Canaria Mortal - Daniel Verano - E-Book
SONDERANGEBOT

Canaria Mortal E-Book

Daniel Verano

0,0
3,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 10,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Felix Faber hat genug von Deutschland. Er wandert nach Gran Canaria aus und heuert bei einer aufstrebenden Zeitung in Las Palmas an. Sein Start verläuft vielversprechend. Als kurze Zeit später auf dem Roque Nublo, einem der höchsten Berge der Insel, eine Leiche gefunden wird, stellt Faber eigene Ermittlungen an. Dabei bekommt er es nicht nur mit der taffen Ermittlerin Ana Montero zu tun, sondern lernt auch die dunklen Seiten der Touristeninsel kennen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Daniel Verano

Canaria Mortal

Kanarenkrimi

Zum Buch

Tödliches Paradies Felix Faber kehrt seiner Heimat in Deutschland den Rücken. Nach Gesprächen mit den Verantwortlichen der hippen kanarischen Zeitung LA VIDA wird er als Redakteur eingestellt. Faber absolviert einen Spanisch-Kurs und wandert nach Gran Canaria aus. Sein Start verläuft vielversprechend: Das Klima ist frühlingshaft, die Unterkunft fantastisch und auch die Kollegen sind nett. Doch schon bald ziehen dunkle Wolken am sonnenverwöhnten Himmel der Urlaubsinsel auf. Die wirtschaftliche und politische Situation ist angespannt. Als eines Morgens auf dem Roque Nublo die Leiche einer jungen Frau gefunden wird, erhitzt sich die Lage weiter. Zum Glück gerät schnell ein Verdächtiger ins Visier der Behörden. Trotz aller Beweise hegt Faber jedoch Zweifel an dessen Schuld. Er ermittelt auf eigene Faust und begegnet dabei der taffen Ermittlerin Ana Montero. Zusammen decken sie immer weitere Details des verstrickten Falls auf. Stecken wirklich persönliche Motive hinter dem Mord?

Daniel Verano ist das Pseudonym von Daniel Wehnhardt. Der Autor wurde 1984 in Fürstenhagen geboren. Nach dem Studium arbeitete er für die evangelische Kirche und unterrichtete Spanisch und Politik an unterschiedlichen Schulen im nord- und osthessischen Raum. Er wohnte selbst eine Zeit lang auf den Kanaren, die er seitdem jährlich besucht – auch zur Recherche für seine zeitgenössischen und zeitgeschichtlichen Spannungsromane, die er inzwischen als hauptberuflicher Autor schreibt. Er lebt und arbeitet in Kassel.

Mehr unter: www.danielwehnhardt.de

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Immer informiert

Spannung pur – mit unserem Newsletter informieren wir Sie

regelmäßig über Wissenswertes aus unserer Bücherwelt.

Gefällt mir!

     

Facebook: @Gmeiner.Verlag

Instagram: @gmeinerverlag

Twitter: @GmeinerVerlag

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2022 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Patryk Kosmider / AdobeStock

ISBN 978-3-8392-7358-6

PROLOG

Sie hatte erwartet, dass er sie beschimpfen würde. Dass er nah an ihr Gesicht rücken und sie mit zornigem Blick ansehen würde. So wie er es immer tat, wenn sie sich stritten.

Doch heute reagierte er anders. Zu ihrer Überraschung wählte er seine Worte mit Bedacht. Das war ungewöhnlich für ihn, und seine Zurückhaltung machte sie stutzig.

Keine Spur von dem Heißsporn, als den sie ihn kannte. Stattdessen saß er ihr gelassen gegenüber und ließ seinen Finger über den Glasrand kreisen. Er wirkte wie ausgewechselt. Vor allem sein Schmunzeln irritierte sie. War etwas passiert, von dem sie nichts wusste?

»Ich verstehe dich nicht«, beendete sie nun die Stille zwischen ihnen. »Mit dem, was du weißt, hast du ihn doch in der Hand.«

Eine Zeit lang erwiderte er nichts, starrte nur unbeirrt auf sein Glas und lächelte vor sich hin, wie benebelt. Verflucht noch mal, was war mit ihm los? Hatte er irgendetwas genommen? Sie kannte diesen Zustand, wenn auch bisher nicht von ihm.

Kurz darauf hob er plötzlich seinen Kopf. Seine Augen funkelten. So kraftvoll, wie sie es noch nie zuvor bei ihm gesehen hatte. Seine Pupillen schienen allerdings normal. Er war weder betrunken, noch hatte er hartes Zeug konsumiert, denn sonst hätten sie entweder auffällig klein oder auffällig groß sein müssen, auf keinen Fall aber so wie jetzt.

»Loyalität«, antwortete er schließlich. Während er sprach, veränderte sich sein Gesichtsausdruck. Bis zu dieser Sekunde hatte sein Lächeln noch zurückhaltend gewirkt, beinahe schüchtern.

Doch sie wusste es besser. Sie kannte ihn. Allzu oft hatte er von einem Moment auf den anderen die Kontrolle verloren. Dann hatte es für ihn kein Halten mehr gegeben. Nichts und niemand war mehr sicher vor ihm. Er wütete einfach drauflos, und dabei verausgabte er sich so sehr, dass er sich hinterher nicht einmal daran erinnerte. Wie ein blinder Fleck in seinem Gedächtnis.

Diesmal wirkte sein Lächeln jedoch überheblich. Arrogant. Als wollte er sagen, dass sie das nicht verstand. Als wäre Loyalität ein Fremdwort für sie, denn schließlich war sie alles andere als aufrichtig ihm gegenüber gewesen. Und ja, damit hatte er einen Punkt.

