Cambion Chronicles - Smaragdgrün wie die Dämmerung - Jaime Reed - E-Book

Cambion Chronicles - Smaragdgrün wie die Dämmerung E-Book

Jaime Reed

4,5
7,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Heldin Samara kämpft mit dem Dämon in ihrem Körper um ihre Selbstbestimmung - und um die Liebe ihres Seelenverwandten Caleb ... Eine buchstäblich unheimlich spannende Fortsetzung von "Violett wie die Nacht". Für Samara ist es nicht gerade einfach, mit ihrer Besessenheit klarzukommen. Niemand außer ihrer Mutter und ihrem Freund Caleb darf davon erfahren. Samara entfernt sich immer mehr von ihren Freunden. Als wäre nicht schon alles kompliziert genug, interessiert sich auch noch ihr Schulkamerad Malik für sie. Mehr, als ihr lieb ist. Dabei ist Malik nicht das, was er zu sein scheint ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 433

Veröffentlichungsjahr: 2013

Bewertungen
4,5 (16 Bewertungen)
9
6
1
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Titel

Widmung

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

Über die Autorin

Impressum

Jaime Reed

Aus dem Englischen

von Susanne Schmidt-Wussow

Freunde:

geduldige Ohren, die zuhören,

weise Münder, die Rat wissen,

und großzügige Hände, die geben.

Unbezahlbar.

1

Wenn du ein Cambion bist, ist Ausgeglichenheit das A und O.

Du darfst niemals die Kontrolle verlieren, niemals deinen Gefühlen freien Lauf lassen und auf keinen Fall vergessen, wer du bist und was in dir lebt. So viel Selbstdisziplin erfordert einen starken Willen, ein dickes Fell und eine große Toleranz für alles Merkwürdige, denn machst du nur einen falschen Zug, ist alles vorbei. Egal, wie verlockend es zunächst erscheinen mag, letztendlich gibt es nichts Tragischeres, nichts Schmerzhafteres, als sich selbst zu verlieren.

Na ja, außer der Highschool vielleicht.

Ich kämpfte mich durch den wilden Strom aus hin und her schwingenden Rucksäcken, spitzen Ellbogen und wippenden Pferdeschwänzen, in der verzweifelten Hoffnung, die Aula unverletzt zu erreichen. Die Flure waren überfüllt von Schülern; zusammenhangloses Geschnatter und das laute Knallen der Spindtüren erfüllten die Luft. Der Boden erzitterte unter der Horde, die nach der vierten Stunde entfloh.

Vor dem Sekretariat huldigte die Schulmannschaft mit Siegesgesängen ihren Pokalen in der Glasvitrine. Aufgestylte Püppchen beugten sich eng aneinandergedrängt über Modezeitschriften und ergingen sich in lautstarken Schwärmereien. Geradeaus lag der Hindernisparcours mit den schamlosen Herumknutschern, die sich in meinen Augen lieber ein Hotelzimmer hätten nehmen sollen, statt den Flur zu blockieren. Eigentlich fehlten nur noch ein billiger Pop-Soundtrack und das Logo eines Fernsehsenders. Im Fernsehen sahen Highschools allerdings viel sauberer aus, und dort roch es auch nicht nach Putzmittel und getrocknetem Ketchup.

Ich versteckte mich hinter meinem Schminkspiegel und versuchte, die tödlichen Blicke zu ignorieren, die in meine Richtung geworfen wurden – vor allem, wenn der Freund der Blickewerferin in der Nähe war. Sogar Lilith, meine »Mitbewohnerin«, machten die hasserfüllten Schwingungen ganz nervös.

Meine Mitschülerinnen hatten mich zum Oberfreak der James City Highschool gekürt, und zwar nicht wegen meiner rot-weißen Haarsträhne oder weil ich ein Fettsack war, sondern weil alle Jungs, die mir über den Weg liefen, sich vor Begeisterung kaum noch halten konnten. Das war nun mal leider die Kehrseite meiner Besessenheit.

Noch vor drei Monaten hätte ich nicht erklären können, was ein Cambion ist. Ich wusste damals gar nicht, dass es so was wie Mensch-Dämon-Mischwesen gibt. Doch inzwischen hatte ich am eigenen Leib erfahren, was es bedeutet, die Seele eines Sukkubus in sich zu haben, die einem Energie abzapft und die ahnungslose Männer in den Tod lockt, weil sie nicht genug von ihrer Lebensenergie bekommen kann.

Ich konnte nicht viel tun gegen die tiefen, hungrigen Blicke der Jungs und ihre nicht gerade subtilen geflüsterten Anzüglichkeiten. Mir blieb nur, Augenkontakt zu vermeiden, Ärger aus dem Weg zu gehen und zu beten, dass der Juni bald kommen würde. Es waren ja nur noch acht Monate.

Blitzlicht brannte sich in meine Netzhaut, sobald ich die Aula betrat. Zwei graue Fotohintergründe standen in der Mitte der Bühne, auf der mehrere Schulfotografen den Abschlussjahrgang für die Nachwelt verewigten. Zwei lange Schlangen führten von den Bühnenaufgängen links und rechts bis in die Seitengänge.

Ich trottete zu den Lehrern hinüber, die die Schüler zum Fotografieren schickten, fand meinen Namen auf der Liste, schnappte mir meinen Schein und einen der billigen Plastikkämme, mit denen die Schulkrankenschwester sonst Köpfe nach Läusen absuchte, und stellte mich an. Vor mir standen schon eine Menge Leute und brachten Haare und Make-up in Ordnung. Der Rest verteilte sich auf die Sitzreihen und hatte keine Eile, in den Unterricht zurückzukehren.

Keine Sekunde, nachdem ich mich angestellt hatte, legte meine beste Freundin ihren Kopf auf meine Schulter. Ihr ganzer Körper bebte vor Lachen. »Mann, hast du die Klamotten von Courtney G. gesehen? Klarer Fall von ›knapp vorbei ist auch daneben‹.«

Ich puderte mir Nase und Kinn. »Na, na, Mia. Nun sei mal nicht so streng. Wir können ja nicht alle so ein Modefreak sein wie du.«

»Natürlich nicht, aber die Grundregeln der farblichen Zusammenstellung kann man ja wohl voraussetzen. Also echt.« Mia schüttelte den Kopf, die hellbraunen Augen entsetzt aufgerissen. »Und noch was: Wann lernen die endlich, dass man seine neuen Klamotten nicht alle in den ersten Schulwochen trägt? Man arbeitet sie nach und nach in die vorhandene Garderobe ein.«

Es gab die Modepolizei, und dann gab es noch die Ein-Frau-Mode-Stasi namens Mia Moralez. Wie sie es schaffte, mit ihren Outfits nicht gegen die Kleidervorschriften zu verstoßen, war das Zauberkunststück des Jahrhunderts. Ihre heutige spektakuläre Aufmachung war da keine Ausnahme. Sie zeigte mehr Brust und Schenkel als eine Hähnchenplatte für zwei, und trotzdem wurde sie nie zum Direktor gerufen. Wie machte sie das nur? Ich beneidete sie um ihren Mut und ihre schlanke Figur, aber in letzter Zeit beneidete ich sie vor allem um ihre Fähigkeit, den Matheunterricht mit Bestnoten zu absolvieren, ohne auch nur ins Schwitzen zu geraten. Das Mädchen war ein wandelnder Pentium-Chip mit einem exklusiven Geschmack.

»Ogottogott! Was ist denn mit deinem Gesicht passiert?« Sie drehte mich zu sich und kniff mir in die Wangen. »Sam, wer war das?«

Warum müssen die Leute auch noch an einem herumfingern, wenn man eine Verletzung hat? Ich wich ihren neugierigen Fingern aus und antwortete: »Ball gegen Birne, beim Völkerball.« Ich holte tief Luft in dem Wissen, dass ich keinen Meter weit kommen würde, ohne ihr die ganze Geschichte zu erzählen.

Die weibliche Aggression hatte heute überhandgenommen. Im Sportunterricht hatten die Mädchen mich zur lebenden Zielscheibe erkoren. Ein einfaches Völkerballspiel war so zu einem halbstündigen Kampf auf Leben und Tod mutiert, und die Sportlehrerin hatte so getan, als bekäme sie nichts davon mit.

