Café der Lehrlinge (Hotel der Magier 3) - Nicki Thornton - E-Book

Café der Lehrlinge (Hotel der Magier 3) E-Book

Nicki Thornton

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Beschreibung

Das mörderisch gute Finale der magischen Krimi-Serie! Seth hat es endlich geschafft: Er darf seine Ausbildung zum Magier beginnen! Gemeinsam mit seiner sprechenden Katze Nachtschatten reist er nach Hagimiere und kann es kaum erwarten, die anderen Lehrlinge kennenzulernen. Doch irgendjemand hat es auf die angehenden Zauberer abgesehen und serviert ihnen im magischen Café keinen Tee, sondern den Tod auf dem Silbertablett. Und Seth hat mal wieder alle Hände voll zu tun. Kann er seine Prüfungen ablegen, den Mörder überführen und ihn stoppen, bevor er erneut zuschlägt? Band 1: Hotel der Magier Band 2: Leuchtturm der Geister Band 3: Café der Lehrlinge

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Seth hat es endlich geschafft: Er darf seine Ausbildung zum Magier beginnen! Gemeinsam mit seiner sprechenden Katze Nachtschatten reist er nach Hagimiere und kann es kaum erwarten, die anderen Lehrlinge kennenzulernen. Doch irgendjemand hat es auf die angehenden Zauberer abgesehen und serviert ihnen im magischen Café keinen Tee, sondern den Tod auf dem Silbertablett. Und Seth hat mal wieder alle Hände voll zu tun. Kann er seine Prüfungen ablegen, den Mörder überführen und ihn stoppen, bevor er erneut zuschlägt?

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  Danksagung

  Vita

 

Für meine SchwesternKaren und Sandra

Ich erwarte zwei Dinge von dir – nur zwei.« Angelique Squerr warf ihr langes, dunkles Haar mit der auffälligen roten Strähne auf einer Seite herum. »Du setzt dich in dieses Café da und wartest, bis ich zurückkomme. Und du hältst dich aus allem raus.«

Wenn magische Freunde einem etwas sagen, hört man besser genau zu, wie Seth aus Erfahrung wusste. Aber im Moment lenkten ihn die flatternden gelben Sonnenschirme ab, die von den kreisrunden Tischen vor dem Superlecker-Jamjam-Café aufragten. Es sah aus, als wäre ein Schwarm Riesenschmetterlinge an dieser Ecke des Forums gelandet, einem ziemlich schmutzigen und düsteren Platz im Zentrum von Hagimiere.

Angelique klemmte sich ihren rot lackierten Spazierstock mit der silbernen Spitze unter den Arm – ein magisches Instrument, ohne das sie nie aus dem Haus ging – und kehrte ihm den Rücken. Segelte einfach davon, um etwas Wichtiges zu erledigen, während Seth allein zurückblieb, mit einem schweren Koffer, einem sperrigen Korb und dem unguten Gefühl, dass er nie etwas richtig machen konnte.

Trotzdem war er ziemlich aufgekratzt, als er den Korb in die Hand nahm und sich mit seinem schweren Koffer unbeholfen durch die knatternden Sonnenschirme schlängelte.

Ein Geruch nach warmem Zimt und Zucker hing in der kalten Luft. Nur ein einziger Gast trotzte der Kälte hier draußen: Ein Mädchen mit wilden Locken saß allein vor dem Fenster des Cafés, den Mund weit aufgerissen – so als wäre sie einfach über ihrem Erdbeermuffin eingeschlafen, der wirklich superlecker aussah.

Als Seth das Café betrat, empfing ihn ein warmer Luftschwall. Hinter der Theke stand eine Frau in einer rot-weiß gestreiften Schürze und mit winzigen Rastazöpfchen auf dem Kopf, die Gebäck anordnete. Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln mit ihren rot geschminkten Lippen. Seth lächelte schüchtern zurück, dann ging er zu einem leeren Tisch ziemlich weit hinten im Raum, aber mit einem guten Blick auf den Platz draußen. Hier würde er für Angelique Wache halten, obwohl sie ihm gerade unterstellt hatte, dass er es noch nicht mal schaffte, einfach nur dazusitzen und zu warten. Aber das war ein Irrtum. Wenn Seth etwas konnte, dann warten. Er würde ihr schon zeigen, dass auf ihn Verlass war.

Und überhaupt, was sollte in einem harmlosen Café schon passieren? In diesem Raum mit den sonnengelben Wänden, in dem er sich wie in einer leuchtenden Puddingschüssel vorkam?

Nach einigem Hin und Her gelang es ihm schließlich, den sperrigen Korb einigermaßen bequem auf seinen Beinen abzustellen. Dann griff er nach der Speisekarte, obwohl ihn Essen im Moment viel weniger interessierte als seine Umgebung, die er neugierig ins Auge fasste.

Um ihn herum verspeiste ein gutes Dutzend Gäste dick belegte Sandwiches, knabberte an klebrigen Zimtschnecken oder schlürfte schaumige giftgrüne Getränke durch bunt gestreifte Strohhalme. Gedämpftes Stimmengewirr erfüllte den Raum, Teelöffel klirrten leise in Porzellantassen, und es duftete verheißungsvoll nach überbackenem Käse.

Wer gehört dazu?, dachte Seth unwillkürlich, während er seinen Blick umherschweifen ließ.

Denn einige dieser Gäste, die beim Essen in ein Buch vertieft waren oder Kreuzworträtsel lösten, hatten ein Geheimnis. Ein Geheimnis, das dieses Café für Seth zum spannendsten Ort der Welt machte. Zu diesem Kreis von Auserwählten wollte er auch eines Tages gehören – etwas, wonach er sich mit jeder Faser seines Herzens sehnte.

Magier. Sie waren Magier.

»Ach, und hier werde ich abgestellt?«, meldete sich eine raunzende Stimme zu Wort, die keinen Hehl aus ihrer schlechten Laune machte. »Weißt du überhaupt, wie demütigend es ist, in einem Korb herumgeschleppt zu werden? Oder glaubst du vielleicht, das gefällt mir? Was machen wir hier eigentlich?«

Manchmal verfluchte Seth den Tag, an dem er herausgefunden hatte, dass seine Katze die menschliche Sprache beherrschte. So wie jetzt.

