Caffè sospeso - Amanda Sthers - E-Book

Caffè sospeso E-Book

Amanda Sthers

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Beschreibung

»Dieser Roman hat einen irrsinnigen Charme.« Le Figaro »Wenn man in Neapel einen Kaffee bestellt, kann man einen zweiten bezahlen, der denjenigen angeboten wird, die sich keinen leisten können: den caffè sospeso.« So beginnt Jacques Madelin, ein Franzose, der nach einer enttäuschten Liebe in Neapel lebt, seine Erzählung. Fast jeden Tag sitzt er im Café Nube und sieht zu, wie das Schicksal und der caffè sospeso ihre Arbeit machen. Da arrangiert sich eine betrogene Ehefrau mit der Geliebten ihres Mannes, um ihre Familie zu retten; eine junge Frau muss den Seidenschal ihrer Großmutter loswerden, um frei zu sein, ein Mann die Augen öffnen, bevor er wieder Schlaf finden kann.   Mit feiner Beobachtungsgabe erzählt Caffè Sospeso davon, wie Menschen einander begegnen oder verfehlen, wie sie sich verlieben oder verlassen, wie sie aufbrechen oder ankommen. In einem kleinen neapolitanischen Café lässt sich erfahren, was wahre Menschlichkeit bedeutet.

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Seitenzahl: 230

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Amanda Sthers

Caffè Sospeso

Roman

Aus dem Französischen von Kirsten Gleinig

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem TitelLe café suspendu im Verlag Bernard Grasset, Paris.

 

Deutsche Erstausgabe

© der deutschsprachigen Ausgabe 2024 Arche Literatur Verlag, ein Imprint der Atrium Verlag AG, Zürich

© 2022 Éditions Grasset & Fasquelle

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Jürgens, Berlin

Covergestaltung: Designbüro Lübbeke NaumannThoben, Köln

Coverfoto: © Julien Capmeil, New York

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

ISBN978-3-03790-056-7

 

www.arche-verlag.com

www.facebook.com/ArcheVerlag

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»Und dann gibt es Menschen, denen man zufällig begegnet, die man kaum kennt, die ein Wort oder einen Satz zu einem sagen, die einem eine Minute gewähren oder eine halbe Stunde und das ganze Leben verändern.«

 

Victor Hugo

Für meinen Freund Morgan S., dessen Großzügigkeit mich eines Tages überwältigt hat

Ouvertüre (auf italienische Art)

Wenn man die Augen schließt, hört man die Wäsche, die im Wind tanzt wie Fahnen, die flirrenden Masten der Schiffe, die Stimmen, die in der Ferne lachen oder schreien, das Tyrrhenische Meer, das kommt und geht, ein paar wendige Vespas, und dieser bunt gemischte Chor besagt, dass ein Weg bereitet ist für alle, die den Fuß auf neapolitanischen Boden setzen. In Neapel gilt ein Gebot, das sich im Laufe der Zeit herausgebildet hat: Die Geschichte verläuft hier in Schleifen, denen man sich fügen muss, es gibt ein ausgeprägtes Gespür für das Schicksal. Man entkommt dem nicht, was die Stadt ins Buch unseres Lebens eingeschrieben hat, man muss damit verschmelzen, wie man sich, auch wenn man Angst hat, in den Armen des geliebten Menschen fallen lässt.

Ich heiße Jacques Madelin und bin zweiundsiebzig Jahre alt. Ich bin Franzose, aber die Umstände haben mich vor zweiundvierzig Jahren in die Bucht von Neapel geführt. Damals habe ich die Liebe verloren, aber ich bin in der Stadt geblieben. Ich wohne in einer kleinen Wohnung über der Bar von Mauricio Licelle, meinem besten Freund. Das Café Nube gehörte vor ihm seinem Vater und seinem Großvater. Nube heißt Wolke – eine Wolke aus Milchschaum, eine Regenwolke, Bilder am Himmel oder Vorbote eines Gewitters. Wolke wie mein Herz in der Schwebe, das unfähig ist, wieder zu lieben.

