Carola Pütz - Verlorene Seelen - Michael Wagner - E-Book

Carola Pütz - Verlorene Seelen E-Book

Michael Wagner

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Beschreibung

Viele kennen sie aus der 'Oliver-Hell-Reihe', dort hatte sie in 'Der Mann aus Baku' einen Kurzauftritt. Doktor Carola Pütz ist eine weltbekannte Gerichtsmedizinerin. Bei einer Gefälligkeit, die sie einer alten Bonner Studienkollegin erweist, erleidet sie einen Herzinfarkt und landet im Bonner Krankenhaus. In den Gesprächen mit den Medizinern muss sie ihre Schwachstelle offenbaren: Sie leidet seit der Trennung von ihrem Mann unter Arithmomanie, dem Zwang zu zählen. Der Herzinfarkt in Verbindung mit diesem Leiden zwingt sie zu einer beruflichen Neuorientierung. Doch zuerst muss sie zu einer Reha-Maßnahme in eine Klinik in Bad Elster, einem Ort an der tschechisch-deutschen Grenze. Anfangs skeptisch, findet sie bald Gefallen an dem Ort, der Klinik und dem süßen Nichtstun. Bis zu dem Tag, als nach dem Besuch eines Konzertes die Leiche einer jungen Frau im Swimmingpool der Klinik entdeckt wird. Die örtliche Polizei verhält sich merkwürdig zurückhaltend, auch in der Klinik geschehen weitere seltsame Dinge. Sie lernt den Journalisten Reto Winterhalter kennen und ist bald fasziniert von seinen Recherchen. Bei ihren Ermittlungen geraten sie in einen schier unergründlichen Strudel aus Korruption, Drogenhandel und Prostitution. Ihre Fähigkeit, Dinge blitzschnell wahrzunehmen, erweist sich als Gabe, aber ebenso als Fluch.

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Ähnliche


Michael Wagner

Carola Pütz - Verlorene Seelen

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Widmung

Cheb, Winter 2012

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Nachwort

Impressum neobooks

Widmung

»Der Himmel über dem Erinnern und dem Vergessen ist derselbe.«

Michael Wagner

Für Jolanka und Eliska.

Cheb, Winter 2012

Die kleine Stadt Cheb mit ihren 35.000 Einwohnern lag circa zehn Kilometer hinter der deutschen Grenze. Nur zehn Kilometer trennten Cheb, das ehemalige Eger, vom reichen Deutschland.

Pittoresk putzte sich die Altstadt mit ihren bonbonfarbenen Renaissance- und Barockhäuschen heraus. Die kleinen, schräg verlaufenden Gässchen, die Burg und der weitläufige Marktplatz zogen die Touristen an wie ein Magnet.

Es war ein kalter Novembertag. Bis heute ohne Schnee, dafür aber mit eisigem Wind. Etwas außerhalb der Sichtweite der normalen Touristen stand eine junge Frau mit hohen Stiefeln, kurzem Röckchen und gewaltiger Gänsehaut.

Langsam wurde es dunkel und kälter.

Sie wartete.

Sie wartete auf die reichen deutschen Freier.

Sie galten hier auch als Touristen. Sextouristen.

Die Nähe zu Deutschland und das bestehende Wohlstandsgefälle machten die Stadt Cheb zu einem geduldeten Eldorado für Sextouristen.

Jede Nacht erlebte der Ort das gleiche Bild. Mit Anbruch der Dunkelheit kamen sie über die Grenze, über die »Straße der Schande«, Deutsche aus Bayern oder Sachsen auf der Suche nach schnellem, billigem Sex.

An jeder Straßenecke traf man auf Prostituierte. Viele von ihnen wirkten sehr jung, viel zu jung. In Tschechien war nur Sex mit Minderjährigen unter fünfzehn Jahren strafbar.

Die jugendlich aussehende Frau hieß Tereza, sie hatte schwarzes Haar und gefühlvolle, dunkle Augen. Tereza war fünfzehn.

Einige Meter von ihr entfernt stand ihr Zwillingsbruder Matej.

Tereza und Matej gehörten zur ethnischen Gruppe der Roma, deren Lage in Tschechien prekär war. Sie galten als die am stärksten diskriminierte Minderheit in Europa, ihr Leben fand meist in einer Parallelgesellschaft statt.

Auch die Tschechen interessierten sich nicht für das Schicksal der Roma, es gab für sie keinen Grund, sich um die ‚Schwarzen‘ zu kümmern.

Der Welttourismusverbund hatte sich verpflichtet, der Kinderprostitution und dem Sextourismus in Reiseländern künftig intensiver entgegenzutreten. Solche Maßnahmen erschienen auch dringend notwendig, denn die Anzahl der Betroffenen nahm zu.

Ausgebeutet wurden vor allem Mädchen im Alter zwischen vierzehn und achtzehn Jahren. Die Altersgrenze verschob sich immer mehr, die Nachfrage nach noch jüngeren Prostituierten stieg weiter an. Einer der Gründe war die Angst der Freier vor AIDS und anderen Geschlechtskrankheiten.

Neben Tereza leuchteten die Bremslichter eines schweren BMW mit deutschem Kennzeichen auf. Als die Seitenscheibe herunterfuhr, beugte sie sich ins Fahrzeug hinein.

*

In einem Vorort von Cheb stand Eliska in ihrem Badezimmer und schminkte sich die großen, dunklen Augen. Sie zog ihre schmalen Lippen zusammen und betrachtete sich im Spiegel, genau so, wie ihre Mutter es immer tat.

»Damit du ganz bezaubernd aussiehst, darfst du meinen Lippenstift benutzen«, hatte sie gesagt, »Und nimm auch etwas Rouge.«

Eliska nahm die Haarbürste ihrer Mutter, damit kämmte sie sich morgens immer ihr langes Haar, bevor sie das Haus verließ.

Langsam, Strich für Strich, fuhr sie damit über ihre Locken, bis das Haar seidig glänzte.

Sie trug ein rotgeblümtes Kleid. Mit weißen Rüschen an den Ärmeln, ihre Mutter hatte es für sie gekauft. Wegen der Kälte war es nicht zu kurz. Sie musterte sich im Spiegel, stellte sich auf die Zehenspitzen. Ihre neuen roten Schuhe saßen ein wenig locker, sie waren etwas zu groß.

War sie hübsch genug? Was würde ihre Mutter sagen?

Eliska stieg von dem Schemel herunter, ohne den sie sonst den Spiegel nicht erreichen konnte. Sie war neun Jahre alt.

Heute sollte sie ihr erstes Mal erleben, hatte die Mutter ihr versprochen. Ihr erster Freier.

Was war das eigentlich, ein Freier?

Eliska hatte Angst.

Kapitel 1

Dr. Carola Pütz nahm ihren Mantel vom Kleiderbügel und schloss die schwere, alte Holztür ihrer Eigentumswohnung sorgsam hinter sich zu. Der Haustürschlüssel fiel schwer in ihre rechte Hosentasche. Auf dem Treppenabsatz zog sie den Schal aus dem Ärmel des Mantels, schlang ihn sich leger um den Hals und schlüpfte etwas ungelenk in den Mantel. Langsam ging sie Stufe für Stufe die Treppe hinunter. Nach ihrem Krankenhausaufenthalt war sie noch nicht restlos wiederhergestellt. Ihr linker Arm schmerzte noch von der Infusionsnadel, durch die sie mit einem blutverdünnenden Mittel versorgt worden war.

Nach ihrem Herzinfarkt war sie gestern aus der Bonner Klinik auf dem Venusberg entlassen worden und nach Frankfurt heimgefahren. Besser gesagt, sie wurde gefahren. Ihre Kollegin Dr. Beisiegel, eine Bonner Gerichtsmedizinerin, hatte darauf bestanden. Sie hatte sie beinahe jeden Tag dort in der Klinik besucht.

Vierzehn Tage lang. Nach anfänglichem Zögern hatte sie dem bohrenden, fragenden Blick ihrer Kollegin nachgegeben und ihr erzählt, was in der Nacht in dem Bonner Hotel passiert war, woran sie sich erinnern konnte. Sie erzählte von dem Traum, in dem ihr eine tote, blinde Gestalt um den Hals gefallen und sie umgerissen hatte.

Durch den Traum aufgeschreckt, hatte sie dann halluziniert und die Tote neben sich auf dem Bett sitzen sehen. Die Tote lachte sie auch noch aus. Um wieder zu sich zu kommen, wollte sie duschen, dort war sie schließlich zusammengebrochen. Ihr Herz hatte beschlossen, Schluss zu machen, doch sie hatte richtig Glück gehabt, der Infarkt war nicht stark. Wäre er stärker gewesen, sie hätte die Nacht nicht überlebt. Erst vier Stunden nach dem Zusammenbruch wurde sie von der Putzfrau gefunden.

Dr. Beisiegel war von Beruf aus neugierig.

»Und wieso haben Sie das Rohypnol genommen?«, hatte sie gefragt. Dr. Pütz hatte versucht, der Antwort auszuweichen, jedoch ohne Erfolg.

»Carola«, hatte Dr. Beisiegel gesagt, »wir kennen uns jetzt über zwanzig Jahre. Denkst du nicht, ich hätte ein wenig Ehrlichkeit verdient?« Sie hatte ihre alte Studienkollegin bewusst geduzt.

»Ja, das ist wohl so.«

Daraufhin hatte sie ihr endlich erzählt, dass sie seit einiger Zeit an einer Zwangsstörung litt. Sie hatte einen Zählzwang. Sie musste Dinge zählen, egal was, egal wann. Menschen in einem Raum, Knöpfe an einem Jackett, Fliesen auf dem Boden, Instrumente auf einem Laborwagen, alles. Immer. Es war ein Fluch.

Jetzt empfand sie es als eine wahnsinnige Befreiung, es endlich jemandem erzählt zu haben. Warum hatte sie es so lange für sich behalten? Nur ihr Therapeut in Frankfurt wusste davon. Ihre Angst, dass man sie als Wissenschaftlerin nicht mehr für voll nehmen würde, war zu groß gewesen. Aber jetzt? Sie war immer noch Doktor Pütz, die Forensikerin. Mit einem neuen ‚Selbst‘. Und es stand ihr frei, es anzunehmen.

