Cape Diamond - Ron Corbett - E-Book

Cape Diamond E-Book

Ron Corbett

0,0
11,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
  • Herausgeber: Polar Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2024
Beschreibung

Cape Diamond ist Ron Corbetts zweites Buch mit Frank Yakabuski. Yakabuski ist Polizist in der fiktiven Stadt Springfield, am südlichen Rand des Great Boreal Forest Kanadas. Als Augustus Morrissey, der pensionierte Anführer der irischen Verbrecherbande North Shore Shiners, ermordet und an einem Parkzaun hängend aufgefunden wird, gibt es viele Verdächtige. Aber der ungeschliffene Diamant im Wert von 1,2 Millionen US-Dollar, der in Morrisseys Mund gestopft wurde, ist etwas Besonderes. Als dann ein Mitglied der Travellers, einer fast mythischen Schmugglerbande, deren Abstammung auf die mitteleuropäischen Sinti und Roma zurückgeht, ebenfalls ermordet und am selben Zaun hängen gelassen wird, an dem Morrissey gefunden wurde, steht ein Bandenkrieg bevor. Dieser droht den Ort auseinanderzureißen. Yakabuski bittet seinen Vater, einen inzwischen pensionierten Detektiv, den eine lange Geschichte mit den Banden verbindet, bei der Vernehmung um Rat. Geht es bei dem Konflikt um die Ermordung zweier Männer? Die Entführung eines kleinen Mädchens? Oder möglicherweise um den Diamanten, der in Augustus Morrisseys Mund gefunden wurde? Als ob das für einen Detektiv nicht genug wäre, unternimmt ein Serienmörder einen töd- lichen Roadtrip durch die Vereinigten Staaten in Richtung der nördlichen Wasserscheide. Cape Diamond ist ein reichhaltiger und detaillierter Kriminalroman mit Motiven, die so düster und bedrohlich sind wie sein kanadischer Schauplatz. Eine einzigartige Mischung aus modernem Who-dunnit, Gangland-Drama, ländlicher Folklore und einer Rache- geschichte mit einem übermenschlichen Mörder vereint sich zu einer aufregenden und spannenden Fahrt. Frank Yakabuski ist ein hartnäckiger Detektiv und ein sympathischer Charakter. Seine Fehler machen ihn interessant und das Geheimnis glänzt mit der Anziehungskraft eines halb vergrabenen Diamanten.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 368

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


DARK PLACES

Ron Corbett

Cape Diamond

Aus dem kanadischen Englisch von Harriet FrickeHerausgegeben von Jürgen Ruckh

Polar Verlag

We acknowledge the support of the Canada Council for the Arts.

Originaltitel: Cape Diamond

Copyright © Ron Corbett, 2018

By arrangement with the author. All rights reserved

Deutsche Erstausgabe, 1. Auflage 2024

Aus dem kanadischen Englisch von Harriet Fricke

Mit einem Nachwort von Carsten Germis

Das Zitat aus »König Ödipus« von Sophokles, in der Übersetzung von Kurt Steinmann (2015), erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Reclam Verlages, Ditzingen.

© 2024 Polar Verlag e. K., Stuttgart

www.polar-verlag.de

Lektorat: Tobias Schumacher-Hernández

Korrektorat: Andreas März

Umschlaggestaltung: Britta Kuhlmann

Coverfoto: © ronstik /Adobe Stock

Autorenfoto: © Julie Oliver

Satz/Layout: Martina Stolzmann

Gesetzt aus Adobe Garamond PostScript, InDesign

Druck und Bindung: Nørhaven, Agerlandsvej 3, 8800 Viborg, DK

Printed in Denmark 2024

ISBN: 978-3-948392-92-5

eISBN: 978-3-948392-93-2

Für John OwensGenialer Schriftsteller und guter Freund

Inhalt

Anmerkung des Verfassers

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Epilog

»Nichts ist, wie es scheint«

Anmerkung des Verfassers:

Dieses Buch ist ein Roman. Alle Figuren und Orte sind frei erfunden. Obwohl die Geschichte in der Region der Northern Divide spielt, sind die hier erwähnten Städte und Siedlungen nicht mit realen zu verwechseln.

Doch ich, nein, nie enthüll ich meine – nicht zu sagen deine – Übel.

König Ödipus, Sophokles

Prolog

Alles geschah in einer verlorenen Jahreszeit. Die Morde, die Entführung des Mädchens, die Ausschreitungen in Springfield. Weder Herbst war es noch Winter, eher etwas dazwischen, an einigen Tagen war es heiß und windstill, die Bäume trugen trockene, kränkliche Blätter, die Flüsse zogen dunkel und flach dahin. Die Welt wirkte aller Farbe beraubt, wie ausgeblutet.

Frank Yakabuski sah einen Zusammenhang zwischen den Ereignissen in jener Woche und der verlorenen Jahreszeit. Wenn Bezugspunkte verschwanden und die Jahreszeiten einen im Stich ließen, konnte nur etwas Schlimmes geschehen, glaubte er. Nicht jeder sah das so. Diejenigen, die überzeugt waren, in der Welt würde das Prinzip Ursache und Wirkung herrschen, glaubten, es wäre in jedem Fall so und nicht anders gekommen, weil es schon einen Plan und ein Ziel gegeben hätte, bevor die verlorene Jahreszeit über die Northern Divide hereinbrach und der erste Mann ermordet wurde.

Frank Yakabuski fand allerdings auch, die Verfechter des Ursache-Wirkung-Prinzips hätten kein Gespür für Orte, sie lebten im luftleeren Raum, stellten irgendwelche Zusammenhänge her und wären immerzu enttäuscht vom Ergebnis ihrer Handlungen. Als junger Cop hatte Yakabuski mit einem Fall zu tun gehabt, der sich scheinbar mit Ursache und Wirkung erklären ließ. Sein Job hatte ihn nach High River geführt, es war Frühlingsanfang, die Zeit also, in der die Flüsse wild und gefährlich sind und man auf jeden seiner Schritte achten muss, damit einen der Strom nicht fortreißt und man nie wieder gesehen wird, wie es in High River einige Male vorgekommen war. Er hatte eine Mutter in Gewahrsam nehmen müssen, die ihr einziges Kind, einen vierjährigen Jungen, in der Badewanne ertränkt hatte.

Die Mutter war jung, noch ein Teenager, und die Beweislage erdrückend. Sie war arm und schwer methabhängig. Schon zweimal hatte ihr der Child and Family Service den Jungen weggenommen. Am Tag seines Todes hatte die Mutter mehreren Menschen erzählt, sie wolle das Kind nicht mehr. Warum die Mutter allerdings 911 gewählt und der Polizei den Tod des Kindes gemeldet hatte, war das Einzige, was sich die High River Cops nicht erklären konnten, doch allzu viele Gedanken verschwendeten sie nicht darauf, denn auch bei dem Anruf war die Mutter auf Meth gewesen.

