Ladenfenster zeigte die Aufschrift »Nachmieter gesucht«. Vor ein paar Tagen noch hatte hier ein Restaurant, das auf zeitgenössische Küche setzte, seine letzten Gäste bedient. Katrins Freundin Eva hatte ihr beim Frühstück von der Schließung erzählt. Als sich Eva auf den Weg zur Flaschnerei ihres Mannes gemacht hatte, wo sie das Büro betreute, hatte Katrin nicht lange überlegt. Was, wenn sie ihre Bar einfach in Weilheim eröffnete?

Nun gab ihr allerdings die Tatsache zu denken, dass ausgerechnet das zeitgenössische Restaurant geschlossen hatte, während Wirtschaften namens »Zur Ratsstube« oder Gasthof »Zur Post« anscheinend brummten. Die Lage wäre ideal, aber was nützte ihr das, wenn die Gehwege bei Sonnenuntergang hochgeklappt wurden? Außerdem war ihr aufgefallen, dass die Preise im idyllischen Weilheim denen in New York in nichts nachstanden. Selbst wenn sie ihre Sammlung an Designer-Handtaschen veräußerte, würde sie sich den Preis für die Räumlichkeiten vermutlich nicht lange leisten können. Nicht wenn sie außerdem eine eigene Wohnung brauchte, die sie bezahlen musste. Und erst einmal eine finden!

Auf einmal kam es ihr viel leichter vor, nach Berlin zurückzukehren und einfach dort weiterzumachen, wo sie aufgehört hatte. Allerdings war ihre bisherige Tätigkeit der Grund gewesen, die Hauptstadt in einer Nacht-und-Nebel-Aktion zu verlassen.

Der Gedanke ernüchterte sie. Sie ließ sich auf einen der übergroßen Steinguttöpfe sinken, die überall im Städtle standen und mit leuchtend bunten Stiefmütterchen bepflanzt waren. Im Gegensatz zu Berlin gab sich Weilheim alle Mühe, dass sich seine Bewohner so wohl wie möglich fühlten. Alle Geschäfte in der Altstadt, samt ihren gediegenen Aushängeschildern, sahen achtbar und ordentlich aus, seit Generationen liebevoll gepflegt. Im Gegensatz zu mir, dachte Katrin bitter.

Das saubere Kopfsteinpflaster fraß ihre teuren Designerschuhe. Beim Anblick der schmucken Fachwerkhäuser vermisste sie die edlen Bars und die Luxushotels in Berlin so sehr, dass sich ihr Brustkorb schmerzhaft zusammenzog. Selbst die kleinen gelben und lilafarbenen Stiefmütterchen blickten sie mitleidig aus ihren Kübeln heraus an, und sie wünschte sich die roten Rosen ihrer Verehrer, ja, ihr ganzes Leben in der Hauptstadt zurück.

»Aber das habe ich mir selbst gründlich versaut«, murmelte sie vor sich hin und presste die schwarze, elegant abgesteppte Handtasche von Chanel an ihre Brust. Selbst der Duft frischer Brezeln vom Scholderbeck konnte sie nicht aufheitern. Sie hatte in Berlin verbrannte Erde zurückgelassen und saß, weil ihr für einen glorreichen Neuanfang das Geld fehlte, in der schwäbischen Provinz fest, wo sie niemand haben wollte.

»Stimmt ja gar nicht!« Ihre Freundin Eva hatte sich riesig gefreut, als sie vor sechs Wochen mit zwei schrankähnlichen Koffern, ihrer Reisetasche von Louis Vuitton und der kleinen Chanel zu den Gscheidles gezogen war. Und Katrin freute sich noch viel mehr, ihre älteste und einzige Freundin jeden Tag zu sehen. Nur deshalb war sie noch nicht weitergezogen. Um Evas willen musste sie sich endlich aufraffen und sich in Weilheim etwas aufbauen. Wenn keine Bar, dann eben etwas anderes!

Sie strich sich den Rock glatt und blickte sich um. Vorbei an der Peterskirche zu einer Reihe Fachwerkhäuser, in denen eine Apotheke und eine Bibliothek untergebracht waren. Weil sie Weilheim nicht noch mehr von ihrem Absatz opfern wollte, stöckelte sie langsam über das Pflaster.

»Ich könnte eine kleine Boutique eröffnen«, sprach sie mit sich selbst und bog in eine Gasse ein, die sich als Ring durch die Weilheimer Altstadt zog. Allerdings gab es bereits zwei Modeläden. Würde der Ort einen dritten verkraften? Und wäre die Kundschaft an den Kleidungsstücken, wie sie Katrin vorschwebten, überhaupt interessiert? Seit sie in Weilheim wohnte, hatte sie noch keine Paillette, keinen Strass und kein Schlangenleder gesehen, außer an sich selbst.

Einen Tierarzt gab es noch, und nachdem sie einen Physiotherapeuten, eine Eisdiele und einen Optiker passiert hatte, war sie wieder an ihrem Ausgangspunkt angelangt. Das war wohl nix, dachte sie niedergeschlagen. Als wäre das nicht genug, begann ihr Magen zu knurren.

Entschlossen nahm sie die zwei Stufen zum Scholderbeck. Wenigstens ihren Hunger konnte sie gleich besänftigen. »Aushilfen gesucht«, stand neben dem Schild mit den Öffnungszeiten, aber so kleine Brötchen würde eine Katrin Schimmelpfennig nicht backen, schwor sie sich. Nicht, nachdem sie ihr ganzes Leben lang sozusagen selbstständig gewesen war. Und die Öffnungszeiten erst. Sechs Uhr! Da sollte sie schon aufgebürstet hinter dem Tresen stehen und gute Laune beim Brötchenschmieren verbreiten? Niemals.