Wenn man in Neapel einen Kaffee bestellt, kann man einen zweiten bezahlen, der dann als caffè sospeso auf die Tafel der Bar geschrieben wird: ein »aufgeschobener Kaffee«, ein Kaffee in der Schwebe für jemanden, der später hereinkommt, aber kein Geld für eine Tasse Kaffee hat. Es heißt, diese Tradition habe während der leidvollen Jahre des Zweiten Weltkriegs begonnen, oder sie gehe auf eine Gruppe von Freunden zurück, die immer ein bisschen mehr Geld daließen, weil sie nie wussten, wer von ihnen schon bezahlt hatte; manche verorten sie auch im neunzehnten Jahrhundert, als es noch Kaffeeverkäufer gab, die mit zwei großen Behältern durch die Straßen zogen, einem davon mit Kaffee und einem zweiten mit Milch. Wenn sie einen Bedürftigen trafen, reichten sie ihm einen caffè sospeso, den ein Wohlhabenderer zusammen mit seinem eigenen vorher bezahlt hatte, aus Solidarität und in dem stark christlich geprägten Land ganz sicher auch aus Nächstenliebe. Ein Freund sagte, ich täusche mich und es sei der legendäre Schauspieler Totò gewesen, der aus Verbundenheit mit seiner Geburtsstadt und aus Freigiebigkeit diese Tradition ins Leben rief. Aber egal, worauf er zurückgeht, den caffè sospeso gibt es nach wie vor. Man kann Neapel noch so viel Schlechtes nachsagen und dazu raten, beim Spazierengehen gut auf seine Tasche aufzupassen, aber überall in der Stadt dampfen großzügig gespendete Kaffeetassen.

 

Ich bin Karikaturist. Abends auf der Piazza del Plebiscito zeichne ich die Touristen. Manchmal will ich nicht so weit laufen und gehe nur ein paar Minuten bis zur Piazza del Mercato. Tagsüber schreibe ich in einer Ecke im Café. Mauricio erledigt seine morgendlichen Handgriffe immer auf dieselbe Weise und in der gleichen Reihenfolge. Um sieben Uhr sperrt er die Eisentür auf und tritt ein paar Schritte zurück, um seinen Palast von der Straßenmitte aus zu bewundern, wie ein Kind, das plötzlich groß geworden ist. Manchmal riecht man noch den Fisch, der gerade in das Restaurant in der dahinterliegenden Straße geliefert wurde. Mauricio tritt herein. Er knipst nur eine Lampe an, das reicht. Die Theke ist sauber, aber er kontrolliert sie noch einmal. Gleich werden die cornetti con crema aus der Bäckerei seiner Cousine vorbeigebracht, und er wird sie in die Vitrine am Ende des Tresens legen. Im Hinterzimmer hängt er seine Jacke an einen Haken, knöpft sein Oberhemd auf und behält nur ein ärmelloses T-Shirt an. Er greift sich einen Jutesack, bis oben hin voll mit Kaffeebohnen, und füllt diese in den nach oben offenen Behälter auf der Maschine. Er prüft, ob die Maschine richtig ans Wasser angeschlossen ist, und schaltet sie ein. Wenn dann die kleine rote Lampe angeht, ist er zufrieden, was sich oft in einem Lächeln zeigt. Während das Wasser heiß wird, schreibt er die Speisekarte für den Tag gut leserlich an die Tafel. Seine Frau Maddalena kocht das Essen in ihrer Wohnung genau gegenüber, am späten Vormittag holt Mauricio die großen, mit Alufolie abgedeckten Platten ab. Nach dem Mittagessen im Café essen die beiden zusammen, halten Siesta, und am Nachmittag geht Mauricio pünktlich um halb fünf wieder hinunter, um die Bar aufzumachen.

Während er die Gerichte an die Tafel schreibt, denkt er immer: »Ein paar Stunden noch, dann bin ich dran mit essen!« Steht kein caffè sospeso vom Vortag mehr an der Tafel, vermerkt Mauricio einen. Dann lässt er den ersten Kaffee des Tages durchlaufen und trinkt ihn. Einen Espresso. Sehr heiß. Ein wenig nussbraune Crema. Der italienische Espresso hinterlässt einen sehr bitteren Geschmack am Gaumen, ganz anders als der Kaffee, den die Puristen schätzen, denen er zu stark geröstet und zu schwarz ist und die die fermentierten Noten wie beim Wein vermissen. Ich bin kein Fachmann, aber ich habe nie besseren Kaffee getrunken als in Süditalien. Nur wenige setzen sich hin, um ihren Kaffee zu trinken. Das Frühstück wird am Tresen eingenommen im fröhlichen Gedränge; Blutorangensaft gemischt mit Granatapfel, wobei die Kerne zuvor von einer Maschine entfernt wurden, die es nur in Neapel gibt; auf die Schnelle verputzte Leckereien, von denen man zuckrige Hände bekommt. Witze werden zum Besten gegeben wie Marktgeschrei. Man könnte meinen, man wäre an der Börse, damals, als alle schrien, um zu kaufen und zu verkaufen. Niemand will dieses morgendliche Eintauchen ins Leben verpassen. Selbst die Alten lehnen sich an den Tresen. Auf den Bänken sitzen die Dicken, diejenigen, die länger bleiben, die jemanden zu etwas bewegen wollen – eine Frau, sich auszuziehen, einen Mann, einen Scheck zu unterschreiben, einen Vater, ihnen endlich einmal zuzuhören –, und ich, ich sitze da mit meinem Stift wie in einem französischen Bistrot an meinem angestammten Platz in der rechten Ecke des Café Nube. Manche nehmen jeden Morgen ihren Ehering ab. Wenn eine Frau hereinkommt, geht zu ihrer Freude ein leichtes Beben durch den Raum, sämtliche Blicke preisen ihre Schönheit, die Stimmen werden lauter, aber nicht aggressiv. Man muss es erlebt haben, um zu verstehen, wie die Neapolitaner die Frauen anschauen. Ein Lächeln, ein Kaffee, dann geht jeder seiner Wege in der Stadt, und der Vesuv schaut zu. Mauricio erinnert mich gern mit einem gewissen Stolz daran, dass er als der gefährlichste Vulkan der Welt gilt, als rühmte er damit die neapolitanische Männlichkeit.

