Oliver Hell - Feuervogel - Michael Wagner - E-Book

Oliver Hell - Feuervogel E-Book

Michael Wagner

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Beschreibung

Oliver Hell fährt mit seiner Partnerin Franziska nach Dänemark, um sich zu erholen. Dort treffen sie sich mit der Bonner Gerichtsmedizinerin Stephanie Beisiegel und deren Freundin Sarah. Die Urlauber verleben ungestörte Urlaubstage, bis Hell eine schreckliche Entdeckung am Strand macht. Ab diesem Zeitpunkt gerät der Bonner Kommissar in Dänemark in Geschehnisse, deren Ursprung weit in der Vergangenheit liegen. Seine Ermittlungen machen ihm nicht nur unter den Einheimischen Feinde, auch seine Freunde betrachten sein Tun mit Skepsis. In diesem Oliver-Hell-Krimi ist alles anders. Er spielt nicht in Bonn, sondern am Ringkøbing Fjord in Dänemark. Auch das übliche Team, bis auf Stephanie Beisiegel, ist nicht involviert. Dennoch ist 'Feuervogel' ein richtiger Oliver-Hell-Krimi, vielleicht sogar 'der' Hell schlechthin.

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Ähnliche


Michael Wagner

Oliver Hell - Feuervogel

Oliver Hells fünfter Fall

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Erweitertes Impressum

Widmung

Vorweg

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Epilog

Nachwort

Impressum neobooks

Erweitertes Impressum

Ungekürzte Ausgabe

1.Auflage

Im Juli 2014

Copyright © 2013 Michael Wagner

Textur by Ruth West.

Frame by Freepik.

Korrektorat: Michaela Retetzki

Michael Wagner

Auf dem Beuel 10, 53773 Hennef

[email protected]

All rights reserved.

Widmung

Für Thor und all die anderen.

Die Zeit verschlingt alle Dinge.

Leonardo da Vinci

Vorweg

Ich möchte mich vorab entschuldigen, weil ich es Ihnen zumute, erst ein Vorwort zu lesen, obwohl Sie doch den rasanten Einstieg in das Geschehen bevorzugen würden, aber genau darum geht es. Oliver Hells fünfter Fall ‚Feuervogel‘ baut auf den Ereignissen der Vorgängerromane auf. Jetzt werden Sie mich fragen, ob man diesen Roman auch lesen kann, ohne die vorherigen zu kennen. Das kann man sicherlich, doch wird es verständlicher, wenn man die anderen Krimis kennt. ‚Feuervogel‘ beginnt dort, wo ‚Gottes Acker‘ endet. Oliver Hell leidet unter Burn-out und benötigt dringend Urlaub, deshalb bricht er zusammen mit seiner Partnerin in einem Wohnmobil mit dem Ziel Dänemark auf. Ohne es zu wollen, werden sie dort in dramatische Vorgänge hineingezogen, ihr Urlaub verläuft völlig anders als geplant.

Prolog

In die immerwährende Stille mischten sich leise Geräusche. In den ersten Tagen hatte sie noch darauf gehofft, dass man sie finden würde. Doch je länger ihr Aufenthalt dauerte, desto schärfer sah sie die Tatsache vor Augen, dass ihre alte Welt für sie unwiederbringlich verloren war. Jemand hatte für sie entschieden, dass sie sich dort befand, und es schien seine Richtigkeit zu haben. Sie wusste nicht, wann sie zum ersten Mal den Gedanken gefasst hatte, dass sie in einer Todeskammer lebte, doch irgendwann setzte er sich in ihr fest. Mit brutaler Macht. Jeden Morgen hatte sie an ihren Fesseln gerüttelt, als sich die Tür öffnete und der schmale Spalt Tageslicht in ihr Gefängnis fiel. Dann schob jemand das Tablett mit einem Glas Wasser und einem Stück Brot in ihre Zelle und nahm das vom Vortag wieder mit. Sie schrie aus Leibeskräften, doch derjenige, der danach die Tür wieder hinter sich schloss, hatte kein Mitleid mit ihr. Brit Andresen hatte schon von Entführungen gehört. Meistens wurden die Opfer nach einiger Zeit freigelassen, sobald das Lösegeld gezahlt worden war.

Aber sie konnte noch nicht einmal sagen, ob man sie entführt hatte. Niemand kam, um ihr einen Telefonhörer an ihr Ohr zu halten, weil ihr Mann ein Lebenszeichen von den Entführern forderte. So kannte man es aus den amerikanischen Filmen. Das Opfer litt, aber die Angehörigen waren ebenfalls Opfer. Sie litten mit. Wie gut es ihr auch anfangs gelungen war, daran zu glauben, dass man sie wieder frei lassen würde, spätestens nach den ersten drei Wochen ließ sie die Hoffnung fahren.

Der Gedanke an die ersten Tage verblasste mit der Zeit und an seine Stelle trat irgendwann die Hoffnung, dass es doch endlich vorbei sein würde. Sie war sicher, kein Entführungsopfer zu sein. Wenn die Entführung schiefgegangen war, hätte man sie getötet, um die Spuren zu verwischen, doch nach drei Monaten wusste sie, dass sie hier in diesem Gefängnis den Rest ihres Lebens verbringen würde. Die Handschelle hatte sich tief in ihr Handgelenk eingeschnitten, sie konnte sich nur so weit bewegen, dass sie das Tablett und ihren Eimer erreichen konnte, in dem sie ihre Notdurft verrichtete.