Yakabuski hatte die junge Frau aus der Zelle abgeholt, aber auf dem Weg zum Einsatzwagen, der sie nach Springfield bringen sollte, war sie stehen geblieben. Sie war zierlich, hatte lange schwarze Haare und man hätte sie hübsch nennen können, hätte sie sich nicht eines Nachts im Rausch mit einer Rasierklinge das Gesicht zerschnitten. Weil Yakabuski sie nicht zum Wagen schleifen wollte, standen sie lange auf dem Parkplatz hinter dem Revier der Royal Canadian Mounted Police, bis die Frau fragte: »Hören Sie das?«

»Was denn?«

»Na das.«

Er lauschte und nahm es nach wenigen Sekunden deutlich wahr. Das Wasser, das sich seinen Weg durch die Wälder und über die Straßen von High River bahnte, das sich mit den Creeks und Zuflüssen des Springfield River vereinte, das zu sich selbst zurückfloss, sich im Kreis drehte, weil es nicht wusste, über welche Wasserscheide es fallen und welchen Bach es noch füllen sollte, denn in jenem Frühling strömten derartige Massen durch High River, dass es in der Luft rauschte, als würde ein gigantischer Wasserhahn laufen.

»Warum nicht im Fluss?«, fragte die junge Frau und fing an zu weinen.

In Springfield angekommen, rief Yakabuski die Gerichtsmedizinerin an und bat sie, die Leiche des Kindes noch einmal zu untersuchen. Dabei entdeckte sie das geplatzte Aneurysma im Gehirn des Jungen. Kurz darauf wurde die Mutter freigelassen.

Der Ort war entscheidend. Vielleicht hatten die Ereignisse der verlorenen Jahreszeit sogar eher mit dem Ort zu tun als mit Habgier, Rivalität, Vergeltung oder einem der anderen Motive, die man damals dahinter vermutete. Eine Woche lang verschwanden sämtliche Bezugspunkte; die Stadt Springfield löste sich aus ihrer Verankerung, verlor ihren Halt, und eine fremde, tödliche Welt kam zum Vorschein.

1

Die Ersten, die an dem Montagmorgen das Filion’s Field überquerten, waren Schichtarbeiter auf dem Weg zu O’Hearns Sägewerk in der Sleigh Bay. Das Feld lag am westlichen Rand eines Steilufers hoch über dem Springfield River, und jeder Arbeiter hatte mit Henkelmann und Thermoskanne eines der Hochhäuser verlassen, die Abkürzung über den Sportplatz genommen und um 5:45 Uhr an der Bushaltestelle gestanden.

Die Sonne war um 6:41 Uhr aufgegangen, deshalb waren die Arbeiter noch im Dunkeln über das Feld marschiert. Vermutlich mit gesenktem Kopf, denn als Schichtarbeiter auf dem Weg zum Sägewerk hatten sie es sicherlich nicht eilig, den neuen Tag zu begrüßen.

Gut möglich, dass es ihnen nicht aufgefallen war. Als die Polizei die Arbeiter – insgesamt waren es neun, alles Männer – ein paar Stunden später ausfindig machte, wurde keiner länger als fünf Minuten befragt.

Die Nächsten, die das Feld überquerten, waren Menschen, deren Arbeit früh morgens in Springfield begann: Büroangestellte und Wachleute, Küchenhilfen und Parkplatzwächter, Bauarbeiter und Busfahrer. Als sie über das Feld gingen, stand die Sonne bereits am Himmel, eine Wintersonne, die eher weiß als gelb war und durch die Birken und Fichten am Rand des Steilufers und die Schluchten zwischen den Hochhäusern schien, sodass Schatten auf den Weg vor ihnen fielen. Der Polizei gelang es, zweiundzwanzig der Angestellten ausfindig zu machen. Jeder wurde ausgiebig befragt. Keiner erinnerte sich daran, an jenem Morgen am östlichen Zaun des Sportplatzes etwas Ungewöhnliches bemerkt zu haben.

Die Letzten, die das Feld überquerten, waren Kinder, die eine Abkürzung nahmen, durch ein Loch im Zaun, über einen Trampelpfad durch den Wald, hin zur Northwood Elementary School. Wie viele Kinder es waren, konnte hinterher niemand genau sagen. Nach Einschätzung der Polizei mochten es an die dreißig gewesen sein.

In der ersten Schulpause kehrte ein halbes Dutzend Jungen zum Feld zurück. Dort sah eine Polizistin, wie sie Steine auf etwas warfen, das am Zaun hing. Die Steine flogen in hohem Bogen. Die Jungen lachten. Zu dem Zeitpunkt stand die Sonne hoch und schien durch den Zaun, der das Feld umgab, sodass sein Maschendraht ein geometrisches Schattenmuster auf den Fußballplatz warf.

Die junge Polizistin hieß Donna Griffin. In die Hochhaussiedlung in North Shore war sie gekommen, weil sie einen Beschluss des Familiengerichts zustellen sollte. Sie beobachtete die Jungen und fragte sich, womit sie da spielten. Sobald die Kinder die Polizistin sahen, drehten sie sich wie eine Herde Rehe, die einen Jäger wittert, kollektiv um, schlüpften durch das Loch im Zaun und rannten davon.

Weil Griffin wusste, dass sie die Jungen niemals einholen würde, nahm sie die Verfolgung gar nicht erst auf. Sie sah, wie einer nach dem anderen in den Wald lief, und erst, als der Letzte verschwunden war, wurde ihr klar, dass keiner ihr noch etwas über die Schulter zugerufen hatte. Weder Spott noch Hohn, und das, obwohl sie nicht hinterherlief. Ein halbes Dutzend Jungen. Aus der Hochhaussiedlung in North Shore.

Sie ging weiter. Hatte die Hälfte des Fußballfelds hinter sich gebracht, als der am Zaun hängende Gegenstand allmählich Gestalt annahm und sich dann in etwas Konkretes verwandelte. Fünfzehn Schritte davor blieb sie stehen. Jetzt fielen die Schatten auf sie, aber es war nicht das Muster des Maschendrahtzauns, es waren zwei dicke, sich kreuzende Linien. Sie blickte am Zaun hoch und wünschte sich, sie hätte stattdessen die Verfolgung der Kinder aufgenommen.

2

Frank Yakabuski saß in der Küche einer Ein-Zimmer-Wohnung in der Nähe des Springfield River. Er wartete darauf, dass der Teenager vor ihm den Mund aufmachte. Zehn Sekunden waren schon vergangen, und wie er wusste, würde es noch länger dauern. Er schaute sich in der Küche um. Klein war sie, und es stank, doch immerhin gab es ein Fenster mit Blick auf einen Park, hätte der Junge nicht ein Bob-Marley-Handtuch davorgehängt. Bei Bob Marley wäre das Fenster offen gewesen, da war sich Yakabuski ziemlich sicher. Wegen der Bäume auf der anderen Straßenseite. Und der angenehmen Spätmorgensonne. Ja, Bob hätte das Fenster geöffnet.

Was sollte Heldenverehrung, wenn man sein Idol so falsch einschätzte? Hatte der Junge keine Ahnung? Hatte er das Handtuch geschenkt bekommen? Das waren die Fragen, die er sich stellte, als der Junge endlich etwas sagte. »Bin gefallen, Mr. Yakabuski. Vom Dach. Wie oft soll ich das noch sagen?«

Yakabuski wandte den Blick vom Fenster ab.