 

Bevor der Kaffee zur schwarzen Flüssigkeit wird, ist er eine rote Frucht, er geht den Weg der Liebe. Die Samen entstehen an Kaffeepflanzen, kleinen Sträuchern, die versteckt im schattigen Unterholz wachsen. Öffnet man die fleischigen Früchte, findet man zwei grüne Samen, die darauf warten, zerstoßen, auf die Farbe von Asche zurechtgestutzt und leidvoll gemahlen zu werden. Ich habe lange gebraucht, um zu verstehen, dass das, was wir empfinden, weit hinausgeht über das, was wir als real betrachten. Was wir Intuition nennen, ist das Wichtigste im Leben. Man mag dazu Instinkt, Gefühl oder Stimmung sagen; ich glaube ganz einfach an eine Sphäre, die Liebe birgt, Hass, bevor er sich in den Fäusten festsetzt, Hoffnung, die einen antreibt, und ebenso Angst, Ekel, Boshaftigkeit und Lust, bevor sie zum Orgasmus wird. Ich wusste schon immer, dass es meine Aufgabe ist, diese abstrakten Dinge zu begreifen, um daraus Worte, Bilder und tanzende Emotionen zu machen und dem Abstrakten eine Gestalt zu geben. Jeder Künstler greift sich heraus, was ihm als das Richtige erscheint; manchmal rächt er sich an der Taubheit der anderen gegenüber seinem Leid, und oftmals denkt er, er habe die Moral für sich gepachtet. Heute bin ich überzeugt, dass Gutes zu tun vor allem heißt, sich auf vage Gefühle einzulassen, ohne dass ihre schlechten Schwingungen einen zum Hampelmann machen. Jetzt, da ich alt werde, habe ich den Eindruck, dass ein caffè sospeso manchmal wertvoller ist als ein Kunstwerk. Für den, der gibt, steckt ebenso wie für den, der empfängt, ein Stück Leben in dieser Tasse, die der eine sich in seiner Fantasie vorstellt und der andere aus unbekannten Händen entgegennimmt. Was hier verschenkt wird, ist nicht ein Kaffee, sondern die Welt darum herum, das Spektakel, das man mit anderen teilt, die Blicke, die sich kreuzen, Menschen, die liebenswert sind.

Die sieben Geschichten, die ich hier erzähle und die ich im Laufe der letzten vierzig Jahre im Café Nube gesammelt habe, sind alle durch das unsichtbare Band des caffè sospeso miteinander verbunden.

