Angel: Inferno-Reihe Band 2 - Julia Brylewska - E-Book
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Angel: Inferno-Reihe Band 2 E-Book

Julia Brylewska

5,0

Beschreibung

Verfolge das weitere Schicksal von Hailey und dem »Teufel«

Es wirkt, als ob Haileys Leben in geregelten Bahnen verläuft und das, wonach sie sich so lange gesehnt hat, endlich eingetreten ist: Ruhe und Frieden. In Boston hat sie ihre eigene Wohnung und einen neuen Job, in dem sie äußerst erfolgreich ist.

Hailey hat den Mann, der ihr das Herz gebrochen hat, aus ihren Erinnerungen verbannt und kann endlich nach vorne blicken. Oder macht sie sich selbst nur etwas vor?

Sie hätte jedenfalls nicht gedacht, so schnell wieder in Philadelphia zu landen – der Stadt, in der sie einst ihr Herz und ihren Stolz verloren hat. In der Stadt, in der sie 
ihn verlassen hat.
Der Anblick einer anderen Frau an seiner Seite wird die erste Bewährungsprobe sein, der sich Hailey stellen muss. Hat sie es wirklich geschafft, Victor Sharman zu vergessen? Und hat er sie vergessen?

Der zweite Band der erfolgreichen »Inferno«-Trilogie!

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KasiaNowaczek

Man kann sich nicht von der Lektüre losreißen

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Inhaltsverzeichnis
Buchinfo
Zitat
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Angel. Inferno 2« im Verlag Wydawnictwo Niezwykłe, Oświęcim
© 2021 by Julia Brylewska Für die deutsche Erstausgabe © 2024 by Rubino Books, Imprint von Legimi [email protected] Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Übersetzung: Magdalena Chrobok
Redaktion und Korrektorat: Ineke Reichel, Magdalena Chrobok, Karin Lipski
Umschlaggestaltung: Marcin Skrzypczak, www.grafiduo.pl
ISBN 978-83-67280-70-9
E-Book erstellt von eLitera s.c.

Einsamkeit ist eine Gefahr für einen arbeitenden Geist. Wir müssen uns mit Menschen umgeben, die denken und sprechen. Wenn wir lange allein sind, bevölkern wir die Einsamkeit mit Spukgestalten.

Lauren Groff, Florida

PROLOG

Der Rauch kitzelte angenehm in seiner Kehle, während er die Regentropfen beobachtete, die über die Fensterscheibe liefen, und versuchte, seine Gedanken zu beruhigen. Die laut surrenden Ventilatoren auf der Schultoilette waren dabei keine große Hilfe.

Er fuhr sich mit der Hand durch sein dunkles Haar, wobei ihm ein paar Strähnen in die Stirn fielen. Anschließend steckte er sich die Zigarette wieder zwischen die Lippen und schaute auf die Uhr, die er um sein Handgelenk trug. Er zog die Stirn in Falten, als er die Uhrzeit sah, und nahm einen weiteren Zug. Es gab mehrere Möglichkeiten: Wie durch ein Wunder hatte Professorin Jordan Victor erkannt, was zwar unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich war. Oder Victor hatte den Test nicht bestanden, was wiederum bedeutete, dass er selbst in der Klemme steckte. Sein Bruder konnte sich aber auch einfach absichtlich verspäten.

Er zuckte zusammen, als sich die schäbige Tür der Schultoilette mit einem lauten Knarren öffnete. Er drehte den Kopf und atmete auf, als er – sich selbst sah. Seinen Zwillingsbruder, der die Hände in die Taschen seiner dunklen Jeans gesteckt hatte und in der Tür stand.

Michael sprang mit einem Satz von der Fensterbank herunter und drückte die Zigarette aus.

»Hat sie etwas gemerkt?«, fragte er und versuchte, die Nervosität zu verbergen, die in seiner Stimme mitschwang.

Victor schnaubte und legte den Kopf schief. »Nein«, antwortete er knapp.

Michael stieß einen erleichterten Seufzer aus.

Als sie noch jünger waren, war es viel einfacher gewesen, die Rollen zu tauschen. Mit den Jahren hatten jedoch die Merkmale, anhand derer man sie voneinander unterscheiden konnte, zugenommen.

Er trat einen Schritt vor, leckte sich langsam über die Unterlippe und sagte dann:

»Hast du die Prüfung bestanden?«

»Ja.« Victor zog die Lederjacke aus. »Dreiundneunzig Prozent.«

»Dreiundneunzig?«, wiederholte er. »Das bedeutet ...«

»Du hast das Semester bestanden«, warf sein Bruder ein und reichte ihm die Jacke zurück. »Herzlichen Glückwunsch!«

Michael sah seinen Bruder an, stürzte sich dann auf ihn und schloss ihn in die Arme.

»Das war«, Victor wich zurück und warf ihm einen fast väterlichen Blick zu, »das letzte Mal.«

»Ja, sicher.« Er lachte und nahm ihm die Jacke ab, die er sich dann überwarf. »Ich werde mich beizeiten dafür revanchieren.« Er klopfte Victor auf den Rücken. »Los, komm.« Er ging an seinem Zwilling vorbei, stieß die Toilettentür auf und trat dann auf den Schulflur hinaus.

»Wohin?« Victor schaute ihn fragend an.

»Wir müssen das Ende des Semesters und das Bestehen meiner Prüfung feiern!«, rief Michael.

Victor holte tief Luft und folgte dann seinem Bruder, wohl wissend, dass er so oder so keine andere Wahl hatte. Michael führte ihn zur großen Lichtung gleich hinter der Atlanta High, die von den meisten Schülern als idealer Ort für die Pausen und den Großteil der Sommerferien angesehen wurde.

Sie setzten sich in der Nähe eines hohen Baumes ins weiche Gras, neben einer Gruppe kichernder Mädchen. Der Nieselregen hatte endlich aufgehört.

»Melanie – du weißt schon, diese süße blonde Zehntklässlerin – hat mich heute auf dem Flur angesprochen und mich gefragt, ob du ihr Nachhilfe in Biologie geben würdest.«

Victor sah seinen Bruder an, als dieser gerade eine Zigarettenschachtel aus seiner Hosentasche holte und sich eine Zigarette in den Mund steckte.