»Du bleibst bei der Geschichte? Obwohl ich dir gerade den Bericht gezeigt habe?«

»Ich war auf LSD. Bin aufs Dach geklettert. Dachte, ich kann fliegen. So war das.«

Vor fünf Wochen hatte der Junge vor dem Haus auf der Straße gelegen, so schlimm zusammengeschlagen, dass ein Arm und ein Bein immer noch eingegipst waren und er laut dem behandelnden Arzt, mit dem Yakabuski am frühen Morgen gesprochen hatte, auf dem linken Auge vermutlich fast die gesamte Sehkraft eingebüßt hatte. Der Junge schuldete den Popeyes, einer Motorradgang, sehr viel Geld. Das hatten mehrere Quellen bestätigt.

Bei der Befragung im Krankenhaus hatte er allerdings behauptet, er sei auf LSD gewesen und wäre vom Dach des Hauses gesprungen. Am Vortag war er entlassen worden, und Yakabuski, Senior Detective der Springfield Regional Police Force, hatte ihn mit der Krankenakte besucht, um ihm zu zeigen, wie unglaubwürdig seine Geschichte war.

Nachdem er dem Jungen die Röntgenbilder vorgelegt hatte, hatte er gesagt: »Vielleicht holt man sich solche Verletzungen beim Sturz von einem Dach, wie du behauptest. Nur müsste man dafür drei- oder viermal wieder raufklettern und runterspringen.«

Seitdem wartete er auf eine Antwort. Der Junge hatte ungewaschene blonde Haare, traurige blaue Augen und an den Unterarmen verschorfte Stellen, aus denen es leicht blutete, winzige Tröpfchen, die er, manchmal ohne hinzugucken, wegwischte. Er war neunzehn und hieß Jimmy O’Driscoll.

»Sofern du keine Erbschaft gemacht hast, als du im Krankenhaus lagst, begehst du gerade einen Riesenfehler«, sagte Yakabuski. »Das Problem, wegen dem du zusammengeschlagen wurdest, hat sich nämlich nicht in Luft aufgelöst.«

»Keine Ahnung, wovon Sie reden.«

»Wie viel schuldest du denen?«

»Keinen blassen Schimmer, wovon Sie reden.«

»Du bist nicht vorbestraft, Jimmy. Du bist schwer methabhängig. Das sieht jeder. Erzähl mir, was wirklich passiert ist, dann können wir dich beschützen. Dafür sorgen, dass du Hilfe bekommst.«

»Sie können mich schützen? Vor den Popeyes?«

Yakabuski schaute den Jungen traurig an. Nicht frustriert. Oder enttäuscht. Nur traurig. Zu oft hatte er miterlebt, wie Menschen aus Verzweiflung dumme Entscheidungen trafen. Jimmy O’Driscoll war wie ein Zug, der kurz davor war, zu entgleisen.

»In dieser Welt gibt es für nichts eine Garantie. Da hast du vollkommen recht, Jimmy. Aber glaubst du nicht, ein bisschen Schutz ist besser als gar keiner?«

Der Junge sagte nichts. Yakabuski sagte nichts. Beide warteten ab.

Doch dem Cop war bald klar, wie es ausgehen würde. Schweißtropfen liefen dem Jungen über die Stirn, dann streckte er den Rücken durch, der Schweiß versiegte, und er verzog den Mund zu einem höhnischen Grinsen. Er würde einen auf hart machen. Ab jetzt würde er nur noch schauspielern. Nichts wäre mehr echt.

Vielleicht hatte sich der Junge – in der kurzen Zeit, in der verzweifelte Menschen an ein Wunder zu glauben beginnen – erfolgreich eingeredet, die Popeyes würden ihn belohnen, weil er loyal geblieben war und sie nicht angezeigt hatte, obwohl sie ihn für den Rest seines Lebens entstellt hatten. Oder dass sie ihm wenigstens noch etwas Zeit geben würden, um die Schulden zurückzuzahlen. Yakabuski schob die Röntgenbilder zusammen.

»Im Bericht muss ich Gründe für den Unfall angeben«, sagte er.

»Gründe?«

»Gründe, wieso du vom Dach eines dreistöckigen Hauses gefallen bist und dich dabei so schwer verletzt hast. Irgendwas muss ich da reinschreiben, Jimmy.«

Der Junge überlegte. Kratzte sich die Arme. Überlegte noch einen Augenblick. Dann: »Das war richtig geiles LSD.«

Yakabuski schrieb es hin. Er wollte ein letztes Mal nachhaken, als auf seinem Handy eine Nachricht aus dem Revier eintraf. Es war der diensthabende Sergeant, Yakabuski sollte umgehend zum Filion’s Field kommen.

3

Springfield wurde an den südlichen Ausläufern des borealen Nadelwalds erbaut, am Zusammenfluss dreier Ströme, und das Nordufer des größten, des Springfield River, galt immer als Stadtrand. In dem dort gelegenen Viertel North Shore fand man das, was alle Städte aus ihrem Zentrum verbannen: billige Kneipen und noch billigere Unterkünfte, Schrottplätze und Autoschrauber, Säufer und Straßenhändler, Diebe und Junkies. Französische Arbeiter aus den Sägewerken und Holzfäller aus der Métis Nation waren die Ersten, die sich in North Shore niederließen, Anfang des 19. Jahrhunderts war das, in der Hochphase der Holzgewinnung im Springfield Valley. Es folgten Angehörige der Cree und Algonquin, weitere Métis, die dann allesamt von den großen Firmen vertrieben wurden, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts in die Gegend kamen und die Wasserkraft der Ströme für ihre Papiermühlen, Sägewerke und Streichholzfabriken brauchten.

1930 hatte die schäbige Vorstadt in North Shore fast die Größe der am anderen Ufer gegründeten Stadt Springfield erreicht. Jeden Abend hörten die Menschen in Springfield die Klänge der Fiedeln und Waschbretter, die von der anderen Flussseite herüberwehten, das Geschrei der Kesselflicker, Schamanen und Schwarzbrenner, das Gegröle der Betrunkenen, die aus den unzähligen Kneipen und Tavernen wankten. Jeden Morgen schauten sie zur anderen Flussseite und sahen die offenen Feuer, den vom Wasser träge aufsteigenden Nebel, der sich um die Schuppen aus Zedernholz und die grob gezimmerten Blockhütten schlängelte, den dichten Dunst, aus dem die Voyageurs mit ihren leuchtend roten Schärpen heraustraten; wilde Waldmenschen mit langen Haaren und ledernen Stulpen; schwarz gewandete Pfarrer, dünn wie Leprakranke; Jungs mit Schiebermützen und bunten Hosenträgern; aus Springfield herübergeschiffte Temperenzlerinnen in schweren Kleidern und mit Sonnenschirmen – alle spazierten herum und drängelten sich durch den Qualm und den Nebel, der sich in North Shore anscheinend nie verzog.

Um eine Brücke zu errichten, hatte Springfield die Vorstadt 1936 dem Erdboden gleichgemacht. Weil keiner aus North Shore eine Urkunde für ein Stück Land besaß, tauchten die städtischen Arbeiter eines Morgens im August in drei, mit Bulldozern und Zementmischern beladenen Frachtkähnen am anderen Flussufer auf. Ihnen folgte ein weiterer Kahn mit den Sheriffs aus den Countys Springfield, Perth und Buckham. Als sie anlegten, streifte die Sonne eben erst die Wipfel der Bäume, der Nebel hing schwer über dem Fluss und in den Kochstellen brannte noch kein Feuer.