Caleb, mein Freund und Mit-Cambion, hatte einige Erfahrung mit fanatischen Frauen. Er hatte mich vor meiner mächtigen Anziehungskraft gewarnt und mir gesagt, ich müsse mit der Feindseligkeit anderer Mädchen rechnen, vor allem mit der der Unsicheren. Aber ich Sturkopf wollte ihm ja nicht glauben. Die tägliche Dosis Hass war bitter und schwer zu ertragen, und mein Bedürfnis nach weiblicher Kameradschaft blieb ungestillt.

Na ja, fast.

»Diese fiesen Schlampen!«, kreischte Mia, nachdem sie meine Leidensgeschichte gehört hatte. »Dir ausgerechnet heute ein blaues Auge zu verpassen – wenn der Fotograf kommt! Das sind unsere Abschlussfotos, die kommen ins Jahrbuch, und die ganze Welt wird sie sehen. Jetzt sieh dich bloß mal an, du bist ja nur noch ein Schatten deiner selbst. Keine Sorge, die mach ich fertig.« Sie suchte die Aula ab, als lauerte eine meiner Angreiferinnen dort irgendwo.

Und der Preis für die beste Darstellerin in der Kategorie Überdramatisierung geht an …

So schlimm war es nun auch wieder nicht. Etwas Abdeckcreme drauf und fertig, und die Schwellung war auch schon zurückgegangen – ein bisschen was war noch am Wangenknochen zu sehen, mehr nicht. »Vergiss es. Ich komme schon klar«, versicherte ich.

»Ich weiß, aber die können doch nicht einfach …«

»Ist schon gut, Mia. Ich will nicht noch mehr Ärger. Ich möchte das Jahr ohne weiteres Blutvergießen überstehen.«

Es dauerte ein paar Minuten, aber schließlich ließ sie von dem Thema ab. Stattdessen verschränkte sie die Arme und betrachtete mich von Kopf bis Fuß. Ihre langen dunklen Locken fielen ihr wallend über die rechte Schulter und betonten ihre exotischen Gesichtszüge. »Du willst doch wohl die Kontaktlinsen nicht drinlassen, oder? Die würden zwar deine Erscheinung aufpeppen, aber auch mehr Aufmerksamkeit auf das Veilchen lenken.«

Ich erstarrte mitten im Styling. Ich wusste doch, ich hatte was vergessen, als ich heute Morgen aus dem Haus ging. Aber ich war spät dran gewesen, und es bedeutete eine Menge Arbeit, normal auszusehen. Ich hatte mir einen Riesenvorrat an braunen Kontaktlinsen zulegen müssen, damit meine Augenfarbe aussah wie früher. Das hatte ich dem Wesen zu verdanken, das in mir lebte. Seit Liliths Einzug waren meine Augen äußerst empfindlich, und sie hasste es, wenn diese komischen braunen Vorhänge ihr die Sicht versperrten. Um sie zu besänftigen, ließ ich die Linsen alle paar Tage weg und nahm sie heraus, sobald ich zu Hause war. Alle dachten, meine smaragdgrüne Augenfarbe sei künstlich …

»Ich wollte eben einen bleibenden Eindruck hinterlassen«, antwortete ich etwas aufmüpfig.

»Wie du meinst. Ich halte mich da raus. Bis später«, sagte Mia genau in dem Augenblick, als ich über ihre Schulter hinweg sah, wie Malik Davis die Aula betrat. Ich wusste, sobald er mich zu Gesicht bekam, würde er versuchen, mir ein Gespräch aufzudrücken.

In einem Anfall von Panik wandte ich mich zu Mia um. »Bist du schon fertig?«

»Ich war die Erste in der Schlange. Ich wollte es hinter mir haben. Es ist harte Arbeit, den ganzen Tag lang gut auszusehen.« Mia schlenderte davon, bevor ich sie festhalten und als Schild benutzen konnte.

Normalerweise war ich ja nicht so anhänglich, aber ich hatte keine Lust, mich schon wieder mit Malik herumzuärgern. Es war schon schlimm genug, dass mein blaues Auge auf einem Hochglanzfoto im Großformat verewigt werden würde.

Malik Davis, ebenfalls im letzten Highschool-Jahr und mein neuer Schatten, war der feuchte Traum jedes Mädchens. Als hätte er noch mehr Aufmerksamkeit nötig, war Malik über Nacht berühmt geworden, als sich sein Wagen vor einem Monat um einen Baum gewickelt hatte und er ohne einen Kratzer davongekommen war. Er wurde nicht müde, von dieser Heldentat zu erzählen. Wer würde nicht gern am Arm eines sexy Basketball-Teamkapitäns hängen, der dem Tod ein Schnippchen geschlagen hatte? Ach, richtig, ich.

»Wie geht’s, Shorty?«, sagte er in einem gedehnten, sanften Tonfall, der Butter zum Schmelzen bringen konnte. Sein fester Oberkörper streifte meinen Rücken.

Der Spitzname tat mir in den Ohren weh und weckte Abscheu in mir. Ja, ich reichte ihm kaum bis zu den Schultern, aber ein Gartenzwerg war ich nun auch wieder nicht, und jemanden mit der Nase auf seine Fehler zu stoßen, war kein guter Aufhänger für ein Gespräch.

»Gut, danke. Und selbst?« Ich machte einen Schritt von ihm weg, als die Schlange sich weiterbewegte.

»Schöner Tag heute, vor allem, nachdem ich dich gesehen habe«, flüsterte mir Malik ins Ohr.

»Zu viel der Ehre. Du brauchst doch kein Mädchen, um dich glücklich zu machen. Und wenn doch, hast du ja die freie Auswahl.«

»Vielleicht, aber du hast meine ungeteilte Aufmerksamkeit, Kleine. Ich weiß nicht, warum du mir nie aufgefallen bist, schließlich haben wir ja ein paar Kurse zusammen und so. Aber ich mag Mädchen mit heller Haut, und deine Linsen sind echt heiß. Die sehen so echt aus.«

Schon wieder. Würde ich nur jedes Mal einen Vierteldollar bekommen, wenn jemand meine Augenfarbe erwähnte …

»Ich will dich mal was fragen: Was will eine coole Schwester wie du nur mit diesem weißen Kerl? Dir ist doch klar, dass er dich nur benutzt, oder?«

Ich blieb stehen. »Wofür?«

Sein Blick glitt langsam über meinen Körper. »Was glaubst du denn?«

Ich würdigte ihn keiner Antwort, aber jetzt wusste ich wieder, warum ich ihn nicht leiden konnte. Seit der Zehnten hatte sich Malik über meine multiethnische Herkunft lustig gemacht und Urteile über meine Freunde, meine Art zu reden, meinen Musikgeschmack und jetzt auch noch meinen Freund abgegeben. Die Worte Verräterin, Oreo und Zebra hatte ich oft zu hören bekommen. »Coole Schwester« hatte er allerdings noch nie zu mir gesagt. Diesen neuen Spitznamen hatte ich zweifellos dem Einfluss meiner Mitbewohnerin zu verdanken.

»Ich meine es nicht böse«, sagte er. »Nur …«

»Nur was, Malik? Dein Ton gefällt mir nicht.«

»Dieser Caleb wird dich niemals ernst nehmen, Samara. Er nimmt sich einfach, was er will, und dann haut er ab.«

»Lass mich raten, und du bist die viel bessere Wahl für mich, weil wir ja alle wissen, dass du dich nie mit einem Mädchen einlassen und sie dann abservieren würdest«, schoss ich zurück.

Die flotte Assistentin der Fotografen rief das nächste Paar auf die Bühne, also Malik und mich.

Nachdem er der Assistentin seinen Schein gegeben hatte, wandte sich der Grund für meine immer schlimmer werdenden Kopfschmerzen mir zu. »Hör mal, ich meine es ja nur gut. Wie hältst du es überhaupt aus, mit so jemandem zusammen zu sein?«

Das brachte das Fass zum Überlaufen. Offensichtlich kam man in dieser Schule mit Höflichkeit einfach nicht weiter. Ich starrte wütend zu ihm hoch. Er sah amüsiert aus, aber das hielt nicht lange an.