Krokodilshaut

1982

Es gibt keine Krokodile in Neapel, aber einst lebte ein Exemplar im Maschio Angioino, einem mittelalterlichen Schloss aus dem dreizehnten Jahrhundert, als Neapel anstelle von Palermo die Hauptstadt des Königreichs Sizilien auf dem Festland wurde. Das Schloss wurde in der Renaissance renoviert, blieb aber ziemlich hässlich. Heute beherbergt das Gebäude ein schmuckloses Museum, aber damals diente es als Getreidespeicher, und zudem wurden in seinen Kerkern die gefährlichsten Verbrecher der Gegend eingesperrt. Trotz der dicken Mauern und der strengen Bewachung gelang es ihnen regelmäßig, den Wächtern zu entkommen, ohne dass man sie je wiederfand. Nach monatelangen Ermittlungen begriff man, dass offenbar ein Schiff aus Afrika ein riesiges Krokodil mitgebracht hatte, dem das Wasser im Maul zusammenlief, wenn es die Inhaftierten roch, die es zu seiner Leibspeise erkoren hatte. Man munkelte, das Reptil sollte der Rache eines gehörnten Seemanns dienen und sei sofort geflohen, als das Schiff im Hafen vor Anker gegangen war. Aber Neapel gibt sich nie mit nur einer Fassung einer Geschichte zufrieden: Darum hieß es in den nördlichen Stadtvierteln, das Reptil stamme in Wirklichkeit aus Ägypten und habe die Aufgabe gehabt, die lästigen Geliebten der Königin Johanna II. aufzufressen. Diese Version favorisieren die Schriftsteller, Croce und Dumas haben sie in ihren Texten verewigt. Wie dem auch sei, das Krokodil wurde nie gesehen, aber Abdrücke rund um die Festung gaben Hinweise darauf, und manche schworen, sie hätten seinen schuppigen Schwanz durch die Schlossflure huschen sehen. Alle Wärter wurden mobilisiert, und die Gendarmerie unterstützte sie. Man postierte zwei Männer im Turm, die unablässig die Umgebung absuchten. Das hätte durchaus lange dauern können, denn alte Krokodile können zwei Jahre von ihren Reserven zehren und in einem lethargischen Zustand ausharren, ohne auch nur irgendetwas zu essen. Glücklicherweise war dieses Exemplar ein jugendliches (in Krokodiljahren gerechnet) und obendrein ein gieriges. Nach einigen Tagen der Jagd, die mehrere tapfere Männer das Leben kostete, wurde das Tier schließlich von einem Wärter mithilfe eines Rinderbeins gefangen, das als Köder diente, oder, den nördlichen Stadtvierteln zufolge, von dem berühmten Ferrante D’Aragona, der es mit einer Pferdekeule erstickte. Man stopfte das Krokodil aufwendig aus und schmückte damit die Eingangstür des Schlosses.

Heute erzählt man diese Legende gern den Kindern. Doch nur wenige wissen, dass der Unterbauch des Tieres, der von der Wand, die es ziert, verdeckt wird, mit Stoff geflickt ist. Aus einem Stück der schuppigen Haut wurde eine äußerst luxuriöse Tasche in erstaunlicher Farbgebung gefertigt, die Fernanda an diesem Tag am Arm trug und aus der sie ein Taschentuch hervorholte. Benedetto hatte ihr erzählt, woher ihre Tasche stammte, als er sie ihr zum zwanzigsten Hochzeitstag schenkte. Er hatte die Geschichte von dem Antiquitätenhändler in der Via San Gregorio Armeno erfahren, bei dem er das ausgefallene, geheimnisvolle Stück erstanden hatte, das zugleich obszön und anziehend war, wie Fernanda selbst.

Der kleine schnurrbärtige Trödelhändler Luigi, der zwar eine hagere Gestalt, aber einen ausladenden Bauch hatte und durchtrieben und schlau war wie ein Affe, berichtete von den unmöglichsten Geschichten rund um jede Kuriosität in seinem Laden. Sie wurden Teil der Gegenstände. Egal, ob seine Anekdoten wahr waren oder nicht – war es nicht viel wichtiger, dass man sie gern glaubte und selbst weitererzählen konnte? Sein legendärer Kramladen im Herzen einer schmalen Gasse in der Altstadt Neapels bot bunt gemischt alten Schmuck, Pelze, wertvolle Taschen und die für die Region typischen Weihnachtskrippen mit Ton- oder Holzfiguren; daneben handgefertigte Wiegen, Pulcinella-Figuren und neapolitanische Tamburine sowie Zauberbücher und afrikanische Amulette. Zudem verkaufte Luigi Bottarga, frische Anchovis und peruanischen Kakao. Er hatte in geheimnisvollem Ton hinzugefügt, die Tasche besitze gewisse Kräfte und verändere das Leben ihrer Eigentümer, so wie Krokodile ein Leben lang neue Hautschichten bilden. Trotz seiner überbordenden Fantasie hätte es Luigi, als er Benedetto die Tasche verkaufte, nicht für möglich gehalten, dass dessen Frau Fernanda sich am nächsten Tag verzweifelt an die Tasche klammern würde, und auch nicht, dass diese tatsächlich der Ausgangspunkt einer großen Wandlung sein und eine wichtige Rolle in einem unglaublichen Abenteuer spielen würde. Das Schlosskrokodil hatte durchaus noch ein Wörtchen mitzureden.