An einem der Fenstertische saß ein Mädchen mit buschigem, grünem Haar, das wie ein dickes Moospolster aussah. Zum Glück war er selbst ein eher unauffälliger Typ, mit seiner schmächtigen Gestalt, dem zerzausten Haar und den weit auseinanderstehenden Augen. Er konnte hier den ganzen Tag an seinem Platz sitzen und die anderen Leute beobachten, ohne dass er selbst bemerkt wurde.

»Nachtschatten«, flüsterte er, »wir warten hier einfach und machen uns möglichst unsichtbar.«

Wieder sah er sich um. Würde er die magischen Gäste erkennen, und wenn ja, woran?

Zum Beispiel dieser elegante Herr im Nadelstreifenanzug am nächsten Tisch. Er trug eine goldgemusterte Weste, die sich über seinem runden Bauch spannte, und von seinem Kopf ragten zwei graue Haarbüschel wie Fledermausflügel auf. Er leckte sich die Finger ab, nachdem er ruck, zuck ein knuspriges Sandwich mit viel Salami und Käse verschlungen hatte, dann ging er zum Bezahlen an die Kasse.

»Superlecker-Jamjam-Café«, murrte Nachtschatten. »Dass ich nicht lache! Für dich mag es hier ja in Ordnung sein. Ich wette, du bestellst dir gleich was richtig Leckeres, das nur so strotzt vor Zucker. Gibt’s hier vielleicht auch Eisbecher?«

»Psst«, zischte Seth in Richtung Korb. »Oder willst du, dass die Leute zusammenlaufen, weil ich mit einer sprechenden Katze im Café aufgetaucht bin? Angelique flippt aus! Wir sind übrigens in Hagimiere, einem der seltenen Orte mit einer großen magischen Gemeinschaft.« Seth hatte das alles gerade erst von Angelique erfahren. »Es ist aber keine rein magische Stadt. Die Magier müssen sich trotzdem bedeckt halten.«

Eine magische Stadt, das hätte Seth gefallen. Er stellte sich vor, wie die Bewohner weiße Mäuse aus der Luft zauberten, während sie die Straße entlangspazierten. Oder die Wände in Gold verwandelten und Fische vom Himmel regnen ließen. Obwohl das ziemlich unwahrscheinlich war, so viel wusste Seth bereits über Magie. Magier gingen sehr vorsichtig mit ihren Kräften um. Denn Magie war nicht nur extrem selten, sondern konnte auch gefährlich sein.

Er seufzte leise. Er hatte sich ja selbst schon beinahe als angehenden Magier betrachtet. Aber damit war jetzt Schluss. Im Moment konnte er schon froh sein, wenn er es schaffte, seinen Tee ohne Löffel umzurühren. Oder einen anderen harmlosen Zauber hinzubekommen, ohne dabei eine Riesenexplosion auszulösen.

»Also kannst du jetzt bitte einfach den Mund halten?«, flehte er Nachtschatten an. »Vielleicht sind hier gar keine Katzen erlaubt.«

»Na toll – wenn das nicht diskrimierend ist! Hunde sind in fast allen Lokalen willkommen. Die werden verehrt wie Götter und bekommen sofort frisches Wasser hingestellt oder was auch immer. Diese plumpen, schmutzigen Geschöpfe. Katzen müssen nicht gebadet werden, verstehst du? Und hast du je eine Katze im Café gesehen? Außerdem, inwiefern bringt dich das in deiner Magie weiter, wenn ich fragen darf?«

Seth beugte sich dicht über den Korb und flüsterte: »Angelique meint, es sei gut für mich, eine Weile unter magischen Menschen zu leben.« In Wahrheit war sie aber wohl nur von ihm genervt und wollte die Verantwortung für seine katastrophale Magie auf andere Schultern abladen. Zumindest lag der Gedanke nahe.

Seth verfolgte in letzter Zeit nur ein einziges Ziel: Er wollte ein großer Zauberer werden. Tag und Nacht träumte er davon (außer jetzt natürlich, wo ihn eher dieses schaumige grüne Getränk interessierte). Doch allmählich dämmerte ihm die grausame Wahrheit, dass sein großer Traum vielleicht nie in Erfüllung gehen würde. Alles ging hoffnungslos schief, keinen einzigen Zauber bekam er in den Griff, sosehr er sich auch anstrengte.

Angelique zum Beispiel entfachte mühelos ein winziges magisches Feuer in ihrer Hand. Seth hatte es auch einmal versucht – und was war passiert? Er hatte sich so schwer dabei verbrannt, dass er tagelang mit einem riesigen Verband herumlaufen musste und nicht weiterüben konnte.

Inzwischen war die Aussicht, dass er jemals seine Zulassung zur magischen Welt bekommen würde, noch ferner gerückt als eine Reise zum Mond.

Und falls er wirklich die Magie seiner Mutter geerbt hatte, stimmte etwas damit nicht – diesen Verdacht wurde er einfach nicht mehr los. Niedergeschlagen starrte er aus dem Fenster und beobachtete einen etwa dreizehnjährigen Jungen mit kurzen schwarzen Locken und walnussbrauner Haut, der sich zwischen den gelben Sonnenschirmen durchschlängelte. Bei dem schlafenden Mädchen hielt er einen Augenblick inne, bevor er die Cafétür aufstieß und einen Schwall kühler Frühlingsluft hereinließ. Hastig schlüpfte er auf einen Stuhl und suchte den Raum mit angsterfüllten Augen ab.

»Hallo, Ranke – heiße Schokolade?« Mit einer lässigen Bewegung griff die Frau an der Theke nach einer breitrandigen Tasse und drückte auf einen Knopf, woraufhin das Brodeln des Milchaufschäumers den Raum erfüllte.

»Danke, Gladys«, sagte der Junge.

Das winzige Mädchen mit dem Moospolster auf dem Kopf sprang von seinem Stuhl auf. »Hey, Ranke!« Es wirkte geradezu bedrohlich, wie sie auf den Platz direkt neben dem Jungen zusteuerte – so als wollte sie ihm den Fluchtweg abschneiden.

Dann ging die Tür erneut auf, und herein stolzierte ein etwas älterer Junge mit glattem rabenschwarzem Haar und pechschwarzen Augen, so undurchdringlich wie Onyx. Er trug ein schwarzes Cape, das um ihn herumschwang wie ein Paar coole Vampirflügel – oder zumindest sollte es diesen Eindruck erwecken.