Carola trat hinaus auf die Straße, es dämmerte bereits. Vier Uhr nachmittags. Im November bedeutete das noch eine knappe halbe Stunde Tageslicht, dann wurde es dunkel. Bis dahin wollte sie wieder in ihrer Wohnung sein. Nicht, weil es in ihrem Stadtteil nicht sicher war. Nein, sie fühlte sich dann draußen einfach nicht mehr wohl.

Sie ging langsam die Straße hinunter, ihre Gedanken ließen das Geschehen der letzten Wochen weiter Revue passieren. Sie hatte sich auf dem Weg nach Hamburg befunden, um dort einen Vortrag zu halten. Da der Bonner Staatsanwalt sie gebeten hatte, der Kollegin Dr. Beisiegel bei einem schwierigen Fall zur Seite zu stehen, hatte sie in der alten Hauptstadt Zwischenstation gemacht. Dort hatte es mehrere grausame Mordfälle gegeben, drei Asiatinnen wurden getötet, danach deren Gesichter entfernt. Das bildete ihr Arbeitsfeld: Plastische Forensik. Toten Menschen ihre Identität zurückzugeben, Gesichter zu rekonstruieren, war ihre Berufung, nicht nur ein Beruf.

Sie besaß einen Lehrstuhl an der Universität Frankfurt, reiste während der vorlesungsfreien Zeit auf Vortragsreisen in aller Welt umher. Sie hatte Fachbücher geschrieben, die in eine Vielzahl von Sprachen übersetzt worden waren. Carola lebte das Leben einer viel beschäftigten und erfolgreichen Wissenschaftlerin. Bis vor fünfzehn Tagen. Seitdem lief alles anders.

Die Ärztin im Bonner Klinikum präsentierte ihr zwei Wahlmöglichkeiten. Die Brille hatte dabei drohend auf ihrer Nasenspitze gesessen, ihre Augen nahmen jenen Ausdruck an, den Ärzte gepachtet zu haben schienen, wenn sie Menschen etwas Unbequemes ausrichten mussten. So war es auch bei ihr. Entweder änderte Carola Pütz ihren Lebensstil sofort, was gleichbedeutend mit der zeitweisen oder sogar völligen Aufgabe ihres Berufes einherging, oder sie riskierte, bei einem erneuten Herzinfarkt ihr Leben zu verlieren. So einfach schien es für eine Medizinerin, einer anderen Ärztin die Wahrheit zu verkaufen.

Morgen würde sie mit dem Zug nach Bad Elster fahren. Ein Kurort an der tschechischen Grenze, mitten im Niemandsland. Sachsen, das Vogtland. Carola mochte die ehemalige DDR nicht. Dreiundzwanzig Jahre, nachdem die ersten Trabis auf den bundesdeutschen Autobahnen mit Hupkonzerten empfangen worden waren, hatte sie noch keinen Fuß in die neuen Bundesländer gesetzt.

Diesen Kuraufenthalt trat sie voller Skepsis an. Wegen der eindringlichen Worte ihrer Ärztin wusste sie, dass es unumgänglich war, sie musste in ihrem Leben etwas ändern, am besten von gestern auf heute. Doch die Umstände des vergangenen Jahres waren wirklich nicht geeignet, ihre Lebensumstände in ruhigere Bahnen zu lenken. Die Scheidung von ihrem Mann, ihre beginnende Zwangsstörung, schließlich der Herzinfarkt. Jetzt sollte sie auch noch ihre Berufung verlieren? Das schmerzte mehr als die Trennung von ihrem Mann, viel mehr.

Sie würde mit gehöriger Skepsis die medizinischen Anwendungen über sich ergehen lassen, so war der Plan. Sie würde widerwillig, jedoch nach außen begeistert, an einem Gesprächskreis teilnehmen, und an den ihr verordneten psychologischen Einzelsitzungen. Vielleicht kehrte dadurch ihr inneres Gleichgewicht zurück.

Ihr plötzliches Ausscheiden aus der Universität hatte ihre Kollegen anfangs irritiert, war dann aber mit zunehmender Gefasstheit zur Kenntnis genommen worden. Jeder war zu ersetzen, auch eine plastische Forensikerin von Weltruhm.

Vornehmlich ging es darum, die lebensbedrohlichen Signale ihres Körpers als unumstößliche Tatsache anzuerkennen. Sie musste Ihren Lebensstil darauf einstellen. Berufliche Eitelkeiten hatten hier keinen Platz.

Der kurze Spaziergang tat ihr gut, und sie ging zurück in ihre Wohnung, wo die Koffer bereits gepackt auf die morgige Abreise warteten.

*

Carola war an dem folgenden Morgen sechsundvierzig Jahre, zweihundertsechsundzwanzig Tage und vierzehn Stunden alt. Sie trat an diesem Morgen eine Reise an, die ihr Leben grundlegend verändern sollte, nur wusste sie das an diesem achtundzwanzigsten November noch nicht.

Mit gemischten Gefühlen hatte sie um zehn Uhr das Taxi bestiegen, das sie zum Frankfurter Hauptbahnhof brachte, ihr Intercity fuhr dort um zehn Uhr vierundfünfzig ab. Die Reise würde genau sechs Stunden dauern, dann würde sie mitten im Niemandsland aussteigen, ein Shuttle Service der Klinik würde sie dort abholen. Sie verspürte so viel Lust auf diesen Ort an der tschechischen Grenze wie eine Kuh auf einen Fallschirmsprung.

Bad Elster.

Wieso bloß hatte sie auf die Ärztin gehört, die ihr bestätigte, dass genau dieser Kurort der Beste für ihr Krankheitsbild sei? Es gab auch noch andere Sanatorien in Deutschland, die an die Zivilisation angeschlossen waren. Aus einer Laune heraus hatte sie am Vorabend nach dem Ort gegoogelt. Es gab dort herrliche alte Gebäude, ein altes Theater, ein altes Schwimmbad, alles dort schien alt zu sein. Positiv gesehen, ein gewachsener Kurort, nichts aus der Retorte.

Dann hatte sie gelesen, dass ihr Aufenthaltsort, die Kurklinik ‚Sachsenglück‘, die älteste Klinik vor Ort war. Seit den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts wurden dort Menschen mit diversen Erkrankungen in dieser Fachklinik für Orthopädie, Kardiologie und Stoffwechselerkrankungen behandelt. Im Internet gab es Fotos von goldenen Wasserhähnen, einem Jugendstilschwimmbad, einer Kneipp‘schen Wandelhalle und einem Rekreationszentrum mit geschwungenen Liegen auf großen Rädern. Auf jedem dieser Fotos waren Menschen zu sehen. Menschen mit grauem Haar, Mittsechziger, Mittsiebziger und noch älter. Außer dem Klinikpersonal schien dort niemand in ihrem Alter zu sein. Mit Schrecken dachte sie an Geschichten über Herzoperationen, künstliche Kniegelenke, Inkontinenz und künstliche Darmausgänge.

Carola passte dort eigentlich nicht hinein. Sie war ein sportlicher Typ, rauchte nicht und trank nur in Maßen Alkohol. Sie trieb Sport, nicht regelmäßig, aber trotzdem. Wenn sie sich im Spiegel betrachtete, war sie sicher, dass sie eigentlich jünger wirkte als es ihr biologisches Alter vorgab.

Ihre Brüste waren noch straff, was nicht schwer war, da sie eh nie sehr üppig gewesen waren. Ihre Pobacken standen den Brüsten in nichts nach, Cellulite war ein Fremdwort für ihre Oberschenkel. Was sollte sie dort? Gut, ihr Herz hatte aufgehört zu schlagen, und sie verdankte einem Defibrillator ihr Leben, das war sicher Grund genug.

War der Widerwillen schon vorher groß gewesen, jetzt war er noch größer. Aber mit einer Tatsache konnte sie sich trösten, dort würde sicher nichts Aufregendes passieren. Außer, einer der Kurgäste hauchte dort auf natürliche Art und Weise sein Leben aus.

Pünktlich um zehn Uhr einundfünfzig rollte der ICE leise in den Bahnhof ein. Drei Minuten nach ihrem Zustieg setzte er sich in entgegengesetzter Richtung wieder in Bewegung.

Carola hatte ihren reservierten Platz schnell gefunden und es sich dann gemütlich gemacht. Die Reise in ihr neues Leben hatte begonnen.

*

Bad Elster

An der Rezeption der Kurklinik ‚Sachsenglück‘ war der Teufel los, viele der Kurgäste hatten mitbekommen, dass sich die Polizei im Hause aufhielt. Die arme Frau, die dort an diesem Morgen Dienst hatte, wurde mit Fragen regelrecht bombardiert. Die Klinikleitung hatte die Polizei gebeten, so diskret wie möglich zu ermitteln. Doch konnte man Menschen, die den lieben langen Tag nichts anderes zu tun hatten als andere Menschen zu beobachten, die Anwesenheit der fremden Männer mit den Koffern nicht vorenthalten. Und vernünftig erklären schon mal gar nicht, die Gerüchteküche lief auf Hochtouren. Die Order von Frau Dr. Carla von Hohenstetten, der Klinikleiterin, war eindeutig. Die Kurgäste sollten nichts erfahren, bis die Polizei ein Ermittlungsergebnis vorzuweisen hatte.

Dabei war eigentlich nichts Gravierendes passiert. Es hatte in der Nacht einen Stromausfall gegeben, und noch vor dem Frühstück hatte einer der gut betuchten Gäste einen Diebstahl gemeldet. Der Gattin eines Industriellen aus Hannover war ein Brillantring entwendet worden. Man hatte die Frau erst um Stillschweigen gebeten und dann das Zimmer noch einmal gründlich auf den Kopf gestellt. Schließlich passierte es nicht zum ersten Mal, dass einer der Gäste etwas verlegte, manche der Gäste waren hochgradig dement, doch niemand hätte es sich auch nur im Ansatz getraut, das auszusprechen.