»Hör zu, ich kann es nicht freundlicher umschreiben, und ich versuche es auch gar nicht erst. Es geht dich verdammt noch mal nichts an, was ich mit meinem Freund treibe. Es macht dich sicher wahnsinnig, dass ich dir nicht hinterherlaufe wie der Rest der Herde und dass du niemals bei mir landen wirst, aber im Ernst, entweder du lässt mich jetzt in Ruhe, oder ich trete dir so was von in den Arsch.« Ich ließ Malik mit verblüfftem Gesichtsausdruck stehen.

Die Assistentin führte mich zu einem Hocker und sagte, ich solle mich aufrecht hinsetzen. Malik setzte sich links von mir hin. Sein Blick durchbohrte mich, aber ich verschaffte ihm nicht die Genugtuung, mich darum zu scheren.

Etwas an ihm passte mir gar nicht, heute noch weniger als sonst. Ein Hauch von Gefahr umwehte ihn, eine unnatürliche Aura, die mich nervös machte. Lilith merkte es auch. Sie war unruhig, was ich als kräftiges Kribbeln spürte, das mir das Rückgrat hochfuhr und meinen Bauch erfüllte. Während der Fotograf mein Kinn und meine Schultern in die richtige Position brachte, warf ich einen Seitenblick auf Malik.

Er sah gut aus, besser als Caleb, obwohl ich das nicht im Traum zugegeben hätte. Es beschämte mich, dass er in einigen meiner Tagträume mitgespielt hatte, meistens im Zusammenhang mit einer heißen Badewanne und einem Bottich Cookie-Dough-Eiscreme, aber dieses Geheimnis würde ich mit ins Grab nehmen. Außerdem spielte das Aussehen keine Rolle, wenn man ein Arschloch war, ein selbstgefälliger Mistkerl, von dem bei Licht betrachtet nicht mehr viel übrig blieb.

Halt, was zum …?

Ich blinzelte und drehte mich auf meinem Hocker, bis ich Malik direkt anschauen konnte. Hatte ich wirklich gesehen, was ich zu sehen geglaubt hatte? Im Kamerablitz waren Klamotten, Haut und alles Äußere verschwunden, und es hatte nur noch ein Knochengerüst dagesessen. Das seltsame Röntgenbild war nur eine Sekunde lang zu sehen gewesen, aber das reichte mir zum Durchdrehen.

Als der Fotograf fertig war, stand Malik auf und schlenderte zum anderen Ende der Bühne. Er warf mir einen flüchtigen Blick zu und lächelte amüsierter, als es angebracht gewesen wäre. Ein goldener Schimmer flackerte kurz in seinen dunkelbraunen Augen auf und erlosch wieder.

»Schau zu mir hin, Schätzchen. Schultern gerade.« Die Stimme des Fotografen brachte mich wieder in die Gegenwart zurück.

Mein Herz klopfte wie wild gegen meine Rippen, während ich vergeblich zu verstehen versuchte, was ich gerade gesehen hatte. Ich zwang mich zum schiefsten Lächeln in der Geschichte der Menschheit und wartete auf den Blitz.

Nichts Übernatürliches konnte mich noch überraschen, aber meine Neugier würde dennoch niemals versiegen. Die Ereignisse des Sommers hatten mich gelehrt, diese ganz bestimmte Ahnung nicht zu ignorieren, sondern sie ganz offen zu empfangen und das Unerwartete zu erwarten. Vielleicht war ich ja nicht der einzige Freak an der James City Highschool. Vielleicht war das eine neue Fähigkeit von mir, die ich gerade erst entdeckte: die Fähigkeit, Gefahr vorherzusehen, wie in Final Destination. Höchstwahrscheinlich überdrehte allerdings nur mein hyperaktiver Geist, wie so oft in letzter Zeit.

Ich wusste nur, dass es eine Art Warnung gewesen war, ein Flüstern, zu leise, um die Worte verstehen zu können.

2

Obwohl sich in meinem Leben so vieles geändert hatte, war bei Buncha Books immer noch alles beim Alten. Ich fand das erfrischend.

Fusion Jazz plätscherte aus den Lautsprechern. Eine Gruppe Mädchen kicherte in der Erotik-Abteilung über heiße Buchpassagen. Jungunternehmer beugten sich über ihre Laptops und nutzten schamlos das freie WLAN. Alte Männer, die den Laden offenbar mit einer Seniorentagesstätte verwechselten, nahmen alle Sofas in Beschlag und lasen dort Zeitung. Yep, alles wie immer bei Buncha Books, und dazu duftete es verlockend nach frischen Keksen und heißem Espresso.

Alicia Holloway schob heute mit mir Café-Dienst, forsch und lebhaft wie eh und je, was meiner guten Laune an diesem Nachmittag einen Dämpfer verpasste. Mit ihrem Elfengesichtchen, den hoffnungsvollen braunen Augen und den Rastazöpfen erinnerte sie mich immer an einen Waldkobold, der nicht mehr nach Hause findet. Sie stand an der Kaffeemaschine und sah der Milch beim Aufschäumen zu.

»Ich will nicht über dich urteilen oder so, es ist einfach nur komisch«, begann sie und spielte darauf an, wie seltsam es war, dass ausgerechnet Caleb und ich uns zueinander hingezogen fühlten. »Gibt es da nicht so ’ne Vorschrift, dass Kollegen keine Beziehungen haben dürfen?«

»Gibt es da nicht so ’ne Vorschrift, dass man sich um seinen eigenen Kram kümmern sollte?«, äffte ich sie nach, während ich mir die Hände abtrocknete. Dabei achtete ich darauf, das goldene Armband an meinem Handgelenk ebenfalls trocken zu reiben. Ich drehte die Platte mit der Gravur nach oben, und Lilith summte, als sie den eleganten Schriftzug ihres Namens erkannte.

Alicia stieß ein gekünsteltes Miauen aus und stellte einige Getränke auf den Tresen. »Da hat wohl jemand seinen Charme zu Hause gelassen. Ich sag ja nur, ihr solltet euch etwas zurückhalten. Die Leute reden schon, weißt du.«

Ich sah zu, wie sie zur Kasse flitzte, um den nächsten Kunden zu bedienen. »Genau so wie die Leute in der Schule über deine tragische Affäre mit Garrett Davenport reden.«

»Was!«, quietschte sie und ließ das Wechselgeld fallen. Sie entschuldigte sich hastig bei dem Kunden und drehte sich erschrocken zu mir um. »Was hast du gehört?«

Ich verzog den Mund und flötete: »Ach, so dies und das. Dass ihr euch vor seinem Tod heimlich getroffen hättet und dass alle drei Courtneys jetzt deinen Kopf auf einem Silbertablett fordern, weiter nichts. Du machst dir einflussreiche Leute zu Feinden. Pass lieber auf. Die Mädchen an unserer Schule sind bösartig.«

Alicia reckte das Kinn vor und schüttete Instantkaffee und Eis in den Mixer. »Vor denen habe ich keine Angst.«

Mein Blick wanderte zur Buchabteilung hinüber, und ich lächelte. »Ach, falls also, sagen wir mal, Courtney B. in diesem Augenblick hier auftauchen würde, dann hättest du keine Angst, ja?«

»Kein bisschen.«

»Gut zu wissen, weil sie nämlich gerade aufs Café zusteuert.«

Als ich mich umdrehte, war Alicia verschwunden. Der Mixer lief noch. Nur die schwingende Küchentür verriet mir, wohin sie geflohen war. Nachdem ich den wartenden Kunden bedient hatte, schlenderte ich langsam zur Kasse und betete um Geduld für das Zusammentreffen mit der Diva.

Die drei Courtneys waren berüchtigte Tyranninnen, und Courtney B. war ihre Königin. Der Tod ihres Lovers Garrett Davenport hatte das Trio berühmt gemacht, und sie nutzten den Mitleidsbonus so richtig aus. In der ersten Schulwoche waren sie ganz in Schwarz herumgelaufen.