Wie würde es ihrem Mann gehen? Was tat er wohl, um nach ihr zu suchen? Neben all der Angst um ihr eigenes Leben machte sie sich vor allem Sorge um ihn. Diese Entführung betraf ihre Familie, auch ihren Bruder und ihre Freunde. Anfangs hatte sie den Vermummten angebettelt, geheult, ihn angeschrien. Dann hatte sie die Wahrheit erkannt, dass sie schreien, wüten und weinen konnte, so viel sie wollte, sie würde ihn nicht erweichen. Sie würde nicht mehr nach Hause kommen. Es würde damit enden, dass sie sterben würde. Man würde sie nicht freilassen. Nach einem halben Jahr in ihrem Gefängnis griff der Wunsch zu sterben mit aller Macht nach ihr. Doch wie sollte man sich töten in einem Gefängnis aus Stahl, in dem es nur sie, das Tablett und ihren Toiletteneimer gab? Der Gedanke, dass sie nicht einmal Herr über ihren eigenen Tod war, setzte ihr arg zu. Doch die Hoffnung, dass es ihr irgendwann gelingen könnte, hielt sie am Leben.

Kapitel 1

Hvide Sande, Dänemark

Sie gingen davon aus, dass der Hund etwa acht Jahre alt war. Sein schwarzes Fell wies zahlreiche Verletzungen auf, das Tier schien arg verwahrlost zu sein. Es duckte sich, als der Tierschützer ihm ein Halsband umlegen wollte. Er leckte sich verlegen die Schnauze, ein sicheres Zeichen dafür, dass er unsicher war.

Das war aber alles scheißegal für die Tierschützer. Sie hatten wieder einen Hund gerettet. Ihr eigentliches Ziel war es, gefährdete Hunde außer Landes zu bringen, denn in ihrem eigenen Land gab es seit dem Jahr 2010 ein Gesetz, das den Ordnungshütern der Polizei erlaubte, Hunde zu konfiszieren. Geriet ein Hund in eine Rangelei, bei der ein wenig Blut floss und kam dieser Vorfall zur Anzeige, so lebte der Hund, dem diese Rangelei zugeschrieben wurde, von da an in akuter Lebensgefahr.

Die Polizei hatte das Recht, Tiere zu konfiszieren und sie einschläfern zu lassen. Davon waren vor allem Hunde betroffen, die den sogenannten Kampfhund-Rassen zugehörten, wie Staffordshire-Terrier oder Pitbull. Doch auch harmlose ‚Familienhunde‘ wie Retriever oder Dalmatiner gerieten so in die Fänge der Justiz.

Tiere sind Tiere und sie regeln Dinge manchmal eben auch so, dass Aggression im Spiel ist. Das hatte nichts damit zu tun, dass diese dänischen Tierschützer Beißer retten wollten. Nein, es ging ihnen um Tiere, die völlig unschuldig getötet werden sollten.

Auf Facebook gab es viele Fälle, die dort angeprangert worden waren. Viele Hunde wurden zu Helden. Sie mussten sterben, um den Widerstand der Menschen hervorzurufen.

Auch die Hunde von Touristen waren von diesen Gesetzen nicht ausgeklammert. Es konnte passieren, dass man mit Hund nach Dänemark fuhr und ohne sein Tier wieder die Heimreise antreten musste, sofern sich der Hund auffällig verhalten hatte.

Seit dem Frühjahr 2012 gab es die Aktivisten der Tierschützer, die sich dieser Hunde annahmen. Meist mit Wissen der Besitzer ‚entführten‘ sie diese Tiere, die sonst einen schnellen Tod vor sich gehabt hätten, um sie ins Ausland zu bringen. Für die Tierbesitzer ein schwerer Weg, aber für viele auch der einzige Weg, um ihren Hund zu retten.

Dabei arbeiteten sie auch mit Tierschützern aus der Bundesrepublik zusammen. Die Menschen, die so handelten, stellten sich ganz bewusst gegen ihren Staat. Sie arbeiteten illegal und es erwarteten sie harte Strafen, wenn sie entdeckt wurden.

Daher lief alles im Untergrund.

Schlimm, wenn ein Land seine Bewohner aus solchen Gründen in den Untergrund treibt, das meinten auch viele Menschen im Ausland. Sie unterstützten die dänischen Tierschützer, deren Name ‚Venner‘ war.

Petter Johansson war auch einer dieser Menschen. Er öffnete die Heckklappe seines Geländewagens. Dort lag zusammengekauert ein Hund und schaute ihn mit traurigem Blick an. Johansson brachte den schwarzen Retriever nur mühevoll dazu, aufzustehen. Dem Tier fehlte das Vertrauen. Von Menschen hatte er nie viel Positives erfahren.

Mit einem schüchternen Hopser sprang er vom Geländewagen herunter, doch damit endete schon wieder sein Vertrauen. Mit zusammengekniffenem Schwanz blieb er stehen.

