Lünsch-Mord - Michael Wagner - E-Book

Lünsch-Mord E-Book

Michael Wagner

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Beschreibung

Das ist die Sensation im sauerländischen Städtchen Lüdenscheid: Ein Mann wurde ermordet! Für den Nachbarn des Toten, Frührentner Theo Kettling, ist der Fall glasklar - in seinem geliebten "Lünsche" treibt sich ein Serienkiller herum. Damit Theo nicht sein nächstes Opfer wird, will er den Mörder selbst aufspüren. Tatkräftige Unterstützung erhält er dabei von Lieselotte Larisch, einer resoluten Schulrektorin im Ruhestand. Die Ermittlungen des Rentnerduos führen zunächst überall hin, nur nicht zum Mörder - bis die beiden auf ein Ereignis stoßen, das weit in der Vergangenheit des Sauerlands liegt ...

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Ähnliche


Inhalt

Cover

Über den Autor

Titel

Impressum

Widmung

Prolog

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

Epilog

Anmerkung

Über den Autor

Michael Wagner, Jahrgang 1968, ist diplomierter Ingenieur der Produktionstechnik und gelernter Journalist. Heute arbeitet er als PR-Experte für ein großes Industrieunternehmen und lebt in der Nähe von Marburg. Sein Krimi-Debüt um das skurrile Duo Theo Kettling und Lieselotte Larisch ist eine Liebeserklärung an seine Heimat, das Märkische Sauerland.

Michael Wagner

Lünsch-Mord

Ein Sauerland-Krimi

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Copyright © 2016 by Bastei Lübbe AG, KölnLektorat: Judith MandtTextredaktion: Christiane Geldmacher, WiesbadenTitelillustration: © shutterstock/Eric Gevaert; shutterstock/Petr Kopka; shutterstock/ziviani; shutterstock/Markus GannUmschlaggestaltung: Christin WilhelmE-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-3075-5

www.bastei-entertainment.dewww.lesejury.de

Für meinen Vater – ich vermisse dich, Kumpel

Prolog

Er saß auf dem alten, abgewetzten Sofa und sah auf die Standuhr, deren monotones Ticken die eisige Stille noch zu verstärken schien.

Wie lange schon? Zwei Stunden? Vielleicht drei, vier?

Er erinnerte sich schemenhaft, wie er das Büro panisch verlassen hatte und durch den schmalen Flur und das Treppenhaus nach draußen gelaufen war. War ihm jemand begegnet? Er wusste es nicht mehr; doch so spät am Abend war meist niemand mehr im Gebäude, und das beruhigte ihn.

An diesem Punkt hörte seine Erinnerung ganz auf. Wie hypnotisiert musste er in sein Auto gestiegen und nach Hause gefahren sein.

Seine Wahrnehmung hatte erst später wieder angefangen zu funktionieren, und ihm war bewusst geworden, dass er sich bereits in seiner Wohnung befand. Von da an war sein Verstand – erst ganz langsam, dann immer schneller – in seinen Kopf zurückgekehrt, und jetzt sah er alles ganz klar:

Mehr als ein halbes Jahrhundert lang hatte er ein falsches Leben leben müssen, in ständiger Ungewissheit und verdammt zum Nichtstun. Nun aber konnte er etwas tun, nun konnte er endlich handeln.

Er wartete, bis die Dämmerung anbrach und ein schwaches Licht in das Zimmer fiel. Dann stand er auf, nahm sich die Autoschlüssel und ging hinaus.

1

Cleo hatte keine Lust, Gassi zu gehen. Wie immer, wenn es regnete, versuchte sie sich unter ohrenbetäubendem Jaulen und mit vollem Körpereinsatz zu drücken. Und wie immer nutzte ihr das nichts, denn ihr Frauchen war äußerst resolut und prinzipientreu.

Lieselotte Larisch hatte die Deutsche Dogge zwei Jahre zuvor gekauft, kurz nachdem sie das alte Bauernhaus in Rölvede erworben hatte und dort eingezogen war. Früher, als vielbeschäftigte Rektorin der Grundschule Spormecke, hatte sie von einem solchen Leben auf dem Land geträumt, und nachdem sie in den Ruhestand gegangen war, erfüllte sie sich ihren Traum.