Courtney B.s Aufzug nach zu urteilen, war die Trauerphase nun wohl vorbei. Von Kopf bis Fuß in Designerklamotten gehüllt, stakste sie mit einem Gang auf die Theke zu, der besser auf einen Laufsteg gepasst hätte. Es fehlten nur noch die Windmaschine und die Zeitlupe. Courtney B. war nicht nur unbeschreiblich banal, sondern besaß auch eine unerreichte Begabung dafür, in jede Unterhaltung Beleidigungen einzubauen. Aus Angst um meinen Job beschloss ich, meine Antworten auf zwei Wörter oder weniger zu beschränken.

Ihre Handtasche landete mit einem dumpfen Schlag auf dem Tresen, während sie sich suchend nach der Beute umsah, die so plötzlich aus ihrem Blickfeld verschwunden war. Enttäuscht schaute sie mich aus schmalen, eisgrauen Augen an. »Hi. Du bist doch in meinem Spanischkurs. Sam, oder?«

»Sí«, sagte ich ausdruckslos. Unfassbar, diese Tussi. Seit der sechsten Klasse hatten wir jedes Jahr mindestens zwei Kurse zusammen gehabt, und sie wusste immer noch nicht, wie ich hieß?

»Ist das die Abkürzung für Samantha?«

»Nein.« Ich zeigte auf mein Namensschild.

»Oh. Mein Fehler. Egal, kennst du diesen heißen Typen, der hier arbeitet, Caleb irgendwas?« Sie sah sich im Laden um.

Ich tippte mir nachdenklich mit dem Zeigefinger an die Lippen. »Einsfünfundachtzig, braune Haare, violette Augen, riecht immer nach Kuchen? Ja, du meinst sicher meinen Freund«, erwiderte ich mit besonderer Betonung auf dem letzten Wort.

»Oh!« Für einen Augenblick sah sie überrascht aus, um nicht zu sagen entsetzt, dann ließ sie ihren Blick flüchtig über meinen Körper gleiten. »Na, vielleicht kannst du mir dann helfen. Könntest du ihn überreden, bei meiner Halloweenparty aufzulegen? Er war so super bei Robbie Fords Geburtstagsparty, es wäre echt toll, wenn er bei mir, ähm, den DJ machen könnte.« Sie zwirbelte eine Haarsträhne um ihre manikürten Finger.

Mittlerweile hätte ich an Frauen gewöhnt sein müssen, die meinen Kerl anschmachteten, aber es zu ertragen erforderte dennoch mehr Geduld, als ich aufbringen konnte. »Ich richte es ihm aus, aber es wäre schon besser, wenn du ihn selbst fragst. Du findest ihn in der Musikabteilung. Da lang.« Ich zeigte mit dem Mittelfinger zum anderen Ende des Ladens. Die Geste war zu offensichtlich, um sie zu übersehen.

Laut schnalzend fuhr sich Courtney mit der Zunge über die Zähne. Vielleicht wollte sie prüfen, ob ihre Reißzähne schon länger wurden. »Danke. Dein Ding ist das ja wohl eher nicht, aber ich werde mal zusehen, ob ich dich auch auf die Gästeliste setzen kann.« Sie warf das Haar mit einem halsbrecherischen Schwung in den Nacken und stolzierte davon.

Ich lehnte mich gegen den Tresen und atmete langsam aus, während ich die spitze Bemerkung verdaute. Das war eine interessante Wendung. Die ganze Schule schwärmte von Courtneys Halloweenpartys, aber im Gegensatz zu Robbie Fords Partys standen bei ihr nur die angesagtesten Leute auf der Gästeliste. Mia würde grün werden vor Neid, wenn ich vor ihr eine Einladung bekam. Der einzige Haken an der Sache war, dass sich Caleb den Launen dieser Hyäne würde aussetzen müssen.

Für ihn war das eine echte Chance. Bald würde er im Laden aufhören, um nur noch aufzulegen, aber seine beginnende DJ-Karriere ließ uns jetzt schon kaum noch Zeit füreinander. Die Musik beherrschte unsere Beziehung, und sie war die einzige Liebe, mit der ich ihn gern teilte.

»Ist sie weg?«, fragte ein schüchternes Stimmchen aus der Küche.

Als ich bejahte, kam Alicia herausgeschlichen. Erleichterung machte sich auf ihrem Gesicht breit. Ich schüttelte den Kopf. Dieses Rehauge brauchte eindeutig mehr Lebenserfahrung und Pessimismus, um die Highschool zu überstehen. Die Glucke in mir wollte ihre Unschuld schützen, also behielt ich sie immer im Blick.

Ich merkte, wie beklommen sie war, und sagte: »Wenn es allzu schlimm wird – du hast ja meine Nummer, alles klar?«

»Danke.« Sie schenkte mir ein schwaches Lächeln und ging wieder zur Kasse.

Obwohl ich wochentags nur wenige Fünf-Stunden-Schichten hatte, schien die Zeit im Schneckentempo zu vergehen. Alicia gab sich alle Mühe, mich mit dem neusten Klatsch zu unterhalten, aber ohne Nadine war es einfach nicht dasselbe. Ohne Nadine war nichts mehr dasselbe.

Ich ertappte mich dabei, wie ich Alicia mit Nadine verglich. Alicia brauchte ewig, um das Essen einzupacken, wenn wir zumachten, während Nadine in zehn Minuten fertig gewesen war. Alicia plauderte und lachte mit den Kunden, bei Nadine hatten die sich glücklich schätzen können, wenn sie überhaupt bedient wurden, von einem Lächeln ganz zu schweigen. Alicia war eine alte Freundin, aber dass es Nadine nicht mehr gab, war und blieb einfach unfair.

Ich konnte keinen Schlussstrich ziehen, und ich kratzte so lange an der verschorften Wunde herum, bis sie wieder blutete. Die Zeit heilte diese Wunde nicht, sie überdeckte sie vielleicht wie ein Pflaster, aber darunter konnte sie jederzeit wieder aufgehen. Selbst wenn ich vorher gewusst hätte, dass das alles passieren würde: Hätte das einen Unterschied gemacht? Wenn Nadine nicht in meinen Armen gestorben wäre, hätte Lilith nicht das sinkende Schiff verlassen und in mich hineinfahren müssen. Vielleicht war Lilith Nadines Abschiedsgeschenk an mich, ein Geheimnis, das sie bei mir sicher wusste.

Nach Ladenschluss checkte ich am Informationsschalter aus und trottete nahezu schlafwandlerisch in den Pausenraum. Heute war unsere monatliche Bücherrunde. Das allein war schon Grund genug zum Jammern und Wehklagen, aber der Anblick von Nadines leerem Platz ließ meine Laune noch schlechter werden.

Irgendwie erwartete ich, Nadine durch die Tür kommen zu sehen, das blonde Haar zu einem nachlässigen Knoten hochgesteckt. Jeder saß immer am gleichen Platz, daher war ich nicht die Einzige, die beim Anblick des leeren Klappstuhls am Getränkeautomaten innehielt. Selbst Linda, die Geschäftsführerin, warf dem Stuhl einen Blick zu, als träfe jeden, der sich dort hinsetzte, ein Fluch.

Plötzlich spürte ich einen sanften Griff um mein Handgelenk, und diese Berührung genügte meinem Körper, um sich zu entspannen. Sofort verschwand meine düstere Stimmung, und ich fühlte mich geborgen wie in einem Kokon. Ich kannte diese Hand wie meine eigene, ebenso die Gefühle, die sie auslöste: eine Wärme wie von frischem Gebäck und eine kribbelnde Aufregung. Nicht zu vergessen die Schmetterlinge – eine ganze Kolonie flatterte plötzlich in meinem Bauch umher, während ich innerlich laut jubelte.

Caleb lächelte zu mir herab und begleitete mich zu den Stühlen. Mit der freien Hand strich er sich das Haar zurück, das ihm sofort wieder ins Gesicht fiel. Ich beobachtete, wie sich die hellbraunen Strähnen an seinem Kinn leicht kräuselten. Ein violettes Leuchten drang durch den Haarvorhang, das mir nicht nur seine Stimmung verriet, sondern auch die Bedürfnisse des Geistes in seinem Körper.

»Es ist nur ein Stuhl, Sam. Er ist nicht verflucht«, sagte Caleb und setzte sich neben mich.

»Der Stuhl nicht, nur wir«, murmelte ich. Meine Gedanken drifteten wieder zu Nadine ab.