»Entspann dich, ich konnte sie abwimmeln«, sagte er und zündete sich die Zigarette an. Er zog genüsslich daran und ließ sich ins weiche Gras fallen, wobei er die ausgestreckten Beine übereinanderlegte. »Aber ich gebe dir einen kleinen Rat.« Er sah seinen Bruder an. »Wenn du weiterhin jedes Mädchen, das dir gefällt, so behandelst, wirst du nie eine Freundin finden.«

»Ich suche nicht«, Victor verzog leicht den Mund, »nach einer Freundin.«

Michael schüttelte amüsiert den Kopf.

»Tu mir das nicht an. Ich möchte der Lieblingsonkel deiner Kinder werden. Derjenige, der ihnen die ersten Zigaretten kauft und ...« Er verstummte, als er den vorwurfsvollen Blick bemerkte, den Victor ihm zuwarf. »Okay, vergiss es.« Michael schaute in den Himmel. Die Strahlen der Oktobersonne versuchten, die Wolken zu durchbrechen. »Es sind noch genau zwei Tage bis zu unserem Geburtstag«, seufzte er. »Ich hoffe, du schenkst mir dieses Jahr etwas Besseres als ein Biologiebuch.«

»Hättest du es dir auch nur einmal angesehen, hätte ich die Prüfung nicht für dich schreiben müssen.« antwortete Victor genervt.

Michael lachte und schaute seinen Bruder an.

»Du machst das doch gerne, oder?«

»Dich aus Schwierigkeiten herausholen und dich ständig vor Problemen bewahren?«

»Ich weiß nicht, was ich ohne dich tun würde, kleiner Bruder«, murmelte er und benutzte bewusst den Ausdruck, den Victor so sehr hasste.

»Du würdest noch immer in der ersten Klasse festsitzen«, zischte Victor und stützte die Ellenbogen auf seine Knie. Dann ließ er seinen Blick über die Lichtung schweifen.

Die große Pause hatte gerade begonnen, und so strömten Gruppen von Schülern aus dem Schulgebäude heraus, um für kurze Zeit noch die letzten Strahlen der Herbstsonne zu genießen.

»Wirst du dich mit ihm treffen?«

»Mit Alfie?«

Victor nickte. Bei der bloßen Erwähnung dieses Namens hätte er sich am liebsten vor Schmerzen gekrümmt, aber es gelang ihm, sich zu beherrschen.

»Vielleicht«, sagte Michael schulterzuckend.

»Du solltest dich von ihm fernhalten.«

»So wie du?«

Er drehte den Kopf und sah seinen Bruder an. »So wie ich«, stimmte er zu.

»Das ist es, wodurch wir uns unterscheiden.« Michael drückte seine Zigarette in dem feuchten Gras aus. »Du hast ihn verlassen, ich werde es nicht tun. Er ist mein Freund, Victor.«

»Wie kannst du ihn immer noch als deinen Freund bezeichnen, nach allem, was er uns angetan hat?«, entgegnete er verbittert.

»Er hat einfach ein bisschen die Orientierung verloren.« Wieder zuckte Michael mit den Schultern. »Aber ich werde ihn nicht fallen lassen, nur weil er ein paar dumme Fehler gemacht hat.« Er schnaubte. »Jeder hat eine zweite Chance verdient. Sogar Alfie Meyer.« Er verschränkte die Hände hinter dem Kopf und schwieg für einen Moment. »Also, was werden wir an unserem Geburtstag machen?«

»Unsere Eltern bereiten eine Party vor.«

»Lass uns den Tag zu zweit verbringen«, schlug er vor.

»Zu zweit?«

»Nur du und ich, kleiner Bruder.« Er erwiderte Victors Blick. »Wir nehmen Dads Boot, fahren auf den See hinaus und begehen unseren achtzehnten Geburtstag zu zweit. Ich fürchte, dies wird die letzte Gelegenheit dazu sein.«

»Warum die letzte?«

»In einem Jahr werden wir unseren Abschluss machen, du wirst an einer renommierten Universität studieren und deinen eine Minute jüngeren Bruder vergessen.« Er griff sich theatralisch an die Brust.

Victor lächelte matt.

»Ich werde dich schon nicht vergessen. Dafür machst du mir zu viele Probleme.«

»Hey!« Michael richtete sich auf und stieß Victor freundschaftlich mit der Schulter an. Dann holte er erneut die Zigarettenschachtel aus seiner Jackentasche. »Willst du eine?«

»Ich rauche nicht.«

»Nein, natürlich nicht.« Er grinste. »Von uns beiden bist du das Lieblingskind der Familie Sharman, nicht wahr?« Er steckte sich eine Zigarette an und zog daran.

Sie blickten beide nach vorne und einen Moment lang herrschte Schweigen zwischen ihnen. Die Gruppe Mädchen hatte eine gelbe Decke auf dem weichen Gras ausgebreitet. Darauf liegend, tauschten sie sich lebhaft über irgendetwas aus, und ihre amüsierten Stimmen drangen von Zeit zu Zeit zu den Brüdern herüber.

»Victor?«

»Ja?«

Michael inhalierte den Rauch der Zigarette. »Versprich mir etwas.« Er spürte den Blick seines Bruders auf sich. »Unabhängig davon, wer wir in der Zukunft sein werden, wo wir landen oder wie weit wir voneinander entfernt sein werden, werden wir jedes Jahr am sechzehnten Oktober aneinander denken.«

»Natürlich.«

Victor sah seinen Bruder an und atmete tief ein. Grinsend gab er zu:

»Die Idee mit dem Boot ist gar nicht so schlecht.«

KAPITEL 1

Hailey betrachtete sich im Spiegel des Aufzugs: blasses Gesicht, getuschte Wimpern, leicht zerzaustes schwarzes Haar und ein Rollkragenkleid in sattem Grün, das ihre Kurven zur Geltung brachte. Obwohl sie versuchte, so etwas wie Freude in ihren Augen zu finden, begegneten ihr nur Angst und Besorgnis in ihrem Blick. Sie schüttelte den Kopf und konzentrierte sich wieder auf ihre Lippen, die sie mit einem roten Lippenstift schminkte.