Zu den wenigen Störungen in ihren harmonischen, aber streng durchorganisierten Tagesabläufen gehörten die Kämpfe mit Cleo, wenn diese ein Bad oder, wie an diesem Abend, einen kurzen Fußmarsch im Regen verhindern wollte.

Lieselotte Larisch hatte freilich schon Erfahrung mit solch unerfreulichen Situationen und setzte zumeist auf den Überraschungseffekt.

So auch diesmal: Unter Vorspiegelung falscher Tatsachen – sie tat so, als suche sie etwas scheinbar Heruntergefallenes auf dem Fußboden der Diele – appellierte sie an Cleos Neugier. Die Hündin konnte, obwohl schon zigmal auf ähnliche Tricks hereingefallen, schließlich nicht widerstehen und kam näher.

Dann kam der Angriff. Mit einem schnellen und entschlossenen Griff bekam sie den rechten Vorderlauf Cleos zu fassen und stürzte sich im nächsten Augenblick, ihre ernst zu nehmenden Arthrose-Beschwerden ignorierend, auf die Knie. Schon umklammerte sie im Stil eines Ringers den Rumpf des stattlichen Tieres und zerrte es unter dessen energischem Protest in Richtung Haustür. Cleo versuchte immer wieder, mit ihren Läufen Halt auf dem glatten Parkettboden zu finden, rutschte aber stets ab und verlor dabei wertvolle Zentimeter. Zweimal zwickte sie Lieselotte Larisch sogar in die Hand, worauf jeweils ein gellender Schrei folgte. Davon kurzfristig beeindruckt, verfiel Cleo für einige Sekunden in völlige Erstarrung, was ihrer Besitzerin ebenfalls einen nicht unerheblichen Raumgewinn einbrachte.

Hund und Frauchen brachten zusammen gut und gerne 200 Kilo auf die Waage und füllten fast die gesamte Breite der Diele aus. Eine wild fuchtelnde, stöhnende und knurrende Masse, die sich langsam, aber kontinuierlich fortbewegte.

Endlich draußen angekommen, stieß Lieselotte Larisch mit dem linken Fuß und in artistischer Bewegung die Haustür zu. Wie gewohnt fand sich Cleo von diesem Punkt an mit der Situation ab und fügte sich, zwar ohne Begeisterung, aber auch ohne nennenswerten Widerstand, ihrem Schicksal. Lieselotte Larisch, nach Luft ringend und mit zerzauster Dutt-Frisur, entfuhr dennoch ein »Dämliches Mistvieh!« – eine völlig unangemessene sprachliche Entgleisung, für die sie sich im nächsten Moment selbst rügte, denn noch immer war sie mit jeder Faser ihres Körpers leidenschaftliche Deutschlehrerin.

Rölvede war eine kleine Siedlung, die seit der Kommunalreform des Kreises Altena vor drei Jahren zur Gemeinde Schalksmühle gehörte und auf einem langgestreckten Höhenkamm in unmittelbarer Nähe der neuen Autobahn 45, der Sauerlandlinie, lag. Obwohl die Lärmbelästigung, wohl durch die etwas höhere Lage der Fernstraße, sich in Grenzen hielt, hatte Lieselotte Larisch die Immobilie zu einem echten Schnäppchenpreis bekommen. Knapp ein Dutzend Häuser standen hier, zumeist alte Bauernhäuser, aber auch einige moderne im typisch unbeholfenen Stil der fünfziger und sechziger Jahre. Der Verkehr auf den beiden schmalen Straßen, die durch den Ort führten, war schon vor Fertigstellung der Sauerlandlinie mehr als überschaubar, seitdem aber tendierte er gegen null. Lieselotte Larisch boten sich hier zahlreiche Variationsmöglichkeiten sowohl für kurze als auch für ausgedehnte Spaziergänge zu den umliegenden Dörfern. Wegen des schlechten Wetters und weil es bereits dunkel geworden war, entschied sie sich an diesem Abend für eine ihrer Kurzstrecken, die aus dem Ort hinaus in Richtung Rummenohl zum Waldrand führte.