Sie kaufte einen schwarzen Kaffee und eine Butterbrezel, ließ sich unter den Kastanien vor der Peterskirche auf der bequemen Bank nieder und dachte nach. Statt Drinks oder heiße Fummel zu verkaufen, müsste man den Leuten eher einen Service anbieten, sinnierte sie kauend. Die Verkäuferin hatte mit der Butter nicht gespart, und Katrin merkte, wie sich ihr Lippenstift langsam in Fett und Salz auflöste. Ihre Idee ging jedenfalls in die richtige Richtung. Für eine Dienstleistung brauchte man nicht unbedingt ein teures Ladengeschäft, und man musste auch nichts investieren außer Zeit. Davon hatte sie wahrlich genug! Die Butterbrezel brachte ihren Blutzuckerspiegel in Ordnung, und ihre Gedanken gaben ihr überdies neuen Auftrieb.

Die Weilheimer wussten es noch nicht, aber Katrin Schimmelpfennig befand sich im Städtle, und sie hatte jede Menge zu bieten. Sie musste sich nur überlegen, was genau.

***

Man darf die Weilheimer nicht mit den Berlinern vergleichen, dachte Katrin, als sie am späten Nachmittag neben ihrer Freundin Eva im Auto saß. Sie war in Gedanken einen Schritt zu weit gegangen. Bevor sie darüber nachdachte, wofür sie den Weilheimern Geld abknöpfen konnte, musste sie erst einmal Marktforschung betreiben. Und sie wusste auch genau, wo sie damit beginnen würde.

Eva arbeitete tagsüber im Büro ihres Mannes und gab abends zweimal die Woche Sportkurse. Katrin hatte sich zum Mitmachen breitschlagen lassen, weil sie Zeit mit Eva verbringen wollte und sonst nichts zu tun hatte. Im Allgemeinen hielt sie von sportlicher Betätigung ungefähr genauso viel wie von ehrlicher Arbeit. Aber heute hatte sie Hintergedanken, ihr zukünftiges Business betreffend, und freute sich fast darauf.

»Was steht gleich noch mal auf dem Plan?«, fragte sie Eva und richtete im Rückspiegel ihr himbeerfarbenes Stirnband, das einen wunderbaren Kontrast zu ihren hellen Haaren und den blauen Augen bildete.

»Seniorengymnastik«, erwiderte Eva ernst, aber die Lachfältchen um ihre braunen Augen zeigten Katrin, dass sie auf den Arm genommen wurde, was sich nur Eva erlauben durfte.

»Genau das Richtige für mich«, seufzte sie und gab es auf, ihre blond gefärbten Strähnen malerisch drapieren zu wollen.

»Ich mache noch eine Sportskanone aus dir«, lachte Eva und fuhr auf den Parkplatz vor dem Fitnessstudio am Ortsrand.

Die Marktforschung kann beginnen, dachte Katrin, sich die manikürten Hände reibend und bereit, sofort loszulegen. Allerdings erhielt ihr Enthusiasmus einen kleinen Dämpfer, als eine groß gewachsene Frau mit verkniffenen Lippen den Raum betrat und ganz hinten ihre Matte ausbreitete. In ihrem krausen brünetten Haar zeigte sich das erste Grau. Katrin wusste, dass sie Verena hieß und immer als Erste im Sportkurs erschien. Wie jedes Mal musterte sie Katrin von oben bis unten, legte dabei die Stirn in Falten und sagte nichts.

Katrin hatte keine Lust, sich mit ihr zu unterhalten, Marktforschung hin oder her. Sicher dachte diese Verena, ein himbeerfarbenes bauchfreies Top wäre nichts für eine Frau in Katrins Alter. Diese blickte zufrieden an sich herunter. Das Top zeigte nur einen kleinen Streifen Bauch, und die schwarzen Leggings mit raffiniert gesetzten Nähten betonten ihre schlanken Beine und ließen sie athletischer wirken, als sie tatsächlich war. Katrin hatte jahrelange Erfahrung darin, sich bestmöglich in Szene zu setzen. Wenn sie genauer darüber nachdachte, war das vermutlich sogar die einzige Fähigkeit, mit der sie auftrumpfen konnte. Sie würde sich ganz sicher nicht als Mauerblümchen ausgeben, auch wenn das bei den Weilheimern besser ankam.

Sie ignorierte Verena und versuchte, mit den anderen Frauen ins Gespräch zu kommen. Die kamen allerdings in Grüppchen an und erwiderten zwar freundlich Katrins Begrüßung, blieben aber unter sich. Vermutlich kennen sie sich schon seit der Grundschule, dachte Katrin, aber ihr Ehrgeiz war geweckt. Angestrengt lauschend verfolgte sie die Gespräche.

In Grüppchen eins ging es darum, dass der Scholderbeck einfach keine neuen Leute fand. »Koiner will mehr schaffa«, ereiferte sich eine Frau Anfang fünfzig mit eisengrauem Dutt. Katrin hatte sie schon oft hinter der Bäckertheke gesehen, wenn sie sich ihren morgendlichen Kaffee holte. Das war meistens so um die Mittagszeit. Der Bäcker war selbst schuld, wenn er so früh aufmachte. Wer tat sich die Arbeitszeit freiwillig an?