»Das Übliche bitte, Glad«, näselte er und tippte mit den Fingern auf die Theke.

»Einmal Trickserschokotraum – kommt sofort, Dolcher«, flötete Gladys und schleuderte ihre Zöpfchen nach hinten. »Hab gehört, du kannst deine erste Verhaftung verbuchen. Hut ab.«

Dolcher zupfte mit einem selbstzufriedenen Lächeln seinen Kragen zurecht. Er wollte gerade etwas antworten, als sein Blick auf Ranke fiel. Sein Gesicht verhärtete sich, und Ranke zog sich nervös die Kapuze über den Kopf. Dolcher nahm ihm gegenüber Platz, und das Mädchen mit dem Mooshaar kicherte schadenfroh.

Wie ein Wirbelwind kam Gladys an ihren Tisch gefegt und stemmte die Hände in die Hüften. »Jetzt passt mal gut auf, ihr grünen Zauberlehrlinge – falls ihr glaubt, ihr könntet euch hier wieder gegenseitig irgendwelche dummen Streiche spielen, fliegt ihr raus. Und zwar sofort. Ist das klar? Andere Leute blau färben oder ihnen Karnickelohren anhexen … also wirklich!« Kopfschüttelnd ging sie hinter ihre Theke zurück.

Zauberlehrlinge. Seth war wie elektrisiert von diesem Wort.

Diese jungen Leute lernten also alle Magie! Mit einer Mischung aus Neugier und Neid fasste er die Gruppe ins Auge. Eine Magierlehre war etwas Hochbegehrtes – die beste Art, Magie zu lernen. Auch wenn es nicht besonders nett war, anderen Leuten Kaninchenohren anzuhexen oder sie blau zu färben.

Gladys brachte Dolcher einen riesigen Eisbecher mit viel Schlagsahne und Schokostreuseln in einem hohen Glas. Der Junge zuckte mit den Schultern und tauchte seinen Löffel hinein.

Dieser Dolcher spielte zwar den Coolen, aber die Begeisterung, mit der er sich über sein Eis hermachte, verriet Seth, dass er nicht viel älter als Ranke sein konnte.

»Keine Streiche mehr? Wirklich schade.« Das Mädchen mit dem Mooshaar warf Dolcher einen vielsagenden Blick zu. »Na ja, jedenfalls nicht hier im Superlecker!« Dann riss sie Ranke die Kapuze herunter. »Oh, du bist sie also losgeworden! Dabei waren deine Kaninchenohren so süß.«

Ranke zerrte sich wieder die Kapuze über den Kopf und versuchte so schnell wie möglich seine heiße Schokolade auszutrinken, aber die war offenbar wirklich heiß.

Das Mädchen kreischte so schrill beim Lachen, dass Seth zusammenzuckte. Seine Finger verkrampften sich um die Speisekarte und er konnte den Blick nicht von der Gruppe abwenden.

Dolcher beugte sich zu Ranke vor. »Ich habe nicht gehört, dass du Hallo gesagt hast. Das ist nicht sehr höflich gegenüber deinen Freunden.«

»Hallo, Dolcher«, murmelte Ranke. Er sah aus, als hätte er am liebsten die Flucht ergriffen, traute sich aber nicht.

»Hast wohl ein bisschen Small Talk mit Myrtle gemacht? Aber die ist ja direkt eingeschlafen – komisch, oder?« Dolcher grinste boshaft, und das Mädchen mit dem Mooshaar brach wieder in schrilles Gelächter aus.

Ranke nieste, einmal, zweimal – immer wieder. Sein Atem ging schnell und flach, und schließlich rang er verzweifelt nach Luft. Seine Augen tränten, ungeschickt tastete er nach seiner Tasche herum.

Seth wollte gerade aufspringen, als Gladys an den Tisch stürzte und selbst in Rankes Tasche griff. Sie zog ein schmales, rechteckiges grünes Fläschchen hervor. Ranke nickte, Tränen strömten ihm übers Gesicht. Gladys schraubte den Deckel ab, schüttelte ein paar Tropfen in ein Glas Wasser und reichte es dem röchelnden Jungen. Er trank einen Schluck, woraufhin das Niesen sofort nachließ. Ein paar Sekunden später atmete er wieder normal.

»Hat ihm einer von euch was gegeben?«, fauchte Gladys. »Wenn das wieder so ein dummer Streich war, habt ihr Lokalverbot – für immer. Verstanden?«

Niemand sagte etwas, und Gladys stampfte zur Tür hinaus, um die Tische draußen abzuräumen. Ihre wütenden Schritte waren wie ein Echo von Seths Herzklopfen. Und plötzlich, ohne Vorwarnung, schoss eine Flamme aus der Speisekarte in Seths Händen hervor. Hastig stopfte er das brennende Papier in einen Wasserkrug und sprang auf die Füße, wobei der Korb mit Nachtschatten auf dem Boden landete. Seth schaute sich kurz um. Hoffentlich hatte er die Flamme schnell genug gelöscht, um kein Aufsehen zu erregen.

Eine dünne Rauchfahne hing noch in der Luft und es roch verbrannt.

Nichts wie weg. Seth packte den Korb und seinen Koffer und stürzte zur Tür, aber im selben Moment schepperte es draußen, als ginge eine Ladung Porzellan zu Bruch. Oh nein, dachte er entsetzt. War ich das auch? Er prallte fast mit Gladys zusammen, die hektisch ins Café zurückstolperte, beide Hände vors Gesicht geschlagen, die Augen schreckgeweitet.

Draußen auf dem Boden, neben dem schlafenden Mädchen, lag ein zerbrochener Teller, mit den Überresten eines Erdbeermuffins.

»Hilfe!«, schrie Gladys. »Ein Arzt! Wir brauchen einen Arzt! Sofort! Myrtle Rost … sie ist … sie ist … Herr im Himmel, ich krieg’s nicht über die Lippen, aber ich … ich glaube, sie ist tot!«

Hast du was in Brand gesteckt?«, raunzte Nachtschatten. »Und was ist mit dem toten Mädchen?«

In heller Panik rannte Seth an den runden Tischen vorbei und auf den gepflasterten Platz hinaus, seinen verbeulten Koffer und den knurrenden Korb in den Händen. Er rannte in die Richtung, die Angelique eingeschlagen hatte.