 

Fernanda wusste nicht, dass ich sie von der Brüstung meines Fensters aus beobachtete, während sie ihre Tränen unterdrückte und unauffällig ins Innere des Café Nube schaute. Ihre stilvolle Hässlichkeit faszinierte mich auf Anhieb, und die Traurigkeit trug nur noch zu ihrer tragischen Erscheinung bei. Damals hatte ich keine Ahnung, was sich gerade abspielte.

Hätte ich ins Café hineinblicken können, hätte ich die Protagonisten einer Geschichte gesehen, die zwei Monate zuvor, Ende März, begonnen hatte. Ich saß an jenem Tag hinten im Café, auf meinem Lieblingsplatz, als Benedetto Livari in aller Frühe hereinkam. Benedetto war kein Stammgast, aber an diesem Tag wartete er darauf, dass es neun Uhr wurde, um bei einem seiner Mieter klingeln zu können, der seit Monaten nicht bezahlt hatte. Benedetto, dessen ursprünglich blassrotes Haar inzwischen weiß war, besaß viele Immobilien und Hotels in Neapel, Ravello und Positano, eine florierende Firma für Zitronenjoghurt sowie eine Hutmanufaktur, in der wunderschöne Filzhüte produziert wurden, die als einzige mit denen seines Erzrivalen Borsalino konkurrieren konnten. Wenn etwas nicht so lief wie geplant, schickte Benedetto nie seine Angestellten, er regelte Probleme lieber selbst. Das gab ihm ein befriedigendes Machtgefühl. Gerade war er also im Begriff, zu dem Rüpel zu gehen und ihn zu vertreiben, falls er nicht sofort bezahlte.

Seit er aufgewacht war, hatte er sich absichtlich in eine bärbeißige Stimmung versetzt. Die ungewöhnlich große Hitze machte ihm zu schaffen, schon bevor die Sonne aufging. Er bestellte seinen Kaffee und setzte sich. Normalerweise stand er am Tresen, aber heute war er erschöpft, ja traurig. Er verlor die Lust an seinen Ritualen, die ihm einst Halt gegeben hatten, inzwischen aber nur noch Ausdruck eines sich verengenden, eintönigen Lebens waren, das immer weniger Perspektiven bot. Benedetto fragte sich gerade, ob seine besten Jahre nicht bereits hinter ihm lagen und seine Füße womöglich größer geworden waren, so sehr drückten ihn seine Schuhe, als die Leidenschaft in Person von Silvia Preziosa, meiner Flurnachbarin, ins Café Nube Einzug hielt. Mit ihren üppigen, in ein knallrotes Kleid gezwängten Brüsten, ihren Hund Fusilli auf dem Arm, erkundigte sie sich wie jeden Morgen, ob ein caffè sospeso an der Tafel stünde. Ohne Mauricios Antwort abzuwarten, lud Benedetto sie dazu ein und sagte ihr, sie »bringe seinen Vormittag zum Strahlen«, eine verbreitete Höflichkeitsfloskel der Neapolitaner. Er wäre der glücklichste Mann, fügte er hinzu, wenn sie sich an seinen Tisch setzen wollte, und Benedetto krönte seine Bestellung noch mit zwei Gläsern frisch gepresstem Orangensaft, Eis, Obst, Ricotta und Keksen, damit Silvia begriff, wie begeistert er war. Sonst hinterließ Benedetto nie einen caffè sospeso, er konnte die »scugnizzi« nicht ausstehen, die Straßenkinder, die in den Tag hineinlebten; er verwehrte sich dagegen, diese wilde Freiheit zu unterstützen, aber einen Kaffee für eine hübsche Frau, das war in Ordnung! Bei Silvias Anblick war seine Erschöpfung mit einem Mal verschwunden gewesen, das drohende Alter, das er noch zehn Minuten vorher zu spüren geglaubt hatte, war nichts weiter als ein entfernter Horizont, und seine engen Mokassins hatte er komplett vergessen. Silvias Wangen röteten sich, passend zu ihrem Kleid, und sie erging sich in Entschuldigungen: Sie sei so schusselig! Sie habe ihre Schlüssel zu Hause liegen gelassen, als sie mit dem Hund nach draußen gegangen sei, und habe sich ausgeschlossen, ganz ohne Geld …

Wir hatten sie diese Leier schon bei etlichen Gelegenheiten abspulen hören, aber Silvia war derart überzeugend, dass sogar die Stammgäste des Café Nube ihr glaubten. Silvias Fantasie kam mit der Zeit immer mehr in Gang, und sie schmückte ihre Geschichte wunderbar mit lauter neuen Details aus. An jenem Morgen vergaß Benedetto alles: den säumigen Mieter, seine Traurigkeit, seine Wut und vor allem den Ehering an seinem Wurstfinger.