Sie spannte ihren Knirps-Automatikschirm auf, den sie vor der Auseinandersetzung mit Cleo in die Manteltasche gesteckt hatte, und marschierte los. Die Hündin lief dicht neben ihr und begnügte sich damit, ihrem Unmut durch gelegentliches Jaulen und Knurren Luft zu machen.

Bis zum Waldrand, der unmittelbar hinter einer sanften Kuppe lag, waren es etwa 400 Meter. Als Lieselotte Larisch das Ortsausgangsschild passierte und an den links und rechts der Straße liegenden Weiden entlangging, wurden Regen und Wind abrupt stärker. Sie versteckte sich hinter dem Schirm und kämpfte sich bis zum Forstweg vor, der den Beginn des dichten Fichtenwaldes markierte. Obwohl der Regen gleich darauf schon wieder etwas nachließ und auch der Wind nicht mehr so erbarmungslos blies, hielt sie den Schirm noch immer dicht vor sich. So wäre sie beinahe vor einen VW Käfer mit zerbeultem Kotflügel gelaufen, der, ungewöhnlich für diese Uhrzeit, an der Einfahrt zum Forstweg stand.

Wenn Cleo ihr Geschäft verrichten sollte, dann musste Lieselotte Larisch zumindest ein kleines Stück mit ihr in den Wald gehen. Sie selbst hatte das der Dogge im Welpenalter so beigebracht, und bei widrigen Witterungsverhältnissen rächte sich das nun. Die Hündin lief etwa zwanzig Meter voraus und begann gerade damit, sich einen geeigneten Platz zu suchen, als sie plötzlich laut bellte, um einen Moment später ängstlich zu jaulen.

»Nun hör doch mit dem Theater auf und stell dich nicht so an«, rief Lieselotte Larisch, die stehen geblieben war, weil sie einerseits im Innern des Waldes kaum die Hand vor Augen sah, andererseits aber keine Lust hatte, ihre stets mitgeführte Taschenlampe aus der Reißverschluss-Innentasche des Mantels zu kramen.

Wieder bellte Cleo, halb aus Angst, halb zornig, und im nächsten Moment hörte Lieselotte Larisch ein deutliches Knacken, als ob ganz in ihrer Nähe ein Ast gebrochen wäre. Nun knöpfte sie doch die oberen drei Knöpfe ihres Mantels auf und holte umständlich mit einer Hand – die andere hielt nach wie vor den Schirm – die Taschenlampe hervor.

Sie leuchtete links neben sich, konnte aber außer dem Labyrinth aus nass-schwarzen Baumstämmen nichts entdecken. Dann schwenkte sie langsam nach rechts und sah Cleo im Lichtkegel, die jetzt etwa zehn Meter von ihr entfernt stand, sie irritiert anstarrte und gleich wieder losbellte.

Lieselotte Larisch schwenkte die Taschenlampe weiter nach rechts und betrachtete für einige Sekunden einen etwa anderthalb Meter hohen und fünf Meter breiten Holzstapel, der von Forstarbeitern kürzlich nach Fällarbeiten angelegt worden war. Rechts daneben, im Schein der Taschenlampe gerade noch zu erahnen, stand ein hoher Baumstumpf.

Sie hatte sich schon umgedreht, um zu schauen, ob sie hinter sich etwas entdecken konnte.

Doch dann führte sie den Lichtstrahl noch einmal zurück – und erkannte, dass das, was da ein paar Schritte von ihr entfernt stand, kein Baumstumpf war, sondern der Oberkörper eines Menschen.

Ein Blitz fuhr durch Lieselotte Larisch. Ihre Finger umklammerten verkrampft den Griff der Taschenlampe, deren Licht eine unwirklich erscheinende, entstellte Fratze beschien.

Mit weit aufgerissenen Augen starrte der andere sie an, die Haut alt und faltig, doch mit einer wirren Lockenfrisur und riesigen, dicken Augenbrauen.

Lieselotte Larisch war alles andere als ein ängstlicher Mensch, aber in diesem Moment überfiel sie eine fremdartige Furcht. Sie hörte ihren eigenen Herzschlag in den Ohren; er war, so schien es ihr, viel lauter als Cleos Bellen, das sie dumpf und wie durch einen Filter wahrnahm.