Nun beugte er sich zu ihr herüber und sah ihr tief in die Augen. »Und komm bloß nicht auf dumme Ideen.« Mit einem Blick über die Schulter vergewisserte er sich, dass ihnen niemand sonst zuhörte. »Glaub mir, du würdest es bereuen.«

Irritiert schüttelte sie den Kopf. Versuchte er gerade, sie einzuschüchtern? Niemals würde ihm das gelingen, das musste er doch wissen. Dafür kannte er sie gut genug. Oder sollte auch das nur eine weitere Provokation sein?

»Sonst was?«, hakte sie nach. »Willst du mir etwa drohen?«

Er nippte an seinem Bier, stellte es anschließend wieder auf dem Tisch ab und wischte sich mit dem Unterarm über den Mund. »Das wirst du dann ja sehen«, antwortete er.

TEIL EINS Bienvenido

1

Gut, dass er von hier wegkam.

Felix Faber sah durch die gläserne Fassade nach draußen. Echtes Schmuddelwetter, wie man in Nordhessen sagte. Grauer Himmel, Nieselregen, das Thermometer stoisch bei zwölf Grad. Und das Mitte Juli. Schön war anders.

Bei diesem Anblick wandte Felix sich wieder dem Plastikbecher in seiner Hand zu. Mit einem Stäbchen rührte er verträumt darin herum. Vor lauter Gedanken hatte er glatt vergessen zu trinken, und so war der überteuerte Cappuccino aus dem Automaten inzwischen zu einer cremefarbenen Plörre erkaltet.

Felix probierte einen Schluck. Ekelhaft. Angewidert verzog er das Gesicht. Natürlich hatte er nicht erwartet, dass er so gut schmecken würde wie ein Cappuccino in den Cafés seines Vaters. Aber ein bisschen mehr Geschmack hatte er sich trotzdem erhofft.

Er entsorgte den Becher mitsamt dem restlichen Inhalt und trottete zurück zu seinem Platz. Von hier aus hatte er das Gate gut im Blick. Eine Weile beobachtete er eine Flughafenangestellte, die verzweifelt mit dem Lesegerät für die Tickets kämpfte.

Wie schnell die Dinge sich doch verändern konnten. Hätte ihm jemand vor zwei Monaten gesagt, dass er jetzt hier sitzen und auf den Start in sein neues Leben warten würde, Felix hätte ihm den Puls gefühlt. Doch genau das war passiert. Innerhalb von nur wenigen Wochen hatten sich die Ereignisse überschlagen. Seine Zukunftspläne waren auf den Kopf gestellt worden.

»Wir würden uns freuen, wenn du zu uns an Bord kämst.« Mit diesen Worten hatte Gabriel Castillo sich am Ende ihres letzten Zoom-Meetings von ihm verabschiedet. Im ersten Moment hatte Felix es gar nicht glauben können. Er, der Chefredakteur der Zeitung LA VIDA, hatte ihm tatsächlich ein Angebot gemacht, und ein verdammt gutes noch dazu: zwei Riesen netto, mietfreies Wohnen im ersten Jahr und zur Unterstützung eine Mentorin, die Felix während seiner Eingewöhnungsphase zur Seite stehen würde. Er hatte nicht lange überlegt und sofort zugeschlagen.

Dabei waren die Vorstellungsgespräche gar nicht so berauschend verlaufen. Felix hatte sich deshalb auch keine großen Hoffnungen gemacht. Aber sei’s drum, dieser Castillo wusste schon, was er tat. Auch wenn er auf Felix wie ein Instinkttyp wirkte. Wie einer, der Entscheidungen aus dem Bauch heraus fällte. Angeblich taten das viele Spanier – behauptete zumindest Señora Alvarez, seine Lehrerin aus dem Sprachkurs.

Der Kurs war Castillos einzige Bedingung gewesen. Felix hatte diese Forderung eingeleuchtet. Sich viertausend Kilometer von Zuhause entfernt in der Landessprache verständigen zu können, hatte für ihn nach einer guten Idee geklungen. Auch wenn das Lernen ihm ziemlich viel abverlangt hatte. Unter diesem zeitlichen Druck das Level B2 zu erreichen, was erweiterte fortgeschrittene Kenntnisse bedeutete, war alles andere als ein Zuckerschlecken gewesen. Zwei Wochen vor der Prüfung hatte er angefangen, sich die Nächte mit Konjugationstabellen, Zeitformen und Vokabellisten um die Ohren zu schlagen und dabei stundenlang spanisches Radio zu hören. Am Ende hatte es immerhin für eine Zwei gereicht. Damit war Castillo zufrieden gewesen.

Felix mochte die spontane Art seines neuen Chefs. In diesem Punkt waren sie sich nämlich ähnlich. Weitere Gemeinsamkeiten mit dem langhaarigen, braun gebrannten und ständig grinsenden Enddreißiger waren Felix bisher jedoch nicht aufgefallen. Er hatte sich bereits gefragt, ob mit diesem Mann alles in Ordnung war oder ob es für seine gute Laune eine medizinische oder gar eine pharmakologische Begründung gab. Vielleicht hatte er aber auch nur eines dieser Managementseminare besucht, bei dem ihm eingetrichtert worden war, dass Lächeln der Schlüssel zum Erfolg sei. Tschakka!

Erneut sah Felix nach draußen. Dieses elendige Grau. Das würde er mit Sicherheit nicht vermissen. Er konnte es kaum erwarten, dieses nasskalte Wetter hinter sich zu lassen. Meteorologisch weinte er Deutschland jedenfalls keine Träne nach. Seinen Bedarf an Sommern, die keine richtigen Sommer waren, sondern nur etwas weniger regnerische Herbste, hatten die vergangenen Jahre gestillt. In diesem Punkt hielt es Felix wie Napoleon: In Deutschland gab es neun Monate lang Winter – und drei Monate keinen Sommer.