Als es Mittag war, weinte Silvia in seinem Arm und erzählte ihm ihre tragische Kindheit in Palermo und wie die Männer sie ausgenutzt hatten, ohne sie je zu beschützen. Benedetto hatte völlig vergessen, was ihn am Morgen umgetrieben hatte, er hing an ihren Lippen, fühlte sich mächtig und tapfer. Er war ein starker Retter! Er konnte es noch nicht klar in Worte fassen, aber er ahnte bereits, dass der letzte Teil seines Lebens mit den Schulterbewegungen dieser sinnlichen Frau verbunden wäre, sein Kopf in ihre riesigen Brüste geschmiegt. Benedettos Haut war sonnengegerbt, und seine Nase war wie angefressen von der Zeit. Doch seine Haltung war noch die des Jugendlichen, der gefallen hatte, eine Art Selbstsicherheit, die genügt, um einem Menschen unglaublichen Charme zu verleihen. Er begleitete Silvia ganz unschuldig bis zum Haus einer Freundin, die einen Zweitschlüssel für ihre Wohnung besaß. Er bat sie inständig um ein Wiedersehen und rang ihr ein Treffen in der darauffolgenden Woche ab, zur selben Zeit im Café Nube, nachdem er ihr versichert hatte, dass der Ring an seinem Finger nichts als ein Überbleibsel seiner zerrütteten Ehe und die Scheidung bereits im Gange sei.

Ich stelle mir vor, dass er mit leichtem Herzen zu seinem Büro ging, dass er herumscherzte, erst spät nach Hause ging und meinte, kaum dass er durch die Tür getreten war, dass es bei ihm zu Hause kalt, das Essen langweilig, Fernanda grau, seine Kinder laut und seine Welt eng war und dass er in seiner Einrichtung überall nach etwas Rotem suchte, um die füllige und lebendige Erinnerung an Silvia in ihrem klatschmohnroten Kleid zu bewahren. Die nächste Woche muss ihm lang erschienen sein. Silvia und ich rauchten Zigaretten auf dem Balkon vor unseren Wohnungen, den wir uns teilten. Sie gestand mir, dass sie den Gedanken, reich zu sein, erfreulich finde, dass sie ihr Leben lang naiv und respektvoll gewesen sei und genug davon habe. Sie werde schließlich älter. »Schau dir nur die Falten um meine Augen an, bald bin ich von Kopf bis Fuß rissig wie eine japanische Vase!« Sie würde sich die Gelegenheit mit Benedetto nicht entgehen lassen.

Silvia hatte gelitten, man hatte sie geschlagen und gedemütigt. Nachdem die Männer, die sie leidenschaftlich geliebt hatte, sie betrogen hatten, wusste sie zumindest, wie sie es anstellen musste, wenn sie nicht verliebt war, wann es galt, den Blick zu senken, die Schüchterne zu spielen, sich zu verweigern, sich schließlich hinzugeben und dabei das Gefühl zu hinterlassen, dass sie Teile eines Geheimnisses verbarg, das man entschlüsseln musste. Ich hatte sie groß, um nicht zu sagen alt werden und ihre Illusionen verlieren sehen, und das Geräusch des Schlüssels im Türschloss am Abend war nicht mehr dasselbe wie damals, als sie unbekümmert und überstürzt eingezogen war, voller Träume. Sie sah Benedetto Livari als ihre letzte Chance auf Revanche, was ihr durchaus gereicht hätte, denn das Glück schien in ihrem Leben nicht verweilen zu wollen. Seit ihrem zweiten Treffen war Benedetto bis über beide Ohren verliebt, und sie war es, an die er dachte, als er das Stück Krokodil mit dem vergoldeten Verschluss als letztes Hochzeitstagsgeschenk kaufte. Er hatte sich vorgenommen, Fernanda zu sagen, er werde sie nach dem Besuch ihrer Schwester an Ostern verlassen. Den Sommer würde er nicht ohne Silvia verbringen.

