C. G. Jung - Johannes Zapp - E-Book

C. G. Jung E-Book

Johannes Zapp

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Beschreibung

Das Buch spannt einen weiten Bogen von der Psychologie C. G. Jungs über die kritische Auseinandersetzung mit westlicher und östlicher Religion hin zu einer Spiritualität der Zukunft.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Johannes Josef Zapp wurde 1960 in Saarlouis geboren. Nach dem Abitur im Jahre 1980 studierte er Philosophie und Theologie in Trier, Puna (Indien) und Eichstätt. Zusätzlich zum Diplomstudiengang Kath. Theologie, den er 1987 abschloss, studierte er von 1983 bis 1989 für das Lehramt an Gymnasien Englische Sprach- und Literaturwissenschaft. Nach dem Vorbereitungsdienst arbeitete er von September 1991 bis zu seiner Versetzung in den Ruhestand am 31.07.2025 als Lehrer für Englisch und Kath. Religionslehre am Descartes-Gymnasium in Neuburg a.d. Donau. Über die hauptamtliche Unterrichtstätigkeit hinaus führte er an seiner Schule ein Forschungsprojekt zu bilingualem Religionsunterricht durch, das er mit einer sozialwissenschaftlichen Dissertation abschloss, die im Januar 2023 von der Sprach- und Literaturwissenschaftlichen Fakultät der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt veröffentlicht wurde.

Nachdem er sich über 20 Jahre lang mit den Schriften von C. G. Jung beschäftigt hatte, entschloss er sich im Februar 2023 das vorliegende Buchprojekt in Angriff zu nehmen.

Für Uschi

ψυχῆι πείρατα ἰὼν οὐκ ἂν ἐξεύροιο, πᾶσαν ἐπιπορευόμενος ὁδόν· οὕτω βαθὺν λόγον ἔχει. (Heraklit, Fragment Nr. (B) 45; vgl. unten S. 358)

Johannes J. Zapp

C. G. Jung

Konstruktiver Religionskritiker und Wegbereiter für eine Spiritualität der Zukunft?

© 2025 Johannes J. Zapp

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland

ISBN: 978-3-384-69817-9

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter:

Johannes J. Zapp, Raiffeisenstraße 24, 86697 Oberhausen, Germany.

Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: [email protected]

Inhalt

Cover

Widmung

Titelblatt

Urheberrechte

Einleitung

1 Klärung der grundlegenden Arbeitsbegriffe

1.1 Kritik

1.2 Religion

1.3 Religionskritik

1.3.1 Religionskritik in der Antike

1.3.2 Religionskritik im Alten Israel und im Frühchristentum

1.3.3 Grundlinien der Religionskritik seit der Aufklärung

1.4 Spiritualität

2 Jung und die Klassiker der atheistischen Religionskritik

2.1 Grundzüge von Freuds Religionskritik

2.1.1 Jung und Freud: unüberbrückbare Differenzen

2.2 Grundzüge der Religionskritik Nietzsches

2.2.1 Jungs Auffassung von Nietzsches Werk und Persönlichkeit

3 Jungs Kritik der Religion

3.1 Jungs Auseinandersetzung mit seiner religiösen Sozialisation

3.2 Jungs Religionsauffassung

4 Jungs kritische Analyse des Christentums

4.1 Kirchen- und Theologiekritik

4.2 Der Archetypus des Gottmenschen und die Lehre von Jesus, dem Sohn Gottes

4.2.1 Archetypen des kollektiven Unbewussten

4.2.2 Der Archetypus des Gottmenschen

4.3 Gott und Gottesbild

4.4 Vom Gott Hiobs über Jesus Christus zur Schicksalsfrage des modernen Menschen

4.5 Psychologische Deutung des Trinitätsdogmas

4.6 Von der Trinität zur Quaternität

4.7 Die Idee der „complexio oppositorum“

4.8 Sinn und Zweck der kritischen Auseinandersetzung mit Christentum und Kirche

5 Jung und die Weisheit des Ostens

5.1 Die Geisteskultur Indiens

5.2 Der Buddhismus

5.2.1 Der Zen-Buddhismus

5.2.2 Der tibetische Buddhismus

5.2.2.1 Der Bardo-ThödröL

5.2.2.2 Das tibetische Buch der großen Befreiung

5.3 Das chinesische Geistesleben

5.3.1 Vom I Ging zum Prinzip der Synchronizität

5.3.2 Von Yin und Yang zu Anima und Animus

5.4 Die Brücke zwischen Ost und West

6 Auf dem Weg zu einer Spiritualität der Zukunft

6.1 Die Nachfolge Christi im Wandel der Zeit

6.2 Der Individuationsprozess

6.3 Die Aktive Imagination

6.4 Anregungen für eine Spiritualität der Zukunft

7 Der Gedankengang im Kurzabriss

8 Literaturverzeichnis

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Einleitung

„Das Wissen des Herzens ist in keinem Buche und in keines Lehrers Munde zu finden, sondern es wächst aus dir, wie das grüne Korn aus schwarzer Erde.“ (Jung / Hoerni 2009: 233)

Am 26. Juli 2025 jährte sich sein Geburtstag zum 150. Mal. Der originelle Denker ging als Pionier neue Wege in der Seelenheilkunde. Mit seinem über 13000 Seiten umfassenden Gesamtwerk war er ein Grenzgänger, der den Mut hatte, sich zwischen die Stühle der etablierten Disziplinen zu setzen. Den modernen Psychologen ist er nicht evidenzbasiert genug, den Klerikern nicht gläubig genug und den Philosophen zufolge scheint er nicht ganz von dieser Welt zu sein.

Seine Schriften treffen in der Regel entweder auf „emotional geladene Ablehnung oder Begeisterung, aber nur selten auf ein sachliches Urteil“ (M.-L. v. Franz, zit. n. Machon 2015: 13). Von Anhängern und Bewunderern wird er als „Philosoph“, „Dichter“ oder „Prophet“ euphorisch gefeiert und von seinen Gegnern verächtlich als „Scharlatan“, „Pseudo-Wissenschaftler“, „Esoteriker“ oder moderner „Gnostiker“ abgelehnt. Diese Spaltung entzündet sich oft an dem Thema Religion, das in seinen Schriften einen herausragenden Platz einnimmt. Entscheidend für das Urteil ist die Perspektive, aus der Jungs innovative und unkonventionelle Ideen betrachtet werden. Von Seiten der kirchenamtlichen Theologie wird darauf hingewiesen, dass einige seiner Ansichten in klarem Widerspruch zu definierten und unumstößlichen Glaubenswahrheiten stehen, während eher liberale und progressive christliche Denker in ihm einen Erneuerer und Vordenker des Christentums sehen (Gerhard Wehr (1990), Franz Alt (Jung 1990), Eugen Drewermann (1992) u.v.a.). Andere fragen sich, ob seine Analytische Psychologie nicht selbst eine Art von Religion oder Kryptoreligion sei. Zum Themenkomplex Religion, Religiosität, Psychologie und Philosophie gibt es bereits eine ganze Reihe von Untersuchungen. Allerdings wurde Jungs Werk bisher noch nicht unter dem Aspekt der Religionskritik betrachtet. Diese Perspektive soll hier dem heuristischen Zweck dienen, das kritische Potential in Jungs Werk freizulegen und für konstruktive Weiterentwicklungen nutzbar zu machen.

Kritik ist nie voraussetzungs-, standpunkt- und interesselos. Ein Ziel dieser Studie besteht darin, die philosophischen Voraussetzungen von Jungs kultur- und religionskritischen Gedanken zu analysieren sowie den Standpunkt zu bestimmen, von dem aus sie gedacht werden. Auf diese Weise rücken auch die Perspektive und die Absichten seiner impliziten oder expliziten Kritik in den Fokus. Obwohl der größte Teil von Jungs Schriften zur Religion Fragen und Probleme des Christentums thematisiert, hat sich der Verfasser auch für Naturreligionen Afrikas und Amerikas sowie für die traditionellen Religionen des Ostens (Hinduismus, Buddhismus, Taoismus) interessiert. Letztere füllten schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts für religiös Suchende aus dem Westen das Vakuum, das die Enttäuschung vom Christentum hinterlassen hatte. Jung hat sich auch im Kontext seiner psychotherapeutischen Tätigkeit gefragt, inwiefern religiöse Traditionen des Orients für Menschen, die in der europäischen Kulturtradition stehen, eine spirituelle Alternative bieten können. Seine Antworten auf diese Frage können auch in einer Zeit, in der es für viele Menschen selbstverständlich geworden ist, ihren persönlichen „Religions-Mix“ aus unterschiedlichsten Traditionen zusammenzustellen, Denkanstöße und Orientierung geben. Nach Walach (2015: 8) hat der Rationalismus der Aufklärung die religiöse Dimension des Menschseins verdrängt und zur Errichtung einer wissenschaftlich-technokratischen Zivilisation geführt. Um zu verhindern, dass die vermeintlich überwundene Religion in Form eines Fundamentalismus zurückkehrt und die emanzipatorischen Errungenschaften unserer Kultur selbst wieder überwindet, ist es notwendig, die unterdrückte Religiosität bewusst zu machen und in einer Weise zu integrieren, die eine konsequente Fortführung der Aufklärung ermöglicht. Die vorliegende Studie soll ausgehend von der Kritik und Analyse der Religion aufzeigen, welchen konstruktiven Beitrag Jung für die Entwicklung „einer durch die Aufklärung gegangenen und durch sie transformierten Religion“ (ebd.) geleistet hat.