Wie es sich wohl anfühlte, jeden Morgen unter einem wolkenlosen Himmel zur Arbeit zu fahren? Felix erwartete nichts Geringeres als ein verändertes Lebensgefühl. Interessiert hatte er in den letzten Wochen die Wetterberichte studiert. Während für Kassel konstant Regen und niedrige zweistellige Temperaturen vorausgesagt wurden, lasen sich die Prognosen für Gran Canaria so, als wären sie per Copy-and-paste erstellt worden: jeden Tag siebenundzwanzig Grad, Sonnenschein, schwacher Wind aus Nordosten. Das hörte sich wahrlich traumhaft an.

Felix seufzte. Trotz seiner Vorfreude verspürte er zum ersten Mal auch ein bisschen Wehmut. Bis heute hatte er tatsächlich nichts dergleichen empfunden. Warum auch. Dass er nicht sein ganzes Leben in Deutschland verbringen würde, war ihm schon lange bewusst gewesen. Außerdem konnte es für ihn keinen geeigneteren Zeitpunkt zum Auswandern geben. Schließlich ließ er nichts und niemanden zurück.

Die Trennung von Luisa war nun ein halbes Jahr her, und inzwischen hatte Felix sie auch vollständig überwunden. Ohnehin war es nur eine Frage der Zeit gewesen, bis einer von ihnen einen Schlussstrich zog. Luisa und er hatten einander nicht gutgetan, und insbesondere während der letzten Monate hatten sie sich nur noch angeschrien. Es waren Worte gefallen, von denen beide sich hinterher gewünscht hatten, sie wären niemals ausgesprochen worden. Manchmal entwickelte man sich in einer Partnerschaft in sehr unterschiedliche Richtungen – und manchmal wurden Seiten in einem hervorgekehrt, die man gern im Dunkeln gelassen hätte. Leider hatte dies sowohl auf Luisa als auch auf Felix zugetroffen.

Dass seine Familie seinen Umzug gut verkraften würde, daran hegte er keinen Zweifel. Als seine Eltern von seiner Bewerbung erfahren hatten, waren sie sofort Feuer und Flamme gewesen. »Das ist ja großartig!«, hatte seine Mutter gesagt und war ihm um den Hals gefallen. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht hatte sein Vater ihm bestätigend auf die Schulter geklopft. »Buch uns schon mal ein, Junge. Wir kommen dich so oft wie möglich besuchen.«

Die Ankündigung seiner beiden besten Freunde hatte ähnlich geklungen. Auch Darian und Dennis wollten nicht ihr ganzes Leben in Kassel versauern. Nun war Felix also der Erste, der ihr Trio auflöste, und bis zuletzt hatte er befürchtet, dass das ihre Freundschaft belasten würde. Doch er hatte sich zu viele Sorgen gemacht. Beide zeigten Verständnis und freuten sich mit ihm.

Felix’ Abschied vor einer Woche war ein feuchtfröhlicher Abend geworden. Bei dem Gedanken daran, was er alles getrunken hatte, spürte er umgehend ein Brummen in seinem Schädel. Den ganzen darauffolgenden Tag hatte er in Essig gelegen, wie Dennis immer sagte. Er, der im Ruhrpott aufgewachsen und erst zum Studium nach Nordhessen gezogen war, war stets ein Garant für neue Sprüche.

Aus dem Augenwinkel nahm Felix eine Bewegung wahr. Er sah wieder hinüber zum Gate. Offensichtlich war es der Angestellten gelungen, das Lesegerät betriebsbereit zu bekommen. Erleichtert krallte sie sich das Tischmikrofon, und kurz darauf drang ihre Durchsage aus dem Lautsprecher: »Achtung, an alle Passagiere des Flugs LH 1184 nach Las Palmas: Das Gate ist jetzt geöffnet. Wir beginnen mit dem Boarding. Bitte halten Sie Ihre Tickets und Personalausweise bereit.«

Als Felix aufstand, fing sein Herz an zu pochen. Er griff nach seinem kleinen Trolley, den er gegen die Bank gelehnt hatte, und zog ihn den kurzen Weg bis zum Schalter hinter sich her.

Da war er also gekommen, der Moment.

Der Start in sein neues Leben.

*

Plötzlich erfüllte eine laute Stimme die Kabine.

»Liebe Fluggäste, wir beginnen in wenigen Minuten mit dem Landeanflug auf Las Palmas.« Dem Piloten, der sich kurz nach dem Start mit dem treffenden Namen Christoph Steuer vorgestellt hatte, war die Freude über seinen bevorstehenden Feierabend deutlich anzuhören. »Denken Sie bitte daran, Ihre Uhren eine Stunde zurückzustellen. Die Ortszeit auf Gran Canaria ist neunzehn Uhr zwölf. Die Temperatur beträgt sechsundzwanzig Grad. Wir hoffen, dass Sie eine angenehme an Zeit an Bord verbracht haben und wünschen Ihnen einen erholsamen Aufenthalt.«

Felix fuhr sich mit einer Hand durchs Gesicht. Die letzten viereinhalb Stunden waren sprichwörtlich wie im Flug vergangen. Zunächst hatte er mehrere Folgen seiner Lieblingsserie geschaut, dabei hin und wieder einen flüchtigen Blick aus dem Fenster gewagt, um sich zu vergewissern, ob sie noch übers Festland flogen, und dazwischen hatte er sich mit seinen Sitznachbarinnen unterhalten, die wegen ihres bevorstehenden Urlaubs ganz aufgeregt waren. Erst als er sich dem Buch gewidmet hatte, durch das er sich seit Kurzem quälte, war er müder und müder geworden. Lesen hatte schon immer eine schlaffördernde Wirkung auf ihn gehabt, und so war es auch diesmal gewesen. Heute hatte er nur eine halbe Seite durchgehalten, danach war er weg gewesen.