Als sich die Aufzugstüren mit einem unverwechselbaren »Ping« öffneten, fuhr sie sich mit den Fingern durch ihr langes Haar und ging durch die Lobby der Max & Molly Company zum Empfang.

Esther, eine junge und stets lächelnde Frau, begrüßte sie fröhlich.

»Der letzte Tag vor dem Urlaub?«, fragte sie.

Hailey zog eine elektronische Karte aus ihrer Handtasche und hielt sie nah an das Lesegerät.

»Ja«, antwortete sie und steckte den Ausweis zurück in ihr Portemonnaie. »Frohe Weihnachten und ein gutes neues Jahr, Esther«, fügte sie hinzu und verzog ihre Lippen zu einem Lächeln.

»Danke, gleichfalls!«

Hailey verließ das Gebäude und trat auf die belebte Straße hinaus. Ein Mann, der einen großen Regenschirm in der Hand hielt, stieß sie fast mit dem Arm an, als er versuchte, ein Taxi zu erwischen, das am Bordstein angehalten hatte.

Seit ein paar Tagen wurde Boston von sintflutartigen Regenschauern heimgesucht, die so gar nicht zur Jahreszeit passten – Weihnachten war schließlich nur noch wenige Wochen entfernt.

Sie wickelte sich noch fester in ihren dunklen Mantel und ging den Bürgersteig entlang. Das Café, in dem sie sich mit Jasper verabredet hatte, war weniger als eine Meile von ihrem Arbeitsplatz entfernt. Das Wetter lud zwar nicht gerade zu einem Spaziergang ein, aber das Mädchen beschloss trotzdem, etwas frische Luft zu schnappen. Es war wie eine Erlösung, nach acht Stunden, die man in einem Bürogebäude vor einem Laptop und einem Stapel Papiere verbracht hatte, hinaus ins Freie zu treten.

Mein Leben hätte niemals so verlaufen sollen, dieser Gedanke hallte in ihrem Kopf wie ein hartnäckiges Mantra wider, und sie spürte wieder einmal die Last des Scheiterns auf ihren Schultern. Als sie ihr Studium abschloss, hatte sie angenommen, dass sich alles zum Guten wenden würde. Leider waren von ihren ehrgeizigen Plänen nur eine Handvoll Erinnerungen und das Gefühl, völlig versagt zu haben, übriggeblieben.

Sie hatte zwar einen gut bezahlten Job, eine kleine Wohnung im Stadtzentrum, und vor einiger Zeit hatte sie sogar darüber nachgedacht, sich eine Katze oder einen Hund zuzulegen. Doch jeder Tag war wie der andere: Kaffee, U-Bahnfahrt, acht Stunden Arbeit, ein zweiter Kaffee irgendwo zwischen Kopierer und Videokonferenz, ein schnelles Mittagessen, anschließend zurück in die Wohnung und noch eine Folge irgendeiner Fernsehserie vor dem Schlafengehen. Die Nächte waren zu kurz, und die Tage erschienen unerträglich lang.

Unerwartet tauchte ein Kind in einer gelben Jacke vor Hailey auf. Als es in eine Pfütze sprang, spritzte schmutziges Wasser auf ihre Schuhe.

»Jeremy!« Die Mutter des Jungen ergriff seine Hand, warf dem Mädchen ein entschuldigendes Lächeln zu und zog das Kleinkind mit einem tadelnden Blick in Richtung Bushaltestelle davon.

Hailey ging ungerührt weiter. Mit leichter Verspätung erreichte sie das kleine Café, das zwischen zwei Bürogebäuden lag. Kaum war sie eingetreten, entdeckte sie schon an einem der Tische Jaspers unverwechselbar helles Haar.

Sie hängte ihren nassen Mantel auf und ging zu dem Tisch am Fenster hinüber. Erst dann hob der Mann den Blick von der Speisekarte, wies auf den Platz gegenüber und schenkte ihr ein Lächeln.

»Du bist zu spät«, stellte er fest, als Hailey sich setzte.

Sie legte ihre Tasche auf einem der Stühle ab und schaute sich in den Räumlichkeiten um, während sie sich mit den Händen die kalten Arme rieb.

Das Café war sehr gemütlich. Eines, in dem man sich sofort wohlfühlte. Die Bilder an den hellen Wänden, die großzügig aufgestellten Tische und der angenehme Duft von Kaffee verliehen dem Raum eine warme Atmosphäre.

»Ich habe kein Taxi bekommen«, log sie.

»Mhm.« Jasper konzentrierte sich wieder auf die Speisekarte. »Ich habe einen Kaffee für dich bestellt. Schwarz, ohne Zucker, richtig?«

»Ja.« Ihre Antwort entsprach wieder nicht der Wahrheit.

Sie mochte keinen schwarzen Kaffee und trank eigentlich nur welchen mit Milch. Sie war sich sicher, dass sie es bei ihrer ersten Verabredung und den zwei weiteren Dates erwähnt hatte. Dies war nun das vierte.

Sie war Jasper vor ein paar Wochen im Büro begegnet. Er war bei der Max & Molly Company aufgetaucht, um ein Angebot der Firma vorzustellen, für die er arbeitete. Sie waren erst im Flur und dann noch einmal am Ausgang zusammengestoßen. Der blonde Mann hatte Hailey schließlich gefragt, ob sie gemeinsam Kaffeetrinken gehen wollen, und sie hatte das Angebot nicht abgelehnt, obwohl sie keine große Lust gehabt hatte, ihn kennenzulernen.

Jasper war zwei Jahre älter als sie, wobei er das Gesicht eines Kindes hatte: kleine Augen mit langen, hellen Wimpern und runde Wangen. Er liebte helle Anzüge. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass sie ihn jemals etwas anderes hatte tragen sehen. Stets bestellte er schwarzen Kaffee für sie, sprach nur über sich selbst und lachte über seine eigenen lahmen Witze.