Der Sheriff von Springfield County marschierte zum Zentrum der Siedlung und schoss einmal in die Luft. In der morgendlichen Stille gab es nur einen hohlen Knall, der kein Echo warf. Trotzdem hatte er die Leute aus ihren Betten gescheucht und die Männer geweckt, die vor dem Les Filles du Roi auf dem Knüppeldamm schliefen. Als sich genügend Menschen um den Sheriff versammelt hatten, erklärte er, sie hätten North Shore bis zum Mittag zu räumen.

Als die Männer protestierten, legte der letzte Kahn an, und irische Schläger aus Springfield sprangen von Bord. Es waren Mitglieder einer Straßenbande, bekannt als Shiner. Während die Sheriffs die Menschenmenge mit ihren Gewehren in Schach hielten, stürmten die Shiner in die Häuser, warfen das Hab und Gut auf die morastigen Straßen, steckten alles Wertvolle in die eigenen Taschen und setzten die leeren Häuser in Brand. Jeder, der gegen die Plünderer angehen wollte, wurde zusammengeschlagen.

Einige Kinder aus North Shore wurden nach Springfield gebracht, wo Priester der Gemeinde St. Bridget und gottesfürchtige Anhängerinnen der Abstinenzbewegung sie in Empfang nahmen. In North Shore sammelten die Menschen die Überbleibsel ihres Besitzes zusammen und marschierten davon. Einige gingen fort und wurden nie wieder gesehen. Doch die meisten hatten in Springfield zu tun – sei es, dass sie dort arbeiteten, kriminell aktiv waren oder gern einen trinken gingen – und zogen am Ufer lediglich ein Stück weiter und bauten eine neue Siedlung.

Dreißig Jahre später machte die Stadt auch diese dem Erdboden gleich. Nun sollte keine Brücke gebaut werden, sondern eine Sozialsiedlung für die vielen verlorenen Seelen. Mitte der 1960er Jahre war das, als der Idealismus Amok lief, und bevor irgendwer die Stadtverwaltung von Springfield stoppen oder die Leute in North Shore nach ihrer Meinung fragen konnte, waren bereits acht Hochhäuser mit insgesamt siebentausend Wohnungen errichtet worden, dazu zweihundert Reihenhäuser, die die Hochhäuser miteinander verbanden, als wären sie Schmuckanhänger an einem Armband. Doch ein Schmuckstück war North Shore, solange Yakabuski zurückdenken konnte, nie gewesen.

• • •

Yakabuski überquerte die North Shore Bridge und bog rechts in eine schmale Straße ein, die am Steilufer entlangführte. Als sie abrupt an einem öffentlichen Parkplatz endete, fuhr er über die LaPierre Street auf den Tache Boulevard. Das war die Hauptgeschäftsstraße von North Shore: dreizehn Blocks mit Kneipen, Lebensmittelläden, Nagelstudios und Ein-Dollar-Stores, die wegen der Hochhäuser auf der anderen Straßenseite den ganzen Tag über im Schatten lagen.

Die Hochhäuser waren mit Buchstaben gekennzeichnet und sahen bis auf die Graffitis identisch aus. Yakabuski nahm den Weg zwischen den Häusern G und H und sah den Streifenwagen auf dem Parkplatz. Hundert Meter vom Fahrzeug entfernt stand eine junge Polizistin. Sie hielt ihre Mütze in der Hand und blickte starr auf den östlichen Zaun des Filion’s Field.

Yakabuski drosselte das Tempo seines Jeeps, lehnte sich über das Lenkrad und schaute hoch zu den oberen Fenstern der Häuser G und H. Dann fuhr er über den Gehweg, überquerte das Fußballfeld und ließ den Streifenwagen hinter sich. Am Zaun angekommen, parkte er parallel zu den Häusern, sodass die Fahrertür von den Gebäuden weg zeigte. Er stieg langsam aus, blickte noch einmal zu den oberen Fenstern und gab der Streifenpolizistin ein Zeichen, zu ihm zu kommen.

Als sie den Jeep erreicht hatte, fragte er: »Wie lange haben Sie dort gestanden?«

»Zwanzig Minuten.«

»Die ganze Zeit an derselben Stelle?«

»Ich habe mich nicht vom Tatort entfernt, Detective Yakabuski.«

Sie kannte ihn. Das überraschte Yakabuski nicht. Seit vierzehn Jahren war er nun schon bei der Springfield Regional Police, zuerst hatte er der Task Force der Royal Canadian Mounted Police und der Sûreté du Québec angehört und während der Biker-Kriege dann undercover ermittelt. Damals hatte er sich die Freundschaft von Papa Paquette, dem Chef der Motorradgang der Popeyes, erschlichen und den Biker später mit seiner Aussage für zwanzig Jahre ins Bundesgefängnis in Dorset gebracht. Seitdem kannte ihn in Springfield jeder.

Im vorletzten Winter war er in den Norden, in die weit abgelegene Siedlung Ragged Lake geschickt worden, um im Fall einer ermordeten Squatter-Familie zu ermitteln. Dort hatte er ein geheimes Meth-Labor entdeckt, das von den Popeyes und Shinern gemeinsam betrieben wurde. Was in den drei Tagen nach der Entdeckung geschehen war, hatte von den Medien den Namen Die Schlacht von Ragged Lake verpasst bekommen. Ein Journalist aus Springfield hatte unter diesem Titel ein Buch veröffentlicht, das angeblich bald verfilmt werden sollte. Inzwischen konnte Yakabuski in Springfield nirgendwo mehr hingehen, ohne sofort erkannt zu werden. Er lehnte sich gegen seinen Jeep, schaute zum Zaun und fragte: »Wo kommen Sie her, Constable?«

Donna Griffin wirkte perplex. »Wo ich herkomme?«

Yakabuski schaute immer noch zum Zaun. Er blickte in die Sonne, drehte den Kopf nach rechts und weit nach links. Er schirmte die Augen ab, trat näher an den Zaun heran. Und wieder zurück.

Am Zaun hing die Leiche eines Mannes. Ein großer, schwerer Mann in einem teuren dreiteiligen Anzug. Seine Beine waren zusammengebunden, die Arme ausgebreitet, der Kopf hing herunter, das Gesicht sah man nicht.

»Was glauben Sie, ist mit seinem Kopf passiert?«, fragte er.

»Jemand hat ihm ins Gesicht getreten«, erwiderte Griffin.