Doch diesmal blieb der Brillantring hartnäckig verschwunden. Auch ein erneutes Suchen in den Räumlichkeiten, in denen die Frau am Vorabend noch ihre Anwendungen hatte, blieb erfolglos. Schließlich blieb Dr. Carla von Hohenstetten nichts anderes übrig, als die Polizei zu rufen. Jedoch nicht, ohne den diensthabenden Beamten auf der Wache mindestens viermal versichern zu lassen, dass sie mit äußerster Diskretion vorgehen würden.

»Frollein, Se können mir doch reinen Wein einschenken. Dat sin doch alles Polizisten. Dat kann ich riechen, wissen Se«, sagte der Mann aus dem Ruhrgebiet mit seinem breiten Dialekt und legte seine massigen Unterarme auf den Tresen.

»Ach ja, meinen Sie, Herr Krawuttke«, sagte die Frau an der Rezeption mit der ihr noch verbliebenen Contenance. Sie versuchte den Mann, der jetzt schon halb auf der Marmorplatte lag, als sei es seine Stammkneipe in Gelsenkirchen, zu ignorieren, indem sie sich mit einem Stapel Akten beschäftigte. Doch der Kurgast blieb hartnäckig.

»Kindchen, mir können Se dat doch sagen. Ich kann schweigen wie ein Grab.«

Sie schaute in Augen, die wasserblau und unterlaufen waren und zusammen mit einer grobporigen Nase verrieten, dass sie in ihrem Leben mehr als einen Schnaps gesehen hatten.

Er war so nah an ihrem Gesicht, dass sie seinen Atem riechen konnte.

»Herr Krawuttke, es gibt nichts, was ich Ihnen sagen könnte.«

»Se sin aber heute streng mit einem alten Mann«, sagte er und schien aufgeben zu wollen.

Doch dann startete er einen letzten Versuch und sagte: »Abba wehe, ich hör, dat doch wat war!« Er wuchtete seinen schweren Körper von der Theke und walzte in Richtung Ausgang davon.

Sindy Partsche, die Frau an der Rezeption, verspürte ein inneres Aufatmen. Frau Doktor, so wurde Dr. Clara von Hohenstetten unter den Kollegen genannt, hatte klare Order gegeben, nichts zu erwähnen. Auch wenn es für jeden mittlerweile klar war, dass die Polizei sich an der Zimmertüre der Industriellengattin zu schaffen machte, gegen ihre Order zu verstoßen, traute sich niemand unter den Kollegen. Frau Doktor führte die Klinik mit eisernem Besen. So war es und so blieb es. Zumindest bis zu ihrer Pensionierung, aber bis dahin gingen noch drei Jahre ins Land.

Dr. Clara von Hohenstetten trat als eine Frau mit Prinzipien auf. Nur mit Pünktlichkeit, Freundlichkeit, Sauberkeit und einem Lächeln auf den Lippen konnte man ein so erfolgreiches Klinikum führen, so lautete ihre Maxime. Das sagte sie jedem, der sich für einen Job vorstellte, betete es aber auch bei dem kleinsten Fehler eines Angestellten wie eine buddhistische Gebetsmühle immer wieder vor. Fehler gab es nicht, sofern man sich bemühte, es gleich angemessen zu machen.

Von daher schien es nicht verwunderlich, dass es bei den Angestellten im Klinikum ‚Sachsenglück‘ einen ständigen Wechsel gab. Sindy Partsche war jetzt im dritten Jahr, sie gehörte somit zum altgedienten Inventar.

Es gab noch drei Personen, die bereits länger dort arbeiteten. Zum einen war das Franziska Eichhorn, die Stellvertreterin von Frau Doktor. Sie schaffte es, sich mit ihrem schlangengleichen Naturell bei von Hohenstetten so unentbehrlich zu machen, dass sie einen besonderen Status in der Klinik innehatte. Sie war groß, dünn, schmallippig und hatte den Charme eines aufgeklappten Taschenmessers. Sie spekulierte sicher darauf, dass man ihr nach der Pensionierung von Frau Doktor die Leitung der Klinik übertragen würde. Mit keinem Wort äußerte sie das, doch war man sich allgemein darüber einig, dass sie das so plante.

Der einzige Ansprechpartner der Angestellten war der medizinische Klinikchef, Prof. Dr. Ralf Wielpütz. Es zählte nicht zu seinen Aufgaben als Mediziner, Streitigkeiten unter den Angestellten der Verwaltung zu schlichten. Doch manchmal blieb ihm nichts anderes übrig, wenn er die Qualität der medizinischen Versorgung nicht durch Reibereien gefährdet sehen wollte.

Der Professor war ein Gemütsmensch und er war Arzt durch und durch. Ihm war keine menschliche Verfehlung fremd. Von daher ging er mit seinen Patienten so um, als wäre er ihr Pfarrer. Er konnte einen noch so sturen Geist vor sich haben, der mit einer üblen Prognose in die Klinik kam, binnen kurzer Zeit hatte er zumindest einen Zweifel in ihm gesät. Fast niemand verließ die Klinik, ohne sicher zu sein, dass die Behandlungen, die er hier erhalten hatte, sinnvoll waren und ihm einen Vorteil im weiteren Leben verschafft hatten.

Der dritte Mensch, den es länger in der Klinik gehalten hatte, hieß Dimitrij Koljakow. Der Mann war ein Bär von einem Russen und hätte im Dunkeln auch leicht mit einem solchen Tier verwechselt werden können.

Zwei Meter groß, mit Händen wie Bratpfannen, verkörperte er den Prototypen eines Masseurs. Jeder, der sich zitternd unter seine Pranken gelegt hatte, verkündete danach jedoch überrascht, mit welcher Feinfühligkeit er imstande war, die kleinsten Verspannungen zu erfühlen und zu beseitigen.

An den wunderschön verzierten Service- und Empfangstresen trat soeben der Beamte, den Doktor von Hohenstetten am frühen Morgen bereits so genervt hatte, dass er beileibe keine Lust verspürte, selbst in die Klinik zu fahren. Aber es ließ sich nicht umgehen, es fand sich kein anderer Kollege.

»Können Sie mir bitte Ihre Chefin holen? Wir wären soweit fertig, die Fingerabdrücke sind genommen. Jetzt müssen wir sie auf der Dienststelle vergleichen«, sagte er beinahe tonlos zu Sindy Partsche.

Die Polizei vor Ort verfügte nicht über moderne Lesegeräte, wie man sie aus den amerikanischen Filmen kannte. Diese Geräte waren eine enorme Hilfe, man war in der Lage, einen eben genommenen Fingerabdruck direkt online mit einer Datenbank abzugleichen. Hier draußen wurde Polizeiarbeit noch oft zu Fuß erledigt, es gab nur wenig fortschrittliche, technische Unterstützung.

Sindy Partsche nahm das Telefon in die Hand und drückte die Kurzwahl von Frau Doktor. Keine halbe Minute später stand diese bereits leibhaftig vor dem Beamten.

»Herr Kirchow, was können Sie mir Positives berichten?«, fragte sie.

»Noch nicht wirklich viel. Die Abdrücke sind genommen. Ebenso auch die von den Angestellten, die Zugang zu den Zimmern haben, um sie als Verdächtige auszuschließen.«

»Ach ja«, sagte sie kurz und konnte ihre Enttäuschung nicht verbergen. Es wäre ihr lieb gewesen, wenn schon ein Ergebnis vorliegen würde.

Da er diese knappe Antwort jedoch als Frage verstanden hatte, fasste er den bisherigen Ermittlungsstand erneut zusammen.

»Wir haben Frau Güstrow befragt, sie konnte uns auch nur berichten, dass sie den Ring seit heute Morgen vermisst. Wie genau solche Angaben sind, kann ich nicht überprüfen. Gattinnen von betuchten Männern gehen etwas nachlässig mit ihren Preziosen um. Das ist leider eine Tatsache. Sie versichern uns, dass sie das Objekt eben noch gesehen haben, aber bei weiterer Nachfrage ergibt sich oft, dass sie es gar nicht so genau wissen. Es gibt in ihrem Zimmer keine Einbruchspuren, nicht am Fenster, nicht an der Tür. Jemand muss einen Nachschlüssel gehabt haben, mehr kann ich Ihnen zurzeit nicht sagen, tut mir leid.«

»Ja«, sagte sie schnippisch, »wenn das alles ist, muss ich es so hinnehmen.«

Ihre Backenknochen mahlten. Zu gerne hätte sie Fakten gehört, schließlich musste sie die Klinikgäste über den Diebstahl informieren. Ihr wäre wohler gewesen, hätte sie etwas Definitives berichten können. Auf diese Weise würde sie eine Menge unangenehmer Fragen zu beantworten haben. Das schmeckte ihr nicht.

»Sobald wir etwas Vorzeigbares ermitteln, setze ich mich umgehend mit Ihnen in Verbindung.«

Kirchow verabschiedete sich höflich von den Damen und ging zu seinen drei Kollegen hinüber, die im Hintergrund bereits auf ihn warteten. Nach einem kurzen Gespräch gingen die Beamten durch die große, verschnörkelte Eingangstüre hinaus.

*

Seit ihrem Herzinfarkt war ihre Zwangsstörung weniger ausgeprägt. Es kam ihr vor, als könne sie ihre Zählsucht steuern. Kurz nach dem Infarkt war sie beinahe ganz verschwunden.

Als Carola im Krankenhaus aufwachte, sah sie Dr. Beisiegel vor sich. Es war ihr nicht sofort bewusst, aber sie sah nur die Frau vor sich, ohne den Blick im Raum herumgehen lassen zu müssen. Erst wenn sie sich aufregte oder in eine unangenehme Situation kam, prägte sich ihre Störung in beinahe alter Stärke aus.

So hatte sie es bei dem Gespräch mit der Ärztin erlebt. In ihrem Büro zählte sie sechsundachtzig Fachbücher, die in einem Regal hinter der Medizinerin aufgereiht warteten.

Auf einem anderen Regal erkannte sie fünf Modelle des menschlichen Herzens mit angedeuteten Blutgefäßen. Es gab sie in verschiedenen Größen, man schien sie auseinandernehmen zu können. Daneben stapelten sich in einer Glasvitrine Medikamentenproben.

Siebenundsiebzig.