Bei ihrer zweiten Verabredung, nachdem er Hailey bis zu ihrer Wohnungstür begleitet hatte, hatte er sie gefragt, wie sie eigentlich heiße. Spätestens da wurde ihr klar, dass sie ihre und seine Zeit verschwendete. Sie gab ihm jedoch eine zweite Chance, weil sie der Meinung war, dass jeder eine zweite Chance verdiene – zumindest fast jeder. Bei ihrer dritten Verabredung nannte er sie »Holly« und schien ehrlich überrascht gewesen zu sein, als sie ihm erklärte, dass das nicht ihr Vorname sei. In diesem Moment traf sie die Entscheidung, die sie ihm bei diesem Treffen mitteilen wollte.

»Worauf hast du Lust?«, fragte er und schaute sie an. »Ich habe gehört, dass es hier einen ziemlich guten Apfelkuchen geben soll.«

»Jasper«, warf sie ein und sah sich nervös um. »Hör mal ...«

»Wie wäre es mit Käsekuchen?«

»Wir sollten das hier beenden«, fuhr sie fort und macht eine unbestimmte Bewegung mit ihren Händen.

Der Mann verstummte und presste die Lippen aufeinander. Sein kindliches Gesicht verzog sich zu einer Grimasse. Einen Moment lang sah Hailey in ihm das Kind, das sie kurz zuvor mit schmutzigem Wasser aus einer Pfütze bespritzt hatte.

»Geht es um mich? Habe ich etwas falsch gemacht?«

»Nein, Jasper, ich ...«

»War ich zu schnell?« Er ließ sie nicht ausreden. In seiner Stimme war eine Mischung aus Belustigung und Irritation zu hören. »Habe ich Druck auf dich ausgeübt?«

»Ich bin einfach noch nicht bereit für eine neue Beziehung«, seufzte sie. »Ich glaube nicht, dass dies der beste Zeitpunkt für mich ist, um mit jemandem auszugehen. Ich würde es lieber jetzt als später beenden, bevor du dich noch mehr in die Sache reinhängst.«

»Oh, du bist also nicht bereit?«, rief er aufgebracht und knallte die Speisekarte auf den Tisch.

»Jasper, bitte ...«

»Egal«, schnaubte er und stand auf. Mit einem Ruck zog er seinen Mantel von der Stuhllehne und warf ihn sich über die Schultern. »Ich habe schon genug Zeit vergeudet«, fügte er hinzu.

Hailey schaute betreten zur Seite. Sie versuchte nicht, ihn aufzuhalten, als er sich zwischen den Tischen hindurchzwängte und dann das Café verließ. Durch die großen, mit Regentropfen benetzten Fenster konnte sie einen letzten Blick auf ihn erhaschen. Er ging mit zügigen Schritten die Straße hinunter.

Sie schloss für einen Moment die Augen und versuchte, all die unangenehmen Gedanken, die sie nachts wachhielten, zu verdrängen. Es war nicht so, dass sie nicht bereit für eine neue Beziehung war, sie kam nur einfach nicht über ihn hinweg.

Sie schüttelte den Kopf und öffnete ihre Augen wieder.

Hör auf, ermahnte sie sich innerlich.

Sie bezahlte die Bestellung, die Jasper aufgegeben hatte, trank ihren schwarzen Kaffee aus und verließ dann das Café. Der Verkehr in der Stadt hatte sich ein wenig entspannt. Die Bürgersteige waren nicht mehr so überfüllt und die Hauptverkehrszeit war vorbei.

Als sie auf den Taxistand zuging, vibrierte ihr Telefon in der Manteltasche. Auf dem Bildschirm erschien das Foto einer Blondine.

»Ich hoffe, du hast schon gepackt!« Meggies fröhliche Stimme ertönte, kurz nachdem Hailey den grünen Hörer gedrückt hatte.

»Natürlich habe ich das«, schwindelte sie.

In zwei Tagen sollte sie in ein Flugzeug steigen, Boston verlassen und dann einige Wochen in Philadelphia verbringen. In der Stadt, die sie vor über einem Jahr verlassen hatte.

Die bevorstehende Rückkehr in ihre Heimatstadt erfüllte sie mit Freude und Sorge zugleich. Dort wartete all das auf sie, was sie eigentlich hatte hinter sich lassen wollen.

»Nimm dir warme Kleidung mit«, empfahl Meggie ihr. »In Philadelphia soll es bis kurz vor Weihnachten sehr viel schneien. Ich habe noch nicht mit Thomas gesprochen, ob er in der Firma früher Schluss machen und dich abholen kann, aber wenn nicht, werde ich Lois fragen.«

»Ich schaffe das schon«, versicherte Hailey ihrer Freundin. »Es gibt so etwas wie Taxis.«

»Nun, ja.« Meggie musste schmunzeln. »Bist du noch auf der Arbeit?«

»Nein, ich bin gerade auf dem Weg nach Hause.«

»Oh, hattest du ein Date?«

»So etwas in der Art.«

»Mit diesem Jasper?«

»Wir haben uns getrennt«, verkündete sie, obwohl sie sich nicht sicher war, ob ihre Beziehung ernst genug war, um von einer Trennung sprechen zu können.

»Oh, das tut mir leid, Hailey.«

»Es ist nicht schlimm. Ich muss jetzt los, Meg. Ich rufe dich morgen an, okay?«

»Ich kann es kaum erwarten, bis du wieder zu Hause bist!«, quietschte diese.

»Ja, ich auch.«

Hailey schaute auf ihr Handy und verzog dabei den Mund zu einem Lächeln, als sie vor einem Zebrastreifen anhielt.

Die ersten Regentropfen kamen vom Himmel und machten ihr schmerzlich bewusst, dass sie in weniger als achtundvierzig Stunden nicht nur in ihre Heimatstadt und zu ihren Liebsten zurückkehren würde, sondern auch zu allem, vor dem sie seit über einem Jahr weglief ...