Johansson griff in die Außentasche seiner kurzen Cargo-Jeans, dort hielt er immer ein paar Leckerchen bereit.

»Komm, ich tu dir nichts«, sagte er und setzte sich neben den Hund auf den Sand. Kein Druck. Das Tier sollte keinen Druck verspüren. Als der Hund das Knistern der Plastiktüte hörte, spitzte er schon seine Ohren.

Die Nacht war lau. Es wehte ein leichter Wind, der vom Meer kam. Leichte Kumulus-Wölkchen wurden von einem aufgehenden Mond beleuchtet. Der Erdbegleiter stand erst als Sichel über dem Horizont.

Der Geländewagen parkte dicht neben einem alten Gebäude. Weit abseits der Wege, die von den Touristen genutzt wurden. Das Haus duckte sich zwischen zwei Dünen und war deshalb auch schlecht einzusehen. Früher hatten hier einige Fischer, die auf dem Ringkøbing Fjord, dem größten Binnensee Dänemarks, mit ihren Booten unterwegs waren, alte Netze und Reusen aufgehoben, doch seit Jahren stand das Gebäude leer.

Heimlich hatten die Venner hier Boxen für die Hunde eingerichtet, die hier für kurze Zeit unterkommen sollten. Im Moment war der schwarze Retriever das einzige Tier, das hier auf seine Ausreise warten würde.

Johansson hielt dem Hund ein kleines Stück Fleischwurst hin. Misstrauisch schnupperte er daran, nahm es dem Mann dann vorsichtig aus der Hand.

Das laute Schmatzen des Hundes war gut zu hören. »Verrat uns nicht, wenn du so laut frisst!«, sagte der Mann und legte dem Hund ein weiteres Fleischwurststück vor die Füße. Gierig schnappte er danach.

»So, magst du jetzt mitkommen?«, fragte der Mann den Hund.

Der blickte ihn auffordernd an. Kommt da noch ein Stück Fleischwurst, schien der Blick des Hundes zu fragen.

»Nix, drinnen gibt es noch was. Komm!«

Der Retriever setzte sich in Bewegung und trottete dem Mann hinterher.

Als Johansson in der Hütte verschwunden war, senkte ein Beobachter sein Fernglas und setzte sich in Richtung der alten Fischerkate in Bewegung.

*

Bonn

Freitag, 9.8.2013

Vor ihm lief eine Frau mit einem blonden Pferdeschwanz. Oliver Hell heftete seinen Blick auf den hin und her pendelnden Zopf und versuchte, sein Tempo dem der Frau anzupassen. Nach ein paar Metern hatte er seinen Schritt so weit verlangsamt, dass er wieder zu Atem kam. Die Frau zu erreichen, war sein Ziel gewesen. Seine Lunge pfiff und er verfluchte jede einzelne Zigarette, die er in seinem Leben jemals geraucht hatte. Obwohl es schon über ein Jahr her war, dass er mit dem Rauchen aufgehört hatte, Sport getrieben hatte er seitdem nicht.

Jetzt riet ihm sein Arzt dringend an, sich besser in Form zu bringen. Er suchte seinen Hausarzt auf, bevor er den Termin bei seinem Seelenklempner wahrnahm. Der Mediziner, der ihn schon seit mehreren Jahren kannte, wunderte sich nicht darüber, als Hell ihm seine Symptome schilderte.

»Tja, Herr Kommissar, was soll ich Ihnen sagen? Sie sind schon seit ein paar Jahren ein Kandidat für das Burn-out. Jetzt hat es sie definitiv erwischt.«

Hell hatte nur milde gelächelt. Selbst als der Arzt ihm die möglichen Folgeerkrankungen aufzählte, konnte ihn das nicht schocken. Erst als er ihm ganz nebenbei erzählte, dass erst letztens einer seiner Patienten einen Herzinfarkt erlitten hatte, wich dem Kommissar das Lächeln aus dem Gesicht.

Hell dachte an die Situation, in der Franziska ihm das erste Mal geraten hatte, sich einem Psychologen anzuvertrauen. Es war nicht lange her. Hell hatte seinen Zustand erkannt, aber sich selbst als Burn-out-Kandidaten zu bezeichnen, wäre ihm nicht über die Lippen gekommen. Burn-out hielt er lange Zeit für eine Krankheit, die nur Weicheier und Sesselpupser betraf. Nein, wie er nun gelernt hatte, befand sich diese Erkrankung auch unter Kollegen auf dem Vormarsch.

Die Polizei in Bonn und auch das die ehemalige Bundeshauptstadt umgebende Rheinland stand unter einem enormen Druck. Es gab immer weniger Beamte, die dasselbe Arbeitsaufkommen zu erledigen hatten. Der Ausbildungsstand vieler Beamter war mangelhaft, viele Beamte standen zudem kurz vor ihrer Pension. So gut, wie es Hell mit seinem jungen Team hatte, so gut hatten es nicht viele seiner Kollegen.

»Sehen Sie zu, dass Sie sich eine Weile aus dem Geschehen zurückziehen. Machen Sie etwas ganz anderes. Ruhen Sie sich aus, leben Sie. Das ist das Beste, was Sie tun können, um wieder ganz in die Reihe zu kommen.« Der Ausdruck auf dem Gesicht des Hausarztes untermalte seine Worte.