Wenn sie sich das nächste Mal eine Brezel holte, würde Katrin die Eisengraue jedenfalls in ein Gespräch verwickeln. Ein gemeinsames Gesprächsthema, den Sportkurs, hatten sie schon. Oder sie konnte ihr einen guten Friseur im benachbarten Kirchheim empfehlen, denn der Dutt tat wirklich gar nichts für ihr Gesicht. Katrin wandte sich dem zweiten Grüppchen zu, aber dort beglückwünschte man eine ältere Frau mit drahtiger Figur gerade zum neuen Enkelkind. Zu diesem Thema hatte Katrin nichts zu sagen. Sie speicherte alle Gesprächsthemen ab und nahm sich vor, bis nächste Woche das ein oder andere zu recherchieren. So hatte sie es immer gemacht, wenn sie … geschäftlich in Berlin unterwegs gewesen war.

Mittlerweile waren sie vollzählig. Katrin ließ den Blick weiterschweifen. Vor dem Regal mit den Faszienrollen unterhielt sich Verena mit einer molligen Teilnehmerin in einem engen gelben Top und leuchtend grünen Leggings. Die junge Frau hielt verkrampft die Arme vor den Körper und wandte den anderen den Rücken zu. Vielleicht ziehst du dich besser nicht an wie die brasilianische Flagge, wenn du keine Aufmerksamkeit willst, dachte Katrin mitleidig. Sie hätte ihr gern noch den Tipp gegeben, immer nur ein auffälliges Teil zu tragen, war sich aber sicher, dass sie ihr mit dem gut gemeinten Ratschlag keine Freude gemacht hätte. Außerdem unterhielt sich Verena mit ihr, ohne sie hochnäsig von Kopf bis Fuß zu mustern. Ja, in ihrer Gegenwart wurde die Mollige sogar merklich lockerer.

Katrin kam in den Sinn, dass Verena vielleicht keinen Anstoß an ihrem modischen Sportoutfit nahm, sondern an ihr selbst. Konnte das sein? Sie blickte sich um. Alle schwätzten munter miteinander, nur sie stand mitten im Raum wie bestellt und nicht abgeholt. Für gewöhnlich kam Katrin in Gegenwart anderer Menschen so richtig in Fahrt, aber plötzlich fühlte sie sich schrecklich einsam. Alles fühlte sich verkehrt an, seit sie Berlin verlassen hatte.

Eva hatte sich zum Telefonieren in eine Ecke zurückgezogen. Dort lagerten Medizinbälle verschiedener Größe und erinnerten Katrin unangenehm an den Schulsport. Unschlüssig stand sie herum. Sie war schon drauf und dran, ihre Matte zusammenzurollen und in den nächstbesten Zug Richtung Berlin zu steigen, als Eva ihrem Elend ein Ende bereitete und sie alle zum Aufwärmen »Kirschen pflücken« ließ.

Während sich Katrin so groß wie möglich machte und die Arme Richtung Decke streckte, kehrte ihr Kampfgeist zurück. Die Provinzler für sich einzunehmen, war schwerer als gedacht. Na und? Was war in ihrem Leben schon einfach gewesen? Katrin schob den Gedanken beiseite und beschloss, sich die Menschen einzeln vorzunehmen. Die mollige Brasilienflagge war ihre erste Wahl. Außer dieser Verena schien sie im Kurs niemanden zu kennen. Zuerst würde sie ihr ein Kompliment zur Wahl ihrer Leggings machen, vielleicht fragen, wo man sie bekam, und alles Weitere würde sich schon ergeben.

Katrin versuchte, sich an ihren Namen zu erinnern, auch um sich von Evas Übungen abzulenken, die ihre nicht vorhandenen Bauchmuskeln zum Schreien brachten. Sie musste sich furchtbar anstrengen, mit den anderen mitzuhalten und sie nicht merken zu lassen, dass sie außer einem klasse Outfit im Sportkurs nichts zu bieten hatte.

Eva erlöste sie schließlich und verabschiedete den Kurs bis zur nächsten Woche. Mit einem Blick rief sie Katrin zu sich. »Hast du heute Abend schon was vor?«

Katrin blickte zur Uhr über dem Eingang. »Was kann man nach sechs denn in Weilheim unternehmen?«

»In der ›Post‹ ist heute Schnitzelabend, und meine Jungs wollen hingehen. Was hältst du davon?«

»Ich bin dabei.«

»Allerdings muss ich heute eine Kollegin vertreten, aber das ist nur eine halbe Stunde Rehasport. Du kannst dich frisch machen und an der Bar warten. Oder du machst mit …«

»Frisch machen und Bar klingt hervorragend!«, erklärte Katrin rasch, und Eva grinste. Ihre Freundin sah immer noch taufrisch aus, obwohl sie jede Übung mitmachte. Heute sah sie sogar besonders rosig aus, und sie brauchte noch nicht einmal ein himbeerfarbenes Top dafür.

»Du bist selbstverständlich eingeladen.«

Katrin wollte fragen, ob es etwas zu feiern gebe. Auswärts zu essen gönnten sich die Gscheidles selten, noch dazu mitten in der Woche. Jedoch war Eva damit beschäftigt, alle Verabschiedungen zu erwidern, während sie den Raum für die nächste Gruppe vorbereitete.

Katrin nahm sich ein Beispiel an ihr. Bis nächste Woche würde sie sich überlegen, wie sie ihre geheime Marktforschung effizienter durchführen konnte.