1 Klärung der grundlegenden Arbeitsbegriffe

„Haben Sie je einen Augenblick darüber nachgedacht, wieviel vom Eroberer (um nicht zu sagen Dieb oder Räuber) schon im Ausdruck «Begriff» liegt?“ (Jung 1991e: 579)

Das Nomen „Begriff“ ist ein Abstraktum, das vom Verb „greifen“ abgeleitet ist. Konkret wird damit eine Tätigkeit der Hand bezeichnet. Mit ihr erfassen wir Gegenstände der Welt und machen sie uns nutzbar. Die Hand ist das Werkzeug, mit dem aus dem Rohmaterial der Umgebung die Lebenswirklichkeit des Menschen geschaffen wird. Auf diese Weise entsteht das, was wir Kultur nennen. In diesen Gestaltungsprozess ist jedoch nicht nur der Körper, sondern vor allem auch der Geist involviert. Das bloße Greifen mit der Hand ist nur durch das kognitive Begreifen des Bestehenden und zu Gestaltenden zielführend. Verstand, Sinn und Ziel sind die Voraussetzungen der Weltgestaltung. Zu ihrer Verwirklichung bedient sich der Mensch der Begriffe als kognitive Werkzeuge. Ziel des kulturellen Handelns ist die Nutzbarmachung der Welt für die Zwecke des Menschen, welche im ersten Kapitel des Buches Genesis mit dem Wort „herrschen“ zum Ausdruck gebracht wird. Um unsere Umgebung zu beherrschen, müssen wir sie zunächst erobern. Dies tun wir, indem wir den sensorischen Input aus Umweltreizen mit Hilfe von semantischen Netzwerken strukturieren, unbedeutende Informationen ausfiltern und aus der wie auch immer beschaffenen Außenwelt eine begrifflich geordnete mentale Repräsentation der Wirklichkeit erstellen. Da unser Denken sprachlich kodiert ist, sind unsere Begriffe die Konstituenten unserer Welt. Als kognitive Konstrukte sind sie jedoch nur Werkzeuge zur Erschließung von Wirklichkeit und keine Abbildungen der extramentalen Realität. Sie sind daher nie endgültig festlegbar, sondern prinzipiell überhol- und erweiterbar. Im Optimalfall bilden sie als heuristische Instrumente den Einstieg in eine hermeneutische Spirale, die nach jedem Durchlauf auf der nächsthöheren Ebene neue Inhalte integriert. Die in diesem Kapitel behandelten Grundbegriffe dienen daher nur dem Einstieg in die jeweilige Thematik und sollen im Verlaufe der Erörterung im Hinblick auf die jeweiligen Fragestellungen präzisiert und ergänzt werden.

Um zu entscheiden, ob Jung als konstruktiver Religionskritiker bezeichnet werden kann, ist eine Klärung der Begriffe „Kritik“, „Religion“, „Religionskritik“ sowie des Adjektivs „konstruktiv“ jedoch unabdingbar. Da die Bedeutung von Wörtern auch von ihrem jeweils zeitbedingten Gebrauch abhängt, soll neben der lexikalischsemantischen Begriffsbestimmung auch ihre historische Verwendung in unterschiedlichen Epochen erhellt werden. Eine lückenlose historische Bedeutungsentwicklung ist jedoch im Rahmen dieser Untersuchung nicht zielführend. Für die Thematisierung entscheidend ist die Frage, inwieweit ein Bezug zur Person bzw. zum Werk C. G. Jungs gegeben ist. Dies gilt insbesondere für den Begriff „Spiritualität“, der heute im Unterschied zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geradezu inflationär verwendet wird.

1.1 Kritik

„Kritische Philosophie, die Mutter der modernen Psychologie, ist dem Osten so fremd wie dem mittelalterlichen Europa.“ (Jung 1988d: 477)

Das Wort „Kritik“ ist abgeleitet von der Wortwurzel des griechischen Verbs κρίνω, das seit Aeschylus und Homer folgende Grundbedeutungen umfasst:

a) scheiden, unterscheiden, trennen

b) erwählen, sich entscheiden für, den Vorzug geben

c) entscheiden, einschätzen

d) streiten, debattieren

e) sich entscheiden (etwas zu tun); beabsichtigen

f) urteilen, beurteilen, einen Urteilsspruch fällen, anklagen verdammen, zum Prozess bringen, richten, Recht schaffen

(vgl. Coenen / Haacker 2013: 743)

Das Adjektiv des griechischen Ausdrucks κριτική τέχνη, welcher die Fähigkeit oder die Kunst der Beurteilung bezeichnet, ist der lexikalische Ursprung des Wortes „Kritik“. Nach Schischkoff (1969: 339) ist es diese Urteilsfähigkeit, die den Menschen „vor den Folgen von Täuschung und Irrtum bewahrt, bes. auch hinsichtlich der eigenen Person.“ In der Philosophie wurde diese Grundfähigkeit des Menschen systematisch zu einer Methode entwickelt, die es ermöglicht „Wahrheitsansprüche mittels Vernunft auf ihre Berechtigung hin zu überprüfen“ (Prechtl / Burkard 2015: 318). Schon von Platon wurde das Unterscheidungsvermögen, das in der sokratischen Mäeutik zu einer Technik weiterentwickelt wurde, als Charakteristikum des umfassend gebildeten Menschen betrachtet. Der Kritikbegriff der Moderne geht auf Kant zurück, der mit seiner Erkenntniskritik die philosophischen Kontroversen bis in unsere Zeit hinein befeuert. Seit der Epoche der Aufklärung tauchen immer neue Komposita auf: Religionskritik, Ideologiekritik, Wissenschaftskritik, Geschichtskritik, sprachphilosophische Sinnkritik, um nur einige wenige Beispiele zu nennen. Als Bedingungen der Möglichkeit von Kritik gelten Sprache und Denken. Die Frage, ob Sprache und Denken ein einziges System darstellen oder ob es sich um parallellaufende Systeme handelt, die miteinander koordiniert werden, ist nicht eindeutig geklärt. Was außer Frage steht, ist ihre sozio-kulturelle Bedingtheit und damit ihre historische Relativität. In Anlehnung an linguistische Theorien ist auf jeden Fall davon auszugehen, dass sich Sprache und Denken gegenseitig bedingen und beeinflussen, so dass die in einem Kulturraum verwendete gemeinsame Sprache auch die Weltsicht und Verhaltensweisen der Mitglieder prägt. Das Ausmaß der Beeinflussung wird in den kulturwissenschaftlichen Disziplinen äußerst kontrovers diskutiert. Das Spektrum der theoretischen Konzepte reicht von einem strengen linguistischen Determinismus (Whorf et al. 2012) über linguistische Relativität (Wolff / Holmes 2011) bis hin zur Bestreitung jeglicher Verbindung zwischen Denken, Sprache und Kultur. Die zur Entwicklung der Kritikfähigkeit entscheidende Kompetenz ist die Reflexivität. Sie beinhaltet, dass sich ein Subjekt in einen Gegenüberstand zur Welt setzen kann, die dadurch zum Objekt der Wahrnehmung und des Denkens wird. Diese Trennung von Subjekt und Objekt (vgl. die Grundbedeutung a) im Bedeutungsspektrum von κρίνω, oben S. 10) ermöglicht die zur kritischen Auseinandersetzung notwendige Distanz. Wäre der homo sapiens in der paradiesischen „unio mystica“, der Einheit von Ich und Welt, verblieben, bräuchte er sich nicht kritisch mit sich und der Welt zu beschäftigen. Reflexion als das Durchdenken gemachter Welt- und Selbsterfahrung begründet die Lern- und Entwicklungsfähigkeit des Menschen, die zu einer Veränderung von Sichtweisen und der Optimierung der Handlungspraxis führen kann.

„Reflexivität ist deshalb eine grundlegende Eigenschaft des Menschen, die ihn von anderen Lebewesen grundsätzlich unterscheidet. Der Mensch allein verfügt über das intellektuelle Vermögen, sich selbst von einem geistigen Standpunkt außerhalb seiner selbst zu betrachten und zu analysieren. Er ist, mit dem Anthropologen Helmuth Plessner gesprochen, ein „Ekzentrisches Wesen“, also ein Wesen, das sozusagen – und im positiven Sinn verstanden – neben sich steht (vgl. Plessner 1981).“ (Lederer 2014: 587)