***

An diesem Tag sank die Temperatur in Philadelphia zum ersten Mal seit mehreren Wochen unter null. In der Stadt herrschte Frost, und die winzigen Schneeflocken, die in der Luft tanzten, schienen die kommenden Feiertage anzukündigen.

Victor ignorierte die Kälte, die auf seiner Haut brannte, und lief den Waldweg entlang in Richtung der nahegelegenen Lichtung. Normalerweise brauchte er für diese Strecke sieben Minuten. An diesem Tag schaffte er sie in sechs.

Er verlangsamte sein Tempo, als er endlich die freie Fläche zwischen den Bäumen entdeckte.

Er streifte die Kapuze seines schwarzen Sweatshirts ab, atmete tief durch und fuhr sich mit den Fingern durch die leicht feuchten Haare. Er warf einen Blick auf die Fitnessuhr, die er am Handgelenk trug. Sie zeigte sechs Uhr dreißig an. Dann richtete er seinen Blick auf die Leere um ihn herum. Die Stille war beruhigend, aber nur im ersten Moment. Nach längerer Zeit konnte man darin alles hören, was man tagsüber normalerweise ignorierte.

Victor verfolgte den Gedanken nicht weiter, denn er wurde von seinem Handy in die Realität zurückgeholt. Er nahm den Anruf entgegen, drehte sich mit dem Rücken zur Lichtung und atmete noch einmal tief durch.

»Um acht Uhr hast du einen Termin mit den Geschäftspartnern aus Seoul.« Eine Frauenstimme ertönte am anderen Ende der Leitung. »Ich rufe an, um mich zu vergewissern, dass du es nicht vergessen hast.«

»Ich habe es nicht vergessen«, bestätigte er, obwohl die Wahrheit ganz anders aussah. »Sie sollen auf mich warten, falls ich zu spät komme.«

»Aber ...«

»Das ist eine dienstliche Anweisung, Suzy«, warf er ein und beendete das Gespräch.

Einige Sekunden lang stand er regungslos da. Als sich wieder die unerwünschten Gedanken in seinen Kopf schlichen, zog er sich schnell seine Kapuze über den Kopf und lief weiter, wobei er sich nur auf die Müdigkeit und die Kälte konzentrierte.

KAPITEL 2

Wenn wir sagen, dass wir Zeit brauchen, um über etwas hinwegzukommen, wissen wir nicht, wann und ob wir Erfolg damit haben werden. Es können Tage, Wochen – ja sogar Jahre – vergehen, und die Sache, die wir so dringend loswerden wollen, verfolgt uns immer noch.

In Gedanken versunken fuhr Hailey in einem Taxi durch die Straßen von Philadelphia. Sie war sich nicht sicher, wie lange sie gebraucht hatte, um über alles hinwegzukommen, als sie dreizehn Monate zuvor Hals über Kopf diese Stadt verlassen hatte.

Sie war nach Boston gegangen, um in einem florierenden Unternehmen zu arbeiten, und obwohl ihr Leben zu dieser Zeit relativ geordnet schien, hatte sie keinen inneren Frieden finden können. Noch Monate später hatte sie sich ständig umgeguckt, auf der Suche nach dem weißhaarigen Mann. Es hatte viele Wochen gedauert, bis sie endlich begriff, dass Alfie Meyer und Victor Sharman nicht mehr zu ihrem Leben gehörten.

Die ganze Zeit hatte sie versucht, sich ausschließlich auf sich selbst zu konzentrieren. Hailey hatte gute Ergebnisse auf der Arbeit erzielt, war schnell befördert worden und wohnte in einem schönen Apartment mitten in der Stadt. Drei Monate, nachdem sie Philadelphia verlassen hatte, hatte Thomas Meggie erneut einen Heiratsantrag gemacht, und dieses Mal hatte sie Ja gesagt. Ihre Hochzeit sollte in knapp drei Wochen, am Neujahrstag, stattfinden.

Hailey genoss ihr Glück, vielleicht sogar mehr, als sie es hätte tun sollen. Sie war offiziell zur Trauzeugin ernannt worden und musste sich die nächsten Tage auf die Hochzeitsvorbereitungen konzentrieren: Auswahl des Kleides, Farbe des Brautstraußes, Junggesellinnenabschied, Vorfreude und natürlich auch jede Menge Stress.

Darüber hinaus erfüllte sie die Vorstellung, Weihnachten im Kreise ihrer Familie zu verbringen, mit großer Freude. Im Jahr davor war an Weihnachten ein Schneesturm über Boston hinweggefegt, sodass alle Flüge gestrichen worden waren und sie weit weg von ihren Liebsten in einer fremden Stadt festgesessen hatte.

Hailey lehnte ihre Stirn ans Fenster und atmete tief ein. Die Stadt schien anders zu sein – oder war sie jemand anderes als noch vor einem Jahr?

Das Taxi hielt direkt vor einem hellen Gebäude mit großen Fenstern. Über dem Eingang war ein blaues Schild mit der Aufschrift Blue Coffee angebracht. Hailey reichte dem Taxifahrer einen Zwanzigdollarschein, bedankte sich mit einem Lächeln für die Fahrt und stieg aus dem Taxi, wobei sie einen gelben Koffer hinter sich herzog. Ihr Lächeln wurde noch ein wenig breiter, als sie die Glastür aufstieß und das Café betrat.

Kurz nach ihrer Abreise hatte Meggie einen Kredit erhalten, der es ihr ermöglicht hatte, das Blue Coffee erheblich zu erweitern. Nun hatten dort noch mehr Gäste Platz. Junge Kellnerinnen in weißen Schürzen eilten zwischen den runden Tischen umher und bedienten die Kunden. Die Wände des Lokals waren immer noch in einem hellen Blauton gestrichen, der einem sofort ins Auge fiel. Die pastellfarbenen Sofas, die an den Seiten standen, sahen aus wie Wolken am Frühlingshimmel. Im Café duftete es nach frischem Kaffee und Kürbismuffins, die in einer Vitrine neben dem Tresen platziert waren. Hailey wurde von einer strahlenden Meggie empfangen.

»Hailey!«, jubelte die Freundin und breitete ihre Arme aus.