Ihre Lebensenergie, die ich zusammen mit Lilith in mich aufgenommen hatte, war schließlich versiegt, aber ihre Erinnerungen blieben sicher in mir verwahrt – jede Geburtstagsfeier, jede Gutenachtgeschichte, jedes wilde Abenteuer. Bis auf eins. Es war seltsam, wie jede Facette ihres Lebens vor mir lag wie ein offenes Buch – bis auf diesen winzigen weißen Fleck in ihrer Geschichte, der mir vorkam wie eine herausgeschnittene Filmszene.

Nadine als zynisch zu bezeichnen, wäre eine klare Untertreibung gewesen, aber selbst sie hatte irgendwann einmal tiefe Liebe empfunden, und die Erinnerung daran war schwer zu knacken. Dieses Gefühl, das ich entdeckt hatte, war weitaus gefährlicher als die Liebe, die sie für ihre Familie gehegt hatte. Niemand, der bei Verstand war, sollte so etwas für einen Mann empfinden. Und ich wusste noch nicht einmal, wer er war. Es war ein Schock gewesen, herauszufinden, dass jemand mit einem so hellen Köpfchen sich derart in seinen Gefühlen verlieren konnte. Und vor allem hatte sie mir nichts davon gesagt! Dabei hatten wir uns doch immer alles erzählt.

Dieses Rätsel lenkte mich die ganze Bücherrunde hindurch ab, bis Caleb mich wachrüttelte, als es vorbei war. Ich hatte jedes Zeitgefühl verloren, ganz zu schweigen davon, dass ich nichts über das Buch gesagt hatte, das ich gelesen hatte. Während die Kollegen aus der Tür strömten, warf Alicia mir einen triumphierenden Blick zu und grinste.

Caleb streckte mir die Hand entgegen und zog mich hoch. Wenn er lächelte, umschlossen tiefe Grübchen seinen Mund wie zwei Klammern.

»Was hab ich verpasst?«, fragte ich.

»Alicia hat ihren Willen durchgesetzt. Der Geist, Teil 3 wurde zum Buch des Monats gewählt. Sie hat einen zehnminütigen Vortrag darüber gehalten, welche Schwierigkeiten es mit sich bringt, einen ›total heißen‹ Geisterfreund zu haben.« Caleb äffte Alicias quietschiges Stimmchen perfekt nach. »Wusstest du, dass die einen Film daraus machen?«

»Hab ich gehört.« Ich nahm meine Tasche und folgte ihm nach draußen.

Nachdem ich mich von allen verabschiedet hatte, trat ich hinaus in die kühle Nachtluft. Caleb ging so dicht hinter mir, dass er mir praktisch am Rücken klebte. Er schlang einen Arm um meine Taille, drückte mich an sich und hob mich hoch. Die anderen verdrehten die Augen, als er mich wie eine quiekende Beute zu seinem Jeep trug.

Ein blauer Geländewagen fuhr hupend vorbei. »Nehmt euch ein Zimmer!«, schrie Alicia aus dem Beifahrerfenster. Sie fuhr mit ihrem Dad davon.

»Gar keine so schlechte Idee«, flüsterte mir Caleb ins Ohr und küsste meinen Nacken.

Ich zappelte in seinem Griff. »Das reicht. Ihr seid meiner Gesellschaft nicht würdig, Sir.«

»Ach, komm! Jetzt sei doch nicht so!«

»Lasst mich, verachtenswerter Hund! Oder aber verbannt solch Unzüchtigkeit aus Eurem Begehr, Schurke!«

Prustend setzte er mich ab. »Schon gut, Lady Macbeth, wie Ihr wünscht.«

Ich drückte mich gegen die Tür seines Autos und runzelte die Stirn.

»Was hast du?«

Ich fuhr mir mit dem Handrücken über die Augen. »Nichts. Mir geht nur einiges im Kopf rum.«

»Ach ja? Hat das mit deinem Auge zu tun?« Er strich mit dem Daumen über das verblassende Veilchen.

Bei der Berührung kamen die Ereignisse des Tages zurück, und ein leichter, pochender Schmerz setzte ein. »Hör mal, das klingt jetzt sicher komisch, aber ich glaube, ich habe heute was gesehen.« Ich erzählte ihm von Malik, dem Röntgenbild beim Schulfotografen und dem seltsamen Gefühl, das ich dabei gehabt hatte. Caleb hörte mit ungläubigem Gesicht zu und sagte kein Wort, bis ich fertig war.

»Sam, Cambions werden bei grellem Licht nicht durchsichtig, und soweit ich weiß, gibt es sonst niemanden in der Stadt, der so ist wie wir. Wir sind nicht ohne Grund so weit verteilt. Und du hast gesagt, du kennst diesen Typen seit Jahren und nie hätten bei dir die Alarmglocken geläutet. Keine komische Augenfarbe, keine Mädchen im Rettungswagen; also ich glaube, in der Hinsicht brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Aber wenn das noch mal passiert, sag mir Bescheid, ja?« Als ich nickte, fragte er: »Hast du deinem Geist heute überhaupt schon was zu trinken gegeben? Vielleicht siehst du deswegen ja komisches Zeug.«

»Beim Mittagessen, aber ich trinke nicht gern von Jungs, die ich kenne. Ich sehe sie jeden Tag, und es ist so schon unangenehm genug. Wenn ich ihre Energie trinke, nehme ich ja auch ihre Erinnerungen auf, und die sind schwer zu ertragen. Die meisten blocke ich ab, aber einige sind einfach zu stark, um sie zu ignorieren. Versteh mich nicht falsch, es hat schon auch seine Vorteile, aber so langsam wird das ganz schön wirr hier oben.« Ich tippte mir an die Schläfe und fuhr mir dann übers Gesicht. »Tut mir leid. Ich wollte das nicht an dir auslassen. Ich weiß einfach nicht, wo mir der Kopf steht. Und mein Buch konnte ich auch nicht vorstellen.«

Er beugte sich näher zu mir. »Stell es mir vor. Wie heißt es?«

Ich legte einen Finger an die Lippen. »Psst.«

Er sah sich auf dem Parkplatz um. »Was?«

»Nein, das ist der Titel. Psst«, erklärte ich. »Es geht um Engel und den Kampf zwischen Himmel und Hölle. Einem hebräischen Mythos zufolge fährt ein Engel in den Bauch jeder schwangeren Frau und legt dem ungeborenen Kind einen Finger an die Lippen. So verhindert er, dass das Baby die Geheimnisse des Himmels ausplaudert, zum Beispiel Gottes wahren Namen. Der Beweis dafür ist das kleine Grübchen auf der Oberlippe.«

Meine Finger fuhren die Konturen seines Mundes nach, und er erschauerte. Ich spürte, dass die Anziehung auf ihn wirkte, dieses Ziehen in der Brust, das von uns beiden ausging wie von zwei Magneten.

Ich ließ meine Hand sinken und fuhr fort: »Jedenfalls gibt es da einen autistischen Jungen, der dieses Grübchen nicht hat. Er ist stumm, aber durch das, was er schreibt und malt, gibt er immer wieder die Geheimnisse des Himmels preis. Eine Gruppe Engel kommt auf die Erde, um den Jungen zu töten, denn sobald die Geheimnisse laut ausgesprochen werden, erinnern sich die Menschen daran, dass sie ihnen einst verraten wurden – und die Hölle würde über sie hereinbrechen, im wahrsten Sinne des Wortes. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit, denn das Kind beginnt plötzlich, in der Schule vor sich hinzumurmeln.«

»Klingt gut! Musst du mir leihen, wenn du durch bist.« Er setzte seinen Schlafzimmerblick auf, während er zentimeterweise näher kam.

Ich versuchte, mich von seinem Jeep abzustoßen, aber Caleb stand zu nah vor mir. Er wollte Zeit schinden, noch ein paar Minuten mit mir allein verbringen, aber unsere Zeit lief ab.

»Wolltest du nicht noch kurz mit zu mir kommen? Ich habe eine neue Playlist erstellt, die kennst du noch nicht, und …« Er brach mitten im Satz ab, als ich ihm mein Armband vors Gesicht hielt.

Die Goldkette glänzte in der Parkplatzbeleuchtung und brachte sein Verlangen augenblicklich zum Versiegen.