Aufgrund seiner Reflexionsfähigkeit kann der Mensch also nicht nur in eine kritische Distanz zur Welt, sondern auch zu sich selbst treten, indem er geistig einen Standpunkt außerhalb seiner selbst einnimmt. Er ist in der Lage sich auf eine Meta-Ebene zu begeben und aus einer Meta-Perspektive „Zusammenhänge, Ursachen und Wirkungen, persönliche Eingebundenheiten sozialer, kultureller, ökonomischer, politischer und geschichtlicher Art“ (ebd.) zu erfassen. Dieser reflexive Selbst- und Weltbezug des Individuums ist nach Lederer (2014: 677) der Inbegriff der Bildung im Sinne einer kritisch-emanzipatorischen Pädagogik. Der Mensch ist also fähig unterschiedliche Standpunkte einzunehmen, die ihm verschiedene Blickwinkel der Betrachtung ermöglichen. Allerdings ist er nicht in der Lage alle denkbaren Standpunkte gleichzeitig einzunehmen. Daher ist seine Selbst- und Welterkenntnis immer bedingt durch den jeweils eingenommenen Standpunkt und die von ihm aus möglichen Perspektiven. Folglich ist jede kritische Reflexion und Analyse zwangsläufig immer perspektivisch und relativ zu dem eingenommenen Standpunkt. Neben der Standpunktgebundenheit von Kritik ist immer auch deren Interessengebundenheit zu berücksichtigen. Jede kritische Auseinandersetzung ist durch Interessen motiviert und von ihnen geleitet, ganz gleich, ob diese bewusst oder unbewusst sind. Die Interessen sind abhängig von dem zugrunde liegenden Wertsystem, welches auch die Maßstäbe und Kriterien der Beurteilung zur Verfügung stellt. Die Frage, wie einzelne Menschen zu ihren Wertvorstellungen kommen, wird von der Psychologie untersucht. Die diesbezüglich gewonnenen Erkenntnisse werden u.a. in den Massenmedien und sozialen Netzwerken zum Zwecke der gezielten Herstellung von Wahrnehmungen, Meinungen, Gefühlen und der daraus resultierenden Werte zur Verhaltenssteuerung von Individuen (social engineering) eingesetzt. Die Wertmaßstäbe, die jeder Kritik zugrunde liegen, werden also individuell oder gesellschaftlich im Sinne der Grundbedeutung b) im Spektrum von κρίνω (vgl. oben S. 10) ausgewählt, indem jeweils den einen der Vorzug gegeben wird und andere abgelehnt oder verworfen werden. Kritik ist somit immer sozio-kulturell bedingt und damit situativ abhängig und zeitgebunden, da es keine absoluten, überzeitlich gültigen Wertmaßstäbe gibt, auch wenn herrschende Eliten ihre eigenen Vorstellungen gerne als alternativlos und universal gültig propagieren.

Nachdem die Bedingungen der Möglichkeit von Kritik im philosophischen Sinne kurz umrissen wurden, sollen nun am Beispiel einer Theaterkritik die unterschiedlichen Aspekte von Kritik im Alltagsverständnis aufgezeigt werden. Wenn ein Stück den Erwartungen und dem Geschmack eines Kritikers entspricht, d. h. wenn die Aufführung dessen persönliche Gütekriterien erfüllt, dann wird die Kritik durchwegs positiv ausfallen. Die Schauspieler und der Dramatiker können sich über das Lob, welches quasi einer Werbung für ihr Werk gleichkommt, freuen. Falls die Darbietung nicht gefällt, werden in erster Linie die Mängel herausgestellt, was im schlimmsten Fall zu einem Verriss führt. Dies bedeutet, dass die Kritik oft nur die negativen Aspekte betont, dass sie pauschalisiert und nicht genügend differenziert, so dass die positiven Gesichtspunkte nicht zur Geltung kommen. Ist die Kritik hauptsächlich vom Gefühl bestimmt und weniger von allgemein akzeptierten Wertmaßstäben, dann ist sie unsachlich oder voreingenommen und fällt letztlich wieder auf den Kritiker selbst zurück. Wie dem auch sei, Künstler können sich der Kritik nicht entziehen. Für sie gilt, was Hildegard Knef treffend formuliert hat: „Wer sich mit der Kunst verheiratet, bekommt die Kritik zur Schwiegermutter“ (vgl. http://www.philolex.de/kritik.htm). Kein Mensch ist perfekt und dies gilt a fortiori für alle Arten von Menschenwerken. Somit sollte es eigentlich kein Problem sein, wenn wir auf Mängel oder Fehler hingewiesen werden, da die Unvollkommenheit zur menschlichen Natur gehört. Dennoch empfinden es Menschen gelegentlich als Kränkung, wenn sie in einer Sache kritisiert werden, auch wenn diese Kritik nicht auf ihre Person abzielt und entsprechend sachlich, freundlich und wohlwollend vorgetragen wird. Dies hat mit einem unausgesprochenen Perfektionismus zu tun, der in der modernen, hochtechnisierten Welt an uns Menschen herangetragen wird. So wie Maschinen und Computer reibungslos und perfekt laufen müssen und das nach Möglichkeit 24/7/365, so soll es auch der Mensch tun. Auf der einen Seite möchten wir Menschen so angenommen und bestätigt werden, wie wir sind, mit unseren Schwächen, unseren Eigenheiten, unseren Ecken und Kanten. Auf der anderen Seite erleben wir jedoch, dass wir in Familie, Schule, Beruf und Gesellschaft oft nur dann akzeptiert werden, wenn wir bestimmte Leistungsanforderungen und Erwartungen an unser Verhalten erfüllen. In den Medien werden uns darüber hinaus immer wieder Menschen vor Augen geführt, die all das sind, was wir sein sollten und wenn wir die entsprechenden Werte verinnerlicht haben, auch sein möchten. Wenn wir uns mit diesen Idolen vergleichen, stellen wir fest, dass wir nicht so schön, nicht so begehrenswert, nicht so intelligent und nicht so leistungsfähig sind. Das kulturelle Klima der westlichen Gesellschaften im 20. und 21. Jahrhundert führt daher unausweichlich zu einer grundlegenden Kränkung des Selbstwertgefühls. Harald Walach (2015: 187) bringt die Problematik folgendermaßen auf den Punkt: „Die postmoderne Seele des Westens leidet kollektiv an einer andauernden narzisstischen Kränkung“. Von daher ist es auch kaum verwunderlich, wenn das Wort „Kritik“ bei uns zunächst einen negativen Klang hat und unangenehme Gefühle hervorruft. Um Kritik als eine Hilfe zu sehen, die es uns ermöglicht aus unseren Fehlern zu lernen und uns folglich in unseren Fähigkeiten sowie in unserer Persönlichkeit weiterzuentwickeln, bedarf es eines gefestigten Selbstwertgefühls. Nur dann kann man sich mit dem chinesischen Sprichwort identifizieren, welches lautet: „Wer mir schmeichelt ist mein Feind, wer mich tadelt ist mein Lehrer“ (vgl. http://www.philolex.de/kritik.htm). Aufgrund unserer kulturellen narzisstischen Problematik wollen jedoch viele Menschen eher durch Lob ruiniert, als durch Kritik gerettet werden (vgl. ebd.). Eine Theaterkritik, die den Schauspielern ihr Talent abspricht und das Stück in einer Weise framet, die den Bühnenautor in eine bestimmte politische Ecke stellt, ist nicht nur undifferenziert, sondern auch destruktiv. Es geht dabei meist nur vordergründig um die Wahrung bestimmter ästhetischer Maßstäbe, sondern in erster Linie um die Schädigung einer künstlerischen Reputation. Die Motive dahinter können höchst unterschiedlich sein. Konstruktive Kritik ist immer getragen von einem grundsätzlichen Wohlwollen gegenüber einer Sache und der sie vertretenden Personen. Man erkennt eine solche Kritik an konkreten Verbesserungsvorschlägen, die sich im Falle einer Theateraufführung z. B. auf das Bühnenbild, die Besetzung der Rollen, die Kostüme oder die Herstellung von Bezügen zu aktuellen politischen Ereignissen beziehen. Eine solche Kritik ist wertschätzend, aufbauend und zielt auf eine Optimierung der Leistung und eine Mehrung des Erfolgs. In einem solchen Fall verfolgen Kritiker und Kritisierte das gleiche Anliegen. Kritik kann hier zur Anregung eines Meinungsaustausches führen, von dem beide Seiten profitieren. Kritik muss nicht immer verbal geäußert werden. George Bernhard Shaw sagte: „Auch Schlafen ist eine Form der Kritik, vor allem im Theater (vgl. http://www.philolex.de/kritik.htm)“. Für Vespasian, der während einer Darbietung Neros eingeschlafen war, führte dies zur Degradierung als General und zur Verbannung auf ein Landgut. Wenn ein moderner Theaterkritiker schreibt, dass fünf Zuschauer in der dritten Reihe eingeschlafen waren, so ist das nicht nur eine nüchterne Tatsachenfeststellung, sondern eine Form von impliziter Kritik, die allerdings mehrdeutig ist, da sie ein Theaterstück auch als wirksames Therapeutikum für Patienten mit Schlafstörungen bewerben könnte. Eine ironische Bemerkung kann ebenfalls eine Form von indirekter Kritik sein, falls die Ironie als solche verstanden wird. Nachdem das semantische Feld von „Kritik“ im Allgemeinen abgesteckt ist, wenden wir uns nun den Begriffen „Religion“ und „Religionskritik“ zu.