Der Schlüssel steckte. Ungemein sinnvoll, dachte Carola.

Sie brauchte nicht länger als zwanzig Sekunden zum Zählen all dieser Dinge. Ihren Herzschlag dabei berechnete sie auf einhundertzwanzig Schläge pro Minute. Sie schaute auf die kleine Uhr auf dem Tisch, zählte bis dreißig in fünfzehn Sekunden. Also schlug ihr Herz einhundertzwanzig Mal pro Minute.

Als die Ärztin ihr schließlich die Prognose verkündete, hörte sie auf zu zählen. Ihr Herzschlag beschleunigte noch mehr. Dann fiel er wieder ab. Sie hatte Informationen erhalten, die ihr helfen würden, mit ihrer neuen Situation umzugehen.

Das beruhigte sie. Minuten später fühlte sie sich wieder normal.

Es gab eine Neuerung in ihrem Leben, beinahe wie ein Update: Sie registrierte ihre Umwelt wie ein lebender Scanner. Dabei fielen ihr auch Dinge auf, die sich bei ihr wie auf einer intuitiv arbeitenden Festplatte ablegten. Wie ungemein hilfreich diese Fähigkeit sein sollte, konnte sie noch nicht ahnen.

Es gab Agenten, die benötigten jahrelanges Training, um solch einen Status zu erreichen. Blitzschnelles Erfassen von Situationen, Betrachten und Beurteilen von Menschen, Dingen und das Verarbeiten von all diesen Informationen. Sie bekam diesen Status von der Natur geschenkt. Einziger Wermutstropfen daran: Sie spielte jedes Mal mit ihrer Gesundheit. Immer an der Grenze zum nächsten Infarkt durfte sie ihre Gabe nicht überreizen.

Doch als sie jetzt im Zug saß und auf ihrem Kindle eBook-Reader einen trivialen Roman las, war sie sich dessen noch nicht bewusst.

Der Roman, den sie las, war nicht wirklich spannend. Das rhythmische Gebrumm des fahrenden Zuges machte sie müde und sie schlief ein. Bis sie in Nürnberg würde umsteigen müssen, in Richtung Marktredwitz, hatte sie noch gut zwei Stunden Zeit. Und ihr Körper musste regenerieren. Schlaf war gut für sie. Selbst wenn sie es sich nicht eingestehen wollte, so war es.

In Marktredwitz würde sie in den Vogtland-Express umsteigen. Von dort aus ging die Fahrt geruhsam weiter und schließlich käme sie um kurz vor siebzehn Uhr in Mühlhausen an. Der private Shuttlebus würde sie dann zur Klinik bringen.

Während sie schlief, träumte sie von anderen Klinikinsassen und von endlosen Gesprächen über deren Krankheiten. Hätte sie sich selbst betrachten können, so hätte sie ihren angewiderten Gesichtsausdruck im Schlaf sehen können. Vor wenigen Momenten erzählte ihr eine Frau mit einem Ausdruck innigster Begeisterung von ihrer letzten Kur in Bad Sooden-Allendorf. Die Frau berichtete von einer Wandelhalle, in der die salzhaltige Sole von oben über Reisig lief. Sie beschrieb die Wohltat, die man spürte, wenn man stundenlang unter dem Dach dieser Halle lustwandelte.

*

Der letzte Teil der Reise führte von Cheb nach Bad Elster. In Cheb stieg sie in den zweiteiligen weißen Triebwagen. Die Strecke war seit Nürnberg nicht mehr elektrifiziert, hier war sie jetzt sogar nur noch eingleisig befahrbar. Der moderne Dieseltriebwagen fuhr recht zügig durch das Vogtland. Dichte, unbelaubte Wälder wechselten sich mit Weiden und Feldern ab und zogen am Fenster vorbei.

Carola war mittlerweile sehr gespannt auf ihre Klinik. Ihre Klinik, wie das klang. Sie musste unwillkürlich schmunzeln.

Es war kurz vor siebzehn Uhr und bereits dunkel, als die Vogtlandbahn auf dem kleinen Bahnhof von Mühlhausen anhielt. Der Bahnsteig wurde von einer einzelnen Lampe spärlich beleuchtet. Die Automatiktüre des Triebzuges gab ein leise zischendes Geräusch von sich und schwang elegant nach außen. Carola hatte das Gefühl, der Triebwagen würde sie nun in eine andere Welt entlassen. In eine längst vergangene Welt. Sie hob ihre beiden Trolleys aus dem Zug und machte einen Schritt auf den Bahnsteig. Wieder das Zischen. Die Tür schwang zu. Der Triebwagenzug fuhr leise an. Schon legte er sich leicht in die Kurve und nahm Fahrt auf. Carola war alleine. Sie stand unter dem hölzernen Vordach des Bahnhofs und sah sich um. Niemand außer ihr war dort. Kein Shuttle. Sie zog die beiden Trolleys langsam über den Betonboden. An der Ecke des Bahnhofs drehte sie sich um. Oben an der Hauswand war eine rechteckige Uhr angebracht, sie zeigte zwei Minuten vor fünf.

Pünktlichkeit geht anders, dachte sie. Sie hatte erwartet, das Shuttle schon wartend vorzufinden.

»Reg dich nicht auf«, murmelte sie vor sich hin und wunderte sich, dass sie Selbstgespräche führte. In dem Moment meinte sie, einen Lichtschein auf der Straße hinter dem Bahnhofsgebäude auszumachen. Ein Lichtkegel näherte sich. Sekunden später hielt ein weißer Mercedes Bus neben ihr.

Auf der Seite stand in großen geschwungenen Lettern ‚Kurklinik Sachsenglück‘. Das Motorengeräusch erstarb und die Fahrertür wurde aufgerissen. Ein Mann mit einer blauen Schirmmütze eilte um das Auto herum. Atemlos, als wäre er den ganzen Weg gelaufen, baute er sich vor ihr auf und meinte: »Sie müssen Frau Doktor Pütz sein, stimmt‘s?«

Seinen Tonfall identifizierte sie als eindeutig sächsisch. Die Mütze ähnelte den viel zu ausladenden Schirmmützen der russischen Armee.

»Ja, das stimmt.«

»Entschuldigen Sie die Verspätung vielmals.« Er verbeugte sich tief.

»Ist schon gut, ich bin in diesem Augenblick erst angekommen.«

Die Verzweiflung im Gesicht des Mannes schien echt zu sein. Nach ein paar Tagen in der Klinik würde sie nachvollziehen können, warum der Mann so ergeben war. Aber im Moment war sie eher nur überrascht. Blitzschnell verstaute er ihre beiden Trolleys im Kofferraum und öffnete die seitliche Schiebetür. Wieder mit einer tiefen Verbeugung.

Schweigend fuhren sie die zwei Kilometer vom Bahnhof bis in den Ort hinein. Es war Ende November, einige Gärten und viele Fenster waren mit Weihnachtsschmuck dekoriert. Durch ihren Aufenthalt im Krankenhaus war es ihr gar nicht bewusst, dass die Adventszeit begonnen hatte. Auch in den letzten Jahren war die Vorweihnachtszeit an ihr vorbei gegangen. Wenn sie sich richtig erinnerte, dann war in den letzten Jahren nie wirklich Zeit für Besinnlichkeit gewesen.

Hätte sie Besinnlichkeit haben wollen? Hatte sie etwas vermisst? Nun, eigentlich nicht. Aber dieses Jahr würde sie sehr wahrscheinlich eine volle Dosis davon abbekommen. In beinahe jedem Vorgarten stand mindestens eine erleuchtete Figur. Manche hatten sogar mehrere aufgestellt. Nachbarschaftlicher Wettstreit. So oder so entlockte ihr das ein Schmunzeln.

In ihrem Haus, das sie noch im letzten Jahr zusammen mit ihrem Ex-Ehemann bewohnt hatte, kannte man diese Art des Gartenschmuckes nicht. Dort hätte man das eher hochnäsig belächelt. In ihrer Frankfurter Etagenwohnung gab es keinen Garten.

Während sie noch darüber nachdachte, ob sie sich einen Weihnachtsbaum gekauft hätte, fuhr das Shuttle auf einen imposanten Weihnachtsbaum zu. Selbst im Vergleich mit Frankfurt, wo es in der Fußgängerzone einige große Bäume gab, hätte dieser hier wahrhaftig gut abgeschnitten. Als wäre die Größe nicht schon überwältigend genug, so tauchten tausende von Lämpchen den Baum in ein Lichtermeer. Der Innenraum des Shuttles wurde im Vorbeifahren hell erleuchtet.

»Ja, das ist der ganze Stolz von Frau Doktor«, brach der Fahrer sein Schweigen. Carola lächelte ihn an. Der gigantische Baum war also der erste Vorbote der Kurklinik ‚Sachsenglück‘.

Der Kies knirschte unter den Reifen, als das Shuttle um eine großflächige Blumenrabatte herumfuhr. Wie in einem hochherrschaftlichen Schloss, dachte sie. Vor der breiten Freitreppe, die hinauf zur Eingangstür führte, bremste der Fahrer sanft ab. Er stieg aus, ging in Windeseile um sein Auto herum und öffnete die Schiebetür. Er hielt ihr die Hand hin, doch sie schaffte es, alleine auszusteigen. Schiebetüre schließen und den Kofferraum öffnen waren geübte Handgriffe. Schon hatte er die beiden Trolleys ausgeladen und schob die Haltebügel zusammen, um sie tragen zu können. Ihr Angebot, ihm einen der beiden Koffer abzunehmen, lehnte er ab. Er hüpfte mit den beiden schweren Koffern die Treppenstufen hinauf, als wären sie leicht wie Federn. Oben angekommen stellte er einen der Koffer ab, um ihr einen Türflügel zu öffnen. Carola blieb vor der mächtigen, alten Holztür stehen. Das war sie also, die ‚Kurklinik Sachsenglück‘. Ihr Domizil für die nächsten Wochen, sie trat ein. Der erste Eindruck war überwältigend. Ihre Augen flogen über die Wände, kletterten die Treppenstufen hinauf, hielten an den geschwungenen Simsen inne. Überall gab es Augenfutter. Sie konnte es aber genießen, das war der Unterschied. Nicht wie sonst, wenn sie zwanghaft Dinge zählen musste. Nein, hier war es eher wie ein inneres Jauchzen.