Jetzt schüttelte Felix seine Müdigkeit ab und schaute wieder nach draußen. Statt hinter bedrohlich dunklen Wolken verborgen, wie er es aus Deutschland kannte, schien die Sonne aus einem wolkenlosen Himmel herab. Als wollte sie sich von ihrer besten Seite zeigen, erzeugten ihre Strahlen glitzernde Lichtspiele auf den Tragflächen. Felix beobachtete sie staunend. Was für eine Angeberin sie doch war, dachte er und schmunzelte. Aber zugegeben: Das Licht, das auf den Flügeln tanzte, sah wirklich beeindruckend aus.

Trotz der Klimaanlage hatte Felix sich viel zu warm angezogen. Unter seiner Jeans und dem Longsleeve schwitzte er. Warum hatte er nur auf den Ratschlag seiner Eltern gehört? Sie hatten ihm empfohlen, an Bord bloß keine kurzen Sachen zu tragen, weil er sich sonst erkälten würde.

Dann, als Felix sich noch ein Stück weiter zum Fenster beugte, tauchte sie mit einem Mal auf: seine neue Wahlheimat. Dort, wo er bis eben nur das unendliche Meeresblau gesehen hatte, schob sie sich wie aus dem Nichts in sein Blickfeld. Als hätte sie auf den richtigen Moment gewartet, um sich bestmöglich in Szene zu setzen.

Trocken. Felsig. Unwirtlich.

Das waren die ersten Eindrücke, die ihm durch den Kopf schossen. Und das sollte Gran Canaria sein? Die Insel, die für viele Menschen ein Sehnsuchtsort war?

Felix hatte sie sich anders vorgestellt. Fruchtbarer vor allem. Die wenigen Grünflächen, die er von hier aus erkannte, schienen ausschließlich Golfplätze zu sein. Nichts zu sehen von Feldern, Sportplätzen oder privaten Gärten. Trotz der Fotos, die er sich vorher angeschaut hatte, schockierte ihn diese Aussicht.

Er schüttelte sich und sah noch einmal genauer hin. Vielleicht brauchte die Insel ja eine zweite Chance? Manchmal täuschte der erste Eindruck schließlich. Musste Felix also nur länger hinsehen, um die Schönheit zu erkennen? Irgendetwas musste ja dran sein, dass so viele Menschen hier sogar ihren Lebensabend verbrachten.

Doch selbst auf den zweiten Blick wirkte Gran Canaria für ihn immer noch wie eingeschlossen. Umgeben von einem Ozean, der wie ein gigantischer dunkelblauer Teppich unter ihnen lag.

Dann verlor das Flugzeug an Höhe. Felix spürte den Unterdruck im Ohr, und kurz darauf gingen sie in den Endanflug über. Durch sein Fenster beobachtete er das Ausfahren der Landeklappen.

Ein Hoch auf die Luftfahrtdokus, die er sich seit Jahren anschaute. Durch sie hatte er eine Menge über die Technik der Maschinen gelernt. Sogar so viel, dass ein Pilot, mit dem er sich bei einer zufälligen Begegnung in einer Bar unterhalten hatte, über sein Wissen erstaunt war.

Mit einem Mal erfassten böige Seitenwinde die Maschine. In Felix’ Magen breitete sich ein flaues Gefühl aus. Hatte sich Christoph Steuer nicht wie ein unerfahrener Pilot angehört? Wenn das mal gut ging. Felix fischte ein Bonbon aus seiner Hosentasche und befreite es mit zittrigen Händen aus seiner Folie.

Unruhig sank die Maschine weiter dem Boden entgegen. Felix beschloss, nicht mehr aus dem Fenster zu sehen. Stattdessen fixierte er einen Punkt am Vordersitz, lutschte sein Bonbon und umklammerte seine Armlehnen. Zwar hatten seine Hände aufgehört zu zittern, dafür waren sie jedoch so feucht, als stünde er kurz vor einer Prüfung. Felix spürte das kräftige Pochen seines Herzens.

Was war das? Sein Puls beschleunigte sich, als plötzlich ein lautes Donnern aus dem unteren Teil der Maschine drang. In der Kabine war es schlagartig mucksmäuschenstill. Hoffentlich nur das Fahrwerk, versuchte Felix sich zu beruhigen. Durch die Dokus wusste er, dass die Landung die kritischste Phase eines jeden Fluges war. Manchmal, dachte er, war es besser, weniger zu wissen.

Dann setzte die Maschine mit einem Rumms auf dem Boden auf. Offensichtlich war der Pilot beim Anflug zu schnell gewesen. Jetzt trat er kräftig auf die Bremse, und die Fliehkraft schob Felix mit allem, was sie hatte, nach vorn. So stark, dass der Sicherheitsgurt in seinen Bauch schnitt und ihm kurz die Luft abschnürte. Felix ließ die Armlehnen los und drückte sich an dem Vordersitz ab.