1.2 Religion

Das lateinische Nomen „religio“ lässt sich von zwei Verben ableiten:

a) „religere“: etwas wiederholt und sogfältig beachten (vgl. Schischkoff 1969: 514)

Hier ist wohl in erster Linie an die sorgfältige Befolgung von Riten, Zeremonien und religiösen Vorschriften gedacht, die in regelmäßigen Abständen wiederholt werden sollen, so dass sie dem Leben der Menschen eine bestimmte Prägung und Struktur verleihen.

b) „religare“: zurückbinden (vgl. Prechtl / Burkard 2015: 521)

Diese Herleitung des Wortes deutet das „Gefühl der Verbundenheit, der Abhängigkeit, der Verpflichtung gegenüber einer geheimnisvollen, haltgebenden und verehrungswürdigen Macht“ (Schischkoff 1969: 514f.) an. In Religion und Theologie wird diese Wirklichkeit als „Gott“, „das Göttliche“ oder „das Heilige“ (Otto 1926), in der Philosophie dagegen eher mit den Begriffen „das Transzendente“ oder „das Absolute“ bezeichnet. Eine einheitliche und allgemeingültige Definition von „Religion“ ist nicht möglich, da kein denkbares Definitionselement de facto in allen historisch gewachsenen und real existierenden Formen des zu bestimmenden Phänomens aufzufinden ist. Dies gilt auch für scheinbar grundlegende Konzepte wie „Gott“ oder „das Heilige“. Auch wenn ihre Äquivalente in irgendeiner Weise in fast allen Religionen vorzukommen scheinen, so zeigt die nähere Analyse, dass das, was jeweils unter ihnen zu verstehen ist, sehr unterschiedlich sein kann, so dass die Verwendung des gleichen Wortes eher irreführend als hilfreich ist. Deshalb ist es sinnvoll, auf eine allgemeingültige Definition zu verzichten und stattdessen unterschiedliche Herangehensweisen an das, was als Religion gilt, aufzuzeigen. Betrachtungen aus verschiedenen Perspektiven ermöglichen ein kaleidoskopartiges Bild des Untersuchungsgegenstandes und führen so zu einer umfassenden Gebrauchsdefinition, die offen für neue Facetten und damit prinzipiell unabschließbar ist (vgl. Mendl / Schiefer Ferrari 2011: 12).

Der phänomenologische Ansatz analysiert Erscheinungsformen unterschiedlicher, geschichtlich gewachsener Religionen, wie z. B. heilige Schriften, Riten, Gebräuche, Organisationsformen, soziale Strukturen und Glaubenslehren. Diese Objektivationen von Religion können dann miteinander auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede hin untersucht und verglichen werden. So können wesentliche Elemente des religiösen Lebens ermittelt und von außen betrachtet werden. Die existenzielle Bedeutung von Religionen für einzelne Menschen kommt dabei jedoch nicht in den Blick.

Im funktionalen Ansatz wird die Frage nach dem gestellt, was Religion für Gemeinschaften und Individuen bedeutet und leistet. Für den Einzelnen sind hier vor allem die Trost- und Orientierungsfunktion in Grenzsituationen zu nennen. Angesichts von Krankheit, Not, Leid und Tod gibt Religion den Menschen Sinn und Hoffnung. Sie dient im Sinne der Kontingenzbewältigung der psychischen Stabilisierung und bewahrt vor Mutlosigkeit und Verzweiflung. Religionen haben auch immer dazu beigetragen bestehende Herrschaftsstrukturen zu legitimieren und dadurch gesellschaftliche Systeme zu stabilisieren. Zu denken ist dabei nicht nur an die Idee des Gottesgnadentums, mit der die mittelalterliche Ständeordnung begründet wurde. Auch in unserer Zeit sind Religionen wichtige Verbündete der herrschenden Eliten, vor allem wenn es darum geht Akzeptanz für deren Agenden in den Bevölkerungen zu bewirken. Das gesellschaftskritische Potential der Religion zeigte sich im Kampf gegen den Kommunismus in Osteuropa und trug nicht unwesentlich zum Zerfall der Herrschaftsstrukturen in den Ostblockstaaten bei.

Die Frage nach dem, was das Wesen oder den besonderen Gegenstand der Religion ausmacht, wird im substanziellen Paradigma gestellt. Im Mittelpunkt des Interesses steht hier das „Göttliche“ oder die transzendente Dimension des Seins, die sich in ganz unterschiedlichen Formen manifestieren kann. In den sogenannten Naturreligionen taucht eine Vielzahl von Göttern auf, welche die Naturgewalten personifizieren. Im Monotheismus dagegen gibt es nur einen Gott, der die Welt allein erschaffen hat und dem daher die alleinige Verehrung gebührt. Im Judentum verlangt dieser souveräne Gott unbedingten Gehorsam gegenüber seinen Gesetzen und Geboten. Neben Natur- und Gesetzesreligionen gibt es auch noch Erlösungsreligionen, die im Gefühl der menschlichen Unvollkommenheit, Begrenztheit und Vergänglichkeit ihren Ursprung haben. Da der Mensch trotz größter Anstrengungen keine Perfektion erreichen kann, ein perfekter Gott aber keine Gemeinschaft mit unvollkommenen Geschöpfen haben kann, wird die eigene moralische Unzulänglichkeit als „Sündhaftigkeit“ empfunden, von der nur Gott die Menschen erlösen kann. Im Sühnetod Jesu am Kreuz hat der barmherzige und gnädige Gott das Selbstopfer seines eingeborenen Sohnes als Wiedergutmachung für die Sündhaftigkeit der Menschheit angenommen und die Welt erlöst. Im Buddhismus gibt es kein göttliches Wesen, das die Erlösung der Menschen bewirken kann. Jeder Einzelne muss durch unzählige Wiedergeburten von seinem Karma gereinigt werden, bevor er schließlich ins Nirvana, ins ewige Verlöschen, eingehen kann (vgl. Mendl / Schiefer Ferrari 2011: 12).

C. G. Jung hat sich mit unterschiedlichen Ausprägungen von Religion auseinandergesetzt und eine eigene Vorstellung entwickelt, die unten genauer untersucht werden soll. Um die Frage zu entscheiden, ob er gar als Religionskritiker bezeichnet werden kann, muss eine weitere Begriffsklärung vorgenommen werden.

1.3 Religionskritik

„Eine bloß negative Kritik ist nicht konstruktiv. Sie ist nur in dem Maße berechtigt, als sie schöpferisch ist.“ (Jung 1992a: 303)

Die Bedeutung des Begriffs „Religionskritik“ hängt immer ab von der historischen Epoche und dem jeweiligen Kontext, in dem er verwendet wird. Auch wenn eine vollständige Übersicht über die Geschichte der Religionskritik den Rahmen dieser Untersuchung sprengen würde, soll die semantische Bandbreite des Begriffs an einigen konkreten Ausformungen aufgezeigt werden.

1.3.1 Religionskritik in der Antike

Die antiken Philosophen Griechenlands, die ausgehend von ihrem Staunen (θαυμάζειν) über die Welt, die Frage nach dem Ursprung allen Seins stellten, unterwarfen auch die Götter der tradierten Mythen einer kritischen Analyse durch die Vernunft. Sie entlarvten die anthropomorphen Vorstellungen als Spiegelbild gesellschaftlicher und kultureller Verhältnisse bzw. als Ausgeburten der Fantasie. Xenophanes aus Kolophon (570-475 v. Chr.) verglich die Gottesvorstellungen der Griechen mit denen anderer Völker, die er auf Reisen kennenlernte, und kam zu dem Schluss, dass die Götter einer Nation immer so aussehen wie die Menschen, die sie verehren. An den homerischen Göttern kritisierte er neben dem Anthropomorphismus in Bezug auf ihr Äußeres auch ihre menschlichen und allzu menschlichen Schwächen, wie z. B. Eifersucht, Neid, Ehebruch, Betrug und Hinterlist. Pythagoras (ca. 580-500 v. Chr.) bestritt, dass der Ursprung der Veränderungen der Dinge dieser Welt auf das Wirken launischer Götter zurückzuführen sei. Er erkannte mathematisch berechenbare Gesetzmäßigkeiten, die der menschliche Geist eruieren könne, da er über das Zahlensystem verfüge. Schon vor Aristoteles (384-322 v. Chr.) fragte Anaxagoras (500-428 v. Chr.) nach dem „ersten Bewegenden“, also nach der ersten Ursache des Weltprozesses. Für ihn setzte sich alles Existierende aus festen Elementarteilchen zusammen, die sich ständig neu mischen und trennen. Die Ursache für diesen Prozess der ständigen Reorganisation sah er nicht in einer Gottheit, sondern in einer feinstofflichen, geistigen Substanz (νοῦς), an deren Wesen nur der Mensch Anteil hat, weshalb er es als einziges Lebewesen erkennen kann. Aufgrund dieser Lehre wurde er 431 v. Chr. wegen Gottlosigkeit angeklagt und aus Athen vertrieben.

Auch die frühen Materialisten, wie z. B. Demokrit (460-390 v. Chr.) und Epikur (341-270 v. Chr.) haben rationale Erklärungen für die Prozesse dieser Welt sowie für die Entstehung der Religion gegeben.