Schau dir das an, schien sie zu sich selbst zu sagen.

Wie schön.

Der monströse Weihnachtsbaum war ihr schon wie ein Relikt aus einer längst vergessenen dekorativen Vergangenheit vorgekommen. Aber diese üppige Jugendstildekoration in der Eingangshalle wirkte um vieles prachtvoller.

Jetzt erst wurde ihr bewusst, dass bereits die ganze Zeit jemand mit einem freundlichen Lächeln hinter dem Tresen stand und auf sie wartete. Sicher, sie musste ja noch einchecken.

»Entschuldigen Sie bitte«, sagte sie, »aber solche Pracht hätte ich nicht erwartet. Ich bin beeindruckt. Carola Pütz ist mein Name.« Auf dem Messingschild, das auf dem Tresen stand, war der Name Edith Kramke zu lesen.

»Guten Abend, Willkommen in unserem Haus, Frau Doktor Pütz«, sagte Frau Kramke lächelnd, »Freut mich, wenn es Ihnen gefällt. Wir sind eines der Häuser am Ort, die eine durchgängige Jugendstilprägung haben. Darauf sind wir auch sehr stolz.«

Der Satz fiel ihr aus dem Mund, als würde sie ihn täglich mehrere Male so zitieren. Sie reichte Carola den Anmeldebogen und einen Kugelschreiber.

»Bitte.«

»Danke.«

»Sie werden morgen früh Ihren Therapieplan erhalten. Falls Sie ein Abendessen zu sich nehmen wollen, ab achtzehn Uhr ist der Speisesaal geöffnet. Sie brauchen nur nebenan durch die Tür zu gehen.«

Sie zeigte auf eine feingliedrig geschwungene Doppeltür, über der mit Jugendstil-Lettern ‚Speisesaal‘ geschrieben stand.

»Sehr gerne, danke.«

Ihr Blick wanderte bereits wieder durch den Raum. Gut, in einer Woche ist das alles normal für dich. Dann gehst du daran vorbei und nimmst es nicht mehr wahr, dachte sie.

Keine Viertelstunde später stand sie in ihrem Zimmer. Es bestand aus einem einzigen Raum von der gefühlten Größe eines halben Fußballplatzes und dazu ein ebenso großzügig bemessenes Badezimmer. Das Zimmer schien so weitläufig wie zwei Zimmer in ihrer Frankfurter Wohnung zusammengenommen. Sie fragte sich sofort, ob die Größe des Zimmers etwas mit ihrem Doktortitel zu tun hatte. Sie hätte den Pagen gerne gefragt, der ihr die Koffer aufs Zimmer gebracht hatte, doch der war schon wieder verschwunden.

Hellrosa und weiß waren die vorherrschenden Farben. Die Tapete hinter dem weißen Bett war hellrosa mit einem Wellenmuster in Silber. Modern akzentuiert trat eine vorgesetzte Wand auf doppelter Breite des Bettes hervor. Eine dahinter installierte indirekte Beleuchtung tauchte das Zimmer in ein gemütliches Dämmerlicht. Das waren aber nicht die einzigen Lichtquellen im Raum. Rechts und links neben der Tür zum Bad hielten zwei possierliche Figürchen jeweils eine kleine Lampe mit einem hauchdünnen Porzellanschirmchen. Über dem ebenfalls weißen Tischchen hing ein verspielter Lüster. Farbliche Akzente setzten einige dunkel gebeizte Möbelstücke, die sich dadurch auszeichneten, dass sie nicht mit Ornamenten überladen waren. Carola suchte nach einem Kleiderschrank. Die beiden dunklen Kommoden waren dafür eher ungeeignet. Neben der Türe gab es noch eine vogelschwingenartige Wandgarderobe aus gebeiztem Nussbaum mit sechs Doppelhaken. In der Mitte war ein facettierter Spiegel angebracht.

Ihr Blick suchte weiter. Als er an einem Messinggriff ankam, der scheinbar sinnlos in der Mitte der Wand angebracht war, ging sie darauf zu. Erst jetzt sah sie die feinen Linien auf der Wand, die ihr verrieten, dass hier eine Tür versteckt war. Sie drehte den Schlüssel und es öffnete sich ein begehbarer Kleiderschrank. Überhaupt nicht stilgerecht waren in der Decke moderne Halogenstrahler angebracht. Acht Stück an der Zahl.

Sie warf einen kurzen Blick hinein und hatte sofort die Überzeugung gewonnen, hier ausreichend Stauraum für die Garderobe gefunden zu haben. Gewiss würde die Garderobe aller derzeitigen Klinikgäste darin Platz finden. Es gab Kleiderstangen, genug ausklappbare Schuhträger für alle Schuhe, die sie noch in ihrem Leben kaufen würde und ausreichend Ablagefläche für Pullover, Blusen und Unterwäsche. Sie schob ihre Trolleys in die begehbare Kleiderhalle und holte aus einem davon ihren Kulturbeutel heraus, um sich frisch zu machen.

Als sie die Badezimmertür öffnete, erstrahlten wie von Geisterhand die beiden Lampen neben der Tür. Auch im mit weißem Marmor gefliesten Badezimmer ging ein üppiger zehnflammiger Leuchter an. Es gab eine Badewanne und ein Waschbecken in Muschelform. Oberhalb des Waschbeckens lief ein dunkler Fries mit diversen verspielten Jugendstilblüten einmal rund um das Badezimmer. Die Armaturen waren dreiteilig. Ein stolzer Wasserhahn, der aus poliertem Messing in der Mitte zwischen zwei Reglern stand. Die beiden Regler sahen aus, als wären sie einem Schachspiel entwichen. Ein großes ‚W‘ und ein großes ‚K‘ waren schwarz in dem weißen Porzellankreis eingelassen. Jeder Regler streckte vier Ärmchen von sich, die am Ende eine Kugel als Abschluss hatten.

Das Messingrohr des Wasserhahns nahm in der Mitte eine bedenkliche Krümmung nach oben auf, um sich kurz drauf wieder abzusenken. Über dem Muschelwaschbecken hing ein ovaler Spiegel von beachtlichem Ausmaß, eingefasst mit gebeiztem Nussbaum. Gegenüber an der Wand befand sich ein Pendant mit genau demselben Muster über einem zerbrechlich wirkenden Tischchen, auf dem zwei weiße Flakons mit Badeöl standen.

Vor der Badewanne lag ein flauschiger cremefarbener Teppich. Neben der Badewanne stand ein dreiteiliger, geschwungener Paravent, dahinter ein Hocker, mit schwarzem Samt bezogen. Und als wäre es noch nicht eindrucksvoll genug, gab es noch eine ansehnliche Stehlampe mit einem massiven Holzfuß.

Die Lampe begann zu leuchten, als sie hinter den Paravent trat. Der schwarze Lampenschirm wirkte wie der Helm eines Soldaten. Ein goldener Efeu schlang sich von unten nach oben um den streng geraden Ständer der Lampe. Sie suchte nach einer Lichtschranke, fand aber nichts dergleichen.

Beinahe schüchtern stellte sie ihre Badutensilien auf dem Tischchen ab. Jedes weitere Accessoire wirkte wie ein störender Eingriff in das Gesamtkunstwerk dieses Badezimmers.

Nachdem sie sich frisch gemacht hatte und sich bereits jetzt auf ein entspannendes Bad freute, war sie neugierig auf das Essen.

*

Frau Doktor Clara von Hohenstetten hatte sich vor dem Mikrofon aufgebaut, um ihre Ankündigung zu verlesen. Sie hatte bis zum Abendessen damit gewartet in der Hoffnung, es gäbe bis dahin schon weitere Ergebnisse von der Polizei. Die gab es nicht. Also musste sie unter diesen Umständen offenbaren, dass es einen ungeklärten Diebstahl gegeben hatte. In ihrer Klinik. Wo sonst nichts passieren durfte, ohne dass sie davon etwas wusste.

Der Speisesaal der Klinik machte seinem Namen alle Ehre. Es war ein Saal. Carola Pütz hätte auch nichts anderes erwartet. Sie öffnete in diesem Moment die Tür und blieb stehen. Jemand stand ganz vorn und wollte eine Ankündigung machen.

Der Mikrofonständer befand sich auf einer kleinen Empore auf der dem Eingang gegenüberliegenden Schmalseite des Raumes. Dort fanden abends Konzerte oder Gesangsdarbietungen statt. Oft spielte jemand Klavier.

Frau Doktor von Hohenstetten tippte kurz mit dem Zeigefinger gegen das Mikro. Es war eingeschaltet. Sie räusperte sich. Nicht, weil sie heiser war, sondern um mehr Aufmerksamkeit zu erhalten.

»Sehr verehrte Gäste unseres Hauses«, sagte sie mit belegter Stimme, »ich muss Ihnen leider mitteilen und gleichzeitig versichern, dass ich untröstlich darüber bin, es gab letzte Nacht einen Diebstahl.« Sie machte eine Pause, um das allgemeine Raunen abklingen zu lassen.

Carola schlüpfte währenddessen in den Saal und nahm am nächsten Tisch Platz, an dem sie einen freien Stuhl erspähte. Einen Diebstahl hatte es also gegeben. Im Jugendstilparadies. Schon war ihre Prognose hinfällig. Hatte sie doch erwartet, dass hier nichts Aufregendes passierte. Sie nickte den am Tisch Sitzenden freundlich zu. Diese nickten ebenso freundlich zurück.

Clara von Hohenstetten erhob wieder ihre Stimme. »Einer sehr verehrten und langjährigen Freundin unseres Hauses wurde heute Nacht ein wertvoller Ring gestohlen. Ich sehe es als meine Pflicht an, Sie darüber zu informieren, appelliere aber gleichzeitig auch an Ihr Vertrauen in uns, dass wir in der Lage sind, diese unangenehme Sache schnellstmöglich zu einem positiven Ende zu bringen.«

Erneutes Raunen im Saal. An der Hälfte der Tische wurden die Köpfe zusammengesteckt.