Offenbar hatte dieser Steuer es eiliger als gedacht. Denn obwohl sie noch immer rasch unterwegs waren, nahm er bereits die erste Ausfahrt. Mit der maximal zulässigen Geschwindigkeit rollten sie über das Vorfeld. Als sie ihre Parkposition erreicht hatten, atmete Felix tief durch und die Anspannung löste sich langsam. Er schaute sich im Flugzeug um. Das Manöver hatte auch den übrigen Passagieren den Atem verschlagen. Statt der gewöhnlichen Hektik herrschte nun seltene Ruhe in der Kabine. Noch immer verharrten alle angeschnallt auf ihren Sitzen. Niemand erhob sich von seinem Platz oder kramte in der Gepäckablage nach seiner Tasche oder seinem Koffer. In diesem Moment schienen alle an Bord in ihren Gedanken vereint zu sein.

Da sein Herz sich wieder beruhigt hatte, drehte Felix sich zu seinen Sitznachbarinnen. »Geht’s euch gut?«, fragte er.

Die beiden wandten sich ihm zeitgleich zu und nickten. Ihre Gesichtsfarbe verriet jedoch etwas anderes. Die letzte Viertelstunde schien sie mehr mitgenommen zu haben als ihn. Während des Fluges war es nur so aus den beiden jungen Frauen herausgesprudelt, doch jetzt waren sie mit einem Mal verstummt. Es würde noch eine Weile dauern, bis wieder Leben in sie zurückkehrte.

Nach und nach begannen sie auszusteigen. Auf Bitten der Flugbegleiterin verließen die Passagiere Reihe für Reihe die Maschine, was dazu führte, dass die Kabine sich nur etappenweise leerte. Felix und seine Nachbarinnen saßen im hinteren Drittel, und so dauerte es eine Weile, bis sie dran waren. Felix holte zunächst die Taschen der beiden jungen Frauen aus der Ablage und erst danach seinen kleinen Trolley. Gemeinsam liefen sie auf wackeligen Beinen dem Ausgang entgegen. Die Flugbegleiterinnen lächelten noch ein letztes Mal zum Abschied. Zwischen ihnen stand Christoph Steuer, wie Felix an seinem Namensschild erkannte.

»Interessante Landung«, murmelte er im Vorbeigehen. Dann strömte Felix mitsamt den anderen durch die Fluggastbrücke in Richtung Gate. An einer breiten Glasfront vorbei, durch die man auf das Rollfeld und die Startbahn blickte, gelangten sie zur Ankunftshalle. Während Felix sich anschließend einen Überblick verschaffte, drängten mehrere spanische Durchsagen an sein Ohr.

Aber was war das? Sah er das gerade richtig? Felix kniff die Augen zusammen.

Tatsächlich. Zwischen all den Menschen, die durch die Halle wuselten, entdeckte er über dem Kopf einer Frau ein Schild mit seinem Namen.

Felix schmunzelte. Was für ein netter Empfang, dachte er.

2

Als sie die letzte Seite zu Ende gelesen hatte, schlug sie das Buch zu und steckte sich eine Zigarette an. Sie saß auf der obersten Stufe der Treppe, die zum Bolzplatz hinaufführte, und stützte sich nun mit den Ellbogen auf ihren Knien ab. Mit ernster Miene schaute sie auf den Wohnblock gegenüber.

Eigentlich war sie ja echt cool, diese Farbe. Obwohl sie bereits zu großen Teilen abgebröckelt war. Trotzdem: Dieses Himmelblau – oder zumindest das, was davon noch übrig war – sah immer noch schön aus. Vor allem, weil es über alles, was in dieser Straße geschah, hinwegtäuschte. Weil es irgendwie Frieden vorgaukelte. Eine intakte, heile Welt.

Doch all das, was in diesem Viertel passierte, war nicht friedlich. Und heil war schon gar nichts. Davon war das Leben hier so weit entfernt wie Gran Canaria vom spanischen Festland. Alles, womit man es zu tun hatte, war Scheiße. Scheiße in verschiedenen Formen. Kleine Scheiße, große Scheiße, aber auf jeden Fall immer Scheiße. Wer in diesem Viertel wohnte, wusste, was das bedeutete. Wusste, dass man nicht nur am Rande der Stadt lebte, sondern auch am Rande aller Hoffnungen.

Warum das so war, konnte sie jeden Tag mit eigenen Augen verfolgen. Dort hinten, etwa hundert Meter entfernt, befand sich die Bar San Alfonso. Direkt neben dem kleinen Supermercado, in dem sie einkaufte, wenn ausnahmsweise mal wieder etwas Geld im Haus war. Tagsüber schien dort alles ganz normal. Gäste tummelten sich unter Sonnenschirmen, tranken Cortados con leche und aßen belegte Bocadillos.

Sobald es dunkel wurde und die Nacht einzog, veränderte sich jedoch das Bild. Statt rostiger Schrottlauben, die normalerweise vor der Bar parkten, rollten nun im schummrigen Licht der Straßenlaternen funkelnde Luxuskarren heran. Autos mit getönten Scheiben, aus denen Männer in dunklen Anzügen stiegen. Sie nahmen an den Tischen unter dem Vordach Platz, tranken eine Caña nach der anderen und debattierten miteinander.

Worüber genau, das konnte sie aufgrund der Entfernung nicht verstehen. Ein einziges Mal hatte sie es bisher gewagt, sich näher an die Bar heranzuschleichen – trotz des strikten Verbots ihrer Mutter. Das sei zu gefährlich, hatte sie gewarnt. Sie solle sich unbedingt von diesen Leuten fernhalten. Und sie hatte recht gehabt: Als sie nur wenige Meter vor der Bar gestanden hatte, war sofort ein grimmiger Typ auf sie zugestürmt. »Was zum Teufel hast du hier zu suchen?«, hatte er sie mit gepresster Stimme gefragt. »Bist du lebensmüde? Verschwinde, oder ich mache dir Beine!«

Bei dem Gedanken daran nahm sie einen weiteren Zug. Den Rauch ließ sie langsam durch die Nase ausströmen. Wenn ihre Mutter jemals herausbekäme, dass sie rauchte, würde sie sich warm anziehen müssen.