Caleb ließ die Schultern sinken. »Ich dachte, das wird nur in Notfällen aktiviert.«

»Dachte ich auch, aber Mom hat es mit ihrem Laptop verbunden, damit sie immer weiß, wo ich bin. Cambion hin oder her, meine Sperrstunde gilt immer noch, bis ich achtzehn bin und ausziehe. Es ist nur eine Sicherheitsmaßnahme. Man kann ja nicht vorsichtig genug sein heutzutage.« Ich schenkte ihm ein sanftes Lächeln.

»Na gut. Dann also bis morgen.« Er trat zurück und ließ mich vorbei.

In der Reihe nebenan stand ein metallicgrauer Nissan, mein neues Auto – wobei »neu« ein dehnbarer Begriff war. Für mich war er neu, und die Begeisterung machte mich blind für den hohen Kilometerstand und unempfindlich gegen den Geruch nach gebratener Fleischwurst, gegen den auch eine ganze Sprühdose Lufterfrischer nichts ausrichten konnte. Er gehörte mir, und ich hatte ihn von meinem eigenen Geld gekauft. Das reichte mir.

Ich war keinen halben Meter weit gekommen, als Caleb mich am Handgelenk packte und mich wieder in seine Arme zog.

»Caleb«, wimmerte ich, obwohl ich das gleiche Verlangen spürte. »Ich muss los.«

»Darf ich dich dann wenigstens küssen? Ich habe den ganzen Tag darauf gewartet. Sei nicht so streng mit mir.« Er senkte den Kopf, um mich zu küssen, doch dazu kam es nicht.

Von einer Sekunde auf die andere nahm ich ein Geräusch wahr: erst leise, dann immer lauter. Es kam rasend schnell näher und mündete schließlich keinen halben Meter neben uns in einer Explosion. Instinktiv duckte ich mich unter dem Luftschwall und den herumfliegenden Glassplittern weg.

Ich schrammte mit dem Knie über das Pflaster und bedeckte mit den Händen schützend Gesicht und Augen. Winzige Splitter regneten auf meinen Kopf und meine Schultern nieder und rieselten auf den Asphalt. Caleb ließ sich auf mich fallen und erdrückte mich fast. Schon komisch, wie sich Situationen manchmal entwickeln können: Da umarme ich meinen Freund, und im nächsten Augenblick liege ich zusammengerollt auf dem Boden.

Sobald auf dem Parkplatz wieder alles ruhig war, stand Caleb auf und begutachtete den Schaden. »Bleib unten«, befahl er.

Natürlich hörte ich nicht auf ihn. Bevor er auch nur die Tür seines Autos öffnen konnte, stand ich neben ihm.

Nicht eins, nicht zwei, sondern alle Fenster waren aus Calebs Jeep verschwunden. Ihre Überreste verteilten sich auf den Sitzen und bildeten einen glitzernden Ring um das Fahrzeug. Dem Verdeck war die Explosion auch nicht gut bekommen – es lag umgedreht auf dem Boden.

»Was war das?«, fragte ich. »Ich hatte das Gefühl, da geht eine Bombe hoch.«

Caleb umrundete den Jeep und spähte darunter. »Sonst scheint nichts beschädigt zu sein.«

Ich ließ meinen Blick über den Parkplatz schweifen. Alle Kollegen waren gegangen, es standen nur noch unsere Autos da. »Vielleicht hat irgendein Idiot auf die Fenster geschossen«, schlug ich vor.

Caleb zog sein Handy hervor. Er wählte, und ich sah, wie seine Wut immer größer wurde. »Das war kein Schuss, und der hätte auch nicht alle Fenster auf einmal zerstören können.« Mit der freien Hand schob er mich von den Scherben weg. Während er der Notrufzentrale die Lage schilderte, untersuchte er meine Hände und mein Gesicht auf Verletzungen.

Wenn jemand ärztliche Hilfe brauchte, dann er. Feine Kratzer überzogen seine linke Wange und die Schläfe. Ein dünnes Rinnsal Blut lief über seinen Nacken in den Kragen seines weißen Poloshirts. Er bemerkte nichts davon – er war zu beschäftigt damit, auf Rache zu sinnen.

Caleb war nicht leicht in Rage zu bringen, aber wenn er einmal in Fahrt kam, wurde er sehr aggressiv, und seine Augen glühten lavendelblau, wie jetzt. Auch wenn diese Farbe schön anzusehen war, was auf diesen Anblick normalerweise folgte, war es nicht. Auf diese Art zeigte Calebs »Mitbewohner« Capone seine Anwesenheit, und auch er war eindeutig nicht glücklich über die Situation.

Ich trat ein Stück zurück. Der Sturm, der sich in diesen Augen zusammenbraute, gefiel mir ganz und gar nicht. »Mir geht es gut, aber du brauchst einen Arzt. Ich fahre dich ins Krankenhaus.«

Er legte auf und sah mich mit gerunzelter Stirn und zusammengekniffenen Lippen an. »Nein. Du musst jetzt nach Hause.«

War das sein Ernst? »Ich lass dich nicht allein!«

»Doch, ganz bestimmt wirst du das tun. Es ist gefährlich hier, und ich will nicht, dass du noch länger bleibst. Die Polizei müsste jeden Augenblick da sein. Ich warte zusammen mit dem Sicherheitsdienst.« Er machte eine Kopfbewegung zum Wagen der Sicherheitsfirma hinüber, der langsam auf uns zugerollt kam. »Ich möchte, dass du jetzt direkt nach Hause fährst. Nirgendwo anhalten, keine Umwege. Verstanden?«

»Aber ich …«

»Je länger du hier stehst und diskutierst, desto mehr wirst du deiner Mom erklären müssen. Willst du das wirklich? Wir wissen ja beide, wie entspannt und vertrauensvoll sie ist. Es würde ihr bestimmt nichts ausmachen, wenn ihre einzige Tochter mitten in der Woche um halb elf von der Polizei verhört wird. Oh nein, da würde sie absolut nicht ausflippen.« Er unterdrückte mit geschürzten Lippen ein Lächeln.

Leider hatte er recht. Mom verstand im Moment gar keinen Spaß. Sie überwachte ständig, wann ich kam und ging. Manchmal war ich mir noch nicht mal sicher, ob ich gerade Hausarrest hatte oder nicht.

Caleb schob mich in Richtung meines Wagens, und ich wehrte mich nicht. Wenn ich ganz ehrlich war, wollte ich wirklich nur noch weg. Die Nacht fühlte sich eisig und sehr trocken an, und mein Atem schien zu gefrieren, noch bevor er meine Lungen verließ. Diese Art von Kälte hatte wenig mit der Temperatur zu tun.

»Ruf mich an, wenn es vorbei ist«, sagte ich.

»Nein, ich ruf dich morgen an. Mach dir keine Sorgen um mich.«

Er nahm mir die Schlüssel aus der Hand und öffnete die Autotür, dann zog er mich in seine Arme und zu sich hoch, um sich den Kuss zu holen, der ihm verwehrt geblieben war. Ich wusste, dass er Ablenkung brauchte, also gab ich nach. Mann, ich vergaß dabei fast meinen eigenen Namen.

Es waren nicht seine weichen Lippen, die mich so schwindelig machten, auch nicht die Art, wie er mir den Atem nahm und mir dafür seinen gab. Es war die Art, wie er mich festhielt, als wäre ich bald nicht mehr da, als könnte mich jemand ihm entreißen. Ich wusste, wie er sich fühlte. Es hatte Monate gedauert, bis wir das tun konnten, was so viele für selbstverständlich hielten: uns küssen. Vielleicht hatten wir da einiges aufzuholen, denn jeder Kuss fühlte sich an wie der erste und gleichzeitig wie der allerletzte. Wir waren Cambions, keine Kannibalen, aber bei Caleb hätte ich zu einem werden können. Ich hätte diesen Kerl am liebsten aufgefressen, angefangen bei seiner herrlich vollen Unterlippe.

Gerade, als es am schönsten war, beendete er den Kuss und ließ mich vorsichtig los. Mein Körper glitt aufreizend langsam an seinem hinunter. Ich knabberte an seiner Lippe, seinem kantigen Kinn, seinem auf und ab hüpfenden Adamsapfel, an jeder Stelle, die ich erreichen konnte, bevor meine Füße wieder festen Boden unter sich hatten.