Hell kam der Empfehlung des Arztes nach, sich einen Ausdauersport zu suchen. Anfangs hatte er sich in seinen neuen Joggingschuhen fürchterlich gequält und sich mehrere Blasen geholt, doch jetzt ging es schon wesentlich besser.

Heute war Freitag, der 9. August 2013. Hell lief auf seiner Lieblingsstrecke am Rhein. Seit zwei Wochen war er nicht mehr im Dienst. Er hatte seine Kollegen gebeten, ihn zu kontaktieren, falls sie seine Unterstützung benötigten. Allerdings erteilte sein Stellvertreter Jan Philipp Wendt diesen Plänen eine herbe Abfuhr.

»Chef, ich will Sie in den nächsten Wochen hier nicht sehen. Haben Sie das verstanden?«

Was wie ein unhöflicher Befehl klang, war nur eine gut gemeinte Standpauke.

Wendt kannte seinen Chef. Sobald er ihn anrief, würde er auch im Präsidium auftauchen; das sollte nicht passieren.

»Wir schaffen das gut alleine«, hatte Wendt ihm mit freundlichem Nachdruck gesagt und ihn mit sanfter Gewalt aus dem Büro geschoben.

Die ersten Tage empfand Hell als Zumutung. Ohne etwas zu tun, fühlte er sich unwohl. Bald schlichen sich aber ein paar Gedanken in seinen Kopf, die es ihm ermöglichten, die Dinge auf sich zukommen zu lassen.

Der Hauptgrund dafür war der bevorstehende Urlaub mit Franziska Leck. Am heutigen Abend würde sie aus Frankfurt anreisen und am Samstag würden sie losfahren.

Das Wohnmobil, das Hell für den Urlaub gemietet hatte, stand bereits seit Donnerstagabend vor Hells Haus. Ein vollintegriertes Wohnmobil der Marke LMC. Groß genug, mit vier Schlafplätzen, wenn man das im Alkoven befindliche Bett herunterklappte, ansonsten massenhaft Platz für zwei Personen. Auf einer Länge von knapp sieben Metern bot das Gefährt viel Komfort. Eine Dusche, ein großer Tisch, an dem man auch zu mehreren bequem sitzen konnte, sowie eine gut ausgestattete Küche. Unter dem Doppelbett bot das Fahrzeug sogar eine große Doppelgarage, in der man, gut festgezurrt, Fahrräder und Gartenmöbel mitnehmen konnte.

Hell hatte sich erst geweigert, die immense Leihgebühr für das Wohnmobil zu zahlen, doch Franziska hatte beschwörend auf ihn eingeredet. Auch Dr. Stephanie Beisiegel, die Bonner Gerichtsmedizinerin, die zusammen mit einer Freundin ebenfalls in Dänemark ein Ferienhaus gemietet hatte, redete ihm ins Gewissen.

Schließlich ließ er sich überzeugen. Sie mieteten das Wohnmobil für zwei Wochen, mit der Option, eine Woche zu verlängern, sollte es ihnen in Dänemark gut gefallen. Sie planten, einen Abstecher an die Ostseeküste zu machen. Als grobe Richtung hatten sie jedoch vor, die dänische Nordseeküste von Deutschland aus hinaufzufahren.

Die Sonne schien, es war halb zehn Uhr morgens. Gestartet war er neben dem Post-Tower, um von dort aus in Richtung Bad Godesberg zu laufen. Als Hell auf Höhe der ‚International School‘ an dem Platz vorbeilief, fasste er sich an seine Narbe auf der Stirn, die ihn immer an Mashad Agayer erinnern würde. Der Mann war mit seinem Boot in die Luft geflogen und man hielt ihn für tot.

Zur großen Überraschung aller hatte Agayer den Unfall überlebt. Monate später tauchte er auf und mit seiner Aussage gegen seine Hintermänner in Baku war es der Frankfurter Polizei gelungen, den international tätigen Verbrecherring zu zerschlagen. Der Kopf der Bande, Shukarov, befand sich seit ein paar Monaten auf der Flucht.

Auf dem Rhein stampften einige Schiffe flussaufwärts. Um die Mundwinkel des Kommissars zog ein Schmunzeln. Denen geht es auch nicht anders als mir.

Auf dem Gelände der Vereinten Nationen wurde das Wochenende eingeläutet. Hell sah, wie mehrere Fahrzeuge hintereinander in Richtung des Portals fuhren.

Hell schaute wieder zu der Läuferin vor ihm, wie ein Pendel taktete der Pferdeschwanz. Vielleicht wirst du ja sogar zusammen mit Franziska am Strand joggen können. Das kann sie dir nicht abschlagen, schließlich sollst du gesund werden. Es dauerte sicher noch bis zur Abfahrt, bis er sich an die neugewonnene Freiheit gewöhnt hatte.

Hell hatte schon am Donnerstag mit dem Wohnmobil geübt, wollte er sich doch vor Franziska nicht blamieren. Das letzte Mal, dass er einen LKW gesteuert hatte, lag schon Jahre zurück. Jetzt hatte er sich zuerst recht ungeschickt angestellt und war danach froh über seinen Plan, vorab eine Fahrt zu machen und einparken zu üben. Ein Sieben-Meter-Fahrzeug, welches nur über die Außenspiegel rangiert werden konnte, war schon etwas anderes als sein Dienst-Mercedes, der lenkte sich fast von alleine.