Dabei war sie es doch, die sich Schlimmeres reinzog. Ihr Körper war übersät von vernarbten Einstichstellen, sodass sie sich aus Verzweiflung das Zeug zwischen die Zehen spritzte. Sie musste keine Hellseherin sein, denn es war klar, worauf das hinauslief: Wenn sich nichts änderte, würde ihre Mutter dieses Jahr nicht überleben. Dann würde sie endgültig auf sich allein gestellt sein. Obwohl, eigentlich war sie das ja schon immer. Auf ihre Mutter konnte sie schon lange nicht mehr zählen.

Sie zog ein letztes Mal an ihrer Zigarette und drückte sie anschließend an der Treppenstufe aus. Währenddessen ließ sie die Fenster ihrer gemeinsamen Wohnung nicht aus den Augen. Vor allem nicht das, das zum Schlafzimmer ihrer Mutter gehörte.

Warum musste sie es eigentlich immer offen lassen? Schon klar, bei dem, was sie tat, kam sie auch ins Schwitzen. Außerdem brauchte sie ständig frische Luft. Irgendwie musste sie den Gestank dieser Typen ja loswerden. Aber ein geöffnetes Fenster bedeutete eben auch, dass jeder in der Straße hören konnte, was in der Wohnung geschah. Mit den Jahren hatten sich die Bewohner daran gewöhnt. Hier belästigte das niemanden mehr. Die Leute überspielten es, sie wussten ja, dass es hierhergehörte. Stattdessen verbarrikadierten sie sich hinter ihren Fenstern, saßen den ganzen Tag vor ihrem Fernseher, dessen flackerndes Licht selbst die zugezogenen Gardinen nicht verstecken konnten.

Doch sie hatte davon ein für alle Mal genug. Dieses Elend musste endlich aufhören. Sogar die Bücher, die sie seit Jahren verschlang, halfen ihr nicht mehr, abzuschalten. So konnten sie nicht weiterleben – weder ihre Mutter noch sie selbst.

Nicht noch ein Jahr in diesem Loch, das hatte sie sich letztes Silvester geschworen. Auch wenn sie bisher nie den Hauch einer Ahnung gehabt hatte, wie um alles in der Welt sie von hier weggekommen sollten. Aus diesem Viertel, aus dieser Straße, kam man nicht einfach so wieder hinaus. Man wurde hier geboren, ging hier zur Schule, lebte sein Leben auf der vergeblichen Suche nach einem Ausweg, und am Ende, wenn man nicht zu denen gehörte, die für einen dieser Männer in der Bar San Alfonso arbeiteten, starb man auch hier. So waren die Regeln. Sie hatte sie nicht gemacht, aber bisher war ihrer Mutter und ihr nichts anderes übrig geblieben. Oben blieb oben und unten blieb unten.

Seit gestern schöpfte sie allerdings Hoffnung. Seit sie wusste, wer hinter all dem steckte. Sie kannte seine Identität, und diese Tatsache würde ihr das Tor zu einer anderen Welt aufstoßen.

Dass er da nicht mitspielen wollte, war sein Problem. Auch seine Drohungen beeindruckten sie nicht, sie konnte es genauso gut ohne ihn durchziehen. Gleich morgen Abend würde sie dieses Stück Scheiße anrufen und ihm ein Angebot unterbreiten. Würde ihm sagen, wie viel sie für ihr Schweigen verlangte. Skrupel empfand sie dabei nicht. Wieso auch? Es konnte nun mal nicht nur Gewinner geben. Und ihr Wissen war die Fahrkarte in ein besseres Leben. Jetzt, nach sechzehn Jahren, in denen ihre Mutter und sie immer zu den Verlierern gehört hatten, schien sie zum ersten Mal die Seite zu wechseln. Das fühlte sich verdammt gut an!

Sie schlenderte gemächlich nach Hause. Das Stöhnen hatte aufgehört. Der ekelhafte Kerl, der sich vor einer halben Stunde an ihr vorbei in die Wohnung gedrängt hatte, kam ihr mit einem widerlichen Grinsen auf den Lippen entgegen. Demonstrativ zog er den Reißverschluss seines Hosenstalls hoch und zwinkerte ihr zu.

Sie hingegen reagierte wie immer nicht. Strafte ihn stattdessen mit Ignoranz. Das hatte sich als die beste Strategie erwiesen. Und als die gesündeste.

Bald würde das alles ein Ende haben. Sie musste nur noch ein bisschen durchhalten. In Kürze würde ihr Leben endlich den Weg einschlagen, den sie verdient hatte.

Schon jetzt konnte sie den morgigen Tag kaum noch erwarten.

3

»¡Hola, chacho! Ich bin Candela«, sagte sie und hauchte ihm ein Küsschen auf jede Wange. »¡Bienvenido a Gran Canaria! Du musst unser Neuer sein.«

Felix starrte der jungen Frau verdutzt ins Gesicht. Und das nicht nur wegen der typisch spanischen Begrüßung, mit der sie ihn empfangen hatte. Vielmehr fühlte es sich so an, als hätte diese Frau ihn augenblicklich in ihren Bann gezogen.

Sollte tatsächlich sie seine Mentorin sein? Das versprach eine spannende Zusammenarbeit zu werden. Felix hatte sich eine ältere, vor allem aber nicht annähernd so attraktive Frau vorgestellt. Normalerweise mochte er keine unerwarteten Überraschungen. Doch gegen diese hatte er nichts einzuwenden.