»Wie will sie das denn garantieren?«, fragte eine freundlich aussehende Dame, die mit Carola Pütz den Tisch teilte, in die Runde. Sie schüttelte unmerklich ihren Kopf.

»Wissense wat, dat kannse gar nich«, antwortete der Mann, der Carola Pütz gegenüber saß, und an sie gewandt sagte er: »Sindse neu? Ich hab Se noch net gesehen hier. Ich bin der Erwin Krawuttke aus Gelsenkirchen.«

»Ja, ich bin heute angereist. Mein Name ist Carola Pütz. Ich grüße Sie«, antwortete sie leise und beugte sich über den Tisch.

Direkt vor Doktor von Hohenstetten stand jemand auf. Es war die Industriellengattin, der der Ring gestohlen worden war. Sie sprach ohne Mikrofon, war aber trotzdem gut zu verstehen.

»Liebe Frau Doktor von Hohenstetten, ich danke Ihnen sehr für Ihre Offenheit. Wie ich Ihnen ja schon persönlich mitgeteilt habe, hätte ich das nicht so an die große Glocke gehängt. Aber es ehrt Sie. Vertrauen wir auf die Polizei und deren gute Arbeit. Lassen Sie uns nun essen, wir alle haben sicher Hunger.« Sie nickte in die Runde und klatschte Frau Doktor Beifall.

Viele taten es ihr gleich, einige standen aber auch sofort auf und gingen mit ihren Tellern zum Büfett, wo die Kellner bisher alle in Reih und Glied gewartet hatten.

Clara von Hohenstetten fühlte sich durch den plötzlichen Aufbruch übergangen, war aber auch froh, dass ihr Auftritt ein so rasches Ende nahm.

»Sehr verehrte Frau Güstrow«, sagte sie, »ich danke Ihnen für Ihr Verständnis. Und ich wünsche Ihnen allen einen guten Appetit.«

Erst jetzt hoben die Kellner die Glocken von den Speisen. Es hätte keiner gewagt, dies eine Sekunde früher zu tun.

»Habense dat gesehn, wie die dressierten Äffchen«, sagte Krawuttke leise über den Tisch.

Die nette Dame grinste und gab im Aufstehen Carola die Hand.

»Hallo, Frau Pütz. Mein Name ist Friederike Schmitt-Wienand. Sie müssen wissen, wir, die schon etwas länger hier sind, schmunzeln ein wenig über das Regime von Frau Doktor von Hohenstetten. Sie behandelt ihre Angestellten wie ihre Leibeigenen. Aber das werden Sie auch noch feststellen. Ach ja, haben Sie bereits Ihren Speiseplan?«

»Nein«, sagte Carola.

»Na dann los. Dann gilt‘s noch. Dann dürfen Sie noch alles essen. Morgen ist das vorbei. Hier wird streng nach Plan gelebt.«

Frau Schmitt-Wienand nahm ihren Teller vom Tisch und machte eine aufmunternde Geste. Daran hatte Carola noch gar nicht gedacht. Eine Diät. Womöglich eine strenge Diät. Sie griff nach ihrem Teller und folgte ihrer Tischnachbarin zum Büfett.

Nachdem sie im Krankenhaus schon auf Diät gesetzt wurde und ihr Kühlschrank nach den vielen Wochen nur noch Ungenießbares enthalten hatte, beschloss sie an diesem Abend, ihr Essen noch einmal so richtig zu genießen. Sie holte mehrfach Nachschlag, aß einen köstlichen Nachtisch, probierte einen weiteren. Als Krönung hätte sie gerne einen Kaffee getrunken, doch teilte man ihr mit, es gäbe nach dem Nachmittagskaffee keine geistigen Getränke mehr. Besonders Herr Krawuttke bedauerte das zutiefst.

»Dann musste abends noch in die Dorfkneipe eiern, um ein Bier zu trinken. Dat End vom Lied is, dat de Frau Doktor dat spätestens am nächsten Mittag schon wieder spitz hat«, sagte er mit ehrlichem Bedauern.

Sie unterhielt sich noch während dem ganzen Abendessen mit ihren beiden Tischgenossen und erfuhr dabei so manches Detail über die ‚Kurklinik Sachsenglück‘. So war dem Diebstahl höchstwahrscheinlich ein Stromausfall im ganzen Haus vorangegangen.

»Ich hatte noch en bisschen ferngesehen, als plötzlich der Strom weg war.« Auf den Zimmern gab es keine Fernseher. Doch Herr Krawuttke hatte ihr verraten, dass er heimlich einen kleinen DVBT-Fernseher eingeschmuggelt hatte.

»Gibt es hier öfter Stromausfälle?«, fragte Carola.

Krawuttke sah zu Frau Schmitt-Wienand herüber. »Naja, wat heißt oft. Ich bin seit drei Wochen hier und dat war der zweite Ausfall. Der war aber diesmal besonders lang.« Sie nickte.

»Der Hausmeister wohnt ja hier im Haus. Der ist dann sofort zur Stelle. Es sind ja auch die ganzen ärztlichen Apparate, die dann ausfallen. Das kann manchmal schon gefährlich sein.«

»Wie lang war der letzte Stromausfall?« Carola fragte genau genommen nur beiläufig nach der Dauer. Sie war mit ihrem Nachtisch beschäftigt und der genoss ihre ganze Aufmerksamkeit.

»Eine Viertelstunde vielleicht«, sagte Frau Schmitt-Wienand.

»Und in dieser Viertelstunde hat der Dieb zugeschlagen?«

Sie kratzte mit dem Löffel den letzten Pudding in der Schale zusammen und führte ihn genüsslich zum Mund.

»Es scheint so.« Frau Schmitt-Wienand zog ihre Stirn kraus.

»Hmh, für mich klingt das komisch. Hat der Dieb vor der Tür gesessen und brav gewartet? Nein, das klingt für mich nicht schlüssig.«

Ihre beiden Tischnachbarn schauten sie an wie Lämmer einen Pinguin. Sie bemerkte es.

»Was?«

»Sie reden so, als wäre es Ihr Job, so etwas zu beurteilen.«

Carola stutzte. »Nein, nein, ich bin Ärztin. Keine Sorge. Schade, der Pudding ist alle. Ich hole mir noch einen. Oh, ist das vermessen?« Sie schaute die beiden Tischnachbarn an wie ein kleines Mädchen.

»Nein.«

Sie stand auf, und stiefelte los. Pass auf, was du sagst, dachte sie. Es muss hier niemand wissen, dass du Gerichtsmedizinerin bist.

Als sie sich mit dem nächsten Schälchen Pudding zurück an den Tisch setzte, fragte Frau Schmitt-Wienand: »Denken Sie, der Stromausfall war fingiert, damit der Dieb zuschlagen konnte?«

So, jetzt hast du einen Stein ins Rollen gebracht, dachte Carola. Bremse ihn wieder ab.

»Finden Sie nicht auch, dass der Pudding köstlich ist? Was haben Sie gefragt? Ob ich denke, dass es fingiert war? Nein, nein«, log sie frech, »Wie könnte ich so etwas vermuten? Ich bin doch gerade erst angekommen. Sicher war es nur ein Zufall.«

Sie schaute listig hinter dem Löffel hervor. Hatten sie es geschluckt?

Es schien so. Die beiden Tischgenossen widmeten sich ebenfalls ihren Tellern. Doch hatte sich bereits der Keim des Zweifels in den Köpfen der beiden festgesetzt.

»Also, ich denke, dat die hier wat vertuschen wollen, ganz ehrlich«, sagte Krawuttke. Sein Blick hatte etwas konspiratives an sich. Carola interpretierte ihn ganz richtig, er suchte nach einer Partnerin für seine Verschwörungstheorien. Sie musste das beenden, sonst würde sie den Mann nicht mehr los. Das spürte sie sehr deutlich.

»Ach, ich habe vorhin beinahe einen positiven Schock bekommen, als ich mein Zimmer betreten habe. Das ist ja eine Pracht. Da kommt mein Zuhause gar nicht mit«, sagte sie lachend, »Ist das bei Ihnen beiden auch so prachtvoll?«

Krawuttke antwortete nicht, doch Frau Schmitt-Wienand antwortete: »Ja, das ist mit der Grund, warum ich immer wieder hierher komme. Das Ambiente ist hier so einzigartig. Ich bin ganz verliebt in diesen Jugendstil.«

Sie schenkte Carola ein bedeutungsvolles Lächeln, welches andeutete, dass sie verstanden hatte, warum sie plötzlich von ihrem Zimmer sprach. Dr. Pütz antwortete mit einem kleinen Zwinkern und stellte ihre Puddingschale beiseite.

»Ich danke Ihnen beiden für die angenehme Gesellschaft beim Essen. Aber ich muss mich jetzt zurückziehen, meine Koffer erwarten mich.«

Sie stand auf und schob ihren Stuhl an den Tisch. Mit einer kleinen Verbeugung und einem gehauchten ‚Gute Nacht‘, verabschiedete sie sich. Beim Hinausgehen bemerkte sie noch, dass sich um Dr. Clara von Hohenstetten eine Traube von Menschen versammelt hatte. Sie genoss die Aufmerksamkeit sichtlich.

Kapitel 2

Mit einem melodischen Klingeln wurde Carola aus ihren Träumen geholt. Den morgendlichen Weckruf, der die Kurgäste entweder zum Frühstück oder zu den ersten Anwendungen des Tages rief, empfand sie als zeitlich völlig unpassend. Sie verließ nicht gerne das weiche, mit üppigen Kissen ausgestattete Bett. Wundervoll hatte sie geschlafen. Sie streckte sich wie ein Kätzchen. Zwanzig Minuten später war sie nach einer kurzen erfrischenden Dusche bereits auf dem Weg in den Frühstücksraum. Um sich zu orientieren, ging sie einen anderen Weg als am Abend zuvor. Sie entdeckte dadurch einen schnelleren Weg, dieser führte sie durch einen länglichen, pavillonartigen Gang. Entlang dieses Ganges waren Gartenleuchten im Boden versenkt, die sowohl den Innenraum als auch den Außenbereich beleuchteten. Moderne Schiebegardinen sollten im Sommer die Hitze mildern, da der Gang beinahe vollständig verglast war.