Und nun erkannte sie auch, warum nur der Oberkörper dieser grauenhaften Gestalt zu sehen war. Mit den Beinen stand ihr Gegenüber in einem Erdloch, offenbar selbst gegraben, denn die rechte Hand umfasste den Stiel einer Schaufel. Im Augenwinkel nahm Lieselotte Larisch Cleo wahr, die an ihr vorbei aus dem Wald rannte – vermutlich zurück ins Dorf, wie aus der Richtung des leiser werdenden Bellens zu schließen war.

Dann wich die Ohnmacht des Schockzustandes einer sich rasend schnell in ihrem Kopf ausbreitenden Panik. Sie versuchte noch einige Sekunden standzuhalten, ergriff aber schließlich wie fremdgesteuert die Flucht. Dabei nahm sie nicht den Forstweg, sondern rannte zur leicht erhöht liegenden Viehweide, die nur wenige Meter entfernt lag und schneller zu erreichen war als die Straße.

Der Sachschaden war dafür umso größer: Ihren noch immer aufgespannten Knirps-Schirm ruinierte sie sich, als sie damit zwischen zwei Ästen hängen blieb, und an einem vorstehenden Nagel im Zaunpfahl riss sie sich den teuren Lodenmantel auf einer Länge von rund 20 Zentimetern auf. Zu allem Überfluss bekam sie noch, am Weidezaun mit nassen Händen zerrend, mehrere Stromschläge. Den Zaun schließlich mit Mühe und Not niedergerungen, rannte sie zwischen einem Dutzend aufgeschreckter Fleckviehkühe schräg auf die Straße zu. Diesmal versuchte Lieselotte Larisch, den Elektrozaun durch einen beherzten Sprung zu überwinden, musste aber feststellen, dass sie ihre sportlichen Fähigkeiten dramatisch überschätzt hatte. So blieb sie mit beiden Beinen an den Drähten hängen und stürzte kopfüber die etwa einen Meter hohe Böschung hinunter. Die Brille fiel auf die Straße. Das Gestell zerbrach, und ein Glas sprang heraus. Lieselotte Larisch drehte hektisch den Kopf nach hinten, doch allmählich begriff sie, dass der Fremde ihr nicht folgte, und sie wurde ruhiger. Sie sammelte die Fragmente der Brille zusammen, dann ging sie schnellen Schrittes zurück zum Haus.

Die Anhäufung der Katastrophen erfuhr allerdings noch eine Fortsetzung. Cleo, zwar heilfroh, ihr Frauchen wiederzusehen, jedoch völlig verstört, hatte vor lauter Aufregung ihr Geschäft vor der Haustür verrichtet. Lieselotte Larisch, ohne Brille fast blind, trat in den Haufen, bemerkte dies aber nicht sofort und ging eilig durch das gesamte Haus, um die Rollläden zu schließen. Dann griff sie zum Telefonbuch und suchte die Nummer der Polizei in Lüdenscheid heraus. Sie hatte die ersten Ziffern schon gewählt, als sie innehielt und den Hörer wieder auf die Gabel legte.

Vielleicht gab es für das alles eine ganz einfache Erklärung. In den Wald zu gehen und ein Loch zu graben war jedenfalls, für sich gesehen, kein Verbrechen.

Ein unangenehmer Geruch stieg in Lieselotte Larischs Nase. Sie erkannte, dass sie den Hundehaufen im ganzen Haus verteilt hatte, und beschloss, erst mal für Ordnung zu sorgen.

So gab es an diesem späten Abend des 9. Mai 1972 noch eine Menge zu tun. Der Boden musste gewischt, der Mantel genäht werden. Außerdem galt es, Cleo wieder aufzurichten, die noch immer wie Espenlaub zitterte: »Du bist mir eine schöne Beschützerin. Na, komm her, meine Dicke!«

Und dann dauerte es noch fast eine Stunde, bis Lieselotte Larisch ihre alte Ersatzbrille wiederfand.