»Sí, das bbbin ich«, stotterte er. Na toll, jetzt klang er auch noch wie ein Trottel. Eigentlich wollte er seiner knappen Antwort ein paar Wörter hinzufügen, aber sein Gehirn verfolgte offensichtlich einen anderen Plan. Dabei war ihm das Sprechen in dem Kurs immer leichtgefallen. Mit Señora Alvarez hatte er sich bestens unterhalten. Ausgerechnet in diesem Moment verweigerte sein Verstand ihm den Dienst. Wie war das doch gleich mit dem ersten Eindruck?

Zum Glück lächelte Candela gekonnt über die Situation hinweg. »Dann werden wir das hier wohl nicht mehr brauchen, was?« Sie zwinkerte und nahm das Namensschild herunter, das sie über ihrem Kopf gehalten hatte. Sie faltete es zusammen und klemmte es sich unter den Arm.

Nun musste auch Felix schmunzeln. Für ihn glich Candela einer Spanierin aus dem Bilderbuch. Klein und quirlig, mit kinnlangen schwarzen Haaren und einer Haut so braun wie ein Kamelhaarmantel. Sowohl ihr einnehmendes Lächeln als auch ihre dunklen Augen strahlten eine wohlige Wärme aus. Wie alt Candela wohl war? Besonders groß schien der Unterschied zwischen ihnen jedenfalls nicht zu sein. Felix schätzte sie auf Ende zwanzig. Außerdem versprühte seine Mentorin eine unglaubliche Energie. Wahrscheinlich die Sonne, dachte Felix. Ob er in ein paar Monaten auch so auf andere wirken würde? Oder würde es länger dauern? Egal, wie lange, alles war jetzt nur noch eine Frage der Zeit.

»Hattest du einen guten Flug?«, fragte Candela weiter. Entschlossen schnappte sie sich den Trolley und deutete mit ihrem Kinn zum Ausgang. »Mein Auto steht draußen auf dem Parkplatz. Du bist bestimmt erschöpft von der Reise. Am besten fahre ich dich direkt zu deinem Bungalow.«

Felix nickte. »Das ist sehr nett von dir.«

»De nada«, antwortete Candela.

Ohne ein weiteres Wort preschte sie voran. Ihre kürzere Reichweite glich sie mit einer hohen Schrittfrequenz aus, und Felix hatte Mühe, ihr zu folgen. Eigentlich wollte er sie ja zu ein paar Dingen befragen. Zum Beispiel zu dem Bungalow, den sie für ihn ausgesucht hatten, zu dem Ort, in dem er wohnen würde, oder zur Arbeit in der Redaktion, auf die er sich nun – seitdem er wusste, wer seine Mentorin war – noch mehr freute. Aber wie es aussah, musste er diese Fragen wohl während der Autofahrt stellen.

Sie verließen den Flughafen, und schon bei seinem ersten Schritt außerhalb des Gebäudes spürte Felix die wärmenden Sonnenstrahlen in seinem Gesicht. Interessiert schaute er auf seine Smartwatch: Jetzt, um zehn nach acht, waren es immer noch fünfundzwanzig Grad! Damit war es mehr als doppelt so warm wie in Kassel. Hierfür würde er sicherlich keine lange Eingewöhnungszeit brauchen. Trotzdem freute er sich darauf, so bald wie möglich aus seinen verschwitzten Sachen herauszukommen. Netterweise hatte Felix’ neuer Arbeitgeber dafür gesorgt, dass seine übrigen Koffer bereits nach Gran Canaria transportiert worden waren.

»Ich stehe da drüben«, rief Candela ihm über die Schulter zu. Sie zückte einen Schlüssel, streckte ihn in die Luft und drückte auf einen Knopf. An einem dunkelroten Tourer leuchteten die Blinker auf. Felix steuerte direkt auf das Auto zu, das sich nicht nur wegen seiner strahlenden Farbe, sondern auch wegen seines noch unbeschädigten Lacks von den anderen abhob.

Candela verstaute den Trolley im Kofferraum. Mit einem Schnipsen bedeutete sie Felix, dass er auf der Beifahrerseite einsteigen sollte.

»Setz dich neben mich«, befahl sie, »wir müssen ein paar Dinge besprechen.« Sie startete den Motor, und erst nachdem sie auf die Autobahn aufgefahren waren, legte sie den Sicherheitsgurt an. Dann tippte sie auf dem Touchscreen in der Mittelkonsole eine Adresse ein. Für die Geschehnisse auf der Straße interessierte sie sich nur geringfügig.

Frau Alvarez hatte tatsächlich recht gehabt! Sie hatte öfter von der sportlichen Fahrweise ihrer Landsleute erzählt. Demnach galten Geschwindigkeitsbegrenzungen in Spanien eher als nett gemeinte Empfehlungen, und schon nach wenigen Minuten als Beifahrer konnte Felix bestätigen, dass die berühmte spanische Spontanität sich auch auf die Verkehrsregeln bezog. Die Hupe wurde nicht als Warnsignal, sondern zum Reklamieren der Vorfahrt oder zum Wutablassen genutzt. Von dem vorgeschriebenen Sicherheitsabstand schien Candela nicht sonderlich viel zu halten, und so zog sie beim Überholen so dicht an den Autos vorbei, dass Felix den anderen Fahrern durch die Fenster die Hände hätte schütteln können. Stattdessen klammerte er sich ängstlich an den Haltegriff. Hoffentlich würde er heil ankommen – wie lange auch immer die Fahrt dauerte.

»Wie heißt noch mal der Ort?«, versuchte er sich deshalb abzulenken.