Sie hatte sich kein bisschen verändert. Sie war immer noch eine schöne, mittlerweile fünfundzwanzigjährige Frau mit schulterlangem, blondem Haar, dessen Spitzen leicht gelockt waren. Ein enges schwarzes Kleid betonte ihre makellose Figur. Die Blondine stürzte auf Hailey zu und umarmte diese mit aller Kraft. Das letzte Mal hatten sie sich vor fünf Monaten gesehen, als Meg für ein paar Tage nach Boston geflogen war, um Hailey dort zu besuchen.

»Ich habe dich so sehr vermisst«, flüsterte sie und lockerte die Umarmung ein wenig. Meggie trat einen Schritt zurück und schaute Hailey an. Sie lächelte und fügte hinzu: »Du musst nach der langen Reise müde sein!« Sie schnappte sich den Koffer ihrer Freundin und ging dann zum Tresen. »Ich werde dir erst mal einen Kaffee machen.«

Hailey setzte sich lächelnd auf einen hohen Barhocker. Sie beobachtete, wie Meggie ihr Gepäck in den hinteren Raum brachte, dann zum Tresen zurückkehrte und zur Kaffeemaschine hinüberging.

»Wo ist Thomas?«, fragte Hailey und sah sich um. »Ich wollte ihm eigentlich persönlich gratulieren.« Leider hatte sie noch keine Gelegenheit gehabt, ihren Bruder zu treffen und ihm zu sagen, wie sehr sie sich über die Verlobung und die Tatsache freute, dass er endlich beschlossen hatte, zu heiraten.

»Er ist mit Matthew, dem Freund von Lois, unterwegs«, antwortete Meggie. Sie stellte einen Teller mit einem Muffin vor Hailey hin. »Sie sollten bald zurück sein«, sagte sie und wandte sich wieder der Kaffeemaschine zu. »Lois meinte, sie würde morgen Abend auch hier vorbeikommen. Ich glaube, sie wollte dir Matthew persönlich vorstellen.« Sie drehte sich zu Hailey um und reichte ihr eine Tasse mit duftendem Kaffee. »Seit sie mit ihm zusammen ist, ist sie nicht mehr so gemein«, scherzte Meg.

Hailey musste lachen, und als Meggie sich ihr gegenübersetzte, ergriff sie die Hand ihrer Freundin und zog sie zu sich heran. Sie betrachtete den Ring, der Meggies Finger schmückte: Er war fein gearbeitet, mit einem dezenten Diamanten in der Mitte.

»Er ist wirklich schön, Meg«, sagte sie bewundernd. »Ich bin froh, dass du dieses Mal Ja gesagt hast.«

Die Blondine lachte laut auf und seufzte, als sie den Verlobungsring betrachtete.

»Tja, in manche Entscheidungen muss man wohl erst hineinwachsen.«

Vorsichtig nahm Hailey einen Schluck vom heißen Kaffee. Ihr Magen vertrug das Fliegen nicht so gut, also hatte sie vor dem Abflug auf ein Frühstück und sogar auf ein Glas Wasser verzichtet.

»Wie geht es dir? War es für deine Firma in Ordnung, dass du so lange Urlaub nimmst?«

»Ja, wenn sie meine Hilfe benötigen, werde ich einfach von hier arbeiten, das ist kein Problem. Ich kann Verträge und E-Mails auch in Philadelphia übersetzen.«

»Ich bin wirklich stolz auf dich«, sagte Meggie. »Na, du weißt schon, dass du mit all dem so gut klarkommst.«

Hailey nickte leicht. Die Wahrheit war, dass sie nicht damit klarkam, oder zumindest nicht genug, um ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen. Aber sie hatte nicht vor, Meg zu beunruhigen.

»Wirst du bei deinen Eltern schlafen?«

»Nein.« Sie stellte die Tasse auf der Theke ab. »Nach meinem Umzug haben sie mein altes Zimmer doch zu einem Fitnessstudio umfunktioniert. Offenbar zwingt Mum Dad dazu, sich zu bewegen, weil sie befürchtet, dass er in seinem Alter sonst einen Herzinfarkt erleiden könnte.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich werde mir ein Hotel nehmen oder ...«

»Wohn doch einfach bei mir«, schlug Meggie vor. »Ich habe mit Thomas eine gemeinsame Wohnung angemietet. Meine steht gerade also leer. Ich werde dir die Schlüssel geben. Schlafe dich etwas aus, okay? Wir haben übermorgen einen Termin im Brautmodengeschäft, und nächste Woche sehen wir uns die Location für die Feier an und sprechen über die Änderungen am Menü. Außerdem müssen wir einen Floristen mit der Dekoration beauftragen. Dazu die Kleider der Brautjungfern, der Brautstrauß, das Make-up und ...« Ihr Blick ruhte auf etwas hinter Hailey und ihr Lächeln erlosch augenblicklich.

Hailey runzelte die Stirn und drehte den Kopf um, in der Erwartung, ihren Bruder zu sehen. Stattdessen starrte sie auf einen großen, schwarz gekleideten Mann, der mitten im Café stehen geblieben war.

Ihr war klar, dass dieser Moment eines Tages unweigerlich kommen musste, aber sie hätte nicht gedacht, dass er so schnell kommen würde. Darauf war sie nicht vorbereitet.

Hailey stand langsam auf, im selben Moment holte Victor Sharman tief Luft. Obwohl mehr als ein Jahr vergangen war, schien er sich überhaupt nicht verändert zu haben: Er war immer noch gutaussehend, groß und trug wie jedes Mal einen dunklen Anzug und einen schwarzen Mantel. Seine Hände steckten in Handschuhen.

Hände, die nur sie berühren konnten.

Sie erschauderte und verscheuchte die unerwünschten Gedanken. Das alles spielte keine Rolle mehr.

Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, als er sich ihr näherte. Nicht eine Sekunde lang ließ er sie dabei aus den Augen. Sie konnte nicht sagen, was sie in seinem Blick sah. Es war kein Schock, keine Überraschung, keine Freude oder Enttäuschung. Sein Ausdruck kam ihr seltsam leer vor.