»So, wie Sie stehen, können Sie das nicht sehen. Da gebe ich Ihnen recht.«

»Detective Yakabuski, bitte sagen Sie mir einfach, was ich falsch gemacht habe.«

»Sie haben mir immer noch nicht gesagt, wo Sie herkommen.«

Wieder schaute Griffin ihn perplex an. Sie konnte dem bulligen Cop mit dem polnischen Namen nicht folgen. Er wechselte zu oft die Richtung. Verunsicherte sie. Bevor sie etwas erwidern konnte, sagte Yakabuski: »Dass Sie nicht von hier sind, haben mir verschiedene Dinge verraten. Punkt eins: Sie sind in der Sozialsiedlung in North Shore aus Ihrem Streifenwagen ausgestiegen und stehen mit dem Rücken zu den beiden Hochhäusern da hinten. Wie lange, sagten Sie? Zwanzig Minuten? In den Häusern wohnen Leute, die das als Einladung zum Abschuss verstehen könnten, Constable.«

»Detective Yakabuski, ich bin mir der Gefahren in North Shore durchaus bewusst. Deshalb bin ich …«

»Punkt zwei: Sie stehen seit zwanzig Minuten vor niemand Geringerem als Augustus Morrissey, der aus irgendeinem Grund an diesen Zaun gekettet wurde.«

Die junge Frau wurde blass. Sie schaute zum Toten. »Sind Sie sicher?«

»Absolut. Und wollen Sie das Schlimmste wissen?«

»Okay, jetzt weiß ich, dass Sie sich über mich lustig machen. Was könnte noch schlimmer sein?«

»Noch schlimmer ist, dass man Augustus nicht ins Gesicht getreten hat. Man hat ihm die Augen rausgeschnitten.«

4

Der Grenzbeamte sah das Fahrzeug kurz nach zehn Uhr. Es war das sechste in Spur vier. Ein Falcon Campervan mit texanischem Kennzeichen und Touri-Aufklebern auf der Heckscheibe. Alle Fenster waren getönt, eine Seltenheit bei Wohnmobilen.

Der Grenzer ging zu Spur vier und klopfte an das Fenster des Kontrollhäuschens. »Thomas, du musst mir einen Gefallen tun«, sagte er, nachdem der Kollege die Scheibe aufgezogen hatte.

Der Mann im Häuschen kam aus Arizona. Er war jung, hatte durchtrainierte Arme und an beiden Handgelenken Stacheldraht-Tattoos. Er antwortete nicht sofort.

»Tauschst du mit mir die Spur?«, fragte der Erste. »In deiner steht ein Wagen, den ich mir gerne vornehmen würde.«

Der mit den aufgepumpten Armen grinste. »Der Miata?«

»Ja. Ich habe mir die Kleine schon öfter vorgenommen.«

Vor dem Falcon Campervan stand ein kobaltblauer Mazda Miata, an dessen Steuer eine Mittzwanzigerin in tief ausgeschnittener Bluse und weißen Shorts saß. Sie hatte ein Modelgesicht und lange, blonde Haare, die so im Wind wehten, wie man es von langen, blonden Haaren erwartet.

»Ich drück die Daumen, dass du das vergeigst.« Der zweite Grenzer verließ sein Kontrollhäuschen. »Wenn eine Braut wie die mit dir fertig ist, kriechst du vor deiner Frau im Staub und bettelst, dass sie dich zurücknimmt.«

Beide lachten. Sie konnten sich nicht ausstehen. Der Mann aus Arizona fand es ungerecht, dass am texanischen Grenzübergang in Brownsville so viele Leute mit mexikanischem Hintergrund arbeiteten. Der Mann mit mexikanischem Hintergrund hielt den anderen für dumm und primitiv und seine Tattoos für grottenschlecht. Aber die Frau im Mazda war eine Schönheit, deshalb spielte der Mann aus Arizona mit. Ganz gleich, was passieren würde, unterhaltsam wäre es in jedem Fall.

• • •

Als der Mazda an das Kontrollhäuschen heranfuhr, erledigte der Grenzer seine Aufgabe gewissenhaft und gründlich, so wie es in der E-Mail vom Vortag gestanden hatte. Geschickt hatte sie ein Onkel aus Mexiko-Stadt, den er zwar noch nie gesehen hatte, der seinen Neffen aber trotzdem so sehr liebte, dass er ihm jeden Monat Geld überwies. Er jagte die Nummern von Führerschein, Pass und Autozulassung durch alle möglichen Datenbanken. Weil er sich bei der Frau so viel Zeit ließ, schauten die anderen Grenzer schon grinsend zu Spur vier hin. Als er der Frau dann auch noch ein Zeichen gab, seitlich heranzufahren, damit er ihr Fahrzeug einer genauen Kontrolle unterziehen konnte, fingen zwei seiner Kollegen sogar an zu lachen. Alle sahen zu, wie die Frau den Miata auf die Extraspur lenkte, und warteten darauf, dass sie aus dem Auto stieg. Schließlich hatten sie noch nicht alles von ihr gesehen.

Der Campervan fuhr an das Kontrollhäuschen heran, der Grenzer nahm den Pass durch das geöffnete Fenster entgegen. Er blickte runter auf seine Füße. Blätterte vor zur Seite zehn und drückte den Einreisestempel darauf, ohne die Hände auch nur in die Nähe des Computers zu bringen. Er gab den Pass zurück und ließ die Schranke per Knopfdruck hoch. Der Campervan fuhr weiter auf eine der vier Spuren, die sich zu zweien verengten, und fädelte im Reißverschlussverfahren in den Verkehr aus Autos, Motorrädern, Lieferwagen, Trucks und Wohnmobilen ein, die soeben die Grenze der Vereinigten Staaten passiert hatten.

• • •

Der Fahrer des Falcon stellte den Tempomat auf neunzig Stundenkilometer und ließ das Fenster herunter. Atmete die Luft des neuen Lands tief ein. Salz, Garnelen und Benzin, über offenem Feuer gekochtes Rindfleisch, der Kot von einer Million Möwen, Kiefernnadeln – jeden Geruch nahm er einzeln wahr. Ordnete ihn zu. Bisher war kein unbekannter darunter.

Auf dem Küsten-Highway fuhr er Richtung Norden, rechts von ihm der Golf von Mexiko, gesprenkelt mit gigantischen Bohrinseln und kleineren Türmen, zwischen denen Segelschiffe wie weiße Motten dahinschossen, angezogen nicht vom Licht, sondern vom Geruch der jahrtausendealten, längst zersetzten Kothaufen und Kadaver. Die Sonne stand hoch am Himmel, Hitze simmerte auf der Straße, türmte sich zu Schichten auf, die wie ein Schwarm silbriger Fische über den Asphalt huschten. Aus den Sonnenstrahlen tauchten Straßenschilder auf wie Halluzinationen.

Weil er Benzin brauchte, suchte er eine Texaco-Tankstelle auf und trank in der Raststätte noch eine Tasse Kaffee. Nachdem ausreichend Zeit verstrichen war, fuhr er wieder auf die Interstate. Dreißig Kilometer südlich von Corpus Christi hielt er Ausschau nach der Abzweigung. Er fand sie, ließ das Meer hinter sich und bog auf eine Nebenstraße ein, die sich bald in eine Schotterpiste verwandelte und an scheinbar endlosen Zuckerrübenfeldern vorbeiführte. Vor dem als Lagerhaus genutzten, ehemaligen Farmhaus, das er gesucht hatte, wuchsen die Rüben fast bis zur Tür. Die schmale Piste endete hinter dem Haus.

Der Miata stand bereits dort, und er stellte den Falcon daneben ab. Vergewisserte sich, dass über dem Zuckerrübenfeld keine Staubwolken zu sehen waren. Dass sich kein Fahrzeug und auch sonst nichts näherte. Minutenlang blieb er im Campervan sitzen und blickte auf das Zuckerrübenfeld. Dann steckte er einen Schraubenzieher in seine Jackentasche und stieg aus. Beim Miata blieb er stehen, entfernte die Nummernschilder und legte sie auf die Motorhaube.