 

Einen Monat nach ihrer ersten Begegnung schlief Benedetto in Silvias Baldachinbett, das über dem Café Nube quietschte, auf ziemlich jämmerliche Weise mit ihr, aber Silvias Stöhnen gab ihm Vertrauen in seine Fähigkeiten, sodass der zweite Versuch schon wagemutiger und der dritte durchaus beachtlich war angesichts seines Alters und seines dürftigen Sachverstands auf diesem Gebiet. Silvia musste gar nicht die ganze Zeit etwas vortäuschen. Als der Radau zu Ende war, spendierte Mauricio fröhlich strahlend eine Lokalrunde unter großem Applaus, der bis ins Schlafzimmer drang. Das Liebespaar teilte sich eine Zigarette, wie in der Jugend, und fragte mich vom Balkon aus, während ich unten auf der Caféterrasse saß, ob ich ihnen nicht eine der legendären Pannacotta aus dem Café Nube heraufbringen könne. Benedetto hatte einen ausgeprägten neapolitanischen Akzent, und er verwendete drollige Redewendungen, die nur kannte, wer wie er in dieser Stadt geboren war. Silvia verstand alles, antwortete aber in gewähltem Italienisch. Sie hatte ewig gebraucht, um es sich anzueignen, und pflegte es wie ihre Haut, die sie mehrmals täglich mit Feuchtigkeit versorgte. Als sie Benedetto fragte, ob er auch Italienisch spreche, und zwar wie in Mailand, eine Sprache, die zu seinem Bankkonto zu passen schien, antwortete er lachend: »Aber wozu denn? Ich bin Neapolitaner, wir leben in Neapel, in meiner Sprache gibt es hundertfünfzig Arten, Idiot zu sagen, ich kenne sie alle, und eines Tages bringe ich sie dir bei! Es ist die schönste Sprache der Welt! Du willst doch schließlich auch nicht in Lumpen herumlaufen, oder? Neapolitanisch, das ist meine Kleidung, verstehst du?« Am Ende seiner Ausführungen legte er ihr seine Pranke auf den Hintern. Sie kicherten und knutschten, Verliebte sind immer albern und nervig. Vor Silvias Fenster hing Wäsche zum Trocknen, ein Negligé und rote Unterwäsche. Ihre Großmutter hatte ihr beigebracht, stets die Farbe der Leidenschaft zu tragen, damit der böse Blick sie verschone. Sie hatte vergessen, dass es auch die Farbe der Gefahr war. Benedetto betrachtete sie wie ein verliebter Gockel, es war so schön, so einfach, bei ihr empfand er wieder das köstliche Stechen anfänglicher Liebe. Silvia war besorgt, er könnte einfach so verschwinden, wie wenn man fürchtet, ein Lottoschein könnte einem von einem Windstoß aus der Hand geweht werden, und bat ihn, nicht nach Hause zurückzugehen, sie nicht mehr allzu lange allein zu lassen. Er ging in dieser Nacht nur ein paar Stunden nach Hause und brach dann wieder auf, unter dem Vorwand, er habe einen beruflichen Termin, zu dem er mehrere Stunden unterwegs sei. Hormongeputscht, wie er war, brauchte er keinen Schlaf mehr.

Was Benedetto nicht wusste, war, dass Fernanda ihn beschattete. Seit mehreren Wochen aß er kein Dessert mehr, legte übermäßig Parfum auf und pfiff unter der Dusche. Grund genug für seine Ehefrau, um zu begreifen, dass ihr gemeinsames Leben in Gefahr war. Sie hatte sich vorgestellt, er begehre einfach eine andere, nicht wissend, dass reife Männer, ebenso wie junge Frauen, das leicht einmal mit Liebe verwechseln. Wie in einem schlechten Film staffierte Fernanda sich mit einem Trenchcoat aus und verdeckte ihr Gesicht zur Hälfte mit einer schwarzen Sonnenbrille à la Jackie Kennedy, mit der sie aussah wie eine alte Fliege. Fernanda strengte sich an, sie log und kämpfte, daraus bestand ihr Leben. Darum war sie, als sie, die Krokodilledertasche am Arm, ihren Mann mit dieser schönen Frau am Tisch sitzen sah, zwar durchaus verletzt, aber nicht verletzt wie eine Person, die alles auf sich bezieht. Nachdem sie den Stich im Herzen gespürt hatte und die Gefahr erst einmal ausgemacht war, fragte sie sich, was sie tun konnte. Was wollte sie? Sich von Benedetto trennen? Das stand gar nicht zur Debatte. Fernanda fragte sich: Bin ich eine runzlige alte Schachtel für ihn? Wie diese Tasche? Und inmitten dieser logischen Fragen drängten sich ihr Bilder auf … Wohin zieht der Duft von Blumen, wenn sie welken? Wohin geht die Liebe, wenn sie vergeht? Sprechen wir, damit uns jemand hört? Lieben wir, um zurückgeliebt zu werden? Und weinen wir auch ganz allein?