Die Beschäftigungstherapie zeigte positive Wirkung. Zwar war sie nach wie vor recht aufgekratzt, doch es gelang ihr, wieder klar zu denken:

Diese bizarre Gestalt im Wald hatte zweifellos irgendetwas oder irgendjemanden vergraben wollen – wahrscheinlich Letzteres, dafür sprachen, soweit sie das in ihrem Zustand und im Schein der Taschenlampe hatte erkennen können, Form und Umfang des Erdloches. Andererseits war sie sich ziemlich sicher, weder eine Leiche noch eine Schatztruhe oder sonst etwas gesehen zu haben, was hätte vergraben werden können.

Sie schloss die Augen und versuchte, sich möglichst deutlich an das unheimliche Gesicht zu erinnern. Sie hatte das Gefühl, diese Gestalt schon einmal irgendwo gesehen zu haben.

Lieselotte Larisch plagten plötzlich Selbstvorwürfe. Wäre es nicht doch ihre Pflicht gewesen, sofort die Polizei anzurufen? Ach was! Bis die da gewesen wären, hätte der Kerl längst das Weite gesucht und wäre über alle Berge gewesen. Sie würde gleich morgen früh zur Polizei fahren und alles zu Protokoll geben. Vorher aber würde sie die Stelle im Wald aufsuchen und schauen, ob das Grab noch offen war. Zwar hatte sie ein bisschen Angst davor, etwas Unschönes vorzufinden, doch ihre fast vollständig wiederhergestellte Entschlossenheit und ihre Neugier waren stärker.

Lieselotte Larisch ging gegen ein Uhr morgens ins Bett und schlief, angesichts des Erlebten, erstaunlich schnell ein.

Doch die Ruhe währte nicht lange. Nach einer halben Stunde schreckte sie hoch, weil sie wusste, wo sie das Gesicht schon einmal gesehen hatte. Vor einigen Jahren hatte sie sich im Kino einen Film mit dem Titel »Das Testament des Dr. Cordelier« angeschaut, eine Art französische Version von »Dr. Jekyll und Mr. Hyde«. Die Titelfigur verwandelte sich nach dem Verzehr einer selbst entwickelten Droge in ein Wesen namens Opale. Und genau dieser Opale, ein anarchistisches Ungetüm, das seine Umgebung während nächtlicher Streifzüge terrorisiert hatte, sah aus wie der Mann im Wald: Das wirre, lockige und zu allen Seiten abstehende Haar passte nicht zum Gesicht, die unnatürlich großen, buschigen Augenbrauen wirkten gruselig und Furcht einflößend.

*

Der Wecker klingelte um halb sieben, so wie jeden Morgen. Lieselotte Larisch hatte eine unruhige Nacht hinter sich; immer wieder war ihr das Gesicht des Fremden mit der Schaufel erschienen, manchmal auch das von Opale. Im Laufe der Nacht hatten sich beide Gesichter mehr und mehr angeglichen, bis sie schließlich nicht mehr voneinander zu unterscheiden gewesen waren.

Pünktlich um sieben saß sie am Frühstückstisch in der Küche. Cleo lag neben ihr und wirkte gut erholt von dem Schrecken des letzten Abends; hin und wieder erbettelte sie sich ein Stückchen Wurst, was ebenfalls auf eine völlig intakte Konstitution des Tieres hinwies.

Die Morgennachrichten auf WDR 1 waren fester und unumstößlicher Bestandteil des Tagesablaufes von Lieselotte Larisch. Doch an diesem Morgen drehten sich ihre Gedanken nur um das, was sie am Vorabend erlebt hatte, und um das, was sie wohl bei der nahenden Inspektion des Tatorts entdecken würde. Auch dem Besuch bei der Polizei sah sie mit Spannung entgegen. So bekam sie nicht mit, dass die Sowjetunion und Nordvietnam die Seeblockade der Vereinigten Staaten gegen die nordvietnamesischen Häfen entschieden verurteilt hatten. Und auch nicht, dass der Landschaftsverband Rheinland in diesem Frühjahr mehr als zwei Millionen Mark für die Beseitigung der Spikes-Schäden auf den Autobahnen in seinem Gebiet würde ausgeben müssen.

Nach drei Tassen schwarzem Tee, zwei Scheiben Kommissbrot – eine mit selbstgemachter Erdbeermarmelade, die andere mit Salami –, drei Soleiern sowie einem ordentlichen Stück Schweizer Käse fühlte sie sich genügend gestärkt, um in den Wald zu gehen und nach dem Grab zu sehen. Cleo signalisierte keinerlei Widerstand, sondern schien im Gegenteil gut gelaunt zu sein – wohl aufgrund der nunmehr trockenen Witterung mit vereinzelten Sonnenstrahlen.