Er betrat das Farmhaus und sah, dass die Frau sich genau an die Anweisungen gehalten hatte. Eine gute Mitarbeiterin. Angeheuert hatte man sie in Heroica und zum teuersten Friseur der Stadt geschickt, damit er ihr die Haare blond färbte, weil die meisten amerikanischen Grenzpolizisten auf Blond nun mal besonders ansprangen. Jetzt war sie nackt. Halb verborgen im Schatten stand sie inmitten der durch die Luft wirbelnden Staubkörnchen, während das durch die Ritzen der Holzwand fallende Sonnenlicht ein Streifenmuster auf ihre Haut zeichnete. Der Fahrer schaute die Frau an und fragte sich einen Moment lang, ob er das Muster schon einmal gesehen hatte und ob es ein Omen für seine Reise sein konnte.

Ihm fiel nichts ein. Die Frau, die wohl glaubte, er würde sich am Anblick ihres nackten Körpers erfreuen, hob die Arme über den Kopf, wodurch ihre Brüste nach oben und ihr Becken nach vorn geschoben wurden. Sie strich sich mit beiden Händen durch die langen Haare, als der Mann die Pistole aus seinem Hosenbund zog und schoss.

Die Kugel trat über ihrer Nasenwurzel in die Stirn ein. Ein perfekter Schuss. Allerdings war der Fahrer auch ein geübter Schütze, und die Frau hätte keine bessere Zielscheibe abgeben können.

Er ging zu ihr hinüber, bückte sich und legte zwei Finger der linken Hand auf ihre rechte Halsschlagader. Wartete ein paar Sekunden und zog die Hand wieder weg.

Sie hatte einen schönen Körper. Und diesen freiwillig angeboten. Dass ein Mann ein solches Geschenk ablehnen würde, damit hatte sie nicht gerechnet. Und auch keinen Verdacht geschöpft. Deshalb hatte er sie leicht töten können, wie man offenbar jeden schönen Menschen leicht töten konnte. Einen Augenblick lang betrachtete er ihren Körper, dann ging er zurück zum Camper und sackte auf dem Weg die abgeschraubten Nummernschilder ein.

Er fuhr bis kurz vor Sonnenuntergang und hielt dann südlich von Houston auf einem Rastplatz. In dem Haus mit der Herrentoilette hingen mehrere Münztelefone in einer Reihe. Die Nummer kannte er auswendig. In seiner Tasche befanden sich bereits amerikanische Geldstücke. Das Telefon klingelte einmal, dann wurde abgenommen.

»Bist du unterwegs?«

»Ja.«

»Sechs Tage?«

»Ja.«

»Wir treffen uns, sobald du da bist.«

Mehr wurde nicht gesagt. Der Fahrer legte auf, zog weitere Münzen aus der Tasche, wählte wieder eine Nummer und führte das gleiche Gespräch mit einem anderen Mann. Danach verließ er das Gebäude. Die Abendluft war kühl, am Himmel waren keine Sterne zu sehen, nur das tief hängende Schimmern der künstlichen Lichter aus Houston. Nun war er vollständig verschwunden. In diesem Moment wusste keine Menschenseele auf dem Planeten, wo er sich aufhielt. Sein Reiseziel kannten nur zwei Männer. Einen hatte er soeben angelogen. Welchen, wusste er noch nicht. Die Antwort würde ihm auf der Fahrt einfallen.

5

Augustus Morrissey wog knapp hundertvierzig Kilo, und seine Leiche hing an der oberen Querstange des dreieinhalb Meter hohen Zauns. Deshalb musste er mit dem Teleskopmast eines Feuerwehrwagens heruntergeholt werden, eine Prozedur, die sich – vom Anruf bei der Feuerwehr bis zum Ablegen des Toten auf dem Boden – über zwei Stunden hinzog. In der Zeit hatten sich bereits gut fünfzig Polizisten, Ärzte und Sanitäter auf dem Fußballfeld versammelt. Nicht alle waren im Einsatz. Einige der Polizisten hatten an dem Tag nicht einmal Dienst.

Der König der Shiner. So hatte Augustus Morrissey sich selbst bezeichnet, und niemand hatte ihm widersprochen. Aus Angst. Aus der Gewissheit heraus, dass es stimmte. Die Shiner waren eine Verbrecherbande, so alt wie Springfield selbst. Als irische Tagelöhner waren sie in die Region der Northern Divide gekommen, hatten Dämme und Talsperren errichtet und waren dort hängen geblieben, weil die Firma, die sie angeheuert hatte, nicht für ihre Heimreise aufkommen wollte. Jahrelang hatten die Iren vor sich hin vegetiert, bis ein gewisser Peter Aylin die Bande gegründet hatte, die die Stadt mehr als ein Jahrzehnt lang terrorisieren sollte. 1847 wurde die Springfield Regional Police Force einzig zu dem Zweck gegründet, Aylin gefangen zu nehmen und vor Gericht zu stellen.

Augustus Morrissey war vierzig Jahre lang Anführer der Shiner gewesen. Der Mann war ein Hüne, der immer dreiteilige Anzüge trug und einen Gehstock mit diamantenbesetztem Knauf benutzte, den er hatte anfertigen lassen, nachdem er gelesen hatte, dass der früher in Springfield ansässige Holzbaron J.R. Bath einen ähnlichen Stock besessen hatte. Wie man munkelte, waren etliche Menschen mit Baths Stock zu Tode geprügelt worden. In Springfield war die Geschichte so bekannt, dass die meisten bei ihrer ersten Begegnung mit Morrissey lieber auf Abstand gingen. Und zurückwichen, nachdem sie ihm die Hand geschüttelt hatten.

Yakabuski hatte Morrissey einmal befragt, weil ein Mann hinter dem Silver Dollar, dem Nachtclub der Shiner in Cork’s Town, totgeschlagen worden war. Yakabuski maß ein Meter dreiundneunzig und brachte einhundertfünfzehn Kilo auf die Waage, und es war in seiner Polizeikarriere nicht oft vorgekommen, dass er im Vernehmungsraum einem größeren Mann gegenübergesessen hatte. An dem Tag hatte Morrissey einen Wollanzug mit Hahnentrittmuster getragen und darin ausgesehen wie ein zum Leben erwachtes viktorianisches Sofa. Während der Vernehmung hatte er fast die ganze Zeit über gegrinst.

Ja, am fraglichen Abend sei er im Silver Dollar gewesen. Nein, das bedauernswerte Opfer des bedauerlichen Totschlags habe er nicht gesehen. Ja, gekannt habe er das Opfer. Aber nicht sonderlich gut. Billy Garrett habe früher als Barmann im Silver Dollar gearbeitet. Und er habe hier und da was für ihn erledigt. Einmal habe er den Bootssteg hinter dem Silver Dollar repariert, wo Morrissey sein Schiff liegen hatte. Billy habe er seit Jahren nicht gesehen. Dass ihm so etwas zugestoßen sei, überrasche ihn sehr.

»Es überrascht Sie?«, fragte Yakabuski, und Morrissey lächelte heiter.