An der Rezeption standen Kurgäste, die sich nach etwas erkundigten. Sie erkannte niemanden. Alle hatten Handtücher dabei und trugen Bademäntel, sie hatten sich dort vor dem Frühstück zum Morgenschwimmen versammelt. Mit einem großen Hallo wurde plötzlich ein Mann begrüßt. Carola würde ihn später auch noch kennenlernen. Es war der Bademeister der Klinik, ein großer, vierschrötiger Mensch, mit Muskeln wie ein Preisboxer ausgestattet. Er führte sein Bad, wie er es gerne nannte, mit militärischer Strenge. Carola sagte später in einem Gespräch einmal, dass sie sich sicher sei, er würde morgens alle Wassermoleküle strammstehen lassen, bevor er dasselbe mit seinen Kurgästen machte. Trotzdem war er sehr beliebt, vor allem bei den weiblichen Gästen.

Die Türe zum Speisesaal stand einladend weit geöffnet. Der Duft von frisch gebrühtem Kaffee zog ihr in die Nase, als sie den Saal betrat. Vorfreude. Einen frischen Kaffee trinken. Carola fühlte sich wie am ersten Tag an einem neuen, unbekannten Urlaubsort. Zeit für Entdeckungen. Sie hängte ihre Strickjacke über die Lehne des Stuhles, auf dem sie bereits beim Abendessen gesessen hatte. Ihr erster Weg führte sie zu den Gefäßen, die den so verführerischen Duft ausströmten. Kaffee. Vorfreude.

Auf dem Weg dorthin wurde sie freundlich von einer jungen Frau gegrüßt. Carola grüßte ebenso freundlich zurück. Sie blickte auf das Buffet, welches wieder einladend an derselben Stelle wie am Vorabend aufgebaut war. Sie hatte die Kaffeetasse bereits in der Hand, als sie von der jungen, freundlichen Frau angesprochen wurde.

»Guten Morgen, Sie sind sicher neu bei uns. Darf ich mich vorstellen, mein Name ist Lara Kaiser. Ich bin hier die Diätassistentin. Mit wem habe ich die Ehre?« fragte sie und strahlte sie an.

Carola griff nach der Kaffeekanne.

»Guten Morgen, mein Name ist Carola Pütz. Sehr angenehm.«

Der braune Saft floss in die Kaffeetasse.

»Sie haben Ihren Diätplan sicher noch nicht erhalten, oder?«

»Nein«, antwortete sie wahrheitsgemäß, aber noch ahnungslos. Im Tonfall der jungen Frau schwang aber schon eine leise Drohung mit. Sie ignorierte sie noch, bis der folgende Satz an ihr Ohr drang: »Kaffee ist für Sie nicht vorgesehen. So lange, bis der Arzt sie untersucht hat und uns signalisiert, dass es unbedenklich ist.«

Sie legte ihren Kopf schief und machte ein scheinbar bekümmertes Gesicht.

»Oh, Frau Kaiser, wirklich? Ist das so?«, fragte Carola. Die Tasse schwebte in ihrer Hand zwischen Untertasse und Mund. Frau Kaiser nickte und rollte mit ihren Kuhaugen.

»Ach so, ja. Dann haben wir aktuell ein Problem. Ich bin morgens extrem schlecht gelaunt. Das Einzige, was da wirklich hilft, ist eine Tasse starker Kaffee. Denken Sie, dass Sie schlechte Laune verantworten können, junge Frau?«

Lara Kaiser blickte sie ungläubig an. Carola nahm einen Schluck Kaffee. Eine klitzekleine Zornesfalte tauchte zwischen den Kuhaugen auf.

»Frau Pütz, ich muss energisch protestieren. Die Patienten sind angehalten, sich an meine Anweisungen zu halten«, sagte sie. Carola befürchtete, dass sie jeden Moment mit dem Fuß auf den Boden stampfen würde.

»Frau Doktor Pütz, bitte. Ich kenne meinen Körper, junge Frau. Was nicht heißt, dass ich Ihre Bemühungen nicht zu schätzen weiß«, antwortete Carola Pütz.

»Sie müssen es ja wissen. Schließlich sind Sie hier als Patientin und ich als Ihre Unterstützung. Ich werde es so weitergeben. Noch einen schönen Tag«, sagte sie.

Die Falte zwischen den Augen schien noch gewachsen zu sein. Sie drehte sich um, blieb abrupt stehen und reichte Carola ein Papier. »Hier ist Ihr vorläufiger Diätplan, Doktor Pütz.«

Sie rauschte davon.

Carola nahm einen weiteren Schluck aus der Tasse, der Kaffee war köstlich.

»Jetzt haben Sie der Kleinen aber einen verpasst«, hauchte ihr jemand von der Seite ins Ohr. Sie drehte sich um. Neben ihr stand ein freundlich aussehender Mittsechziger. Er lächelte sie an. »Ach, ich vergesse ganz meine Manieren. Mein Name ist Theo Bartolomay, guten Morgen«, sagte er und machte eine tiefe Verbeugung.

»Sehr erfreut, Carola Pütz«, sagte sie, und reichte ihm die Hand. »die ist neu hier, und jetzt haben Sie ihr den Tag versaut.« Er griff nach einer Tasse und bediente sich.

»Das tut mir leid. Aber wie kann ich jemandem etwas verbieten, wenn ich seine Krankengeschichte gar nicht kenne?«, fragte sie.

»Kamillentee«, sagte er mit einer Betonung, als hätte er ihr ein Staatsgeheimnis verraten.

»Kamillentee?«

»Ja, Lara Kaiser steht auf Kamillentee. Alle Neulinge bekommen ihn.«

»Das klingt ja alles sehr engagiert und fürsorglich, aber einen Diätplan erstellt man besser erst nach erfolgter Untersuchung, oder?«, fragte sie den Mann, der gerade seinen Teller mit Brötchen volllud.

»Fürsorglich. Ja so ist sie, die Kleine. Woher kommen Sie denn, Frau Doktor?«, fragte er. Ihre Frage beantwortete er nicht. Verschmitzt legte er unglaubliche Mengen von Wurst und Käse auf einen weiteren Teller.

»Ich komme aus Frankfurt«, antwortete sie, nicht ganz bei der Sache. Ihr Blick wanderte über die Auslagen. Das Angebot war reichlich. Da fiel ihr der Zettel ein, den sie noch immer in der Hand hielt. Sie überflog den Inhalt.

Für ihr Frühstück waren Müesli und Knäckebrot mit Frischkäse vorgesehen. Sie hasste Knäckebrot. Müesli ging so gerade noch, aber zu ihren Präferenzen, was das Frühstück betraf, gehörte es sicher nicht. Carola frühstückte gerne deftig. Käse, Wurst, dunkel gebackenes Brot, mit Vollkorn am liebsten. Das alles lud sich gerade Theo Bartolomay auf seinen Teller. Sie tat es ihm gleich, ging mit zwei Tellern voller Leckereien zu ihrem Stuhl zurück. Geschickt balancierte sie dazu noch eine frische Tasse Kaffee.

Der Speisesaal hatte sich immer noch nicht weiter gefüllt. Sie blieb also an ihrem Tisch alleine. Genüsslich biss sie in ihr mit Käse und Wurst belegtes Brötchen. Ihr Blick strich ruhig durch den Raum, als sie aus der hinteren Ecke Unheil anrollen sah, in Gestalt von Lara Kaiser sowie einer ganz in weiß gekleideten untersetzten Dame mit dem Charme einer Catcherin. Carola bildete sich ein, sie könnten nicht ihretwegen unterwegs sein. Sie steuerten auf ihren Tisch zu und bauten sich bedrohlich vor ihrem Tisch auf.

Lara Kaiser atmete einmal tief durch. »Frau Doktor Pütz, ich muss protestieren. Ihr Verhalten ist kontraproduktiv«, stieß sie hervor.

»Frau Kaiser, Sie wieder. Im Vergleich zu was ist mein Verhalten kontraproduktiv?«

Sie schaute verwirrt. »Seien Sie nicht spitzfindig, Frau Doktor. Sie haben meinen Diätplan erhalten und Sie kümmern sich nicht darum. Was denken Sie, warum ich Ihnen den Plan aushändige?«, fragte Lara Kaiser.

»Frau Kaiser«, antwortete Carola weiter kauend, »ganz ehrlich, die Frage habe ich mir auch gestellt. Und wie Sie sehen, habe ich sie für mich bereits beantwortet. Solange es für mich keinen personalisierten Diätplan gibt, sehe ich keinen Sinn darin, einen generalisierten Plan zu akzeptieren.«

Frau Kaiser rollte wieder mit ihren Kuhaugen, Carola schaute sie fest an.

»Diese, wie Sie es nennen, generalisierten Pläne sind von unseren Ärzten vorgegeben. Sie basieren auf der Grundlage amerikanischer Studien«, antwortete sie.

»Hmh, ich wusste gar nicht, dass wir hier in Wellville sind. Lassen Sie mich mal überlegen. Kommt gleich Dr. Kellogg um die Ecke, und bringt mir ein Schälchen Corn Flakes vorbei?«, antwortete Carola mit einer Anspielung auf ein Buch von T.C. Boyle.

»Was?«, fragte Lara Kaiser.

»Ach, das hätte ich wissen sollen. Als das Buch auf den Markt kam, waren Sie noch nicht geboren. Bitte lassen Sie mich frühstücken. Nach meiner Vorstellung bei den Klinikärzten bin ich gerne bereit, einen Diätplan zu akzeptieren. Wissen Sie, falls Sie mir erklären, warum ich heute unbedingt diäten soll, wo ich gestern Abend noch schlemmen durfte, höre ich Ihnen noch eine Weile zu. Das macht keinen Sinn, oder?«

»Gestern Abend war ich nicht hier.«

»Was dann bedeutet, ich habe mich nur an Ihren Diätplan zu halten, wenn Sie anwesend sind?«, fragte sie die langsam zappelig werdende Diätassistentin.

Die beiden Frauen guckten sich betreten an.