Lieselotte Larisch ging zunächst eiligen Schrittes bis zum Waldrand, verspürte aber ein mulmiges Gefühl in der Magengegend und wurde langsamer. Auch Cleo sträubte sich, ins Innere des Waldes zu gehen, und so tasteten sich beide Stück für Stück an das Erdloch heran.

Die Aufregung war allerdings gar nicht nötig. Das Grab gähnte ihnen leer entgegen, die Schaufel war samt ihrem geheimnisvollen Benutzer verschwunden, und auch sonst entdeckte Lieselotte Larisch im Umkreis von bestimmt hundert Metern nichts Auffälliges. Zunächst hatte sie gehofft, drei in der Nähe weggeworfene Bierflaschen oder eine Fanta-Dose könnten vom »Täter« stammen. Doch die Dose war größtenteils verrostet, und auch die Flaschen mussten schon lange hier liegen; auf den stark ausgebleichten Etiketten konnte man gerade noch den Schriftzug »Andreas Pils« lesen.

Einerseits erleichtert, andererseits durchaus enttäuscht ging sie zurück ins Dorf. Cleo trottete zufrieden neben ihr her, hin und wieder abgelenkt durch ein paar Kaninchen, die in ziemlicher Entfernung über die Kuhweide hoppelten. Am Haus angekommen, ging Lieselotte Larisch gar nicht mehr hinein, sondern holte sofort ihren in »Mostana« – eine Art Ockergelb – lackierten Daf 44 aus der zur Garage umfunktionierten Scheune.

Bis zur Polizeiwache in Lüdenscheid waren es rund elf Kilometer. »Ein Königreich für meine richtige Brille«, brummte sie schon nach wenigen Metern, denn das Autofahren mit der seit vielen Jahren ihrer Sehstärke nicht mehr angepassten Ersatzbrille glich einem Blindflug. Auch Cleo, die wie immer auf der mit einer Sabberdecke ausgelegten Rücksitzbank lag, schien die Gefahr zu spüren und vergrub den Kopf zwischen Sitzfläche und Rückenlehne. Da Lieselotte Larisch selbst mit ihrer aktuellen Sehhilfe eine zwar sehr forsche, aber völlig untalentierte Fahrerin war, mussten am Ende beide glücklich darüber sein, dass trotz mehrerer haarsträubender Beinahe-Unfälle nichts passiert war.

Die Polizei hatte ihr Domizil im ehemaligen Direktionsgebäude der Kreis-Altenaer-Eisenbahn KAE, einer Schmalspurbahn, die früher Lüdenscheid mit den Nachbarstädten Altena und Werdohl verbunden hatte sowie die Gemeinde Schalksmühle mit der Stadt Halver. Vor fast fünf Jahren war der letzte Güterzug auf den Gleisen der KAE gefahren, den Personenverkehr hatte man, je nach Strecke, schon in den fünfziger und frühen sechziger Jahren eingestellt.

Lieselotte Larisch stellte ihren Daf zwischen einem Opel Rekord und einem VW Käfer ab, beides Streifenwagen, und ließ Cleo heraus.

Die schwere Holztür des in einem hässlichen Grünton gestrichenen Gründerzeit-Gebäudes stand offen. Lieselotte Larisch trat ein und stand in einem langen Korridor mit einer auf der linken Seite liegenden Treppe, die in den ersten Stock führte, sowie mehreren Türen auf beiden Seiten. Die erste Tür rechts stand offen, und die Tippgeräusche einer Schreibmaschine drangen in den Korridor, plötzlich unterbrochen von einem Dialog zwischen zwei Männern.