Als der piepende Warnton an seinem Handgelenk losging, rief ihn die Wirklichkeit wieder zurück. Er war nun eine halbe Stunde gelaufen und es war Zeit, den Rückweg anzutreten. Er stellte den Signalton an seiner Sport-Uhr aus, trat an das Geländer, das den Weg vom Fluss trennte. Für ein paar Momente ließ er sich auf den Zauber des fließenden Wassers ein, bevor er wieder zurücklief.

*

Samstag, 10.8.2013

Die letzten Vorbereitungen liefen auf Hochtouren. Franziska hatte beim Frühstück einen Blick auf die Wettervorhersage im Internet geworfen. »Nicht wirklich schlecht, aber auch nicht wirklich berauschend«, sagte sie und legte ihr Smartphone beiseite, um wieder einen Bissen von ihrem Brötchen zu nehmen.

»Das ist gar nicht so schlecht, wenn wir nicht bei heißem Wetter starten. Es reicht, wenn es an der Küste schön ist, wenn wir anhalten können, wo wir wollen«, antwortete Hell und belegte eines der Brötchen, die sie für die Reise einpacken wollten.

Es hingen ein paar dichte Wolken über der Kölner Bucht, die sich aber im Laufe des Morgens wieder in Luft auflösen sollten.

»Hast du die Liste mit den WoMo-Parkplätzen?«, fragte Franziska Leck.

»Ja, habe ich, man weiß ja nicht, ob man in Dänemark überall ein Netz findet.«

»Willst du angeln?«

»Handynetz«, sagte Hell und schaute hoch.

Franziska grinste verschmitzt. Als er ihren Blick sah, wurde ihm klar, dass er ihr auf den Leim gegangen war.

»Ja ja, verarsch mich nur.«

Franziska sprühte an diesem Morgen nur so vor Tatendrang, Hell hingegen fehlte noch die Urlaubsstimmung. Begleitete ihn noch zu sehr der berufliche Alltag? Hatte er ein schlechtes Gewissen, seine Kollegen alleine zu lassen? Er wusste es nicht. Obwohl er dieses schöne Gefühl im Bauch sehr wohl kannte, das einem vor dem Antritt einer Reise befiel. Dieses Mal stellte es sich nicht ein. Noch nicht.

»Wir müssen noch den Kühlschrank füllen. Ich fürchte, ich habe zu viel eingekauft, ich wusste nicht, dass der Kühlschrank so ein Mini-Teil ist«, sagte Franziska und stand auf.

Hell antwortete kauend: »Du warst doch dabei, als wir das Modell ausgesucht haben.«

»Ich habe mich eher für den Gasflammenherd interessiert. Ich liebe es, auf Gas zu kochen.«

Hell schmunzelte. »Okay, damit haben wir ein Problem bereits geklärt.«

»Was?« Sie schob die Augenbrauen zusammen.

»Wer kocht und wer isst!«

»Wieso?«

»Du hast gesagt, du liebst es, auf Gas zu kochen. Also …«

»Halt, mein lieber Oliver, das war keine verpflichtende Aussage«, protestierte sie.

»Ich hätte es so zu Protokoll genommen«, sagte Hell und zog Franziska an sich.

»Hier wird nix protokolliert. Wir teilen uns das Kochen, mal kochst du und ich esse, dann umgekehrt.«

»Wer sagt das?« Hell kostete das Geplänkel aus.

»Ich sage das!«

»In Ordnung, du kochst und ich führe dich zum Essen aus.«

»Nein, so haben wir nicht gewettet. Du wirst auch kochen«, sagte sie und wuschelte Hells Haare durch. Hell saß noch auf seinem Stuhl, Franziska schob sich näher an ihn heran. Er drückte sein Kinn an ihren Bauch und schaute sie von unten an, vorbei an ihren Brüsten.

»Wenn Du mich dazu verführst …«

»Pah, das wäre ja noch schöner«, sagte sie grinsend und schob ihn von sich, »Pack mal die Brötchen ein, sonst kommen wir heute überhaupt nicht mehr weg.«

»Jetzt fängt schon der Stress an. Wir haben doch Urlaub, oder?«

»Ich bin so gespannt auf das Fahren mit dem WoMo«, sagte Franziska und hielt Hell die Hand hin.

»Ich auch«, antwortete Hell und schon schoss ihm der Gedanke an die gestrige Probefahrt in den Kopf, »Dann auf, wir können ja Stephanie und ihre Freundin Sarah nicht warten lassen.«

Stephanie Beisiegel und ihre Freundin Sarah Smysiak hatten ein Ferienhaus am Ringkøbing Fjord gemietet. Dort lag das erste Ziel. Auf dem Weg dorthin galt es, die vielen Baustellen auf der A1 und den obligaten Stau vor dem Elbtunnel zu überwinden. Als erstes Tagesziel hatte Hell sich einen Wohnmobilstellplatz in Neumünster ausgesucht. Den fand er in einem Reiseführer, speziell für Wohnmobile, den er noch schnell besorgt hatte.