1.3.2 Religionskritik im Alten Israel und im Frühchristentum

Im Alten Testament sticht dem religiös und weltanschaulich toleranten Leser des 21. Jahrhunderts wohl in erster Linie die massive Kritik an den Religionen fremder Völker ins Auge. Gleich das erste Gebot des Dekalogs (Ex 20, 3-5; Dtn 5, 6-8) verbietet ausdrücklich die Verehrung anderer Götter. Da die kultische Verehrung den Glauben an die Existenz, die Kraft und die Wirksamkeit von Gottheiten voraussetzt, ist davon auszugehen, dass die Bevölkerung Israels und Judas noch längere Zeit nach dem Auszug aus Ägypten in bestimmten Krisensituationen ihre Zuflucht nicht nur zu JHWH, sondern auch zu seiner Konkurrenz genommen hat. In den Geschichtsbüchern des AT und bei den Propheten ist zu lesen, dass die Menschen immer wieder von dem einen wahren Gott abgefallen sind und fremden Göttern gedient haben. Religion wurde verstanden im Sinne von λατρεία (= Dienst), was das Beten, Verehren, Niederfallen und die Darbringung von Opfergaben umfasst. Kritisiert wurde, dass diese kultisch-religiösen Tätigkeiten vor einem in Stein gehauenen oder aus Holz geschnitzten Kultbild (  bzw. εἴδωλον) vollzogen wurden. Bei diesem hebräischen Wort und seiner griechischen Entsprechung in der LXX handelt es sich um eine verächtliche Bezeichnung, welche im Deutschen mit dem Wort „Götze“ wiedergegeben werden kann. Damit ist jedoch nicht gemeint, dass den heidnischen Göttern keine Wirkmacht zuerkannt wird. Die Götzen sind zu verabscheuen als βδελύγματα (= Greuel), hinter denen sich dämonische Gewalten (δαιμόνια) verbergen, von denen man sich fernhalten soll, damit der Zorn JHWHs nicht erregt wird. Obwohl das Kultbildverbot in Ex 20,4 und Dtn 5,6 eng mit dem Fremdgötterverbot verbunden ist, hat es an diesen Stellen nur dann einen Sinn, wenn es sich nicht nur auf die Götter der anderen Völker bezieht, denn ihre Verehrung wird ja schon explizit in den vorausgehenden Versen verboten. Dies trifft vor allem nach dem Babylonischen Exil zu, da in dieser Zeit der Monotheismus in Israel bereits fest verankert war und die Verehrung der Götter anderer Völker nur noch vereinzelt ein Problem darstellte. In diesem Sinne wurde dann auch im exilisch-deuteronomistischen Geschichtswerk die Erzählung vom „Tanz um das Goldene Kalb“ in die Sinaiperikope (Ex 19-34) eingefügt (vgl. Grund 2014: 59). Bei der Stierskulptur handelte es sich nämlich nicht um die Verehrung eines ägyptischen Gottes, sondern darum, dass sich die Israeliten eine Kultskulptur von JHWH angefertigt und diese dann gemeinsam verehrt hatten. Vom Nordreich zur Zeit Jerobeams (8. Jhd. v. Chr.) wird nämlich berichtet, dass in den Tempeln von Beth-El und Dan jeweils eine Stierskulptur als Symbol für JHWH aufgestellt und kultisch verehrt wurde.

„Welche Funktion auch immer die Stierskulpturen in Beth-El und Samaria ausfüllen sollten, es handelt sich um eine Repräsentation JHWHs in den für Baal üblichen Formen. Dies lag aufgrund der Übernahme von Wettergottkompetenzen durch JHWH zwar durchaus nahe, damit wurde JHWH allerdings auch verwechselbar mit dem nordsyrischen und dem tyrischen Baal, was ein Grund für die Ablehnung gewesen sein mag.“ (Grund 2014: 55)

Diese Form der Religionsausübung kritisierten die Propheten Hosea und Amos als Verstoß gegen das Kultbildverbot und die deuteronomistischen Geschichtsschreiber sahen darin eine Art von Götzendienst, die schließlich zum Untergang des Nordreiches im Jahre 722 v. Chr. durch die Eroberung der Assyrer führte (vgl. Grund 2014: 58ff.).

Neben dem Kultbildverbot ist in weisheitlichen und prophetischen Texten des AT auch Kritik an Opferritualen und am Gottesdienst zu finden. Diese zielt allerdings nicht auf eine prinzipielle Ablehnung, sondern auf die richtige Einstellung und Lebensführung als „Grundlage gelingender kultischer Kommunikation mit JHWH“ (Grund 2014: 37) ab. Beim Propheten Amos mündet die Kultkritik direkt in eine Sozialkritik, denn der Gott Israels will keine Rauch- und Brandopfer, sondern Gerechtigkeit für die ökonomisch und gesellschaftlich Benachteiligten. Nur wenn die soziale Spaltung überwunden wird und Recht und Gerechtigkeit im Volk herrschen, sind Opfergaben akzeptabel, ansonsten sind sie JHWH ein Greuel. Auf einer Linie mit dieser Tradition ist auch die sogenannte Tempelreinigung im NT zu verstehen. Jesus hat mit seiner Aktion im Jerusalemer Zentralheiligtum weder den Opfergottesdienst als solchen noch die Autorität der Priesterschaft in Frage gestellt. Er kritisierte die Auswüchse der Kommerzialisierung wie sie sich im Tempelvorhof zeigten. Offensichtlich drohte hinter aller Geschäftigkeit die eigentliche Funktion des Ortes als Verehrungsstätte des einen Gottes verloren zu gehen. In der Apostelgeschichte und in den Paulusbriefen wird überdies der Polytheismus der heidnischen Antike kritisiert. Im Hinblick auf die Verehrung von Kultbildern wird unterstellt, dass die Menschen die Machwerke aus Stein und Holz tatsächlich für die Götter selbst und nicht nur für deren bildliche Darstellung gehalten haben. Die frühchristlichen Apologeten warnten ihre Leser vor den dämonischen Kräften, die in diesen Bildern steckten. Die Christen sollten nach Aussagen des NT (Apg 15, 1-35; Gal 2, 1-10) auch auf den Verzehr von Fleisch verzichten, das im Zusammenhang mit Opferhandlungen auf den Märkten verkauft wurde, da sie damit eine quasi magische Verbindung zu den Fremdgöttern herstellten, auch wenn sie ihnen dieses Fleisch nicht im Rahmen einer Opferhandlung darbrachten. Es galt als unrein und schwor den Zorn Gottes auf die Menschen herab.

1.3.3 Grundlinien der Religionskritik seit der Aufklärung

Erstmals in einem Buchtitel verwendet wurde das Wort „Religionskritik“ von dem protestantischen Theologen Johann Heinrich Tieftrunk (1759–1837), der seit 1792 in Halle an der Universität lehrte (vgl. Leonhardt 2022: 127). Als Kantianer wollte er „die Vernunft in Fragen der Religion unverkürzt zur Geltung bringen“ (ebd.). Es ging ihm um eine Überprüfung der Inhalte und Praktiken der christlichen Religion nach den Maßstäben der Vernunft, also um den Entwurf einer „Vernunftreligion auf philosophischer Grundlage“ (ebd.). Diese Art der Kritik zielte nicht auf eine Destruktion der Religion an sich ab, sondern auf eine Reinigung von allen Elementen, die dem Zeitgeist als vernunftwidrig erschienen. Dazu gehörte nicht die Gottesidee, welche in Kants Schrift „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ (1793) als Postulat der praktischen Vernunft zur Gewährleistung eines sittlichen Lebenswandels gebraucht wurde. Religiöse Handlungen wie Beten, Beichten, Gottesdienste oder Wallfahrten wurden von Kant dagegen als „Religionswahn“ und als „Afterdienst“ bezeichnet. Das moralisch gute Handeln ist die einzig vernünftige Form der Verehrung Gottes, die auf dessen Wohlgefallen hoffen kann. Während die deutschen Denker im Gefolge Kants die Religion auf Ethik reduzierten, strebte eine ganze Reihe von französischen Aufklärern [Jean Meslier (1664–1729), Julien Offray de La Mettrie (1709–1751), Denis Diderot (1713–1784); Claude Adrien Helvétius (1715–1771), Paul Henri Thiry d’Holbach (1723–1789)] die Abschaffung aller bestehenden Religionen zugunsten eines atheistischen Vernunftglaubens an. Die weltanschauliche Grundlage für das, was als vernünftig zu gelten hatte und damit zum Maßstab der Kritik werden konnte, war ein Materialismus, der sich an den antiken Philosophen Demokrit und Epikur orientierte. Diese Denkrichtung, zu deren namhaftesten Vertretern Ludwig Feuerbach (1804–1872), Karl Marx (1818-1883), Sigmund Freud (1856-1939) und Friedrich Nietzsche (1844-1900) gehören, setzte sich im 19. Jahrhundert auch in Deutschland durch. Das Ziel dieser destruktiven Religionskritik ist die Entlarvung von Religion als entfremdendes, falsches Bewusstsein, ihre gänzliche Abschaffung und Ersetzung durch humanistische Menschenliebe und Politik (Feuerbach, Freud), durch die Utopie der klassenlosen Gesellschaft (Marx) oder durch die fatalistisch-heroische Lebenseinstellung des Übermenschen (Nietzsche), der es geschafft hat, sich mit dem Tod Gottes und dem daraus resultierenden Nihilismus angesichts seiner Endlichkeit abzufinden. Neben der Bestreitung der Gottesidee war „die Religionskritik seit der Aufklärung über weite Strecken eine Kritik an kirchlich-moralischen Unterdrückungsmechanismen“ (Hofheinz 2014: 2). Ihr Verdienst besteht in der zunehmenden Emanzipation des Einzelnen von den sozialen und geistlichen Herrschaftsansprüchen einer „freiheitsberaubenden Zwangsanstalt“ (ebd.) sowie der sozialpsychologischen Erklärung der Entstehung von zeit- und entwicklungsbedingten Gottesvorstellungen. Die Impulse der Kritik wurden von Kirche und Theologie aufgegriffen und veränderten das Selbstverständnis religiöser Institutionen, vor allem im Hinblick auf ihre Aufgabe in den modernen Gesellschaften. Kirchenvertreter haben erkannt, dass Theologie immer auch Religionskritik impliziert, auch wenn sie sich darauf nicht reduzieren lässt. „Um ihrer kritisch-unterscheidenden Aufgabe willen kann die Theologie dieses Feld unter keinen Umständen einfach einer „religiös unmusikalischen“ (M. Weber) Religionskritik überlassen. Denn eine Religionskritik von außen reicht nicht aus“ (Hofheinz 2014: 4). Dies heißt jedoch nicht, dass theologische Religionskritik eine Kritik von außen überflüssig machen, sondern lediglich die Innenperspektive zur Geltung bringen will, so dass sie sich im interdisziplinären religionskritischen Dialog als diskursfähig erweisen kann (vgl. Hofheinz 2014: 7).