Lieselotte Larisch betrat den Raum, der etwa sechs mal sechs Meter groß war und durch eine Art Theke Freunde und Helfer von gewöhnlichen Menschen trennte. Jenseits der Barriere waren zwei Uniformierte in eine lebhafte Diskussion vertieft und würdigten Lieselotte Larisch keines Blickes. Der eine – sie kniff die Augen zusammen, um die fehlenden Dioptrien zu kompensieren, und schätzte ihn auf höchstens fünfundzwanzig Jahre – war offenbar der Verursacher der Tippgeräusche. Er saß an dem hinteren von zwei Schreibtischen und sah Lieselotte Larisch kurz an, um sich im nächsten Moment wieder dem Gespräch mit seinem Kollegen hinzugeben. Der zweite Polizist stand direkt hinter der Theke. Er war etwas älter, vielleicht Anfang dreißig, spindeldürr und sah in der viel zu großen Uniform ziemlich verkleidet aus. Das rotblonde Haar war unvorteilhaft zu einem strengen Seitenscheitel frisiert, was die lange und schmale Nase zusätzlich betonte.

In der hitzig geführten Diskussion ging es offenbar um einen Dienstwagen und um die Gründe für dessen abnorm hohen Benzinverbrauch.

»Und ich sage dir, die Karre braucht einfach so viel, da spielt es keine Rolle, wer hinterm Steuer sitzt«, ereiferte sich der Dünne.

Der andere konterte umgehend: »Aber mein Onkel fährt auch ’n 220er Mercedes, und der kommt immer mit dreizehn, vierzehn Litern aus.«

Lieselotte Larisch wollte nicht unhöflich sein und räusperte sich diskret, doch die beiden fuhren unbeeindruckt fort.

»Glaubst du vielleicht, es macht Spaß, sich dauernd rechtfertigen zu müssen? Gestern hat mich sogar der Alte angeblafft; wir könnten alle nicht richtig fahren, und das verdammte Ding würde nicht umsonst fast 30 Liter schlucken.«

»Trotzdem, bei meinem Onkel …«

Lieselotte Larischs Geduld war aufgezehrt, und sie beschloss, dem Disput freundlich, aber entschlossen ein Ende zu setzen:

»Entschuldigung, ich möchte ein …«, sie zögerte, »… einen Vorfall melden.«

Die Polizisten warfen ihr einen langen und vernichtenden Blick zu. Es war der Dünne, der schließlich das Wort ergriff:

»Ich hoffe doch, dass sich Ihr kleines Hündchen benehmen kann.«

»Seien Sie versichert, dass Sie keinen Grund zur Beanstandung haben werden. Platz, Cleo!«

Der Befehl war hinfällig – die Hündin hatte sich bereits neben die Füße ihres Frauchens gelegt.

Lieselotte Larisch schilderte, was sie am Abend zuvor erlebt hatte. Kurz und bündig, ohne aber etwas Wesentliches auszulassen.

»Ja und?«, fragte der Dünne, der zuvor mehrfach und aufreizend in die Ausführungen hineingegähnt hatte.

»Wie bitte?« Lieselotte Larisch wurde langsam ärgerlich, bemühte sich aber nach Kräften, die Fassung zu bewahren, und wollte mit der rein rhetorischen Frage etwas Zeit gewinnen, um sich zu sammeln.

»Gute Frau, können Sie sich vielleicht vorstellen, dass wir uns um wichtigere Dinge zu kümmern haben als um irgendwelche Verrückte, die nachts Löcher in die Erde buddeln? Im Übrigen gehört Rölvede seit der Kommunalreform zu Schalksmühle. Was halten Sie also davon, wenn Sie einfach dorthin zur Polizei fahren und Ihre kleine Geschichte erzählen?«

Lieselotte Larisch rang nach Luft. Vor allem der Beginn des Monologs hatte sie auf die Palme gebracht. Sie hasste es, geringschätzig mit »Gute Frau« angeredet zu werden. Rund ein halbes Dutzend Mal war ihr das bislang widerfahren, und stets hatte es einen gewaltigen Rüffel für ihren Gesprächspartner zur Folge gehabt.

Sie, die sich alles in ihrem Leben hart hatte erarbeiten müssen, die es nach der Flucht aus ihrer Heimat im Sudetenland mit Fleiß und Beharrlichkeit bis zur Rektorin der Grundschule Spormecke gebracht hatte – nein, sie war nicht gewillt, sich von einem Milchgesicht mit schlechten Manieren derart zurechtweisen zu lassen.