***

Nach der körperlichen Folter genoss sie eine heiße Dusche und hielt ihr Gesicht gekonnt vom Wasserstrahl fern. Ihr Make-up hatte unter dem Trainingsschweiß schon genug zu leiden gehabt. Aber da gab es etwas, worauf sie sich freuen konnte. Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet im Fitnessstudio eine Bar zu finden war? Hastig trocknete sie sich ab und zwängte sich in ihren Lederrock. Erinnerungen an wilde Nächte in Berlin wurden wach. Was sie im hinteren Teil des Studios erwartete, war allerdings eine einzige Enttäuschung: »VITAMIN-BAR«, stand auf dem Schild, umrahmt von Bananen, Kiwis und anderen Früchten, die Katrin sofort unsympathisch waren.

Der Tresen war ganz in Weiß gehalten und gut ausgeleuchtet. Vermutlich um die Muskeln und Sehnen des Barkeepers, der auch als Bodybuilder durchgehen konnte, in Szene zu setzen. Leider auch jede Falte und ihr fleckiges Make-up, das sich nach einem Tag voller Enttäuschungen langsam zersetzte. Ein Blick auf die Getränkekarte offenbarte Katrin, dass ihr auch Alkohol nicht helfen würde, dieses ganze Elend zu vergessen, weil es gar keinen gab.

Damit nicht genug, erkannte sie am anderen Ende des Tresens Verena, die sie musterte und sich dann wieder etwas zuwandte, das aussah wie ein Milchshake.

»Ist gerade Happy Hour?«, flapste Katrin in Richtung des Bodybuilder-Barkeepers und setzte sich so weit wie möglich von Verena weg.

Der grinste jungenhaft, obwohl er ungefähr Katrins Alter haben musste, und schüttelte den Kopf. »Diesen Monat ist Gratis-Verkostung für unsere neuen Eiweiß-Eistees. Haben Sie Lust?«

Katrin lief nicht gerade das Wasser im Mund zusammen, aber sie schaffte es, sich ein begeistertes Nicken abzuringen. »Ich bin schon gespannt.« Diesen Ort eine Bar zu nennen, war eine unverzeihliche Frechheit.

Während der Barkeeper mit dem Rücken zu ihr mehrere ominöse Pulver in Probiergläser schüttete und mit Wasser aufgoss, zog sich Katrin rasch die Lippen nach. Der ins Pink gehende Rotton ließ ihre Zähne strahlend weiß wirken. Zufrieden klappte sie ihren Taschenspiegel zu und bemerkte Verenas kritischen Blick.

Langsam hatte Katrin genug von ihr. Ja, sie war fast vierzig, aber blondierte Haare und roter Lippenstift gehörten zu ihr und würden es auch noch tun, wenn sie hundert Jahre alt wäre.

Ihr lag eine zickige Bemerkung auf den Lippen, da stellte der Bodybuilder ein Tablett mit mehreren Gläschen vor sie hin. Katrin beschloss, sich nicht weiter über das Mauerblümchen vom Land zu ärgern und die schönen Seiten des Lebens zu genießen. So schön, wie es in einem Ort ohne echte Bar oder echtes Nachtleben sein kann, dachte sie bissig und probierte einen Schluck.

»Nicht schlecht.« Für Eistee. »Was Stärkeres gibt’s hier nicht?«

»Ist das Beste für starke Muskeln.«

Katrin seufzte und kippte das nächste Glas so schnell hinunter, dass sie sich verschluckte. So etwas Furchtbares hatte sie noch nie getrunken. Der künstliche Geschmack nach Erdbeeren und ein undefinierbarer Beigeschmack lösten einen Würgereiz aus. Kein Wunder, dass sie die »Eistees« gratis ausschenkten! Unauffällig wischte sie sich die Eisteereste von Mund und Kinn.

»Ähm, dürfte ich die Eistees auch probieren?«, kam es von der Seite.

»Klar doch«, erwiderte der Barkeeper und wandte sich abermals um, sodass Katrin seine ausgeprägten Nackenmuskeln bewundern konnte.

Wieder einmal überkam sie das Gefühl, an einem Ort zu sein, wo sie nicht hingehörte. Bei dem Typen traten Muskeln an Stellen hervor – dass man da überhaupt welche trainieren konnte! Sie hatte vermutlich nicht mal an den Körperstellen welche, die dafür bestimmt waren. Und daran würden auch Evas Kurse und die Eiweiß-Eistees nichts ändern. Wem machte sie hier etwas vor? Nur der Gedanke, später ihr Schnitzel mit einem schönen Glas Rotwein oder einem Obstbrand herunterzuspülen, tröstete sie.

Aus dem Augenwinkel nahm sie eine Bewegung wahr. Verena war zur Mitte des Tresens aufgerückt und betrachtete sie mit zusammengekniffenen Augen. Katrin blickte herausfordernd zurück. Da näherte sich Verenas Zeigefinger ihrem Gesicht.

»Ihr … ähm … Lippenstift ist …«

»… zu auffällig?«, beendete Katrin patzig den Satz.

Alle Dämme waren plötzlich gebrochen. Wenn diese Verena sie die ganze Zeit schief ansah, dann von der Seite anquatschte und auch noch mit dem Finger auf sie zeigte, musste sie sich nicht wundern, wenn Katrins ganzer Frust über sie hereinbrach!

»Äh, nein … aber …«

»Zu unpassend?«, giftete Katrin und kam richtig in Fahrt.