Aus theologischer Sicht steht die externe Religionskritik als Fremdprophetie „in der Tradition der prophetischen Kritik; weil sie in Kirche und Theologie keinen Ort hatte, musste sie sich „außen“, als Kritik an Kirche und Theologie artikulieren“ (Schoberth 2014: 118).

Das Feld der Religionskritik erstreckt sich heute jedoch weit über den kirchlich-religiösen Raum hinaus. Untersucht werden sowohl die Heilsversprechen als auch die Herrschaftsansprüche säkularer Glaubenssysteme im Hinblick auf ihre weltanschaulichen Grundlagen sowie die sie treibenden Interessen. Im Sinne einer religiösen Kulturhermeneutik werden Gedanken- und Vorstellungssysteme, die bewusst oder unbewusst das Handeln von Menschen steuern, analysiert und auf ihre gesellschaftlich-politische Berechtigung hin kritisch hinterfragt. Norbert Bolz (2019) entlarvt z. B. die Öko-Bewegung und ihre Klimarettungsagenda als moderne Spielart apokalyptischer Religiosität und deckt die geldmachtpolitischen Interessen auf, von denen sie finanziert und medial befeuert wird. In einem durchaus satirisch-bissigen Vergleich zeigt Gerald Ehegartner (2021) die Parallelen zwischen Christentum und „Corona-Religion“ auf und kritisiert auf diese Weise wirkungsvoll den überzogenen Herrschaftsanspruch einer sogenannten Wissenschaftsreligion.

Ob und wie sich C. G. Jung in das weit gefächerte Spektrum der Religions-, Kultur und Ideologiekritiker einordnen lässt und welchen originären Beitrag er geleistet hat, soll Gegenstand der nun folgenden Untersuchungen sein.

1.4 Spiritualität

Die Wörter „Religion“, „Religiosität“ und „Spiritualität“ bezeichnen Symbolisierungen und Objektivationen letzter Sinnhorizonte sowie die sich darauf beziehenden existenziellen Grundhaltungen, Überzeugungen, Verhaltensweisen und Lebensvollzüge. Aufgrund ihrer jeweiligen semantischen Komplexität sowie vielfältiger inhaltlicher Überschneidungen in diversen Kontexten sind scharfe begriffliche Abgrenzungen nicht nur wenig sinnvoll, sondern auch praktisch kaum durchführbar. Dennoch kann es aus arbeitsökonomischen und methodischen Gründen zielführend sein, gewisse terminologische Akzentsetzungen vorzunehmen und so vorläufige Verständnis- und Bedeutungshorizonte abzustecken. Martin Riesebrodt verortet „Religion primär auf der Ebene der institutionalisierten Praktiken und ihres Sinns“ (zit. n. Mendl / Schiefer Ferrari 2011: 13), wogegen er die „subjektive Aneignung und Ausdeutung von Religion“ (ebd.) als Religiosität bezeichnet. Für Harald Walach ist Religion „die Form, in die spirituelle Erfahrung durch ein komplexes Gemisch aus kulturellem Hintergrund und Einbettung der Erfahrung, Wiederholung der Erfahrung durch andere und Narration (= Weitererzählung) kondensiert“ (Walach 2015: 30). Das primäre und konstitutive Element einer Religion ist demnach die individuelle bzw. kollektive Erfahrung. Zur Verdeutlichung des Verhältnisses zwischen Form und Inhalt zieht der Autor die literarische Metapher des Gedichtes heran: „Die Erfahrung selbst ist analog zum Inhalt eines Gedichts, die Religion analog zu seiner Form zu sehen“ (ebd.). Eine lebendige und intakte Religion ist dabei nicht nur formaler Ausdruck, sondern auch Ermöglichungsgrund neuer Erfahrung: „Sie drückt Erfahrung und deren wesentliche Gehalte in ihren Bildern, Mythen, Metaphern, Parabeln aus und vermittelt in ihren Riten erfahrungsmäßigen Zugang zur Wirklichkeit, die sie speist“ (ebd.). Als spirituell kann eine Erfahrung nach Walach nur dann qualifiziert werden, wenn sie folgende Kriterien erfüllt:

(1) Ganzheitlichkeit: „wenn sie ganzheitlich Erkennen, Affekt und Emotion, Motivation und Handeln durchdringt“ (Walach 2015: 23).

(2) Ethische Verhaltensnormen als Konsequenz aus einer spirituellen Erfahrung (vgl. Walach 2015: 31).

(3) Selbsttranszendenz: „Bezogensein auf eine über das Ich hinausreichende größere Wirklichkeit“ (Walach 2015: 24).

(4) Wirklichkeitsbezug: Die authentische spirituelle Erfahrung ist immer Erfahrung von Wirklichkeit (vgl. Walach 2015: 26).

Die oben thematisierte Definitionsproblematik zeigt sich unter anderem auch in Walachs Behauptung, „dass religiöse und spirituelle Erfahrungen zunächst im Kern identisch sind“ (Walach 2015: 28). Erst durch ihre Einbettung in einen institutionellen Kontext wird aus einer spirituellen Erfahrung eine religiöse. Folglich lässt sich für ihn „Religiosität“ definieren als „eine im Rahmen einer verfassten Religion gelebte Spiritualität“ (Walach 2015: 32). In Anlehnung an den Psychologen Gordon W. Allport unterscheidet Walach zwischen extrinsisch und intrinsisch motivierter Religiosität. Die Befolgung von religiösen Verhaltensnormen ist extrinsisch motiviert, wenn ihre Einhaltung aus Angst vor Bestrafung bzw. aus Hoffnung auf Belohnung geschieht. Religiöse Handlungen sind dagegen intrinsisch motiviert, wenn sie aus einem inneren Impuls bzw. aus einer inneren Einsicht heraus erfolgen (vgl. Walach 2015: 33).

Der Begriff „Spiritualität“ fand erst Anfang der 1960er Jahre im deutsch-sprachigen Raum Verbreitung. Noch 1965 musste Hans Urs von Balthasar seine Verwendung in einem Aufsatz rechtfertigen, da der Terminus bis dahin „weder in der allgemeinen philosophisch-religiösen noch in der besonderen biblischtheologischen Überlieferung“ (zit. n. Baier 2006: 14) verwendet wurde. Von Balthasar forderte damals eine Ausweitung des Begriffs vom vorherrschend christlichen Sprachgebrauch („Franziskanische Spiritualität“, „Laienspiritualität“) nicht nur auf andere Weltreligionen („buddhistische Spiritualität“), sondern auch auf den säkularen Bereich:

„Vom gleichen allgemeinen Bewußtsein her ist positiv der Begriffsinhalt annähernd zu bestimmen als je praktische oder existentielle Grundhaltung des Menschen, die Folge und Ausdruck seines religiösen – oder allgemeiner: ethisch-engagierten Daseinsverständnisses ist: eine akthafte und zuständliche (habituelle) Durchstimmtheit seines Lebens von seinen objektiven Letzteinsichten und Letztentscheidungen her.“ (zit. n. Baier 2006: 15)

Diese Öffnung für nicht-religiöse Lebensentwürfe hatte vor allem in einer Zeit des christlichen Dialogs mit dem Atheismus eine integrierende Funktion. In Zeiten „postkonventioneller Religiosität“ (ebd.) stützen sich die „Letzteinsichten und Letztentscheidungen“ nicht mehr in erster Linie auf die autoritativ verkündeten Lehren einer Glaubensgemeinschaft, sondern werden auf persönliche Erfahrungen zurückgeführt. Im Hinblick auf die Grundüberzeugungen bezüglich dessen, was uns unbedingt angeht, definiert Sandra Schneiders Spiritualität als „the experience of conscious involvement in the project of life-integration through self-transcendence toward the ultimate value one perceives“ (zit. n. Baier 2006: 15). Auch wenn diese Definition sich erfahrungs- und lebensbasiert gibt und offensichtlich explizit religiöse Terminologie vermeidet, läuft sie genau auf das hinaus, was Jung als Religion definiert: „Religion ist eine Beziehung zu dem höchsten oder stärksten Wert, sei er nun positiv oder negativ“ (Jung 1992d: 83). An dieser Stelle sei noch nebenbei bemerkt, dass der Ausdruck „Spiritualität“ kein einziges Mal in Jungs Schriften auftaucht, was möglicherweise dem Umstand geschuldet sein mag, dass der Verfasser vor der Popularisierung des Begriffs in den 1960er Jahren verstorben ist. Von Seiten konfessionell gebundener Autoren werden Spiritualitätsdefinitionen, die sich auf ein individualisiertes Verständnis von Religion oder Religiosität stützen, als defizitär bewertet. Obwohl sie nicht bestreiten, dass Spiritualität als gelebte Erfahrung persönlich sein muss, betonen sie die soziale und kulturelle Dimension, da jede Person durch eine Gemeinschaft in eine „soziale und inkulturierte Spiritualität eingeführt“ (Baier 2006: 16) wird. Der Spiritualitätsforscher Karl Baier weist darauf hin, dass der Begriff „Spiritualität“ gelegentlich auf biedere Frömmelei und Lifestyle-Fragen reduziert wird, obwohl er ein „unterschätztes kritisches Potential“ (ebd.) enthält. Als Beleg dieser These zitiert er den Theologen Barth, der schreibt: „Spiritualität ist ein Protestbegriff gegen alle veräußerlichten, als heteronom verstandenen Formen von Religion“ (zit. n. Baier 2006: 17). Gerade in dieser Funktion zeigt sich die besondere Nähe der Spiritualität zur Philosophie:

„Betrachtet man die oben zitierten Definitionen von Spiritualität, so sieht man sofort, dass es sich um Bestimmungen handelt, die auf philosophische Begriffe (Transzendenz, letzte Wirklichkeit, Wert, Erfahrung, Letzt-Einsicht, Grund-Entscheidung, Selbst, etc.) und damit verbundene Theorien zurückgreifen, die ohne Philosophie nicht kritisch befragt, begründet und weiterentwickelt werden können.“ (Baier 2006: 18)

Die kritische Reflexion, die zur theoretischen Fundierung und konzeptionellen Weiterentwicklung von Spiritualität unabdingbar ist, geschieht jedoch nicht nur in der Philosophie, sondern auch in der Psychologie, der Soziologie und anderen sogenannten Lebenswissenschaften. Da die evidenzbasierte Erkenntnisweise in den modernen Wissenschaften auf die den (künstlich erweiterten) Sinnesorganen zugängliche Außenwelt beschränkt ist, kann die in spirituellen Übungen erfolgende Hinwendung zu den Innenwelten des Bewusstseins und des Unbewussten als komplementäres Korrektiv fungieren, „das idealerweise sogar das Erkenntnisprogramm der Wissenschaft im Sinn der Aufklärung ergänzen und erweitern könnte, ja sogar müsste“ (Walach 2015: 87). Das zentrale Anliegen der Aufklärung bestand in der Herausführung des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit und seiner Befreiung aus religiösen und ideologischen Abhängigkeiten und Zwängen. Nach Walach konnte dieses Ziel dank der Verbreitung des wissenschaftlichen Denkens in den modernen Gesellschaften schon weitgehend verwirklicht werden. Den nächsten logischen Schritt in dieser Entwicklung sieht der Forscher in der „Befreiung vom Monopol einer bestimmten Form von Rationalität und Doktrin, ja auch vom Monopol einer aus der Aufklärung entstandenen Rationalität“ (Walach 2015: 219). Unverzichtbare Voraussetzung dazu ist allerdings eine Spiritualität, die sich „einer Verbindung mit einer bestimmten Form von Dogma und Doktrin konsequent“ (ebd.) enthält, da sie sich ansonsten im Hinblick auf die Weiterführung der Aufklärung kontraproduktiv auswirkt, indem sie deren systemkritischen Impuls verrät. Inwiefern Jungs kultur- und religionskritische Analysen einen Beitrag zu einer zukunftsfähigen Spiritualität leisten können, soll in dieser Studie untersucht werden.

2 Jung und die Klassiker der atheistischen Religionskritik

Aus Lehrbüchern für Ethik und Religionslehre der Oberstufe an Gymnasien sind sie bereits mehreren Generationen von Schülerinnen und Schülern als die vier großen Religionskritiker des 19. Jahrhunderts bekannt, die die Diskussion über die gesellschaftliche Daseinsberechtigung von religiösen Glaubensinhalten und -institutionen auch noch durch das ganze 20. Jahrhundert hindurch argumentativ mitgeprägt haben: Ludwig Feuerbach (1804–1872), Karl Marx (1818–1883), Friedrich Nietzsche (1844–1900) und Sigmund Freud (1856–1939). Gemeinsam ist ihnen allen die philosophische Voraussetzung des Atheismus sowie das Ziel die Menschheit von dem Aberglauben der Religion zu befreien und auf eine höhere geistige, kulturelle und gesellschaftliche Stufe zu heben. Die Details ihrer Zukunftsentwürfe unterscheiden sich allerdings beträchtlich voneinander. Prägend für C. G. Jung und die Entwicklung seiner religiösen Einstellung, seiner psychologischen Theoriebildung und der ihnen zugrunde liegenden philosophischen Ideen sollten Nietzsche und Freud werden. Ersteren kannte er aus dem intensiven Studium seiner Schriften, mit letzterem verband ihn eine langjährige freundschaftliche Zusammenarbeit am gemeinsamen Projekt der wissenschaftlichen Fundierung der Psychoanalyse. Eine angemessene Würdigung der religionskritischen Leistung Jungs ist ohne Bezugnahme auf die Werke von Nietzsche und Freud bestenfalls unvollständig, wenn nicht gar unmöglich.

2.1 Grundzüge von Freuds Religionskritik

„Wenn eine andere Massenbindung an die Stelle der religiösen tritt, wie es jetzt der sozialistischen zu gelingen scheint, so wird sich dieselbe Intoleranz gegen die Außenstehenden ergeben wie im Zeitalter der Religionskämpfe, und wenn die Differenzen wissenschaftlicher Anschauungen je eine ähnliche Bedeutung für die Massen gewinnen könnten, würde sich dasselbe Resultat auch für diese Motivierung wiederholen.“ (Freud 1921: 2865)

Seine Thesen in Sachen Religion hat Freud in den kulturtheoretischen Schriften „Totem und Tabu“ (1913), „Die Zukunft einer Illusion“ (1928) und „Der Mann Moses und die monotheistische Religion“ (1939) entfaltet. Von seinem atheistischen Standpunkt aus, den er nicht beweist, sondern ebenso voraussetzt wie seine materialistisch-szientistische Weltanschauung, haben religiöse Vorstellungen keinen Anhaltspunkt in der Wirklichkeit. Religion ist eine rein psychologische Erscheinung, die als kollektive Zwangsneurose erklärt und deren Inhalte als Illusionen entlarvt werden können. Grundlegend für sein Verständnis ist die in „Totem und Tabu“ entwickelte Urhordentheorie. Ihr zufolge lebten die Menschen zu einem nicht näher bestimmten Zeitpunkt ihrer Urgeschichte in patriarchalisch-strukturierten Großfamilien, die von dem stärksten männlichen Mitglied angeführt und dominiert wurden. Womöglich hatte Freud hier ein Sozialsystem vor Augen, von dem sich jeder moderne Zoobesucher noch im Affengehege einen lebhaften Eindruck verschaffen kann. Jedenfalls beanspruchte der Anführer „alle Weibchen der Horde für sich und bedrohte seine Söhne mit Kastration oder Verstoßung falls sie sich den Weibchen zu nähern versuchten. Zuletzt aber wurde der tyrannische Urvater vom stärksten seiner Söhne erschlagen, der dann dieselbe Stellung für sich beanspruchte – und das gleiche Spiel begann von neuem“ (Assmann 2014: 119). Zu ergänzen ist noch, dass die Urhorde den Ermordeten verspeiste, um sich seine Kräfte einzuverleiben. Dieses Prozedere wiederholte sich über Jahrtausende, bis schließlich der getötete Urvater durch ein Totemtier ersetzt, die Vatermorde ins Unbewusste verdrängt und das rituell geopferte und gemeinschaftlich verzehrte Totemtier zum Gegenstand religiöser Verehrung wurde. Der Zweck religiöser Riten und Gebräuche besteht demnach in der Verdrängung des phylogenetisch erworbenen und vererbten ödipalen Schuldkomplexes, so dass sie den Charakter von neurotischen Zwangshandlungen annehmen.

Als ursprünglichste aller Religionsformen betrachtet Freud den Totemismus, aus dem sich dann der Polytheismus und schließlich der Monotheismus entwickelt hat. Wie es zu dieser Entwicklung kam, wird in „Die Zukunft einer Illusion“ im Rückgriff auf Freuds Kulturtheorie erläutert. Nach ihr hat die Religion primär die gleiche Aufgabe wie die Kultur: beide sollen den Menschen gegen die Natur verteidigen. Von ihr sagt der Psychoanalytiker, dass sie uns im Gegensatz zur Kultur keinen Triebverzicht abverlangt, aber „sie bringt uns um, kalt, grausam, rücksichtslos wie uns scheint, möglicherweise gerade bei den Anlässen unserer Befriedigung“ (Freud 1991: 95). Der unerbittlichen Übermacht der Naturkräfte, die das Leben des Menschen sowohl kollektiv als auch individuell bedroht durch Hunger, Krankheit, Naturkatastrophen und den Tod, versucht die Menschheit durch ihre Kultureinrichtungen Einhalt zu gebieten. Die Herausforderung ist eine dreifache: „ … das schwer bedrohte Selbstgefühl des Menschen verlangt nach Trost, der Welt und dem Leben sollen ihre Schrecken genommen werden, nebenbei will auch die Wissbegierde der Menschen, […], eine Antwort haben“ (Freud 1991: 96f.). Der erste Schritt in der Bewältigung dieser Aufgabe besteht in der Vermenschlichung der unpersönlichen Naturkräfte. Durch die Personifizierung verlieren sie den Schrecken der Unheimlichkeit. Obwohl ihre Übermacht weiterhin bestehen bleibt, werden sie dem Menschen ähnlich, so dass er mit ihnen umgehen kann wie mit seinesgleichen. Man kann ihnen sogar einen Teil ihrer Macht wegnehmen, indem man sie bittet, beschwichtigt, beschwört oder gar besticht. Freuds Anknüpfung an die Theorie der Entstehung der Religion aus dem Vaterkomplex (vgl. Freud 2016) geschieht nun in zwei Schritten. Zunächst konstruiert er eine Analogie zwischen der Situation der primitiven Menschen, die die Naturkräfte personifiziert haben und der Situation der frühen Kindheit, in der sich das Kleinkind seinen übermächtigen Eltern gegenübersah.