Je nachdem, wie schnell sie dort ankamen, wäre sogar noch ein Stadtbummel drin.

Nachdem sie zusammen die letzten Tüten mit Lebensmittel zum Wohnmobil getragen hatten, wobei Hell fand, dass sie mit ihrer Befürchtung, zu viel eingekauft zu haben, den Nagel auf den Kopf getroffen hatte, und Franziska sich erneut über den Komfort des Bettes gefreut hatte, gingen sie ein letztes Mal zum Haus zurück. Hell legte noch zwei Geldscheine auf die Anrichte in der Küche unter einen Zettel für seinen Sohn Christoph, auf den er ‚Für Lebensmittel‘ gekritzelt hatte.

Dann kontrollierte er noch einmal sämtliche Fenster und die Türen, die in den Garten führten.

»Denkst du nicht, dass Christoph in den zwei Wochen mal auf die Terrasse gehen wird?«, fragte Franziska amüsiert.

»Egal«, maulte Hell leicht pikiert.

Dann war es soweit. Viele vollintegrierte Wohnmobile besaßen auf der Fahrerseite keine Tür, sondern nur einen Eingang wie bei einem Wohnwagen, doch der LMC verfügte über beides. So wie er es gewohnt war, stieg Hell auf der Fahrerseite ein, während Franziska den Einstieg auf der anderen Seite nutzte. Er drückte sich in den bequemen Fahrersitz, der auf beiden Seiten Lehnen hatte.

Die Sitze dienten gleichzeitig auch als Sessel, man musste sie nur entriegeln und herumdrehen. Während der Fahrt allerdings sollte man nach vorne gewandt sitzen. Franziska ließ sich in ihren Sitz plumpsen und machte sich mit den Hebeln für die Einstellung vertraut.

»Man muss das Teil doch weiter zurückstellen können«, sagte sie, hantierte an einem Hebel und sauste mit dem Sitz in die Tiefe.

»Upps!«

Hell konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. Er war sehr froh darüber, dass die Bedienung der Kommando-Zentrale des Wohnmobils nicht so kompliziert ausfiel wie bei manchen modernen Autos, für deren Bedienung des Panels man eine zweistündige Einweisung benötigte. Alles war in Griffnähe, es gab praktische Ablagen und der CD-Player würde sie unterwegs unterhalten können.

»Irgendwelche Vorlieben?«, fragte Hell und reichte Franziska, die immer noch mit der Einstellung ihres Sitzes beschäftigt war, einige CDs.

»Hast du kein Hörbuch dabei?«, fragte sie und ruckelte die Sitzlehne ein wenig nach vorne.

»Nein, wenn ich ehrlich sein soll, besitze ich gar kein Hörbuch«, gestand Hell, dem es bisher noch nicht in den Kopf gekommen war, sich ein Buch vorlesen zu lassen. Wozu hatte er Augen?

»Na, das fängt ja gut an«, sagte Franziska und tippte auf eine CD von »Tom Petty an the Heartbreakers«.

Hell machte ein zufriedenes Gesicht wegen dieser Wahl, schob die CD in den Player. Er startete den Diesel und zu den Klängen von ‚Learning to fly‘ setzte sich das Wohnmobil sanft in Bewegung.

»Papa, ich habe Durst! Mama, ich muss Pipi!«, rief Franziska übermütig und strampelte mit ihren Füßen.

»Gottseidank ist das für immer vorbei.«

*

Als sie das Bergische Land mit Wuppertal, Remscheid und Solingen hinter sich gelassen hatten, änderte sich das Wetter schlagartig und der Himmel erstrahlte in einem Sonntagsblau. Franziska kramte ihre Sonnenbrille aus ihrer Tasche und Hell bestätigte den ersten Gegenstand, den er zuhause vergessen hatte.

Seine Sonnenbrille.

»Irgendetwas vergisst man immer«, entschuldigte Franziska seine Schusseligkeit.

»Wenn die Sonne da bereits geschienen hätte …«, sagte er und zuckte mit den Schultern.

Der Verkehr wurde dichter. Dank des 130 PS-starken Diesels hielt sich das 2,8 Tonnen schwere Wohnmobil erstaunlich gut gegen die LKW. Doch am Horizont tat sich in Form eines Staus die nächste Katastrophe auf.

»Wer fährt denn auch schon an einem Freitag in Urlaub?«, fragte Hell und suchte nach einem Schalter, um die Seitenscheibe herunterzufahren. Es gab keinen.

»Dafür nutzt man hier sicher die Klimaanlage«, sagte Franziska.

»Ja, ich weiß nicht, ob es hier so etwas wie eine Zwei-Zonen-Anlage gibt«, antwortete Hell, der darin eine versteckte Frage sah.

»Du meinst, eine für hier vorne und eine für den Rest? Würde Sinn machen.«

»Das Problem ist, ich weiß nicht, wie das funktioniert.«

Vor ihnen rollte ein LKW, hinter ihnen rollte ein LKW. Neben ihnen stockte der PKW-Verkehr.

»Auf dem nächsten Rastplatz können wir das Geheimnis erkunden«, schlug Franziska vor.