»Ich … äh …«

»Sie finden, eine Frau in meinem Alter sollte so etwas nicht tragen?«

»Aber nein …«

»Und wer sind Sie, dass Sie mir das vorschreiben wollen?« Katrin hatte große Lust, die hagere Landpomeranze bis aufs Blut zu triezen.

Verena lief puterrot an und holte tief Luft. »Wenn ich so umwerfend aussehen würde wie Sie, würde ich auch roten Lippenstift tragen, wirklich.«

Katrin war so verblüfft, dass ihr keine Erwiderung einfiel. Was im nüchternen Zustand noch nie vorgekommen war.

»Ich wollte nur sagen –«, fuhr Verena fort, aber weiter kam sie nicht.

Eva war aufgetaucht und hatte Katrin den Arm um die Schultern gelegt. »Ich hoffe, du hast nicht zu viele Proteinshakes getrunken! Das beste Schnitzel im Städtle wartet auf dich.«

Katrin ließ die restlichen Eistees stehen und erhob sich. »Ist noch genug Platz dadrin«, versicherte sie Eva und zeigte auf ihren von Evas hartem Training gestrafften Bauch, was ihrer Freundin ein sonderbares Lächeln entlockte.

»Dann lass uns schnell fahren. Meine Jungs warten sicher schon. Bis nächste Woche, Verena! Ade.«

Katrin nahm Eva eine ihrer Taschen ab und stöckelte Richtung Ausgang, ohne sich noch einmal umzudrehen. Sie fühlte bereits, dass sie nächste Woche um diese Zeit furchtbare Kopfschmerzen haben und leider keinen Sport machen könnte. Die Marktforschung würde ausfallen.

***

»Oh, warte! Du hast Lippenstift am Kinn, und nicht zu knapp«, sagte Eva, als sie am Gasthof »Zur Post« ankamen. Sie holte ein Taschentuch hervor und wischte ihrer Freundin übers Kinn. Katrin wurde warm ums Herz, wie immer, wenn Eva ihr so etwas wie mütterliche Fürsorge angedeihen ließ. Dann zwackte sie das schlechte Gewissen, weil sie Verena, die auch nett zu ihr hatte sein wollen, so angeraunzt hatte. Genervt zuckte sie mit den Schultern. Was soll’s? Sie wird’s schon überleben, dachte sie und packte die Episode zu allen anderen, die mit schlechtem Gewissen zu tun hatten.

Der Duft frisch gebratener Schnitzel und der Lärm zahlreicher Gäste drangen durch die Gasthaustür nach außen. Der Schnitzeldienstag musste das Highlight der Weilheimer Woche sein.

Evas Jungs, Ali und Darian, und ihr Mann Ghobard saßen schon erwartungsvoll über ihren Speisekarten.

»Ich hab dir einen Platz freigehalten, Tante Katrin«, quiekte Darian durchs Lokal und zeigte neben sich auf die Bank.

Katrin quetschte sich hinein, und er lächelte selig. Evas Kinder waren die einzigen, mit denen sie etwas anfangen konnte. Bevor sie nach Weilheim gekommen war, hatte sie die beiden Jungs nur auf Bildern gesehen oder wenn die Gscheidles Urlaub in Berlin gemacht hatten. Ali, der Ältere, beachtete sie kaum. Aber Darian hatte aus unerfindlichen Gründen einen Narren an ihr gefressen.

Ghobard begrüßte Eva mit einem Kuss. Sicher war er seit dem frühen Morgen unterwegs gewesen, hatte Rohre verlegt, Abflüsse repariert und Badvorrichtungen installiert. Auch Eva war fleißig gewesen, hatte Aufträge in der Flaschnerei bearbeitet, sich um die Kinder gekümmert und dann ihre Sportkurse gegeben. Und was hatte Katrin den ganzen Tag gemacht?

Sie schob den Gedanken beiseite, weil sie sich nicht wieder ärgern wollte, schon gar nicht über sich selbst.

»Gibt’s was zu feiern?«

»Ja!«, rief Ghobard begeistert. »Aber lasst uns erst mal bestellen. Hast du Lust auf ein Glas Wein zum Anstoßen?«

Katrin ließ sich nicht zweimal fragen. Evas Jungs hatten sich ihre Schnitzel schon ausgesucht, also steckte sie rasch die Nase in die Speisekarte. Die Extra-Karte mit den Schnitzeln machte die Entscheidung nicht leichter. Sie entschied sich für Zwiebelrostbraten mit Spätzle, das schien ihr nach dem ganzen Sport und den gesunden Eiweiß-Eistees angemessen. Ghobard schloss sich ihr an, die Jungs bestellten Schnitzel mit Pommes und Eva einen großen Salat mit Maultasche.

Ghobard war ganz hibbelig. Katrin fragte sich, ob er vielleicht einen großen Auftrag für die Flaschnerei an Land gezogen hatte. Die Kellnerin brachte die Getränke, und Ghobard hielt sein alkoholfreies Bier hoch.

»Was feiern wir denn jetzt?«, wollte Darian wissen. Sein Bruder hatte eine gleichgültige Miene aufgesetzt.

»Eure Mama möchte euch etwas ganz Tolles sagen.«

Auf dem Gesicht seines Ältesten zeichnete sich Misstrauen ab, und auch Katrin schwante Ungeheuerliches.

»Wir fahren ins Disneyland nach Paris?«, quiekte Darian.