»Du bist gerade mal eine Stunde in Hagimiere und hast schon eine dicke Rußspur und vielleicht sogar eine Tote hinterlassen. Wenn du Glück hast, kommt sie wieder zu sich …«, schimpfte Nachtschatten. »Angelique hat dir gesagt, du sollst im Café warten und dich aus allem raushalten. Aber da du beides nicht geschafft hast, ist es vielleicht richtig, die Flucht zu ergreifen. Diese Zauberlehrlinge haben es aber auch faustdick hinter den Ohren … und so was im Superlecker-Café …«

Seth konzentrierte sich auf die engen, gewundenen Straßen, durch die er lief. Ein paarmal hielt er inne und bog neu ab, bis er sich hoffnungslos verirrt hatte. Die Straßen wurden immer enger, je weiter er sich vom Café entfernte – zumindest kam es ihm so vor.

Endlich stieß er auf ein winziges Gässchen, in dem ein unscheinbarer, blau gestrichener Laden lag, der sich nahtlos in die Häuserzeile einfügte, sodass man ziemlich genau hinsehen musste, um ihn zu entdecken.

»Hauptstraße, Nummer sechsunddreißig«, murmelte er unsicher. »Das sieht aber nicht nach dem Hauptquartier einer Organisation aus, die alle Belange der magischen Welt regelt. Nein, das kann nicht stimmen.« Angestrengt spähte er durch die dunklen Scheiben. »Ich sehe nur ein paar Gläser mit bunten Bonbons.«

»Was hast du erwartet? Ein wandelndes Schloss oder vielleicht ein großes Schild mit der Aufschrift ›Magische Tränke der besonderen Art‹?«, spottete Nachtschatten. »Wie du gerade selbst gesagt hast, müssen die Magier sich auch hier bedeckt halten. Sie werden wohl kaum damit hausieren gehen, dass jeder, der hier arbeitet, mit Magie zu tun hat. Das hier ist sicher nur Tarnung.«

Seth musste Nachtschatten recht geben und ärgerte sich, dass sie ihm wieder mal einen Schritt voraus war. »Angelique hat hier eine Besprechung.« Seth setzte sich auf seinen Koffer. »Ich warte einfach.«

Obwohl Angelique nicht viel älter war als er, arbeitete sie als Agentin bei der Düsteren Denk-Dienstleistung, abgekürzt D3, einer Unterabteilung des Elysiums. Ihre Magie war außergewöhnlich stark, weshalb sie dafür eingesetzt wurde, verhexte Orte von magischen Überresten zu befreien. »Reinigen« nannte sie das.

»Mag ja sein, dass es dir hier draußen gefällt, aber dieser eisige Wind pfeift voll durch meinen Korb. Darf ich jetzt endlich raus oder nicht?«, quengelte Nachtschatten. »Du hast mir gesagt, wir verreisen, aber nicht, dass ich die ganze Zeit eingesperrt bleibe. Außerdem muss ich bald mal pinkeln.«

Bevor Seth etwas erwidern konnte, stürzte eine Gestalt aus der Tür des altmodischen Süßwarenladens und prallte fast mit ihm zusammen. Er wollte gerade zu einer Entschuldigung ansetzen, doch dann verschlug es ihm die Sprache. Fast hätte er den Mann in seinem marineblauen Business-Anzug, dem hellblauen Hemd und der schmalen dunklen Krawatte nicht erkannt, aber es war definitiv …

»Inspektor Zinnkrug!«, rief Seth.

Der Inspektor hatte offenbar die Dienste eines erstklassigen Friseurs in Anspruch genommen: Seine Haare waren kurz geschnitten und an den Seiten sauber ausrasiert, fast so makellos wie seine blitzblank polierten Schuhe.

Zinnkrug blieb stehen. »Schön, dich zu sehen, mein Junge. Aber ich bin in Eile, muss mich um einen kleinen Zwischenfall unter den Lehrlingen kümmern.«

Seth zweifelte keine Sekunde daran, dass sich »der kleine Zwischenfall« im Superlecker-Jamjam zugetragen hatte. Aber natürlich verriet er dem Inspektor nicht, dass er gerade von dort kam. Er hatte sich so fest vorgenommen, auf Angelique zu hören und sich von allem fernzuhalten, was auch nur entfernt nach Ärger roch.

»Ist wohl ein großer Tag für uns beide, wie?« Zinnkrug drehte sich um und stieß die Tür wieder auf, aus der er gerade herausgestürmt war, um Seth mit seinem Korb und seinem Koffer hineinzulassen. »Man bekommt schließlich nicht jeden Tag einen neuen Boss, und du … bist du etwa schon zu deiner Prüfung hier?«

»Neuer Boss? Ach, deshalb sind Sie so elegant.« Seth unterdrückte ein Grinsen, als er seinen Koffer und den Korb hochnahm. Die Frage nach der Zulassung überging er geflissentlich.

Er hatte tatsächlich eine Zeit lang von einer Karriere als magischer Agent geträumt. Wie Zinnkrug wollte er für die MaPo arbeiten, die magische Polizei, deren Job es war, magische Verbrechen aufzuklären. Aber das konnte er vergessen. Im Augenblick beschränkte Seth sich zähneknirschend darauf, einfache Zauber auszuprobieren, ohne dabei alles in die Luft zu jagen.

»Darf ich wirklich da rein? Ich warte eigentlich nur auf Angelique.«

»Aber sicher – solange du kein gefährliches Raubtier in diesem Korb da mitführst.«

»Das ist kein gefährliches Raubtier. Nur Nachtschatten.«

»Dachte ich’s mir doch.«

Zinnkrug erhob keine Einwände, als Seth eintrat und sich umsah. Wahrscheinlich hatte Nachtschatten recht und dieser Laden war nur eine Tarnung, hinter der sich das Hauptquartier des Elysiums vor neugierigen Blicken verbarg. Der Raum war bis zur Decke hinauf mit Regalen vollgestellt, in denen sich jede Menge bunte Gläser mit Aufklebern wie »Rhabarber-Bratapfel« oder »Chili-Gerste-Ingwer« stapelten. Außerdem gab es Kerzen in allen Größen und Farben, einige wie Tiere geformt, andere gestreift und mit Namen, die noch exotischer klangen als die der Bonbons. TROPENSTURM IN VIOLETT, GEEISTES MANGO-SOUFFLÉ, MEERESBRISE EXTRA SALZIG.