»Wozu so lange warten? Wir stehen doch schon. Im Handschuhfach liegt die Betriebsanleitung. Magst du nachsehen?«

Franziska öffnete das geräumige Fach und fand die Betriebsanleitung.

»Ein Positives hat das Ganze ja: Wir haben wenigstens Sonne im Stau. Stell dir mal vor, wir hätten auch noch Regen.« Franziska blätterte in der Anleitung.

»Hier ist es. Klimaanlage …«, sagte sie und begann zu lesen.

»Ja«, sagte Hell ungeduldig und hatte mittlerweile selbst die Klimaanlage angeworfen. Sofort strömte ihnen kühle Luft entgegen.

Sie lachte. »Ja, es gibt keine Klimaanlage für den Wohnteil, nur für hier vorne und für den Rest gibt es eine Umluftanlage, die über 12 Volt läuft.«

»Okay, dann wissen wir schon mal, wie es uns bei heißem Wetter in Dänemark gehen wird.«

»Wir sitzen mit einem kühlen Bier bei laufendem Motor im WoMo«, lachte Franziska.

»Exakt«, sagte Hell und schielte nach oben in den riesigen Außenspiegel, der wie der Fühler einer Wespe am Dach angebracht war. Er wartete auf eine Lücke im PKW-Strom, der aber nicht enden wollte.

Neben ihm fing Franziska an, den Proviantkorb zu plündern. »Hunger?«, fragte sie.

»Du kannst mir einen Apfel geben, bitte.«

»Oh, der Herr lebt gesund im Stau. Keines deiner Brote mit totem Tier drauf?«, fragte sie und löste den Sicherheitsgurt.

»Nein, ich versuche, die Vitamine zu mir zu nehmen, von denen mein Hausarzt sprach.«

Franziska drehte den Stuhl zur Mitte, um besser aufstehen zu können. »Auch etwas zu trinken?«

»Ja, gerne.«

Franziska hockte sich vor den Kühlschrank, der sich auf der Beifahrerseite unterhalb des Kochers und der Spüle befand. »Wasser oder Cola?«

»Wasser, bitte. Wenn schon gesund, dann richtig«, witzelte Hell.

»Oliver, ich hoffe, dein Gesundheitstrip wird uns jetzt nicht den ganzen Urlaub über verfolgen. Ich denke, Stephanie zählt auf dich beim Genever- und Aquavit-Trinken. Das wäre eine große Enttäuschung, wenn du schwächeln würdest«, sagte sie und ließ sich auf den Sessel fallen. Sie schraubte die Flasche auf und reichte sie Hell.

»Danke, hoffentlich geht es hier bald weiter.« Er beobachtete weiter die nicht enden wollende Blechlawine, die sich links an ihnen vorbeischob.

»Irgendwann ist doch diese Baustelle sicher zu Ende«, sagte sie und wischte sich den Mund mit dem Arm ab, »So eine gekühlte Cola während der Fahrt hat schon was.«

»Hmh, stimmt. Du hast da was angesprochen. In Dänemark ist der Alkohol sündhaft teuer. Wir sollten vorher noch in einem Supermarkt ein paar Flaschen für die ersten Tage einkaufen.«

Franziska nickte. »Machen wir.«

Hell beobachtete weiter den Rückspiegel. Blitzschnell setzte er den Blinker, denn ein Mercedes-Fahrer hatte gepennt und es tat sich eine Lücke auf, in die Hell nun hineinstieß. Der Fahrer gab ihm eine Lichthupe.

»Reg dich mal auf, Opa. A-Benz, typisch A-Benz. Da fehlt nur die Klo-Rolle auf der Hutablage.«

»Wer regt sich denn auf?«, fragte Franziska, zog eine Augenbraue hoch und nahm einen großen Schluck von der Cola.

»Ich? Nein, ich rege mich nicht auf. Ich habe keine Lichthupe betätigt«, grinste Hell.

Auf der zweiten Spur ging es ein wenig flüssiger voran und Hell war froh über jeden LKW, den er jetzt überholen konnte, denn diese würde er später nicht mehr vor sich haben. Trotz der PS des Wohnmobils, hier musste man vorausschauend fahren. 2,8 Tonnen ließen trotzdem keine wirklichen Sprints zu.

Bald hatte sich der Stau erledigt und die Fahrt ging ruhig dahin. Franziska nahm sich den Wohnmobil-Führer zur Hand und las Hell die Beschreibungen der Stellplätze vor.

Bis sie ans Autobahnkreuz Westhofen kamen, hatten sie eine grobe Auswahl an Alternativen gefunden, die Franziska mit Lesezeichen aus einem Kaugummi-Papierchen markierte.

»Jetzt hat die Reise einen Pfefferminzgeruch«, sagte Hell und kaute ebenfalls eifrig auf seinem Kaugummi.

Er verfluchte immer mehr seine Vergesslichkeit. Eine neue Sonnenbrille stand ganz oben auf der Einkaufsliste. Der im Radio groß angekündigte Stau am Westhofener Kreuz entpuppte sich als Strohfeuer.

Als nächste Klippe wurde ein Unfall am Kamener Kreuz gemeldet. Dort sollte sich der Verkehr bereits auf einer Länge von fünf Kilometern stauen. Hell zog die Augenbrauen zusammen, als der Radiosprecher die Meldung verlas.