»Mir wird nichts passieren, versprochen. Wenn doch, dann spürst du es.« Seine Lippen wanderten an meinem Wangenknochen entlang und küssten ganz zart mein blaues Auge.

Ich wusste genau, was er meinte, und nickte beruhigt. Er wartete, bis ich eingestiegen war, und damit erübrigte sich jede weitere Diskussion.

Ich ließ den Motor aufheulen und setzte zurück. Während ich vom Parkplatz fuhr, sah ich seine Gestalt im Rückspiegel immer kleiner werden und kämpfte gegen die Versuchung an, zu wenden und zurückzufahren. Erst zwei Häuserblocks vom Einkaufszentrum entfernt entspannte ich mich etwas, doch ich ließ vorsichtshalber den Fuß auf dem Gaspedal.

Ich kurbelte das Fenster hinunter und atmete den süßlichen Hefeduft von Williamsburg ein. Der schwere Umhang aus Angst glitt von meinen Schultern, und ich konnte meinen Fuß wieder vom Gas nehmen. Doch ein ungutes Gefühl blieb und strich mir mit geisterhaften Fingern über den Nacken. Irgendetwas flüsterte mir zu, ich solle weiterfahren. Diese Warnung klang ernst und drängend, und sie hatte einen schroffen Unterton, der sich verdächtig nach Drohung anhörte.

3

Ich fuhr die Auffahrt hinauf. Das Geräusch von knirschendem Kies unter den Reifen erfüllte den Wagen.

Nachdem ich den Motor abgestellt hatte, blieb ich einen Augenblick hinter dem Lenkrad sitzen. Ich versuchte, nicht darüber nachzudenken, was heute Abend passiert war, aber die Szene spulte sich in Dauerschleife immer wieder vor meinem inneren Auge ab. Schon wieder gingen seltsame Dinge vor, und ich spürte, dass das nur der Anfang war, die Ruhe vor dem Sturm. Ich bin gern gewappnet, wenn mir etwas Übles bevorsteht, aber manchmal ist die Ahnung schlimmer, als unerwartet von etwas heimgesucht zu werden.

Ich schloss die Augen und konzentrierte mich auf Caleb. Im Geiste suchte ich sein Gesicht. Ich brauchte nicht lange, um es zu finden, oder vielmehr, um ihn zu spüren. Verwirrung, Ärger und Wut überschwemmten meine Sinne und weckten das plötzliche Verlangen in mir, etwas kaputt zu schlagen. Das war gut. Er hatte keine Angst und war auch nicht in Gefahr, also konnte ich wenigstens versuchen, heute Nacht ruhig zu schlafen.

Ich schob das ganze Drama erst mal beiseite und betrachtete unser schäbiges Haus mit der abblätternden weißen Farbe. Ein vertrocknetes Beet zierte die vordere Veranda, und die eitergelbe Beleuchtung sorgte wahrscheinlich dafür, dass man das Haus noch aus dem Weltall sehen konnte. Kiefernnadeln, Muskatnuss und der Rauch aus dem Schornstein des Nachbarn verliehen der Luft einen Duft, den man nur zu dieser Jahreszeit riechen konnte. In meinem Leben hatte sich so vieles geändert, aber das Haus, in dem ich geboren worden war, widerstand der Zeit. Ich stieg aus, atmete die kühle Herbstluft ein und erfreute mich am Knistern der trockenen Blätter unter meinen Turnschuhen.

Drinnen checkte ich die Alarmanlage neben der Eingangstür gleich zweimal. Mein Blick fiel auf die blinkende grüne Aktivierungsanzeige, und ich sah sofort, wann sie eingeschaltet worden war. In letzter Zeit hatte ich mir angewöhnt, die Alarmanlage immer doppelt zu überprüfen, nur für alle Fälle.

Trotz der vielen Kerzen mit Blütenduft konnte man immer noch stechende Farbdämpfe aus Moms Zimmer riechen. Kleine Gipskrümel klemmten in den Ritzen zwischen den Treppenstufen. Die Risse in der Decke waren weg, und die Blutflecken waren dank starker Bleichmittel und mehrerer Schichten Farbe verblasst. Mom hatte die Reparaturarbeiten zum Anlass genommen, das ganze Haus zu renovieren, aber das hatte nur die äußeren Schäden beseitigt. Nach dem geschickten Facelifting sah unser Haus nun nicht mehr aus wie ein Spukhaus, aber die Geister dieser einen schrecklichen Nacht streiften immer noch durch die Flure.

Ein schwacher Lichtschein aus der Küche verriet mir, wo und wie Mom den Abend verbracht hatte. Statt durch den Flur an der Treppe vorbeizugehen, betrat ich die Küche durch das Esszimmer zu meiner Rechten. Die karmesinroten Wände und die Vorhänge mit den goldenen Quasten erinnerten mich an ein Bordell, aber immerhin schmerzte mich dieser Anblick weniger als der des Wohnzimmers.

Dank meines Umwegs konnte ich mich an Mom heranschleichen, was nicht ganz einfach war, da ich nur einen Teil ihres braunen Haarknotens sehen konnte. Der Rest von ihr war unter einem Berg von Lexika, alten Zeitungsartikeln und anderem Material vergraben. Die Küche war schon immer Moms improvisiertes Büro gewesen, aber inzwischen hatte sie sich in eine Bibliothek mit angeschlossenem Studierzimmer für Dämonenkunde verwandelt.

Tagsüber war Mom eine begnadete Buchhalterin, aber nachts ging sie ihrem Zweitjob als Mythenforscherin nach. Bis spät in die Nacht versuchte sie zu verstehen, warum ein Sukkubus seine angestammte Sippe verlassen hatte und in meinen Körper gefahren war. Normalerweise war diese Art von Besessenheit erblich, daher führte diese neue Situation zu einem Haufen von Fragen und jeder Menge schlaflosen Nächten.

»Hi, Mom.« Ich ließ meine Tasche auf die Arbeitsplatte fallen und ging zum Kühlschrank.

»Hi, Schatz.« Sie tauchte aus den Tiefen ihrer Bücherstapel auf.

Ich griff nach einer Packung Orangensaft und goss mir ein Glas ein. »Wie war die Therapie?«

»Unangenehm wie immer. Ich rede nicht gern, also höre ich mir vor allem die Probleme anderer Leute an. Die Geschichten, die sie erzählen, würden dir das Herz brechen, Samara. Und dann habe ich ein schlechtes Gewissen, weil ich beim Gehen immer denke: ›Wisst ihr was, so schlimm ist euer Leben auch wieder nicht.‹«

»Gruppentherapie: der Beweis, dass das Leben noch viel schlimmer sein könnte.« Ich prostete ihr zu und nippte an meinem Saft, behielt sie dabei aber im Auge.

Ich machte mir Sorgen wegen ihrer Schlaflosigkeit und der nächtlichen Angstzustände und wünschte mir heimlich, Nathan Ross könnte ihr zuliebe noch ein kleines bisschen toter sein. Noch über den Tod hinaus verfolgte sie das Gesicht von Calebs Vater, wie ein Filmschurke, der für einen letzten Schockeffekt noch mal zurückkehrt. Ihre Ärzte verbuchten es unter posttraumatischem Stress, und Caleb und seine Brüder hatten uns versichert, es würde keine bleibenden Schäden geben. Aber erzähl das mal einer Frau, der ein wahnsinniger Cambion fast das Leben ausgesaugt hätte. So oder so durften wir nichts dem Zufall überlassen, nicht mal die Träume.

Ich lehnte mich gegen die Arbeitsplatte und beobachtete sie genau. »Weißt du, es gibt bessere Möglichkeiten sich abzureagieren, wenn man etwas Schlimmes erlebt hat. Du könntest ja auch auf den Schießstand gehen.«

»Stimmt. Ist nur blöd, dass die um neun zumachen. Ich meine, was soll ich denn dann mitten in der Nacht tun?«

»Aus dem fahrenden Auto schießen?«, schlug ich vor.

Mom lächelte und wandte sich wieder ihrem Laptop zu. Buchstaben und bunte Farben spiegelten sich in ihren Brillengläsern.