Eine bunte Vielfalt von Farben und Gerüchen, die ein wahrer Albtraum für entscheidungsschwache Käufer sein musste. Seth wartete darauf, dass Zinnkrug einen geheimen Eingang öffnete, oder eine Falltür. Er war auf alles gefasst. Sogar auf ein Portal in eine andere Welt.

Stattdessen fummelte Zinnkrug an einem Glas mit klebrigen Toffees herum.

»Sind Sie nervös wegen Ihrem neuen Boss?«, fragte Seth.

»Nervös? Nicht die Bohne.« Zinnkrug schraubte den Deckel wieder zu, aber so ungeschickt, dass ein paar Toffees auf den Boden prasselten, wo sie sich in wurmähnliche braune Dinger verwandelten. »Na ja, ein bisschen vielleicht. Außerdem musste ich gerade die Rockys in der Asservatenkammer abliefern, eine Gruppe, die einfach nicht mit Singen aufhören wollte. Ich kann machen, was ich will – es führt nie zu einer Beförderung.« Seufzend steckte er sich ein Toffee in den Mund. Seth hielt er eine kleine Schale mit Bonbons hin.

»Was? Sie haben eine Rockband in die Asservatenkammer gesperrt?«

»Nun ja … kleiner Witz meinerseits.« Die Aussprache des Inspektors war etwas undeutlich mit dem Toffee im Mund. »Eigentlich ist es eine Felsengruppe, die zum Singen verhext worden war.«

»Und wie ist Ihr neuer Boss so?« Seth warf sich ein giftgrünes Bonbon in den Mund.

»Ich habe etwas Wichtiges erfahren, das mich hoffen lässt, dass wir bestens miteinander auskommen werden«, erwiderte Zinnkrug. »Mein neuer Boss war früher ein Tennis-Champion.« Tennis war Zinnkrugs Lieblingssport, er spielte in jeder freien Sekunde.

Seth lutschte schweigend sein Bonbon, als das Gesicht des Inspektors sich plötzlich verdüsterte. Obwohl sie schon so viele Abenteuer miteinander bestanden hatten – rätselhafte Morde, tödliche Dunkelhexerei, Eisspeere, ganze Klippen, die auf sie heruntergestürzt waren –, hatte der Inspektor nie auch nur mit der Wimper gezuckt. So, als wäre das alles ganz alltäglich für ihn. Aber jetzt wirkte er zum ersten Mal besorgt.

Das Bonbon explodierte in Seths Mund und setzte eine Schärfe frei, die ihm den Atem raubte. Er hustete, und seine Augen tränten, bis er nur noch verschwommen wahrnahm, wie Zinnkrug nach einer Kerze mit der Aufschrift »Morgenröte über dem Erdbeerfeld« griff. Er zündete sie an, und sofort breitete sich der süße Duft reifer Früchte im Raum aus.

Seth hätte sein Bonbon beinahe im hohen Bogen ausgespuckt. Hustend und blinzelnd wedelte er den Kerzenrauch weg, um es Inspektor Zinnkrug gleichzutun. Er tastete nach einem Streichholz herum, mit dem er die nächstbeste Kerze anzuzünden versuchte – »Pfirsich mit Schuss«. Der Docht fing Feuer, doch die beißenden Gerüche, die in die Luft stiegen, brachten ihn nur noch mehr zum Husten.

Wie auf ein Stichwort erloschen beide Kerzen und ließen sie in rauchiger Dunkelheit zurück. Die Rückwand hinter der Ladentheke löste sich auf, jedenfalls kam es Seth so vor. Er konnte in dem Dunst kaum noch etwas richtig erkennen.

Zinnkrug deutete auf einen schäbigen Flur, der wie aus dem Nichts vor ihnen auftauchte. Die Wände waren in einem hässlichen Grün gestrichen, zahllose Türen gingen davon ab, und der Gang dehnte sich scheinbar endlos aus. Seth wischte sich staunend die Augen: Das hier war tatsächlich das Hauptquartier. Der Nabel der magischen Welt.

»Willkommen in der Fabrik«, sagte Zinnkrug. »So nennen wir das Gebäude. Keine Ahnung, wie es zu dem Namen gekommen ist, denn schließlich fabrizieren wir nichts außer heißer Luft und jeder Menge Papierkram.«

Seth verschlug es die Sprache – darauf war er nicht gefasst gewesen. Sie durchquerten den Flur, und im Vorbeigehen spähte er neugierig in jede offene Tür. Überall stürzten hektisch Leute herum, schwenkten Papiere in der Luft und schoben Kartons durch den Gang. Von Magie war nichts zu spüren. Ein kleiner Mann im karierten Anzug rannte an ihnen vorbei, in der Hand ein grimmig blickendes, in Plastik eingeschweißtes Spielzeugkaninchen, vermutlich ein Beweisstück.

Zinnkrug warf Seth einen Blick durch seine kleine runde Brille zu. »Also, Junge – ich muss jetzt wirklich nach meinen Lehrlingen sehen.« Er zeigte den endlosen Flur entlang. »Du findest Angelique hinter der letzten Tür.«

Seth ging weiter, und allmählich ließ die Hektik nach und das Stimmengewirr verebbte, bis er nur noch das Quietschen seiner eigenen Schuhe hörte. Der Kunststoffboden wich irgendwann einem weichen Teppich, und schließlich lag eine letzte geschlossene Tür vor ihm, mit zwei Metallschränken daneben.

»Sind wir hier richtig?«, tönte Nachtschattens Stimme aus den Tiefen des Korbs. »Vielleicht machst du die Tür mal einen Spaltbreit auf und siehst nach?«

Seth zögerte. Es war mit Sicherheit kein guter Einstieg, sich beim Belauschen einer wichtigen Besprechung erwischen zu lassen. Trotzdem drückte er die Klinke herunter, ganz langsam, und schob die schwere Tür ein winziges bisschen auf.