»Ja, sehr.«

»Sie haben Bill Garrett seit Jahren nicht gesehen, und dann liegt seine Leiche hinter Ihrem Club. Haben Sie dafür eine Erklärung?«

Morrissey hatte weiter gegrinst, mit den Schultern gezuckt und nach kurzem Überlegen gesagt: »Vielleicht war im Fluss gerade Ebbe und er wäre sonst woanders angespült worden?«

Yakabuski schaute zu, während Morrisseys entstellter Leichnam vom Zaun geholt wurde, und dachte an das arrogante Verhalten des Mannes. Davon war nichts übrig geblieben. Nichts war mehr übrig von Augustus Morrissey, dem »König der Shiner«. Yakabuski war vierzehn Jahre bei der Armee gewesen, Soldat in einer leichten Infanterieeinheit, die mehrmals nach Bosnien abkommandiert worden war. Dort war er in Dörfer marschiert, in denen Leichen auf den Straßen verwesten und von wilden Hunden angefressen wurden. Als Undercover-Polizist war er Augenzeuge des Lennoxville Massacre gewesen, bei dem sieben Biker in einem abgelegenen Farmhaus ermordet und in einem Hinterzimmer wie Feuerholz gestapelt worden waren, bis man sie mit Gewichten beschwert in einem See versenkt hatte. Wie er glaubte, würde es auf der Welt weit weniger arrogantes Gehabe geben, wenn mehr mitbekämen, wie es mit einigen ihrer Mitmenschen zu Ende ging. Generell würden sich die Leute dann sehr viel besser benehmen.

Der Chefforensiker Fraser Newton, ein Cop alter Schule, begann mit der Untersuchung von Morrisseys Leiche, und Yakabuski ging zu ihm, um sich den Toten genauer anzusehen.

»Du warst als Erster am Tatort, richtig, Yak?«, fragte Newton, ohne die Arbeit zu unterbrechen.

»Eine Streifenpolizistin hat es gemeldet. Danach war ich als Erster hier.«

»Sonst war niemand hier?«

»Nur die Streifenpolizistin.«

»Hast du gesehen, wie viele Leute wir zurückdrängen müssen?«

Yakabuski blickte zum gelben Absperrband, das die Kollegen um den gesamten Fußballplatz gezogen hatten. Bis auf die Polizisten und Sanitäter stand niemand dahinter.

»Wann warst du das letzte Mal an einem Außentatort mit Leichenfund, ohne dass ein einziger Gaffer da gewesen wäre?«

»Bin mir nicht sicher, ob das überhaupt schon mal vorgekommen ist.«

»Du rechnest hoffentlich nicht damit, dass bei der Befragung der Leute aus den Hochhäusern irgendwas rauskommt.«

»Sicher nicht. Alles hängt von dir ab, Newt. Also, was wissen wir?«

»Jemand hat ihm die Augen rausgeschnitten. Hätte nicht gedacht, dass die solche Scheiße heute noch abziehen. Was denkst du, wie haben die den Toten da rauf gekriegt?«

Während er darauf gewartet hatte, dass die Leiche vom Zaun geholt wurde, hatte Yakabuski den Fußballplatz nach Blutflecken, Reifenspuren und anderen Indizien abgesucht. Er war einmal um den Zaun herumgegangen und zeigte nun zur anderen Seite, wo mehrere Bäume neben einer schmalen Straße standen.

»Dahinten habe ich frische Reifenspuren gesehen. Hätte praktisch jeder Jeep mit Seilwinde geschafft, vorausgesetzt, das Seil ist lang genug. Man wirft es einfach über den Zaun und zieht ihn hoch.«

»Und wie bindet man ihn da oben fest?«

»Newt, das ist ein Maschendrahtzaun. Du kletterst rauf und fertig.«

»Tja, der Tote weist mehrere Stichverletzungen auf. Dazu etliche Traumata durch stumpfe Gewalteinwirkung. Todesursache dürfte eine der Stichverletzungen sein. Hier auf dem Platz wurde er nicht ermordet. Auf dem Boden ist nicht genug Blut.«

Auf einer Leiter in der Nähe stand ein Cop und machte Fotos von der Stelle, wo Morrissey am Zaun gehangen hatte. Yakabuski sah, dass Blut aus Morrisseys Gesicht an den Rändern seines Mantels heruntergelaufen war und auf dem Drahtnetz einen Schattenriss der Leiche hinterlassen hatte. Auf Fotos hatte er Ähnliches schon mal gesehen. Schattenrisse von Menschen, die an einem heißen Augustmorgen im Jahr 1945 in Hiroshima gelebt hatten. Auf dem Boden befand sich, wie der Inspector gesagt hatte, jedoch kaum Blut.

»Was schätzt du, wann ist der Tod eingetreten?«

»Gegen Mitternacht. Die Leichenstarre ist noch nicht voll ausgeprägt. An den Zaun haben die ihn vermutlich gegen drei oder vier Uhr morgens gehängt. Wer sagt es Sean?«

»Ich.«

»Hältst du das für eine gute Idee? Wenn er dich sieht, dreht er wahrscheinlich durch.«

»Mein Fall. Also muss ich hin.«

»Du kannst jemand anderes schicken.«

»Will ich aber nicht.« Yakabuski warf einen letzten Blick auf Augustus Morrissey, der inzwischen auf einer Bahre lag. Er war so schwer, dass die Bahre auf die niedrigste Stufe gestellt worden war, trotzdem bog sich das Polster durch, und man hatte den Eindruck, das Gestell könnte jederzeit zusammenbrechen.

»Du willst sehen, wie er reagiert, oder?«

»Könnte sich lohnen.«

»Bei dem kleinen Experiment wäre ich lieber nicht dabei.« Newton richtete sich auf und winkte einem Kollegen, damit er mit der eigentlichen Untersuchung der Leiche beginnen konnte. »Stimmt es, dass uns niemand alarmiert hat?«

»Jep.«

»Da hängt auf einem Fußballplatz für Kinder ein Toter an einem Zaun, und niemand ruft uns? Die Leute in den Häusern sind echt das Allerletzte.« Er spuckte auf den Boden und ging weg.

6

Es war die zweite Dezemberwoche, doch Springfield wartete noch immer auf den Wintereinbruch. In einem gewöhnlichen Jahr wäre er schon vor Wochen mit einem Sturm in die Stadt eingezogen. Gleich der erste Schnee wäre liegen geblieben, und damit hätte es sich gehabt. Noch Tage später hätten die städtischen Schneepflüge die mit gefrorenen roten Sumach-Blättern gespickten weißen Massen von den Straßen geschippt. Doch hin und wieder gab es ein Jahr, in dem der Schnee sich verzögerte, weil der Wind an einem Gebirgskamm fest hing. Dann kam es zu einer solchen verkehrten Jahreszeit.

Wie alle Einwohner der Stadt suchte auch Yakabuski nach Anzeichen für einen Wetterumschwung. Auf dem Weg nach Cork’s Town drosselte er auf dem Scheitel der North Shore Bridge das Tempo und schaute stromabwärts und stromaufwärts. Zu beiden Seiten keine Wolken. Der Himmel hatte seit Wochen die Farbe von ausgeblichenen Jeans. Wieder war es ein sonniger, windstiller Tag, und die Temperatur lag zwanzig Grad über dem Durchschnittswert für Dezember. Die Springfield Sun hatte sich täglich etwas Neues einfallen lassen, um ihre Leser auf die ungewöhnliche Situation hinzuweisen. Auf Seite eins waren schon Kinder beim Baden an einem Strand und Leute beim Surfen in der Buckham’s Bay abgebildet worden. Ein Fernsehsender hatte berichtet, wie Arbeiter im O’Hearn-Sägewerk sich gegen eine morgendliche Mückenattacke wehrten. Da die letzte Wetterstory nun schon ein paar Tage zurücklag, hatte Yakabuski den Verdacht, dass den Reportern langsam die Ideen ausgingen. Wie alle Einwohner von Springfield befanden sie sich in einer Warteschleife, bis das atypische Wetter vorbei wäre und die echte Welt zurückkehrte.