»Nein. Ihr bekommt ein Geschwisterchen. Das wollen wir feiern.«

»Juhu!«, krähte Darian.

Ali verzog das Gesicht. Ihm war deutlich anzusehen, dass er zwischen »Ihr seid zu alt für so was« und »Ich teile mein Zimmer nicht« schwankte.

Katrin konnte es ihm nachfühlen.

»Okay«, war alles, was er herausbrachte.

Auch Katrin brauchte mehr als einen Moment, um sich zu fassen. Damit hatte sie als Allerletztes gerechnet. Sie riss sich jedoch zusammen, umarmte Eva fest und gratulierte ihr. »Das Essen geht auf mich. Nein, keine Widerrede!« Plötzlich hatte sie ein schlechtes Gewissen, sich von den Gscheidles einladen zu lassen. Nicht jetzt, wo sie für ein drittes Kind sorgen mussten.

»Ich will eine Schwester«, stellte Darian fest. »Der kann ich die Haare machen.«

»Es wird sehr lange keine Haare haben«, erwiderte Ali düster und brachte seine Eltern damit zum Lachen.

Katrin wollte sich das kleine, haarlose Ding lieber nicht vorstellen. »Du kannst auch einem Brüderchen die Haare machen.«

Darian blickte zu seinem älteren Bruder und schüttelte bedauernd den Kopf.

Ali warf ihm einem Blick zu, der jedem ein schreckliches Schicksal ankündigte, der es wagte, sich seiner sorgfältig gegelten Tolle auch nur zu nähern.

»Und nach Disneyland fahren wir jetzt auch nicht.«

Katrin beugte sich zu ihm hinunter. »Aber Darian, du kannst mit dem neuen Baby machen, was du willst. Du bist sein älterer Bruder«, flüsterte sie ihm ins Ohr, und er strahlte wieder.

»Wann ist das Baby denn da?«, fragte Katrin mehr aus Pflichtgefühl denn aus ehrlichem Interesse. Warum konnte sie sich nicht für ihre beste Freundin freuen? Eva und ihr Mann strahlten vor Glück. Katrin hingegen bekam nur ein gezwungenes Lächeln hin. Sie war die mieseste, selbstsüchtigste und nutzloseste Freundin aller Zeiten! Eva verdiente etwas Besseres.

Um die fehlenden Glücksgefühle einer werdenden Tante zu kompensieren, stellte sie Eva jede Frage, die ihr einfiel, und versprach ihr, sie zum Arzt zu fahren, falls Ghobard keine Zeit hätte. Außerdem stellte sie in Gedanken bereits eine niedliche, wenn auch nicht besonders nützliche Garderobe für das Baby zusammen.

Als der Rostbraten kam, merkte sie, dass sie gar keinen Hunger mehr hatte. Das zarte Fleisch schien sich beim Kauen in Leder zu verwandeln, und die Spätzle wurden immer mehr im Mund. Trotzdem aß sie tapfer alles auf, denn sie wollte Eva keinen Grund geben, sich zu wundern.

Reiß dich zusammen, Schimmelpfennig!, schalt sie sich und nahm sich vor, den Gscheidles unter die Arme zu greifen. Und das fing damit an, dass sie entweder nach Berlin zurückging, weiterzog oder sich ernsthaft um eine eigene Wohnung in Weilheim bemühte.

***

Zurück im Haus der Gscheidles begab sich Katrin rasch in ihr Refugium im ausgebauten Dachgeschoss. Eva und Ghobard hatten nicht viel Zeit für sich, und Katrin kam sich heute einmal mehr vor wie das fünfte Rad am Wagen. Sie war überflüssig. Schlimmer noch, sie nahm den Gscheidles Platz weg.

Aber das allein war nicht der Grund für ihre heftige Verstimmung. Warum bekam sie Bauchschmerzen, wenn sie an Evas Baby dachte? Ob die Gscheidles nun zwei oder drei Kinder hatten, machte doch wirklich keinen Unterschied. Aber zum einen war da die Sorge, dass Eva etwas passieren konnte. Das wollte sie sich gar nicht ausmalen! Und zum anderen … Katrin gefiel der Gedanke nicht, der sich in ihrem Kopf anbahnte.

Sie öffnete den Einbauschrank und kramte in ihrer Louis-Vuitton-Tasche im oberen Regal. In einer der Innentaschen befanden sich ein antikes Prepaid-Handy, das sie von Anfang an für Geschäftliches benutzte und auf dessen Tasten kaum noch die Nummern zu erkennen waren, sowie ein kleines, in rotes Leder gebundenes Buch. Katrin wollte das Handy in die Tasche zurücklegen, hielt jedoch inne, um das Gerät doch zum Laden anzuschließen. Sie legte sich mit dem Büchlein aufs Bett. Es enthielt alle ihre Kontakte in Berlin. Genauer genommen waren es weniger »Kontakte« als vielmehr ihre … geschäftlichen Begegnungen in Berlin. In der ersten Spalte standen die Namen von Männern.

Sie hatte das Büchlein angelegt, um sich zu erinnern, welchen Mann sie wo getroffen hatte. Deren Berufe, was sie nach Berlin geführt hatte und wo sie eigentlich wohnten, stand auch darin. Dann noch, welchen Namen Katrin benutzt und welche Perücke sie getragen hatte. Und zu guter Letzt, wie viel Geld sie jedem Einzelnen abgeknöpft hatte. Das war fast zwanzig Jahre lang ihr Geschäftsmodell gewesen. Ein passendes Männeropfer finden, vorzugsweise auf der Durchreise, bezirzen, ausnehmen und auf Nimmerwiedersehen verschwinden.