Im nächsten Moment drang Angeliques Stimme an sein Ohr. »Das Problem ist, dass er jede Menge Hilfe bei seiner Magie braucht.«

Seth erstarrte. In dieser wichtigen Besprechung ging es offenbar um ihn.

Mit angehaltenem Atem quetschte Seth sich zwischen die beiden Metallschränke neben der Tür und zerrte ungeschickt Nachtschattens Korb hinter sich her. Er musste einfach dieses Gespräch belauschen, so tief hatte Angeliques resignierte Stimme ihn getroffen. Sein Magen befand sich praktisch im freien Fall und würde jeden Moment in seinen Schuhen landen …

Eine Frauenstimme antwortete Angelique. Kalt und glatt wie Eis. »Ein Anfänger also, mit einer seltsam explosiven Energie, der noch viel zu lernen hat. Du könntest deine Zeit sinnvoller verbringen.«

»Er ist ein Freund. Ich kann ihn doch nicht im Stich lassen.«

Na bitte. Es ging also wirklich um ihn. »Sie bekommt Ärger wegen mir«, flüsterte Seth Nachtschatten zu.

»Sie ist deine Freundin! Ist doch klar, dass sie dir helfen will.«

Die kalte Stimme redete weiter. »Ich weiß, du nimmst nicht gern Ratschläge an, auch wenn man es noch so gut mit dir meint, aber irgendjemand muss es dir mal sagen: Es gibt Leute, die ihn besser auf die Prüfung vorbereiten können als du. Hast du mal versucht, einen Meister oder eine richtige Lehre für ihn zu finden?«

Eine Magierlehre. Davon träumte Seth schon lange. Aber Angelique war wild entschlossen, ihn allein durch die Prüfung zu bringen, in der er den berühmten Funken Magie unter Beweis stellen musste. Wenn er nicht alles komplett vermasselte, würde er danach in die magische Welt aufgenommen werden und bekäme eine Benutzerkarte für die Elysiumsbibliothek. Damit hätte er Zugriff auf alle wichtigen Texte, mit denen auch gestandene Magier ihr Wissen erweiterten.

Und vielleicht – wenn er mehr Glück als Verstand hatte – fand er sogar eine Lehrstelle und konnte bei einem Meister studieren. Aber Lehrstellen, vor allem bei besonders angesehenen Meistern, waren selten und heiß umkämpft.

»Er könnte Großes bewirken. Aber seine Magie ist so … ich kann mir nicht vorstellen, dass ihn jemand nimmt«, gestand Angelique.

Eine kurze Pause trat ein, dann meldete sich wieder die eisige Stimme zu Wort. »Hast du dich mal gefragt, ob es überhaupt ratsam ist, ihn Magie zu lehren?« Ein ungeduldiges Klopfen folgte, als trommelte jemand mit einem Stift auf den Tisch. »Wer weiß, was er noch alles anstellt? Dafür kannst du nicht die Verantwortung übernehmen. Seine Mutter …«

»So ist Seth nicht«, ging Angelique dazwischen. »Seine Magie ist einfach nur so seltsam explosiv.«

Dass Seth aus einer magischen Familie stammte, hatte er erst vor Kurzem erfahren, als Angelique zu ihm ins Hotel Zur letzten Chance gekommen war.

Seither wollte er unbedingt beweisen, dass er diesen begehrten Funken wahrer Magie besaß. Gleichzeitig hatte Seth erfahren, dass seine Mutter eine berüchtigte Schwarzmagierin gewesen war, die sich auf die dunkle Seite der Magie geschlagen und ihre Kräfte dazu missbraucht hatte, anderen Menschen zu schaden und Unheil aller Art anzurichten.

Er wusste inzwischen aus eigener Erfahrung, wie steinig der Weg war, den ein Magier beschreiten musste.

Und er wurde noch mutloser, als er diese glatte, kalte Stimme so abfällig über seine Mutter sprechen hörte. Vielleicht sollte er doch lieber die Finger davon lassen? Was, wenn er nur für die dunkle Seite begabt war? Brachte er deshalb keinen anständigen, unschädlichen Zauber zustande?

War er vielleicht gefährlich?

Die eisige Stimme fuhr fort: »Du hast die letzten beiden Fälle abgelehnt, die dir angeboten wurden. Hast deine Pflichten vernachlässigt, obwohl dieser Junge sich vermutlich als untragbar erweisen wird …«

Seth sog die Luft ein. Er hatte sich nie gefragt, woher Angelique die Zeit nahm, ihn zu unterrichten. Sie hatte schließlich einen wichtigen und ernsten Job: die Welt von gefährlicher Magie zu befreien. Seth hatte sie gegen Mächte kämpfen sehen, die schlimmer waren als alles, was die meisten Leute sich auch nur vorstellen konnten. Wenn Angelique ihre Aufgaben vernachlässigte, um ihm zu helfen, war die Welt nicht so gut geschützt, wie es sein sollte, und er war schuld daran. Was als Nächstes kam, war sogar noch schlimmer: »Wenn er ein Freund von dir ist«, fuhr die Stimme fort, »warum lässt er dann zu, dass du deinen Beruf vernachlässigst?«

»Ich kann auch allein Magie üben«, flüsterte Seth Nachtschatten zu, als ihm klar wurde, wie recht sie hatte.

Wie hatte er nur so egoistisch sein können? Warum hatte er sich nie gefragt, wie Angelique es schaffte, ihm so viel Zeit zu widmen? Er musste das sofort in Ordnung bringen. Musste zurück ins Hotel Zur letzten Chance und Angelique in Ruhe lassen.

Aber zuallererst musste er sich zwischen den beiden Aktenschränken hervorzwängen.

Mit dem schweren Koffer und Nachtschattens sperrigem Korb war das fast ein Ding der Unmöglichkeit. Folglich war er gezwungen, sich noch mehr unbequeme Wahrheiten anzuhören, während er mit seinem Gepäck kämpfte.

»Unvorhersehbar und explosiv ist keine einfache Kombination, wenn man einen Meister für ihn finden will. Und – ehrlich gesagt – mit dieser Mutter dürfte es noch schwieriger werden. Du hast mehr als genug getan, mein Kind. Lass es jetzt gut sein und gib die Verantwortung für deinen explosiven Freund an uns ab. Es ist Zeit, Lebewohl zu sagen.«

Angelique war verstummt.