Dabei ist es zunächst die Mutter, die den Selbsterhaltungstrieb des Kleinkindes befriedigt und seiner Schutzbedürftigkeit Abhilfe schafft.

„In dieser Funktion wird die Mutter bald von dem stärkeren Vater abgelöst, dem sie nun über die ganze Kindheit verbleibt. Das Verhältnis zum Vater ist aber mit einer eigentümlichen Ambivalenz behaftet. Er war selbst eine Gefahr, vielleicht von dem früheren Verhältnis zur Mutter her. So fürchtet man ihn nicht minder, als man sich nach ihm sehnt und ihn bewundert.“ (Freud 1991: 104)

Der Heranwachsende erkennt schließlich, dass er zwar nicht mehr den Schutz seines Vaters braucht, jedoch sein Leben lang von den personifizierten Naturkräften abhängig bleiben wird. Diesen Übermächten, vor denen er sich fürchtet, die er zu gewinnen versucht und deren Schutz er sich anvertraut, verleiht er die Züge der Vaterfigur. Der zweite Schritt besteht also in der Projektion des aus der Kindheit bleibenden Schutz- und Hilfebedürfnisses vom Vater auf Naturgottheiten. Indem er den Göttern Vatercharakter verleiht, folgt der Mensch nicht nur einem infantilen Vorbild, sondern knüpft unbewusst an den in den Tiefenschichten der Seele verankerten, phylogenetischen Vaterkomplex an. Die Götter müssen nun vor allem drei Aufgaben erfüllen:

(1) Bannung der Schrecken der Natur

(2) Versöhnung mit der Grausamkeit des Schicksals (Unglück, Leid, Krankheiten und Tod)

(3) Entschädigung für die aus dem kulturell bedingten Triebverzicht entstandenen Leiden und Entbehrungen

Im Laufe der Menschheitsentwicklung wird die dritte Aufgabe zur eigentlichen Domäne der Religion, die nicht nur über die Ausführung der Kulturvorschriften wacht, sondern diesen Normen göttlichen Ursprung zuerkennt und aus ihnen eine Gesellschafts-, Natur- und Weltordnung macht (vgl. Freud 1991: 98). Die daraus resultierende Quintessenz einer religiösen Weltanschauung fasst Freud folgendermaßen zusammen:

„Alles, was in dieser Welt vor sich geht, ist Ausführung der Absichten einer uns überlegenen Intelligenz, die, wenn auch auf schwer zu verfolgenden Wegen und Umwegen, schließlich alles zum Guten, d. h. für uns Erfreulichen, lenkt. Über jedem von uns wacht eine gütige, nur scheinbar gestrenge Vorsehung, die nicht zulässt, dass wir zum Spielball der überstarken und schonungslosen Naturkräfte werden; der Tod selbst ist keine Vernichtung, keine Rückkehr zum anorganisch Leblosen, sondern der Anfang einer neuen Art von Intelligenz, die auf dem Wege der Höherentwicklung liegt.“ (Freud 1991: 99)

Aber wie kam es, dass sich die aus der Vielzahl der Naturkräfte durch Personifikation hervorgegangenen Götter zu dem einen göttlichen Wesen verdichtet haben, das zum Inbegriff der Weltordnung und zum ausschließlichen Gegenstand der Verehrung geworden ist?

Die Antwort auf diese Frage gibt Freud gegen Ende seines Lebens in dem Buch „Der Mann Moses und die monotheistische Religion“. Den Ursprung des Monotheismus verortet der Verfasser im Ägypten des Pharaos Echnaton (ca. 1351–1334 v. Chr.), der die etablierte polytheistische Religion abschaffte und durch den Kult des Sonnengottes Aton ersetzte. Die Kultreform Echnatons blieb jedoch eine kurzlebige Episode, da die ägyptische Priesterschaft nach dem Tod des Pharaos wieder zum Kult der alten Götter zurückkehrte. Um die Wiederholung einer solchen Ketzerei zu verhindern, wurden alle Spuren Echnatons getilgt und seine Anhänger aus Ägypten vertrieben. Im Zuge der Verfolgung schließt sich der Ägypter Moses, der ein hochrangiger Anhänger und Freund des Ketzerkönigs war, den im Nildelta siedelnden Hebräern an, wandert mit ihnen nach Kanaan aus und rettet so den Monotheismus. Allerdings wurde der Prophet des einen Gottes von den Israeliten erschlagen, da sie noch nicht reif waren für die Verehrung eines bildlosen, unsichtbaren Gottes, dessen rigorose moralische Forderungen sie nicht ertrugen. Auf diese Weise wiederholten die Israeliten „unbewusst den Vatermord in der Urhorde und wurden Opfer einer Retraumatisierung“ (Assmann 2014: 121). Diese Traumatisierung führte zu einer kollektiven Neurose, deren Zwangscharakter für Freud zum entscheidenden Merkmal von Religion wurde:

„Frühes Trauma – Abwehr – Latenz – Ausbruch der neurotischen Erkrankung – teilweise Wiederkehr des Verdrängten: so lautet die Formel, die wir für die Entwicklung einer Neurose aufgestellt haben.“ (Freud 1992: 101 zit. n. Assmann 2014: 123).

Auf die Weise will Freud das Phänomen erklären, dass die Israeliten zunächst über eine Latenzzeit von mehreren Jahrhunderten hinweg wieder in einen Polytheismus zurückgefallen sind, und erst nach den traumatischen Ereignissen des Babylonischen Exils von den Propheten erneut zum Monotheismus bekehrt werden mussten.

„In der Vehemenz und Nachhaltigkeit, mit der sich die prophetische Botschaft im Volk durchsetzt und von ihm Besitz ergreift, äußert sich, und das ist in Freuds Augen mehr als eine bloße Analogie, das pathologische Moment des Monotheismus. Diese Religion übt einen Zwang auf den Menschen aus, den Freud vornehm als „das Privileg der Befreiung vom Zwang des logischen Denkens“ umschreibt, so als wäre das logische Denken zwanghaft und nicht die unwiderstehliche irrationale Macht, die es außer Kraft setzt.“ (Assmann 2014: 124)

Da religiöse Lehren jeglicher wissenschaftlichen Grundlage entbehren, da sie weder aus dem logischen Denken hervorgehen noch das Ergebnis empirischer Forschung sind, fragt sich Freud, wie ihre de facto weltweite Verbreitung zu erklären ist. Sein Antwortversuch ist eine psychologische Erklärung. Die religiösen Lehrsätze „sind nicht Niederschläge der Erfahrung oder Endresultate des Denkens, es sind Illusionen, Erfüllungen der ältesten, stärksten, dringendsten Wünsche der Menschheit; das Geheimnis ihrer Stärke ist die Stärke ihrer Wünsche“ (Freud 1991: 110). Die Idee einer göttlichen Vorsehung spendet Trost angesichts der Unwägbarkeiten des Schicksals, die Vorstellung eines göttlichen Weltgerichts erfüllt das Gerechtigkeitsbedürfnis, das in diesem Leben nur bruchstückhaft realisiert werden kann, die Verheißung eines Lebens nach dem Tod nimmt die Angst vor dem drohenden Nichts. Darüber hinaus geben die Religionen einfache Antworten auf die uralten Rätselfragen nach dem woher und wohin des Seins und des menschlichen Lebens. Religiöse Lehrsysteme bieten also „eine großartige Erleichterung für die Einzelpsyche, wenn die nie ganz überwundenen Konflikte der Kinderzeit ihr abgenommen und einer von allen angenommenen Lösung zugeführt werden“ (Freud 1991: 110). Im Unterschied zum bloßen Irrtum ist für die Illusion die Herleitung aus menschlichen Wünschen konstitutiv. In dieser Hinsicht sieht Freud die Nähe der Illusion zur Wahnidee gegeben. Letztere ist allerdings im Aufbau komplizierter und ist gekennzeichnet durch einen offensichtlichen Widerspruch zur Wirklichkeit. Ob eine religiöse Idee eher eine Illusion oder eher eine Wahnidee ist, hängt von ihrem Verhältnis zur Wirklichkeit ab. Zur Kenntnis der Wirklichkeit kann ausschließlich die Wissenschaft führen. Intuition oder Introspektion ergeben für Freud keinen Wirklichkeitsgehalt. Illusionen sind nicht zwangsläufig unrealistisch oder unrealisierbar. Als Illusionen sind religiöse Lehren daher auch unbeweisbar und unwiderlegbar, was wiederum zu ihrer Attraktivität und Verbreitung beiträgt.

Wir heißen also einen Glauben eine Illusion, wenn sich in seiner Motivierung die Wunscherfüllung vordrängt, und sehen dabei von seinem Verhältnis zur Wirklichkeit ab, ebenso wie die Illusion selbst auf ihre Beglaubigung verzichtet.“ (Freud 2016: 111)

Für Freud erübrigt sich also eine Untersuchung des Wahrheitsgehalts religiöser Lehren, nachdem er sie „in ihrer psychologischen Natur als Illusionen erkannt“ (Freud 2016: 113) hat. Hier unterliegt der Psychoanalytiker allerdings einem Trugschluss, indem er ebenso wie Feuerbach die psychologische Ebene mit der ontologischen gleichsetzt. Aus der Stärke des Wunsches nach Gott, nach Sinn und nach einem ewigen Leben haben Theologen früherer