Sie blätterte zur Seite vor, die ihre letzten Beutezüge markierten. Mit dieser Seite war alles bergab gegangen. Darauf standen Informationen zu vier Männern, die tatsächlich in Berlin lebten, genau wie sie. Anzufangen, die Einheimischen auszunehmen, war ihr größter Fehler gewesen, und so war es gekommen, wie es einmal kommen musste: Einer der Männer auf dieser letzten Seite hatte ihre Wohnadresse herausgefunden und angefangen, sie zu stalken. Dabei blieb er im Verborgenen, immer da, aber nicht greifbar. Ein bedrohlicher Schatten, der in Katrins Vorstellung mal dieses und mal jenes Gesicht annahm.

War ihr Stalker Mathias Melzer, angeblich Star-Fußballtrainer, in Wahrheit Aushilfstrainer bei irgendeinem Jugendverein in der dritten Liga, den sie beim vierten Date betrunken gemacht und zum Geldautomaten geschleppt hatte? Konnte seine Frau ihm nicht verzeihen, dass eine kleine Betrügerin ihren größenwahnsinnigen Dummkopf dazu gebracht hatte, das gemeinsame Girokonto für sie abzuräumen? Und dafür hatte er Rache geschworen?

Oder war es Enrico Martini, Ende vierzig, aus Charlottenburg, der Edelrestaurants mit Delikatessen aus Südeuropa belieferte? Katrin hatte dem Hänfling mit unzähligen Minderwertigkeitskomplexen weisgemacht, ihm einen Deal mit einem Drei-Sterne-Koch vermitteln zu können. Enrico hatte sie eine Weile jeden Abend in die besten Restaurants und Bars in Friedrichshain eingeladen. Als alle ihre Cocktailkleider immer enger und enger wurden, hatte Katrin gewusst, dass sie die Bekanntschaft beenden musste. Seitdem war sie fast jeden Tag an ihn erinnert worden, wenn sie einen seiner Lieferwagen durch die Stadt fahren sah. Und seit der ersten Drohbotschaft fragte sie sich, ob er seine Fahrer vielleicht nicht nur fürs Ausliefern bezahlte, sondern auch dafür, die Augen nach ihr offen zu halten.

Beim Anblick des nächsten Namens verknoteten sich Katrins Eingeweide: Ingo Driesel, ein muskulöses Muttersöhnchen und Inhaber eines Schlüsseldienstimperiums, das er von Papa geerbt hatte. Die Frauen hielten es trotz seines guten Aussehens nicht lange bei ihm, oder besser gesagt seiner Mutter, aus. Katrin hatte ihn glauben gemacht, er sei die Liebe ihres Lebens. Nach zwei Wochen hatte sie sich mit einer neuen Gucci-Tasche, diversen Designer-Kleidern und einem Verlobungsring mit Rubin, 24 Karat, in Luft aufgelöst.

Kurz darauf hatte sie noch mit dem Inhaber eines Dentallabors angebandelt, aber bevor sie ihm irgendetwas abluchsen konnte, waren die Drohnachrichten losgegangen, auf ihrem Arbeitshandy – und in ihrem Briefkasten!

Die Tatsache, dass nach so langer Zeit jemand ihre wahre Identität kannte, hatte sie zunächst in eine Art Schockstarre versetzt. Sie hatte nicht mehr die teuren Bars und Restaurants durchstreift, die sonst ihr Jagdrevier bildeten, und sich stattdessen in ihrer Wohnung vergraben. Bis ihr aufging, dass sie auch dort nicht sicher war, wenn ihr potenzieller Stalker einen Schlüsseldienst hatte. Nie in ihrem Leben hatte sie sich so schutzlos gefühlt. In den langen Stunden allein in ihrer Wohnung war die Erkenntnis in ihr herangereift, dass sie sich in eine totale Sackgasse manövriert hatte. Alle ihre Bekanntschaften der letzten zwanzig Jahre hatten sich aufs Geschäftliche beschränkt. Außer ihrer Schwester Steffi, die höchstens eine vage Ahnung von ihrem Berufsleben hatte, kannte Katrin niemanden in Berlin, und zur Polizei zu gehen war natürlich unmöglich.

Ich muss hier weg, war ihr einziger Gedanke gewesen, und erst als Eva sie zur Begrüßung umarmt hatte, war sie wieder zu sich gekommen.

Mühsam erhob sie sich aus der Bauchlage und zog das Handy vom Ladekabel. Dreiundzwanzig Prozent geladen. Genug, um die letzten Nachrichten zu überfliegen.

»Warum willst du dir das antun?«, fragte sie sich. Mehr aus alter Gewohnheit oder weil sie das Gefühl hatte, sich selbst quälen zu müssen, aktivierte sie das Gerät.

Einhundertsechzehn Nachrichten.

Katrin ließ sich ein paar davon anzeigen.

Catrice, es war so schön mit dir!

Melde dich doch, Genevieve!

Ich vermisse dich so, Violetta.

Unter ihren Männeropfern gab es etliche, die sich nicht von der Illusion verabschieden wollten. Aber die hatten Pech! Sobald Katrin mit einem Mann fertig war, sah er sie nie wieder. Deswegen hatte ihr kleines Betrüger-Business fast zwanzig Jahre lang erfolgreich funktioniert. Außerdem verachtete sie Männer, die ihr nachliefen, obwohl sie sie derart übers Ohr gehauen hatte.