»Da kommt jemand«, zischte Nachtschatten, aber der Korb war hoffnungslos eingekeilt. Seth zerrte verzweifelt daran.

»Lassen wir ihn die Prüfung einfach versuchen.« Die eisige Stimme kam näher. »Das Elysium soll entscheiden, ob er den nötigen Funken Magie besitzt. Wir setzen einen Termin in, sagen wir, vier Wochen dafür fest.«

Genau in dem Moment, als Seth einen letzten verzweifelten Versuch machte und wie ein Korken aus einer Champagnerflasche hervorschoss, ging die Tür auf. Er landete auf den Knien, direkt vor einem Paar hochhackiger Stiefel. Als er den Kopf hob und einen Blick nach oben riskierte, ragte eine große, elegante Frau über ihm auf, die ihre Haare zu einem kunstvollen Knoten frisiert hatte. Seth starrte in ihre wunderschönen kaffeebraunen Augen, bewunderte ihr perfekt sitzendes taubengraues Kostüm.

Mit kühlem Blick musterte sie ihn. Dass dieser zerzauste Junge mit dem Wuschelhaar, dem hellblauen Kittel und dem übergroßen Katzenkorb an der Tür gelauscht hatte, war nicht zu übersehen.

Eine Hand streckte sich nach ihm aus – mit langen Fingernägeln, die in einem schimmernden Mitternachtsblau lackiert waren. Seth, der seinen Blick nicht von den kaffeebraunen Augen lösen konnte, rappelte sich auf und drückte die Hand dieser Frau, die so schön und elegant und einschüchternd war. Undeutlich nahm er hinter ihr Angeliques wütendes Gesicht wahr.

»Seth Seppi? Ich habe schon viel von dir gehört.«

Seth wurde rot – und sicher nur Schlechtes, ergänzte er im Stillen.

Das Büro hinter ihr hatte bodentiefe Fenster, die einen Blick auf das kalte Meer voller Eisschollen und den stahlblauen Himmel darüber freigaben. Es lag sogar ein herber Salzgeruch in der Luft. Als hätte jemand eine Oase der Stille und Kühle in den hinteren Teil dieses hektischen Gebäudes versetzt.

Angelique trat vor. »Seth, das ist die neue Leiterin der MaPo.«

Das also war Zinnkrugs neuer Boss? Kein Wunder, dass der Inspektor so nervös gewesen war.

Seth versuchte die Frau nicht anzustarren, aber ihm war die einzelne rote Strähne in ihrem hochgesteckten Haar nicht entgangen – dieselbe wie bei Angelique.

»Kalinder Squerr.« Seths Hand wurde losgelassen, und die glamouröse Frau richtete ihren scharfen Blick mit einem kaum wahrnehmbaren Lächeln auf Angelique. »Und ich hoffe, es bringt dich nicht um, Mutter zu mir zu sagen?«

Du hast alles mit angehört, oder?« Angelique stampfte voraus, während Seth mit seinem Koffer und dem Katzenkorb eilig hinter ihr herhüpfte.

»Ja, einiges schon.«

»Ich frage erst gar nicht, was du an meiner Ansage nicht verstanden hast. Oder ist ›im Café warten und dich aus allem raushalten‹ in deinen Augen gleichbedeutend mit ›im Hauptquartier auflaufen und eine Besprechung zwischen mir und der neuen MaPo-Chefin belauschen‹?«

»Das war deine Mutter!? Die ist ja unglaublich«, keuchte Seth, während er hinter Angelique durch die süßen Gerüche des Bonbon- und Kerzenladens auf die Hauptstraße hinausfegte. Hoch über ihnen ragte ein Kirchturm auf, hob sich scharf vom wolkenlos blauen Himmel ab.

Angelique drehte sich um, und als sie sah, wie Seth sich mit dem schweren Koffer abkämpfte, nahm sie ihn ihm aus der Hand. »Zumindest bleibt es mir so erspart, dir die guten Nachrichten selber beizubringen.«

Was? Dass deine Mutter alle Fäden gezogen hat, um einen Meister zu finden, der dich von mir befreit, weil ich zu gefährlich für dich und alle anderen in meiner Umgebung bin?

Was wusste er schon über Angelique? Wie war es zum Beispiel, bei einer Mutter aufzuwachsen, die so aussah, als hätte sie ihrer Tochter jeden Morgen noch vor dem Frühstück sechs unlösbare Aufgaben gestellt? Er hatte sich immer gewundert, warum Angelique die schwierigsten Fälle zugewiesen bekam, obwohl sie noch so jung war. Aber es gab Dinge, die er wohl nie über sie erfahren würde.

Schweigend ging sie vor ihm her durch die gewundenen Straßen – wahrscheinlich wollte sie ihn so schnell wie möglich loswerden.

Wenn er alles richtig verstanden hatte, würde sie ihm eine Lehrstelle verschaffen. Aber wie sollte das gehen? Eine magische Ausbildung war lange Zeit das Privileg berühmter alter Zaubererfamilien gewesen. Bis sich vor einiger Zeit eine kühne neue Idee durchgesetzt hatte und nun gezielt magische Talente für die Ausbildung gesucht wurden, statt die besten Lehrstellen ausschließlich an die alten Familien zu vergeben.

Denn in Wahrheit war Magie nicht immer erblich. Jeder konnte mit einem Funken Magie geboren werden. Nur war Magie jahrelang nicht dort gesucht worden, wo sie zu finden war, ein Fehler, der die magische Welt in eine große Krise gestürzt hatte.

Die Magie war vom Aussterben bedroht.

Nachdem sie noch mehrmals abgebogen waren, standen Angelique und Seth wieder am Rand des gepflasterten Platzes. Das Forum war von alten Gebäuden gesäumt, die schläfrig aneinanderlehnten. Einige waren weiß getüncht, das Gebälk war teilweise abgesackt, und die Fenster waren winzig. Andere wirkten erstaunlich modern, als wäre die ganze Häuserzeile einmal kräftig durcheinandergewürfelt und dann wahllos wieder zusammengesetzt worden.