»Woran arbeitest du gerade?«

»Schmuckstücke und geweihte Gegenstände. Wusstest du, dass Priester und Missionare zum Exorzieren Olivenöl benutzen? Es gibt da so ein heiliges Ritual, das Dämonen vertreibt.«

»Echt?« Ich kramte im Hängeschrank und holte das Olivenöl heraus, das Mom zum Kochen benutzte. Als meine Hand sich um die Flasche schloss, zuckte Lilith zusammen, und ein elektrischer Schlag fuhr mir ins Kreuz. Er war so schnell wieder weg, wie er gekommen war, also nahm ich an, dass sie wohl hungrig war.

Ich ließ ein paar Tropfen auf meinen Finger fallen und gab ein zischendes Geräusch von mir. »Ah! Das brennt! Das brennt!«

Das erregte Moms Aufmerksamkeit. Sofort sprang sie auf und rannte zu mir. »Süße, alles in Ordnung? Was ist passiert?«

Ich grinste sie an und zeigte ihr meine ölige Hand. »Nichts. Hab dich nur verarscht.«

Mom sah nicht amüsiert aus. Sie drehte sich weg und wandte sich dann wieder mir zu. »Was ist mit deinem Auge passiert?«

»Beim Völkerball gibt es keine Gnade und keine Gefangenen«, deklamierte ich mit einer dramatischen Filmtrailer-Stimme.

Sie versetzte mir einen leichten Schlag auf den Hinterkopf und kehrte zu ihren Forschungen zurück.

Ich leckte mir das Öl von der Hand und sagte: »Ich weiß nicht, warum du dich mit so was überhaupt abgibst. Das kann ja wohl kaum stimmen.«

»Na ja, hier steht, das Öl muss geweiht und unbehandelt sein. Das billige Zeug hier war im Sonderangebot.«

Ich stützte mich mit den Ellbogen auf die Arbeitsplatte. »Du meinst, so was wie Salböl?«

»So was in der Art.«

»Funktioniert auch nicht. Das hab ich bei Caleb versucht, als er zum ersten Mal ins Haus kam.« Ich musste das kleine Fläschchen sogar noch irgendwo in meiner Tasche haben, zwischen dem ganzen anderen Zeug, das ich schon vor Monaten hätte wegschmeißen sollen. Ich konnte mich nur schwer von meinem Kram trennen und schleppte immer viel zu viel mit mir herum.

»Ich weiß nicht, ob ich überhaupt wissen will, warum du das Öl bei ihm benutzt hast«, sagte Mom leicht verstört.

»Aus demselben Grund, aus dem du mitten in der Nacht Legenden recherchierst. Du hast Angst vor dem Unbekannten.«

Mom hob den Blick vom Bildschirm. »Ich habe keine Angst vor dir. Du bist meine Tochter. Ich versuche nur, den Überblick zu behalten. Evangeline hat versucht, einige meiner Fragen zu beantworten, aber mir fallen immer wieder neue ein.«

Ich lächelte, als sie Nadines Mutter erwähnte, und nahm mir vor, sie morgen anzurufen. Evangeline Petrovsky, oder einfach nur Angie, war wie eine Naturgewalt. Da Lilith aus ihrem Stammbaum kam, hatte Angie mich mehr oder weniger adoptiert und mir beigebracht, was es heißt, ein Cambion zu sein. Egal, wo sie gerade auf Reisen war, ich konnte sie jederzeit anrufen.

»Oh, sieh dir das mal an!« Mom winkte mich zu sich. »Legenden zufolge war der Zauberer Merlin ein Cambion. Deswegen hatte er magische Kräfte.«

Ich schaute ihr über die Schulter. »Der aus der Sage von König Artus?«

Sie nickte. »Außerdem steht da, dass ein echter Inkubus die Gestalt dessen anzunehmen vermag, was eine Frau am meisten begehrt, um sie im Schlaf heimzusuchen und zu verführen.«

Diese Vorstellung wirbelte mir einen Augenblick lang im Kopf herum. »Dann würde sich also ein Inkubus in mein Zimmer schleichen, der aussieht wie Usher?«

»Da bin ich mir nicht sicher. Es geht darum, was dein Herz begehrt, also sieht er vielleicht eher aus wie Caleb.« Sie blickte langsam auf, bis ich ihr direkt in die hellblauen Augen schaute.

Plötzlich war es still, und die gute Laune hatte sich verflüchtigt. Meine Gedanken wanderten zu der Nacht, in der Calebs Vater genau diesen Trick zu seinem Vorteil genutzt hatte. Diese Täuschung hatte mich fast das Leben gekostet. Es war ein sehr mächtiger, verwirrender Trick, den die Allerwenigsten überlebten.

Mom fuhr fort: »In jeder Kultur erzählt man sich die Legende etwas anders. Manchmal sind es koboldartige Wesen, die sich auf die Brust eines Menschen hocken, um ihm Energie abzuzapfen, wie in diesem Aberglauben über Katzen, die einem im Schlaf den Atem stehlen. Daran sieht man, dass diese Dämonen vom Wesen her teilweise wie Tiere sind. Insgesamt sind Inkuben jedenfalls ein ganz schön lüsterner Haufen. Erst machen sie die Frauen willenlos, dann schwängern sie sie.«

»Stimmt nicht.«

Ihr Kopf fuhr hoch. »Was?«

»Stimmt nicht«, wiederholte ich. »Ein Inkubus ergreift erst von einem Mann Besitz und benutzt den, um eine Frau zu schwängern. Ein Teil seiner Seele geht bei der Empfängnis dann auf die Frau über.«

Mom starrte mich mit offenem Mund an. Sie blinzelte ein paarmal und griff dann zur Maus, um im Internet nach einer Bestätigung für diese Information zu suchen.

Ich legte meine Hand auf ihre und hielt sie fest. »Das findest du da nicht. Frag Angie.«

»Ich gehe nicht ans Telefon, wenn sie anruft. Sie sagt dauernd, dass ich erschöpft sei und ein Wellness-Wochenende einlegen soll. Hast du gesehen, was ich ihretwegen mit meinen Haaren gemacht habe?« Mom tätschelte nervös ihre neuen Strähnchen.

Ich strich ihr über den Kopf. »Ich hab dir doch schon gesagt, dass das gut aussieht. Sie will nur, dass du dir nicht dauernd so einen Kopf um alles machst.«

»Ich weiß nicht, wie sie es schafft, mich zu all diesen Sachen zu überreden. Ich kann einfach nicht Nein sagen. Es ist seltsam, Angie und ich, das ist wie …«

»… Liebe auf den ersten Blick«, brachte ich den Satz zu Ende.

»Ja, aber ganz und gar platonisch«, beeilte sie sich zu ergänzen. »Woher weißt du das?«

»Mit Nadine und mir war das auch so. Bis Mia und ich so weit waren, hat es Jahre gedauert, aber zu Nadine hatte ich sofort eine Verbindung. Wahrscheinlich fühlen sich Cambions einfach von misstrauischen Frauen angezogen.« Ohne dass ich es verhindern konnte, fing meine Unterlippe an zu zittern, und Tränen brannten hinter meinen Augen. Lilith fuhr meine Wirbelsäule hoch und ließ mich auf diese Weise wissen, dass sie ebenfalls trauerte.

Mom nahm die Brille ab und sah mich unverwandt an. Sie beobachtete jede meiner Bewegungen ganz genau. »Samara, vielleicht solltest du mal zu meinen Therapiesitzungen mitkommen und …«

»Nein danke.« Ich drehte mich um und ging wieder zur Arbeitsplatte.

»Nur ein paar Sitzungen. Das hilft wirklich, und du musst auch nichts sagen, nur zuhören.«

»Es geht mir gut, Mom.«

»Süße, du musst deine Trauer richtig verarbeiten. Ich kann nur erahnen, was du durchmachst. Du gehst ja nicht mal allein ins Wohnzimmer. Du sprichst kaum über Nadine, und du wirkst oft abwesend.«

Ich erstarrte. »Tu ich nicht.«

»Samara, dein Vater und ich machen uns Sorgen um dich, und du kannst vor ihm nicht viel verbergen.« Sie zog eine Augenbraue hoch.