»Hören Sie, junger Mann, ich weiß nicht, ob Ihr rüpelhaftes Benehmen auf eine schlechte Kinderstube oder auf irgendetwas anderes zurückzuführen ist. Ich darf Ihnen aber versichern, dass Sie mit einer solch verlotterten Einstellung zu Ihrem Beruf niemals Karriere machen und stattdessen in dieser schäbigen Polizeistation alt und grau werden.«

Das saß. Dem Dünnen fehlten offensichtlich die Worte. Er starrte Lieselotte Larisch mit offenem Mund an – ebenso wie sein jüngerer Kollege.

»Komm, Cleo, hier haben wir nichts mehr verloren«, sagte sie und stürmte zu ihrem Auto. Zwei Beamte, die ihren Streifenwagen nicht in der dafür vorgesehenen Parkbox vor dem Gebäude abstellen konnten, beäugten gerade kritisch den Daf. Jeder andere Autofahrer, der sein Kraftfahrzeug hier abgestellt hätte, wäre zweifellos zur Rede gestellt worden; beim Anblick der vor Wut krebsrot angelaufenen älteren Dame aber hielten beide Gesetzeshüter inne und ließen den Kleinwagen anstandslos passieren.

Lieselotte Larisch folgte nicht dem polemischen Rat des Dünnen, zur Polizei in Schalksmühle zu fahren und ihre Beobachtungen dort weiterzugeben. Stattdessen suchte sie ihren Augenoptiker in der Wilhelmstraße auf, der unter Einsatz seiner gesamten handwerklichen Fähigkeiten in fast einstündiger Arbeit die in Mitleidenschaft gezogene Brille wieder zusammenklebte. Das Ergebnis ließ aus rein ästhetischer Sicht zwar zu wünschen übrig – Lieselotte Larischs Gesicht wirkte völlig asymmetrisch und windschief –, aber dafür konnte sie nun wieder richtig sehen. Außerdem suchte sie sich noch gleich ein todschickes Gestell aus Leichtmetall für eine neue Brille aus. In einer Woche, so der Optiker, könne sie die fertige Brille abholen.

Dank der nunmehr wieder klaren Sicht verlief die Heimfahrt nach Rölvede ohne ernste Zwischenfälle.

Zu Hause angekommen, bereitete sich Lieselotte Larisch ein nicht gerade kalorienarmes Mittagessen zu; es gab Mohnschluschken. Nachdem sie Kartoffeln gekocht und durch den Fleischwolf gedreht hatte, gab sie heißes Wasser, Mehl und eine Prise Salz hinzu und knetete unter Einsatz ihrer beeindruckenden Körperstärke alles kräftig durch. Dann formte sie aus dem Teig die Schluschken – länglich und an den Enden spitz zulaufend, optisch an Kipferln erinnernd, allerdings nicht gebogen. Während die Schluschken kochten, machte sie Butter warm, quetschte den Mohn mit einem Mörser und vermischte ihn mit Zucker. Zum Schluss nahm sie die Schluschken aus dem kochenden Wasser und goss die zerlassene Butter sowie die Mohn-Zucker-Mischung darüber. Das Rezept für diese sudetenländische Spezialität hatte sie von ihrer Mutter übernommen, die bis zu ihrem Tod vor fünf Jahren immer mit der Tochter zusammengelebt hatte.

Gegen halb eins waren alle dreiundzwanzig Mohnschluschken weggeputzt, wobei Lieselotte Larisch mehrfach dem Betteln Cleos nachgegeben und, aus tiermedizinischer Sicht unvernünftig, eine insgesamt beachtliche Portion an die Hündin abgetreten hatte.

Nach dem Mittagsschlaf, wie jeden Tag ziemlich genau eine Stunde lang, ging sie wieder in den Wald. Zwar hatte sie aufgrund des Disputs mit der Polizei weitgehend mit dem zunächst so spannend erschienenen Abenteuer abgeschlossen, doch ein gerüttelt Maß an Neugier war bei der Schulrektorin a. D. stets vorhanden. Aber nichts hatte sich verändert.

Noch zwei oder drei Wochen lang ging Lieselotte Larisch täglich mit Cleo dorthin, wo sie die Gestalt mit der Schaufel gesehen hatte.

Das Grab aber blieb offen und leer.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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