Seth stürzte hinter Angelique her, obwohl er lieber ein bisschen herumgetrödelt und den Platz erkundet hätte. Im Vorbeihasten erspähte er einen Sandwich-Laden, eingequetscht zwischen einer Drogerie und einem kleinen Buchladen, der sich an das Superlecker anlehnte. Auf der anderen Seite entdeckte er eine schwarz gestrichene Ladenfassade mit der Aufschrift DUNKELHERZ in gotischen Lettern über düsteren kleinen Fenstern. Und wieder fragte er sich, ob eins dieser Geschäfte vielleicht magisch war und woran man das erkennen konnte.

Das Café hatte jetzt geschlossen. Seth warf einen schuldbewussten Blick hinüber – wahrscheinlich hatten ein paar MaPo-Inspektoren für Ordnung gesorgt, denn außer dem geräuschvollen Flattern der gelben Schirme war nichts zu sehen oder zu hören.

Widerwillig riss er sich von dem Anblick los und huschte weiter hinter Angelique her, kämpfte gegen die wachsende Panik an, dass die Pläne, die Mrs Squerr für ihn hatte, sich als eine einzige Katastrophe erweisen würden. Wie sollte er in nur einem Monat bereit für die Prüfung sein?

Schließlich blieben sie vor einem schäbigen, verwahrlosten Gebäude stehen. An der Fassade blätterte die Farbe ab, die das helle Grün von Buchenblättern hatte. Ein einziges Fenster, blind vor Schmutz. Obwohl der Laden mitten in der Stadt lag, musste Seth unwillkürlich an feuchte, dunkle Orte denken, Sümpfe oder so, und ein vertrauter Geruch nach Wald und modrigem Laub stieg ihm in die Nase. Sofort fühlte er sich in sein baufälliges altes Hotel im dichten, endlosen Wald der verlorenen Hoffnung zurückversetzt, dem er so zuversichtlich den Rücken gekehrt hatte. Jetzt hatte er nur noch Angst – und der Kloß in seiner Kehle wurde immer dicker.

Über der Ladentür stand in verblichenen goldenen Lettern: Kurorium: Auch das war ihm vertraut. Äthylen Desperado, Leiter der Elyiumsbibliothek für magische Literatur, hatte ihm ein Werk namens Kurologie. Kräuteressenzen und ihr magischer Gebrauch mitgegeben, als Seth sich einmal unerlaubt in die Bibliothek eingeschlichen hatte. Angeblich war es genau das Richtige für ihn. Er hatte das Buch auch eifrig studiert und Angelique gebeten, ihm bei einigen Zaubern zu helfen, doch sie hatte nur die Nase gerümpft. »Kuromagen oder Kurologen sind sehr selten«, hatte sie gesagt. »Kurologie ist eine äußerst präzise und hochspezialisierte Form der Magie. Heilmittel. Tränke. Ich schätze, die müsste man tatsächlich selber testen, um zu kontrollieren, ob sie richtig gemacht sind.« Damit hatte sie das Buch zu ihm zurückgeschoben.

»Also, ich bin nicht dein Versuchskaninchen«, hatte Nachtschatten geraunzt, charmant, wie sie nun einmal war. »Aber es gibt ja genügend Krähen in der Gegend, die niemand wirklich vermissen würde.«

Seth schauderte bei dem Gedanken, auch nur eine von ihnen versehentlich in die Luft zu jagen. Und damit war das Gespräch für ihn beendet gewesen.

Dennoch hatte er das Buch in seinen verbeulten Koffer gepackt, für den unwahrscheinlichen Fall, dass er hier auf einen Magier treffen würde, der ihm den Umgang damit erklären konnte.

Angelique straffte die Schultern und verkündete: »Das ist es.« Dann ging sie auf den Laden daneben zu.

Seth hatte das Gebäude bisher keines Blickes gewürdigt. Es war leuchtend rot gestrichen, die Farbe so frisch, dass er unwillkürlich hinfasste, weil er wissen wollte, ob sie noch feucht war. Das Schaufenster war mit bizarren, farbenprächtigen Gegenständen vollgestopft.

»Falls du mich jetzt rauslassen willst, habe ich nichts dagegen«, maunzte Nachtschatten aus dem Korb. »Es war die reinste Folter, in dem Café herumzusitzen. Ohne irgendwas zu essen oder zu trinken … und ich muss jetzt wirklich ganz dringend mal …«

Seth beugte sich herunter, schob den Riegel zurück und eine anmutige schwarze Katze schoss wie ein geölter Blitz davon und verschwand in der engen Gasse zwischen den beiden Läden. Seth zupfte seinen Kittel zurecht, fuhr sich mit den Fingern durch sein zerzaustes Haar und machte sich bereit, Angelique in den Laden zu folgen, ohne die geringste Ahnung zu haben, was ihn dort erwartete.

Als die Tür aufging, ertönte ein melodisches Klimpern, als striche ein Windhauch über einen Kronleuchter. Fedrige Traumfänger, Heilkristalle, Windspiele und winzige Amulette baumelten an der Decke und vereinten sich zu einem fröhlichen Tanz. Die Luft war von süßem Vanille- und Pfefferkuchenduft erfüllt, mit einem Hauch von Rosenblüten und Zuckermäusen. Aber da war noch etwas … etwas, das Seth nicht richtig einordnen konnte. Er blieb stehen, holte tief Luft und schnupperte. Vielleicht Knoblauch? Oder Bärlauch oder etwas Ähnliches?

Angelique warf ihm einen grimmigen Blick zu, als sie ihn schnüffeln sah.

»Wir würden gern Miss Juvena Jungblut sprechen«, sagte sie zu einem Mädchen mit dickem auberginefarbenem Haar und riesigen Stiefeln im selben Farbton.

Das Mädchen, das gelangweilt an der Theke lehnte, ließ die verschränkten Arme sinken und verschwand aufreizend langsam durch eine Hintertür.

Angelique blieb vor einem Korb mit bernsteingelben Fläschchen an farbigen Bändern stehen. AMULETTE, stand darauf – BESCHÜTZE DEINE LIEBEN UND BLEIBE AM LEBEN. Ihre Lippen kräuselten sich verächtlich und sie starrte naserümpfend auf eine Wand voller Regale, die mit bunten Steinen und Kristallen vollgestopft waren. Alle hatten angeblich magische Eigenschaften, heilten entzündete Gelenke ebenso wie Herzschmerzen.