Die Stille, die auf einmal zwischen ihnen herrschte, war ungeheuer schwer, sodass Meggie hastig fragte:

»Zwei Kaffees? Schwarz?«

Victor riss endlich seinen Blick von Hailey los und schaute die Blondine an. Dann antwortete er mit ruhiger Stimme:

»Ja, bitte.«

Hailey hörte, wie ihre Freundin verschwand, konnte sich aber nicht darauf konzentrieren. Victor sah sie wieder an und legte den Kopf schief. Dabei fiel ihm eine schwarze Haarsträhne ins Gesicht.

Sie erwartete, dass er etwas sagen würde, wie »Du bist zurück« oder fragen, wie es ihr gehe. Stattdessen hob er sein Kinn und verkündete ausdruckslos:

»Ich hätte nicht gedacht, dass ich dich jemals wiedersehen würde, Hailey.«

»Ja.« Sie zwang sich zu einem schwachen Lächeln. »Ich hätte auch nicht gedacht, dass ich hierher zurückkehren würde«, fügte sie hinzu und trat einen Schritt zurück. »Ich bin zur Hochzeit von Meg und Thomas gekommen.«

»Du siehst gut aus«, stellte er fest, als ob er nicht anders konnte.

Sie starrte ihm in die Augen und spürte einen angenehmen Druck in ihrer Brust, der durch diese Worte ausgelöst wurde.

Bevor sie darauf etwas erwidern konnte, öffnete sich die Tür des Cafés erneut und eine Frau in einem cremefarbenen Mantel betrat das Blue Coffee. Das helle Haar der Fremden umspielte ihr Gesicht. Mit einem Lächeln stellte sie sich an Sharmans Seite und stieß einen Seufzer aus:

»Es tut mir leid, aber ich konnte keinen freien Parkplatz finden.« Sie sah Hailey an und lächelte noch breiter. »Ich glaube nicht, dass wir uns kennen?«

Die Brünette zuckte zusammen, als die Frau einen Schritt auf sie zuging. Sie schien jung zu sein, nicht viel älter als sie selbst.

»Suzy Woodford.« Sie streckte ihre schlanke Hand aus, die Hailey unsicher schüttelte.

»Hailey Warren.«

»Hailey?«, wiederholte sie. »Die Hailey Warren?«

»Ja«, unterbrach Victor sie.

Er wandte seinen Blick ab und schaute Suzy an.

»Wir sind spät dran«, verkündete er.

»Ach ja, richtig.« Sie ließ Haileys Hand endlich los.

Meggie kam mit zwei Pappbechern Kaffee hinter dem Tresen hervor, die sie Suzy reichte.

»Es war schön, dich kennenzulernen, Hailey.«

»Dich auch«, murmelte diese unsicher.

Für den Bruchteil einer Sekunde fing sie Victors Blick auf, aber er drehte sich schnell um und folgte Suzy zum Ausgang. Als sie hinter der Glastür verschwunden waren, sackte Hailey in sich zusammen.

»Sie ist nicht seine Freundin.«

Hailey drehte sich um und blickte Meggie fragend an.

»Suzy ist nicht Victors Freundin«, fügte diese hinzu. Sie zwang sich zu einem Lächeln, trat wieder hinter den Tresen und stützte sich mit den Ellenbogen darauf ab. »Ich dachte, weißt du, vielleicht, es ist nur ...«

»Meggie.« Hailey setzte sich auf die andere Seite der Theke und sah die Blondine an. »Ich bin nicht eifersüchtig«, versicherte sie ihr. »Und es ist mir wirklich egal, wer diese Frau für Victor ist. Wenn sie seine Freundin ist, bin ich froh, dass es ihm gut geht.«

»Ist sie aber nicht«, warf Meggie ein. »Sie arbeitet für seine Firma. Sie ist eine Managerin oder so etwas in der Art. Sie kommen manchmal hierher, um Kaffee zu trinken, aber sie ...«

»Meg.« Haileys Stimme klang leicht belustigt. »Es interessiert mich wirklich nicht.« Sie lehnte sich zu ihrer Freundin herüber. »Gibst du mir die Schlüssel zu deiner Wohnung? Ich packe aus und komme dann zurück, um Tom zu treffen.«

Meg verschwand kurz im Hinterzimmer und kehrte einen Moment später mit einem Schlüsselbund in der Hand zurück.

»Ich kann dir mein Auto leihen.«

»Danke, aber ich werde ein Taxi nehmen«, sagte sie. »Wir sehen uns später.«

***

Er sah die Papiere durch, doch es war, als würden die schwarzen Buchstaben vor seinen Augen tanzen und miteinander verschmelzen. Schließlich gab er auf und schaute durch die Windschutzscheibe nach draußen. Es schneite immer heftiger, und durch den morgendlichen Berufsverkehr war er spät dran.

»Also ...«, Suzy räusperte sich und sah einen Moment lang nicht auf die Straße. 

Sie standen gerade an einer roten Ampel und Suzy schaute Victor mit einem verständnisvollen Lächeln an. Das tat sie immer, wenn sie ein Thema ansprechen wollte, von dem sie wusste, dass es ihm unangenehm war.

»Das war also diese Hailey.«

Victor seufzte. Er ließ sie das Auto vor allem aus einem Grund fahren: Wenn sie sich auf die Straße konzentrieren musste, redete sie nicht so viel. Heute hatte diese Taktik nicht funktioniert.

»Deine ...«

»Sie ist nicht meine Hailey«, entgegnete er gereizt und richtete seinen Blick wieder auf den Vertrag vor sich. Er versuchte, seine Gedanken mit Arbeit abzulenken. »Jetzt nicht mehr.«

Und sie war auch nie meine Hailey, dachte er.

Die Schwere von Suzys Blick machte es ihm unmöglich, sich auf die Sätze zu konzentrieren, die er las. Er verfluchte sie innerlich, doch die Frau ließ sich nicht beirren und fuhr fort:

»Oh, sie muss gedacht haben, dass da etwas zwischen uns läuft, als ich ins Café gestürmt bin.« Sie lachte hell auf. »Du solltest mit ihr reden.«

Victor riss abrupt den Kopf hoch und warf ihr einen scharfen Blick zu.