• • •

Die Shiner betrieben seit 1837 an der Kreuzung Belfast Street und Cork’s Town Road eine Kneipe. 1847 hatte die neu gegründete Springfield Regional Police den Laden bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Während der Conscription Riots im Jahr 1917, als die Bevölkerung gegen die Einberufung demonstrierte, brannte der Laden erneut ab. Bei der Eröffnung hieß er Mother McGuire’s, später Shamrock Hotel und seit 1944 Silver Dollar, und für viele Springfielder war der Nachtclub inzwischen eine Institution wie das Grainger Opera House oder das im Georgianischen Stil erbaute Rathaus.

Der Springfield River floss hinter dem Silver Dollar entlang, rechts davon lag eine Brache, die ein Toronter Bauunternehmer vor vielen Jahren gekauft hatte, um dort Eigentumswohnungen mit Blick auf den Fluss zu errichten. Doch dann war Augustus Morrissey eines Tages bei ihm im Büro aufgetaucht und hatte gesagt, falls er ein solches Haus jemals bauen würde, würde er bei der Eröffnung aus einem Fenster im obersten Stock fliegen.

Rechts neben dem Club befand sich das Blue Bird, ein Diner, der vor allem von den Bewohnern des von der Gemeinde St. Bridget betriebenen Altenheims besucht wurde. Der Diner schloss um 16 Uhr, und Augustus hatte mit dem Betreiber schon vor Jahren vereinbart, seine Tänzerinnen erst danach auf die Bühne zu schicken, damit sich ihre Kundschaft nicht in die Quere kam. Der Eigentümer wusste das Entgegenkommen zu schätzen und beschwerte sich nie über das, was im Silver Dollar vor sich ging. Morrissey hatte nichts dagegen, der Kirchengemeinde hin und wieder unter die Arme zu greifen, und glaubte ohnehin nicht, dass Mädchen, die tagsüber tanzen wollten, ihr Geld wert waren.

Von der Sozialsiedlung in North Shore bis Cork’s Town waren es mit dem Auto fünfzehn Minuten, und als Yakabuski ankam, war die Belfast Street voller Menschen – sie strömten in und aus den Kneipen, standen an Straßenecken und redeten wild gestikulierend miteinander oder überquerten, ohne sich umzuschauen, die Straße, als sei sie für den Verkehr gesperrt. An einem Montagnachmittag herrschte reger Samstagabendbetrieb. Es hatte sich also bereits herumgesprochen: Augustus Morrissey war ermordet und in North Shore zur Schau gestellt worden. Yakabuski bog in die Gasse zwischen Silver Dollar und Blue Bird ein, parkte den Jeep und begab sich zum Vordereingang des Clubs.

• • •

Der Türsteher des Silver Dollar maß ein Meter neunzig und brachte fast hundertvierzig Kilo auf die Waage. Er hieß Eddie O’Malley und trug einen karierten Anzug, der an den Schultern spannte und an den Ärmeln fünf Zentimeter zu kurz war. Der Knoten seiner grünen Krawatte war so fest gebunden, dass man sich Sorgen um die Sauerstoffzufuhr in seinem Hirn machte. Seine Füße steckten in blank polierten, schwarzen Schuhen in der Größe von Wakeboards, und der Hut saß so weit oben auf seinem Kopf, dass er an eine Pudelmütze oder den Schornstein eines Reihenhauses in Cork’s Town erinnerte. O’Malley bewachte die Tür des Silver Dollar seit mehr als zehn Jahren.

»n’Abend, Eddie.«

»n’Abend, Mr. Yakabuski.«

»Ist Sean da?«

»Erwartet er Sie?«

»Denke schon.«

»Okay. Ich bringe Sie hin.«

Im Silver Dollar roch es wie in jedem Nachtclub in Cork’s Town: nach Bier, geschmolzenem Käse, Zigaretten, Haarspray, billigem Rasierwasser und Parfum. Auch die Geräusche waren die gleichen: klackernde Billardkugeln und klingelnde Glücksspielautomaten, das Gelächter von Männern, die nur selten lachten, das Gelächter von Frauen, die zu oft lachten. Was das Silver Dollar von anderen Läden unterschied, waren seine Geschichte und seine Größe, an die in Cork’s Town kein zweiter heranreichte. Yakabuski folgte dem massigen Rücken des Türstehers, vorbei an den zahlreichen runden Tischchen. Obwohl das Unterhaltungsprogramm erst abends begann, war das Lokal bis auf den letzten Platz besetzt, und die meisten Gäste schauten hoch, als die beiden Männer vorbeigingen. Einige lehnten sich zu ihren Sitznachbarn und tuschelten. Weiter hinten standen sogar einige auf und zeigten mit dem Finger auf die beiden.

O’Malley schaute über seine Schulter. »Mr. Yakabuski, wie ist Augustus nach North Shore gekommen? Das verstehe ich nicht.«

»Ich auch nicht, Eddie. Hast du hier in letzter Zeit mal Leute von dort gesehen?«

Statt einer Antwort schnaubte der Türsteher verächtlich. Eine im Grunde angemessene Reaktion auf die Frage. Sie waren im hinteren Bereich des Lokals angekommen und wandten sich nach links, wo ein mit Samtkordel abgesperrter Flur von einem Türsteher bewacht wurde. Eddie gab ein Zeichen, und der Mann trat zur Seite. Sie gingen weiter, vorbei an einem halben Dutzend Türen, und blieben vor der letzten auf der rechten Seite stehen. O’Malley wollte anklopfen, doch dann senkte er die Faust und schaute Yakabuski fragend an. »Wann haben Sie Sean das letzte Mal gesehen, Mr. Yakabuski?«

»Ist schon eine Weile her.«

»Nachdem das mit Tommy war?«

»Wieso? Was war denn mit Tommy?«

Der Türsteher machte ein komisches Gesicht. »Sie haben ihn erschossen, Mr. Yakabuski. Haben Sie das etwa vergessen?«

O’Malleys Gesichtsausdruck konnte einem leidtun: schmerzverzerrt, als müsse er seine gesamte Hirnmasse anstrengen, um zu begreifen, wie Frank Yakabuski vergessen haben konnte, dass er Sean Morrisseys Cousin und besten Freund, Tommy Bangles, in Ragged Lake erschossen hatte.

Sofort bereute Yakabuski seinen blöden Scherz. Er kam sich mickrig und gemein vor, gerade so, als hätte er ein Kind schikaniert oder einen schlüpfrigen Witz über eine Frau gemacht, die für einen Moment den Tisch verlassen hatte.

»Natürlich weiß ich noch, was mit Tommy war, Eddie. Ich wollte nur … ach, vergiss es. Tut mir leid. Und nein, seitdem habe ich Sean nicht mehr gesehen.«

»Shit. Daran hätte ich denken sollen. Bevor wir reingehen, muss ich ihm Bescheid sagen, dass Sie hier sind.«

»Hat er sich aufgeregt?«