Sie vermutete noch weitere solcher Nachrichten von diversen Absendern, aber sie klickte mit klopfendem Herzen auf die Nummer.

Du kannst dich nicht ewig verstecken, Katrin!

Ich warte auf dich, Katrin!

Warum schaust du nicht mal in deinen Briefkasten, Katrin?

Verabschiede dich von deinem hübschen Gesicht, Katrin!

Ihr Stalker ließ sie immer wieder wissen, dass er ihren richtigen Namen kannte und wusste, wo sie wohnte. Dann kamen einige Nachrichten, die nicht angezeigt werden konnten. Vielleicht hatte ihr Stalker Bilder oder Sprachnachrichten geschickt, auf die das alte Handy nicht vorbereitet war. Sie las alle verbleibenden Nachrichten, aber ihr Stalker machte keine Andeutungen, dass er wusste, wohin sie geflüchtet war. Das musste natürlich nichts heißen. Die letzte Nachricht hatte er ihr vor acht Tagen geschickt. Ob er es aufgegeben hatte?

Entschlossen schaltete sie das Handy wieder aus und legte es zusammen mit dem kleinen roten Buch zurück in die Louis-Vuitton-Tasche.

Katrin sehnte sich nach einer zweiten heißen Dusche oder besser: nach einem Vollbad. Noch vor einem Tag hätte sie sich stundenlang gedankenlos in der Wanne gerekelt, aber mit einem Mal hatte sie Hemmungen, die Nebenkosten-Rechnung für die Gscheidles weiter in die Höhe zu treiben. Deshalb beschränkte sie sich darauf, endlich ihr Gesicht von der Schminke zu befreien. Während sie vor dem Badspiegel stand und sich mit einem Wattebausch über die Augenlider fuhr, zog sich ihr Brustkorb zusammen, und ein Gefühl grenzenloser Hoffnungslosigkeit überkam sie. Auch tief durchatmen konnte die Beklemmung nicht vertreiben. Ein Wattebausch nach dem anderen nahm ihr die aufgetragene Farbe aus dem Gesicht, bis die Maske einer selbstsicheren, mondänen Frau vollständig abgetragen war. Als sie ihr nacktes Gesicht im Spiegel betrachtete, schluchzte sie trocken auf.

Es gelang ihr nicht, die Tränen einfach wegzudrücken. Sie musste an Eva und Ghobard denken, die glücklich Arm in Arm im Bett lagen. An die Jungs, die fest schliefen, ohne sich Sorgen machen zu müssen. Und sie stand hier allein im spartanischen Gästebad der Gscheidles und fühlte sich verloren. Ein Weinkrampf überkam sie wie eine Naturgewalt. Sie stützte die Arme auf dem Waschbecken ab und atmete schwer. Tränen liefen durch die dünnen Linien ihrer Krähenfüße, an ihren Mundfalten entlang und tropften ins Waschbecken. Ihr Leben, wie sie es kannte, war vorbei. Sie hatte immer gewusst, dass sie nicht ewig die Männer hereinlegen konnte. Ihr Alter hatte bereits jetzt ihren Beutepool stark eingeschränkt. Die Männer wollten sich natürlich lieber von einer jungen, hübschen Frau etwas vorgaukeln lassen. Nicht von einer Frau, die auf die vierzig zuging und die ihre Ehefrau hätte sein können.

Nur noch ein paar Jahre. Nur noch fünf Jahre. Nur noch drei … Damit sie ihre Ersparnisse mehren, Berlin zu ihren Bedingungen verlassen und irgendwo mit einem Paukenschlag neu beginnen konnte! Sie schluchzte wieder, hart und schmerzvoll. Es war so würdelos, als alte, abgehalfterte Trickbetrügerin in der Provinz gelandet zu sein. So ungerecht.

Katrin ließ sich neben der Duschkabine auf den Boden sinken, verschränkte die Arme über den Knien und legte den Kopf hinein. Eva sollte sie nicht weinen hören. Sie belastete ihre beste Freundin und deren Familie genug, da musste sie ihr nicht noch den Schlaf rauben und sie in ihre Lebenskrise hineinziehen. Daran war sie selbst schuld. Es war eben das Berufsrisiko einer Trickbetrügerin, als Häufchen Elend auf kalten Badfliesen zu enden und ihr Gnadenbrot von einer großzügigen Freundin zu bekommen.

Was wäre passiert, wenn sie Eva nicht hätte? Würde sie in irgendeinem billigen Hotel in irgendeiner Stadt leben, bis ihre Ersparnisse aufgebraucht wären? Sich für immer weniger Geld mit Männern einlassen, bis keiner sie mehr haben wollte? Aber das musste sie nicht. Eva war da und würde sie nicht wegschicken.

Der Gedanke beruhigte sie etwas. Sie zwang sich, tief durchzuatmen, zog sich zitternd am Waschbecken empor und wusch sich das Gesicht, wobei sie es vermied, sich im Spiegel anzusehen. Ihre Hände zitterten noch, als sie den Zahnputzbecher mit Wasser füllte und ihn in einem Zug leer trank. Ein paar Tränen liefen ihr über die Wangen, aber sie fühlte, dass das Schlimmste überstanden war. Entschlossen ging sie zum Wandschrank und nahm das Handy und das kleine rote Buch heraus. Sie füllte Wasser ins Waschbecken, lockerte den Boden des Handys und ließ es hineingleiten.