Suzy war in fast jeder Hinsicht wunderbar, aber sie hatte einen Makel: Sie nahm kein Blatt vor den Mund. Manchmal konnte sie ihn damit wirklich in den Wahnsinn treiben, obwohl sie zu den Menschen gehörte, die ihm am nächsten standen.

»Du musst ihr erklären, dass wir nur ...«

»Ich denke nicht.«

»Wie?« Sie legte den ersten Gang ein und fuhr zusammen mit einer Reihe von anderen Autos auf das in der Ferne sichtbare Gebäude von Sharman Enterprises zu.

»Ich glaube nicht, dass sie länger als ein paar Minuten mit mir in einem Raum bleiben möchte«, erklärte er. »Parke einfach kurz vor dem Haupteingang.«

Der schwarze Mercedes hielt am Bürgersteig.

»Erledige die Sache bei der Bank so schnell wie möglich. Ich möchte, dass du auch an diesem Treffen teilnimmst.«

»Ja, natürlich.« Sie schaute Victor schweigend hinterher, als dieser aus dem Auto ausgestiegen und im Hochhaus verschwunden war. Schließlich wendete sie mit quietschenden Reifen und wechselte auf die Gegenfahrbahn.

***

Die Abteilungsleiter von Sharman Enterprises hatten sich im großen Konferenzraum versammelt, der im obersten Stockwerk des Gebäudes lag. Sie saßen um einen langen Eichentisch herum.

»In Südkorea zu investieren ist die beste Entscheidung, die wir derzeit treffen können.« Judy, die Leiterin der Unternehmensstrategie, sprang vor Enthusiasmus beinahe von ihrem Platz auf. »Jüngsten Untersuchungen zufolge wird dieser Markt in den kommenden Jahren der profitabelste sein, was die ...«

Victor atmete tief durch, legte den Kopf schief und richtete dann seinen Blick auf die großen Fenster, hinter denen man die verschneite Stadt erahnen konnte. Er zog die Stirn in Falten. Seine Gedanken schweiften zu Hailey ab.

Als er sie an diesem Morgen gesehen hatte, hatte er zunächst gedacht, sie sei nur ein Hirngespinst, eine Einbildung seiner müden Gedanken. Als sie ihn jedoch angeschaut hatte, war ihm schlagartig klar geworden, dass sie echt war.

In den letzten Monaten hatte er versucht, dagegen anzukämpfen. Er hatte versucht, sich nicht zu fragen, wo sie wohnte, ob ihre Wohnung groß genug war, oder ob sie frühstückte, bevor sie das Haus verließ.

Er hatte sich wirklich bemüht, aber als er ihr vorhin plötzlich wieder so nah war, kamen all die Gedanken zurück. Wieder konnte er nicht aufhören, darüber nachzudenken, wo sie sich gerade aufhielt. Er machte sich Sorgen, ob sie nach ihrem Flug geschlafen hatte und ob ihr Mantel warm genug war, um sie vor der Kälte zu schützen.

Victor atmete laut aus und fragte dann:

»Wie viel Geld haben wir im letzten Quartal für wohltätige Zwecke gespendet?«

Die Stimmen am Tisch verstummten auf der Stelle. Suzy schlug eilig eine Mappe auf und antwortete:

»Siebenhunderttausend für das städtische Waisenhaus, dreihunderttausend für das Kinderheim, fast eine Million für Stipendien für Kinder aus bedürftigen Familien.« Sie schaute von den Unterlagen auf. »Insgesamt waren es zwei Millionen Dollar.«

Victor ließ seinen Blick über die am Tisch sitzenden Mitarbeiter schweifen.

»Erhöhe die Summe auf vier Millionen«, befahl er.

»Aber ...« Judy wollte widersprechen, doch ihre Empörung ließ augenblicklich nach, als sie Sharmans Blick auf sich spürte. »Was ist mit den Investitionen?«

»Darüber werden wir bei der nächsten Sitzung sprechen«, erklärte er. »Wir werden uns nächste Woche wieder zur gleichen Zeit treffen, um auch über die Erhöhung des Weihnachtsgeldes für die Beschäftigten zu beraten«, fügte er hinzu, stand auf und knöpfte sein schwarzes Jackett zu. »Die Sitzung ist hiermit beendet«, verkündete er.

Er warf einen kurzen Blick auf Suzy, ging dann auf die Glastür zu und verließ wortlos den Konferenzraum.

Die junge Frau sprang auf und sammelte hastig die Unterlagen auf dem Tisch zusammen. Sie schenkte den Abteilungsleitern ein entschuldigendes Lächeln und eilte Victor hinterher.

***

Obwohl sich im vergangenen Jahr vieles verändert hatte, war Meggies Wohnung immer noch dieselbe: klein, aber geschmackvoll, und mit einem Hauch kindlichen Charme eingerichtet.

Hailey stellte den Koffer im Flur ab und ging in die Küche. Nachdem sie ihren Mantel ausgezogen hatte, nahm sie ihr Telefon aus der Tasche. Sie zögerte, als sie unwillkürlich den Webbrowser öffnete. War sie paranoid oder einfach nur neugierig? Sie gab den Namen »Victor Sharman« ins leere Suchfeld ein. Auf dem Handy erschienen mehrere aktuelle Artikel:

Sharman Enterprises gehört zu den rentabelsten Unternehmen in den USA.

Suzy Woodford ist neue Geschäftsführerin von Sharman Enterprises.

Ihr Finger schwebte über dem Bildschirm.

»Das geht dich nichts an, Hailey«, ermahnte sie sich selbst und fuhr sich durch ihr langes, dunkles Haar.

Als sie Philadelphia verlassen hatte, hatte sie sich geschworen, sich nur noch auf ihr eigenes Leben zu konzentrieren – und Victor Sharman gehörte nicht mehr dazu.

Sie hatte die Absicht, diesen Vorsatz nicht zu brechen.