»Du meinst, wo du wohnst?«, fragte Candela zurück. Felix nickte. »Der Ort heißt Playa del Águila. Er liegt zwischen Bahía Feliz und San Agustín.«

»Aha«, kommentierte Felix.

Viel anfangen konnte er mit dieser Information allerdings nicht. Alles, was er in Erfahrung gebracht hatte, war, dass er fürs Erste im Süden der Insel unterkommen würde. Mehr war Castillo nicht zu entlocken gewesen. Vermutlich hatten sie bis vor wenigen Tagen selbst noch nicht gewusst, wo Felix wohnen sollte. Möglicherweise ein Ergebnis der angespannten Wohnungssituation auf der Insel, von der er gelesen hatte.

Candela drehte sich zu ihm herum und winkte lässig ab. »No te preocupes. Ist ein gemütlicher Ort. Beschaulich, mit kleinen Buchten. Da kann man fantastisch entspannen und das Leben genießen.«

»Das hört sich gut an.«

»Und eine kleine Berühmtheit sieht man dort auch ab und zu.«

»Ach wirklich? Wen denn?«

Candela lächelte. »Das verrate ich dir nicht. Vielleicht findest du es ja schon bald selbst heraus.«

Während seine Mentorin sich nun wieder fluchend dem Verkehr widmete, schaute Felix nach draußen. Das Bild, das sich ihm vom Flugzeug aus gezeigt hatte, setzte sich auch hier am Boden fort. Er sah jede Menge Palmen an den zahlreichen Stränden, die zum Atlantik hin abfielen, und entlang der Autobahn als Begrenzung der Fahrstreifen. Doch da waren auch viel Schutt und Geröll. Eine steppenähnliche, wasserdurstige Landschaft, dazwischen Windkraftwerke und Gemüseplantagen. Einige von ihnen schienen jedoch nicht mehr genutzt zu werden, denn die Plastikplanen waren löchrig und flatterten im Wind. Ein Bild des Niedergangs, dachte Felix. In Teilen erinnerte ihn der Anblick an einen alten Western. Passend dazu verlief zu seiner Rechten in der Ferne eine lange Bergkette, mystisch und bedrohlich zugleich.

Die Städte, an denen sie vorbeifuhren, kannte Felix bisher nur von Google Maps: Carrizal, Arinaga, Vecindario, El Doctoral. Bei Letzterer verließ Candela die Autobahn und wechselte auf eine weniger befahrene Schnellstraße, die noch dichter an der Küste entlangführte. Doch auch jetzt blieben die Orte nur befremdlich klingende Namen auf den Straßenschildern.

Wohn- und Gewerbegebiete sausten an Felix’ Fenster vorbei. Ihm fiel auf, dass die Häuser anders aussahen als in Deutschland. So gab es weder Schräg-, geschweige denn überhaupt geziegelte Dächer. Die Gebäude wirkten wie abgeschnitten, als hätten die Bauarbeiter nach dem obersten Stockwerk beschlossen, die Arbeit einzustellen. Zweifellos ein Ergebnis des trockenen Klimas auf der Insel, dachte Felix. In einem Reiseführer hatte er sogar von einer Sonnengarantie gelesen, mit höchstens zwanzig Regentagen im Jahr.

»Wir sind da«, sagte Candela plötzlich und holte ihn aus seinen Gedanken. Sie setzte den Blinker und verließ die Schnellstraße an der nächsten Ausfahrt. Ein Schild mit der Aufschrift »Playa del Águila« begrüßte sie an ihrem Ziel. Sie durchquerten einen Kreisel und fuhren einen kleinen Berg hinauf, vorbei an weinroten und himmelblauen Apartmenthäusern, in deren Innenhöfen kristallklares Wasser in gut besuchten Poolanlagen glitzerte. Wie ein Bewacher stach zwischen ihnen ein kleiner, strahlend weißer Leuchtturm mit einem Oberbau aus dunklem Holz heraus.

»Dann zeig ich dir mal dein neues Zuhause«, sagte Candela.

An der nächsten Kreuzung bog sie nach links in eine Sackgasse ab. Sie parkte den Tourer vor einem Holztor, durch dessen Staketen schemenhaft mehrere Bungalows und ein Palmengarten schimmerten. Sie stiegen aus, Felix hob seinen Trolley aus dem Kofferraum, und Candela strebte unmittelbar auf das Tor zu. Sie öffnete eine Klappe, die direkt neben dem Eingang in die Mauer eingelassen war. Auf dem nun zum Vorschein kommenden Tastenfeld tippte sie einen Code ein. Wenige Augenblicke später piepte es, und schon offenbarte sich eine Sammlung von Schlüsselbunden. Candela nahm einen von ihnen vom Haken, verriegelte anschließend wieder ordnungsgemäß den Safe und schloss die Klappe.

»¡Vamonos!«, sagte sie. Sie winkte Felix zu sich, drückte das Tor auf und ging voran in den dahinterliegenden Palmengarten. Felix traute seinen Augen nicht, als er das Gelände betrat. So in etwa stellte er sich das Paradies vor.

Im Zentrum befand sich ein kleiner Pool mit Sonnenliegen. Drum herum verteilten sich einstöckige, aus Sandstein gemauerte Bungalows mit wild bewachsenen Runddächern. Ein schmaler, von bunten Pflanzen gesäumter Fußweg führte durch die Anlage. Zu dem Meeresrauschen, das wie ein Grundton über allem lag, mischte sich das Geräusch der Sprinkleranlage. Frischer Knoblauchgeruch drang in Felix’ Nase, während aus einem der Häuser ein lauter Fernseher zu hören war. Unter dem Dach eines Pavillons aus dunklem Holz saß ein junges Paar und spielte Schach.