»Ich werde Ihr Verhalten an oberster Stelle melden«, sagte Lara Kaiser. Ihre Freundin, die kleine Zornesfalte, erschien zwischen den Äugelchen.

»Ich freue mich darauf«, antwortete Carola frostig.

Sie beschloss spontan, die beiden Frauen zu ignorieren. Die Catcherin stieß ein pfeifendes Geräusch aus, als wolle sie irgendeine Art von Überdruck loswerden. Ein munteres Brabbeln begleitete die beiden Frauen, als sie verschwanden und verwandelte sich in ein zischendes Tuscheln, je weiter sie sich vom Tisch entfernten.

Carola überlegte kurz, warum wohl die Catcherin mit an ihren Tisch gekommen war. Doch der Gedanke hielt sich nicht lange. Mit beschleunigtem Herzschlag kam auch die alte Gewohnheit wieder. Schleichend. Altbekannt. Solche Situationen taten ihr nicht gut. Sie zählte die Lampen an der Decke, die Tische, die Fenster, die Vorhänge, die Tische, auf denen das Essen stand, und die Gäste, die sich nun zahlreicher im Raum verteilten.

Du bist noch lange nicht über den Berg, dachte sie. Sollte sie die Mediziner über ihren Zählzwang informieren? Sie sollte es tun. Mit einem unguten Gefühl in ihrem hämmernden Herz kehrte Carola in ihr Zimmer zurück. Um neun Uhr hatte sie ihren ersten Termin bei Prof. Dr. Ralf Wielpütz, dem Leiter der Klinik. Bis kurz vor dem Termin lag sie auf dem weichen Teppich in ihrem Badezimmer. Die Türe geschlossen, das Licht gelöscht. Dunkelheit. Frieden.

*

»Dreihunderttausend. So viele Menschen sterben jährlich allein in den alten Bundesländern an einem Herzinfarkt.« Prof. Dr. Wielpütz ließ die Zahl im Raum schweben. »Das sind achthundertdreiundzwanzig pro Tag«, ergänzte er.

»So viel Glück wie Sie haben nicht viele, Frau Kollegin«, sagte er mit seiner Katzenstimme.

Ungewohnt. Carola konnte sich nicht daran gewöhnen, dass man ihr als Ärztin Ratschläge gab.

»Ja, das habe ich wohl gehabt«, antwortete sie kleinlaut.

Prof. Wielpütz schaute über den Rand seiner Brille.

»Ich weiß aus meiner langjährigen Praxis, dass gerade die Kollegen sich damit sehr schwertun, solche Dinge zu akzeptieren«, sagte er.

Sie schwieg. Er hatte sicherlich recht.

»Wissen Sie, ich kann das ja auch alles nachvollziehen. Man steht mitten im Job, ist erfolgreich und dann kommt so ein blödes Herz daher und macht einem einen Strich durch die Rechnung. Das kann man nicht akzeptieren. Und deshalb ist die Rückfallquote bei Medizinern auch so hoch.«

Er legte seinen Aktenordner vor sich auf den Tisch und ergänzte: »Die Letalitätsrate ebenfalls.«

»Was soll ich sagen«, begann Pütz, »ich liebe meinen Beruf und die Aussicht, nie mehr als Forensikerin arbeiten zu können, macht mir Angst. Ich denke, dass Sie darüber Bescheid wissen, Herr Professor.«

»Ja, ich kenne Ihre Akte. Ich kenne Ihren Ruf als Forensikerin, und ich kann Ihre Ängste außerordentlich gut nachvollziehen. Solch ein Beruf ist mit keiner anderen Tätigkeit zu vergleichen. Darin liegt aber auch die Gefahr begründet, wissen Sie?«

Carola hob den Kopf, sie hatte einen Entschluss gefasst.

»Ja, Professor, ich weiß es. Ich muss Ihnen noch etwas mitteilen, was sicher nicht in Ihrem Bericht steht.«

Er hob die Augenbrauen.

»Ich leide seit einem Jahr unter Arithmomanie. Ich bin deswegen auch in psychotherapeutischer Behandlung. Der Herzinfarkt steht meiner Meinung nach in einem kausalen Verhältnis zu dem letzten großen Schub, den ich erlitten habe.«

»Das hätten Sie den Kollegen in Bonn mitteilen müssen. Sie haben ein Jahr lang weiter gearbeitet? Mit einer solchen Bedrohung im Rücken?«, fragte er. Die Betroffenheit stand ihm ins Gesicht geschrieben.

»Ja, ich habe es geheim gehalten.«

»Was bei so einer Haltung herauskommen kann, haben Sie ja nun erlebt«, sagte er.

»Ja, sicher. Das war ein Fehler.«

»Sei‘s drum«, sagte er, »Wer Fehler in der Lebensführung ändern will, muss sie erst erkennen. Ich denke, das haben Sie getan, Frau Kollegin.«

»Ja, ich denke, das habe ich. Deshalb bin ich ja nun auch hier«, sagte sie und es wurde ihr bewusst, dass sie die letzten drei Sätze mit einer Bejahung begonnen hatte. Eine Seltenheit bei ihr.

Prof. Wielpütz stand auf und trat ans Fenster.

»Wir haben hier in Bad Elster eine Klinik, die sich auf die neuesten Erkenntnisse der internationalen Therapien bei Herzinfarkten beruft. Früher war es so, dass man den Patienten gesagt hat, was sie zu tun und zu lassen haben. Der Mensch ist aber heutzutage aufgeklärter. Er schaut Fernsehen, informiert sich im Internet. Deshalb ist das so wie früher nicht mehr machbar. Ich bin auch kein Mann, der sich auf seinen weißen Kittel beruft.« Den letzten Satz nuschelte er und machte eine zappelige Bewegung mit der rechten Hand.

Er machte eine Pause und schenkte sich ein Glas Wasser aus einer Karaffe ein. Er trank einen Schluck, bot ihr ebenfalls ein Glas Wasser an, sie nahm es dankbar.

»Das Leben danach bedarf des Beistandes. Der Umgang mit der Erkrankung will gelernt sein. Wer Fehler in der Lebensführung vermeiden will, muss diese erst erkennen. Partnerschaftliche Therapie und Hilfe auf dem Weg zur Eigenverantwortung sind deshalb Leitgedanken einer Rehabilitationsmaßnahme. Nicht anordnen, überzeugen ist angesagt, im Rahmen einer Kur. Diäten verlieren dann auch schnell ihren Schrecken«, sagte er mit einem Lächeln auf den Lippen.

Lara Kaiser hatte gepetzt. Das erkannte Carola an diesem Lächeln. Doch schien ihn das nicht wirklich zu stören.

Sie antwortete mit einem vielsagenden Schmunzeln.

»Frau Doktor, ich brauche bei Ihnen sicher nicht bei A anfangen. Sie sind Medizinerin, selbst wenn Ihre Tätigkeit ganz woanders ansetzt. Wir arbeiten nach einem Vierpunkte-Plan. Lassen Sie mich Ihnen erklären, was wir in den nächsten Wochen mit Ihnen vorhaben. Ich zähle dabei auf ihre vollständige Kooperation.«

In den nächsten Minuten erläuterte ihr Professor Wielpütz die Inhalte des Plans.

»Es gibt vier grundlegende Elemente der kardiologischen Rehabilitation«, begann Wielpütz seinen Vortrag.

»Der somatische Bereich umfasst das körperliche Training, die medikamentöse Therapie und die medizinische Überwachung der Patienten.«

Er machte eine kurze Pause, als erwartete er eine Frage von Dr. Pütz.

Die blieb jedoch aus.

»Der edukative Bereich beinhaltet Informationen zu einer nachhaltigen Lebensstiländerung. Durch Gruppenvorträge, krankheitsspezifische Schulungen und Einzelgespräche erhält der Patient alle Informationen, die er benötigt. Bei Ernährungsschulungen ist es sinnvoll, nahe Angehörige zu integrieren«, sagte er, »hier haben Sie aber jetzt sicher eine Frage, Frau Doktor, oder?«

Sie nickte. »Sie spielen auf die Lebensstiländerung an, wenn ich das richtig vermute? Sie wissen, dass man mir nahelegt, meinen Beruf ruhen zulassen?«

»Ja, das geht aus dem Bericht hervor«, antwortete der Professor, »die soziale und arbeitsmedizinische Beratung, die wir anbieten, betrifft die berufliche und soziale Wiedereingliederung des Patienten. Frau Kollegin, warten wir doch bitte erst einmal die Kur ab. Danach sehen wir weiter.«

»Herr Professor, man hat mir in Bonn ziemlich eindeutig erklärt, dass ich aus ärztlicher Sicht meinen Beruf nicht weiter ausüben sollte. Könnte sich das denn ändern?«, fragte sie.

»Ich kann keine Aussagen machen, solange ich noch keine Untersuchungen durchgeführt habe. Wenn ich es richtig sehe, dann hat man Ihnen keinen Stent gesetzt. Das ist doch so, oder?«, fragte er und griff nach der Akte.

»Nein, es ist keiner gesetzt worden. Man hielt meine Venen für flexibel genug. Das ist doch sicher ein gutes Zeichen?«

Er legte die Akte zurück auf den Tisch.

»Sehen Sie, das ist schon einmal eine erfreuliche Basis. Lassen Sie mich meine Ausführungen eben beenden, dann können wir zu Ihrem medizinischen Check übergehen.

Also, wir haben noch den psychologischen Bereich. Der psychologische Bereich ist gerade bei Postinfarktpatienten besonders wichtig, da depressive Verstimmungen und Störungen der Krankheitsbewältigung häufig auftreten.

Unsere Psychologen unterstützen Ihre Genesung mit Schulungsprogrammen, sie führen Einzelgespräche und leiten Entspannungs- und Stressbewältigungsgruppen«, sagte der Professor.

»Würde für mich auch eine Einzeltherapie in Frage kommen? Ich meine, ich könnte eine zweite Meinung einholen, bezüglich der Arithmomanie.«

Er überlegte eine Weile. »Ja, sicher, warum nicht. Sprechen Sie den Kollegen einfach darauf an. Das spielt ja mit in die Therapie hinein. Haben Sie denn im Moment Probleme?«