 

Sie beobachtete Benedetto durchs Fenster des Café Nube. Er war nicht mehr der schöne Mann, der er einst gewesen war. Mit den kahlen Schläfen, den eingefallenen Wangen und dem Ansatz eines Schmerbauchs rührte seine Erscheinung seine Frau trotzdem. Fernanda hatte den umgekehrten Weg beschritten und mithilfe von Gesichtspflege und aufwendiger Frisur ihr hässliches Äußeres in eine stilvolle Erscheinung verwandelt. Als das untreue Paar nach nicht hörbaren, aber so ausdrucksstarken Liebesbekundungen, dass Fernanda in Panik geriet, aus dem Café trat, trennten sich die beiden nach einem letzten leidenschaftlichen Kuss. Mit einem flauen Gefühl im Bauch ließ Fernanda ihren Mann davongehen und folgte ihrer Rivalin in die andere Richtung. Silvia war nicht perfekt, sie hatte einen etwas mehr als prallen Hintern, üppige Brüste und eine schmale Taille, was ihr die Form einer Sanduhr aus Fleisch und Blut verlieh. Sie stieg in ein Taxi, um zur Via dei Mille zu fahren, und Fernanda hätte sie beinahe verloren, fand sie aber inmitten der neapolitanischen Staus mithilfe ihres treuen Chauffeurs wieder, eines schnurrbärtigen Mannes namens Flavio, der heimlich darauf sparte, sich den Schnurrbart entfernen und Körperteile abnehmen sowie andere hinzufügen zu lassen und sich in Flavia umzubenennen. Man hätte die ganze Szene für einen schlechten Thriller in Zeitlupe halten können: Das Taxi stand schon fast und wäre in zwei Schritten erreichbar gewesen zwischen Hupen und typisch neapolitanischem Geschimpfe zur Hauptverkehrszeit (Polentoni fascisti! Rompiscatole! Porca! Puttana troia! und andere Nettigkeiten …). An rote Ampeln hatten sich erfahrene neapolitanische Autofahrer noch nie gehalten, woraus ein völliges Chaos resultierte, in dem alle feststeckten, aber das Gefühl hatten, vollkommen frei zu sein. Da schlug Silvia ungeduldig und entnervt vom Verkehr die Tür des Taxis zu und ging zu Fuß weiter. Benedetto hatte ihr ein Bündel Geldscheine gegeben und ihr aufgetragen, sich die schönsten Sommerkleider zu kaufen. Er plante, sie auf eine Kreuzfahrt mitzunehmen und bei alten Freunden auf Capri haltzumachen, um sie ihnen wie eine Jagdtrophäe zu präsentieren. Mehr noch aus Angst als vom schnellen Gehen außer Atem, folgte Fernanda ihrer Rivalin in das Geschäft und schlüpfte mit dem gleichen Kleid, nur eine Größe kleiner, in die angrenzende Umkleidekabine. Im selben Moment trat Benedetto am anderen Ende der Stadt in das Gebäude im faschistischen Architekturstil Mussolinis, in dem die Kanzlei von Rechtsanwalt Pericone lag, der auf Familienrecht spezialisiert war, um mit ihm die Scheidungsvereinbarungen aufzusetzen, die den größten Erfolg und die geringsten Kosten versprachen. (Ein lustiges Detail am Rande: Wie das Schicksal so spielt, sollte sich Rechtsanwalt Pericone eines Tages unsterblich in eine gewisse Flavia verlieben, die ihm zwar keine Kinder würde schenken können, ihm aber einen blasen konnte, wie nur ein Mann es vermag, und zusammen würden sie sich an die Namen von Benedetto und Fernanda erinnern, ohne die genauen Umstände ihrer Begegnungen preisgeben zu dürfen.) Die beiden Frauen traten gleichzeitig in den gleichen Kleidern aus ihren Kabinen. Was an Fernanda unglaublich schick aussah, wirkte an Silvia überaus sexy.

 

»So was aber auch, das ist ja lustig!«, rief die hübsche, dralle Silvia.

Fernanda musterte sie von Kopf bis Fuß und schluckte ihre Tränen hinunter. Die Verkäuferin wusste nicht, wie sie einen Artikel verkaufen sollte, der gleichzeitig auf derart unterschiedliche Weise getragen wurde.

»Zwei Frauen, zwei Kleider – Sie sind alle beide wunderschön!«

»Mir macht es nichts aus, das gleiche Kleid zu haben! Es ist doch lustig, wie zwei Mädchen in Uniform. Und Sie sehen sehr apart aus …«, fügte Silvia hinzu.