»Und wenn wir von der Autobahn abfahren würden, was denkst du?«, fragte Franziska.

»Wir sind erst zwischen Schwerte und Holzwickede, als nächste größere Stadt kommt Unna«, überlegte Hell, der die Strecke im Kopf rekonstruierte.

»Das dauert noch eine Weile, meinst du, bis dahin hat sich der Stau erledigt?«

Hell nickte.

»Wie gut, dass kein Tiertransporter dabei ist. Da bekomme ich immer ein schlechtes Gewissen, wenn man sich vorstellt, dass die alle als Burger enden«, sagte Franziska, als vor ihnen ein Gespann mit Pferdeanhänger auftauchte. Sie zog die Mundwinkel nach unten.

»Es gibt auch Anhänger von Pferdefleisch. Ein echter rheinischer Sauerbraten …«, schwärmte er, doch Franziska schlug ihm derb auf den Oberarm.

»Wag es, mir irgendwann Pferd vorzusetzen!«

Hell schmunzelte. Er selber hatte noch nie Pferdefleisch gegessen, dennoch wunderte ihn ihre Reaktion.

»Ich wusste gar nicht, dass du so eine Tierschützerin bist. Hast du damals eigentlich die Morde von Daniel Hesse insgeheim bejubelt?«, fragte er in Anspielung auf den Fall, bei dem sie sich kennengelernt hatten. Daniel Hesse hatte mehrere Männer, die Sex mit Tieren hatten, ermordet oder ihnen eindeutige Tätowierungen im Gesicht zugefügt.

»Bejubelt? Nein, ich kann den Mann und seine Taten nicht bejubeln. Ich bin Profilerin, keine Tierschützerin. Dennoch kann ich jemanden verstehen, der sich für Tiere einsetzt. Aber Hesse ist wirklich zu weit gegangen. Wobei diese Männer für mich noch viel kränker waren als er. Ich sehe das so: Mensch ist Mensch und Tier ist Tier. Er hat sich zum Rächer der Tiere aufgeschwungen. Schließlich er ist ja auch dafür verurteilt worden.«

Daniel Hesse verbüßte eine lebenslange Strafe für seine Morde an Lohse, Dempf und Zylau. Der Verteidiger hatte seine Gesundheit ins Feld geführt und damit argumentiert, dass Hesse zum Tatzeitpunkt noch unter den Nachwehen einer posttraumatischen Belastungsstörung litt, auch ein Gutachter bestätigte das. Darauf ließ sich der Richter nicht ein, er sah allerdings auch keine besondere Schwere der Tat, sodass Hesse nach fünfzehn Jahren einen Antrag auf vorzeitige Entlassung stellen konnte.

»Ich sehe ihn noch auf der Anklagebank sitzen. Wie ein Häufchen Elend. Das war nicht der heldenhafte ‚Zoophilen-Killer‘, zu dem ihn die Presse gemacht hatte.«

Nach dieser langen Haftzeit würden ihn seine beiden Kinder sicher schon vergessen haben. Außer seiner Frau war keiner aus der Verwandtschaft im Gerichtssaal aufgetaucht. Nicht sein Vater, nicht seine Schwiegereltern. Aus Scham?

Denselben Gedanken schien auch Franziska zu haben. »Als Familienvater habe ich vor allem eine Verantwortung meinen Kindern gegenüber. Da sind Tiere nebensächlich.«

Hell sah zu ihr herüber. Er hatte das Gefühl, dass sie noch etwas sagen wollte, es aber nicht tat.

»Wir werden nicht ergründen, was ihn wirklich dazu bewogen hat. Dennoch bin ich ihm ein klein wenig dankbar. Ohne Hesse würdest du jetzt nicht in diesem Wohnmobil neben mir sitzen.«

Sie legte ihre Hand auf seine, die auf dem Schaltknüppel lag.

»Wir trinken einen Aquavit auf Daniel Hesse, wenn wir in Hvide Sande sind.« Ihre Stimme klang beinahe zärtlich.

»Oder zwei«, sagte Hell und nahm ihre Hand.

*

Hvide Sande

Noch waren die kleinen Geheimnisse nicht aufgetaucht und auch nicht die großen. Damit es auch so bleiben konnte, musste er sich absichern.

Torben Hille schob den Rollladen am Schrank herunter und suchte ein Formular. Ohne große Begeisterung. Am liebsten wäre er gar nicht aufgestanden, denn der Mann, um den er sich kümmern musste, war ihm zutiefst unsympathisch.

Der Mann hieß Nils Ole Andresen. Er war der Bürgermeisterschaftskandidat der rechtspopulistischen Dänischen Volkspartei. Wie in vielen anderen europäischen Ländern verbuchten auch die dänischen Rechten erschreckende Zugewinne.

»Und Sie sind sich nicht sicher, wen Sie dort gesehen haben? Nur, dass er etwas getragen hat?«, fragte Torben Hille, der Dorfpolizist. Mit einer gelangweilten Geste zog er ein Formular hervor und legte es dem Mann hin, der vor seinem Tresen stand.

»Für diese Art der Anzeige gibt es eigentlich keinen Tatbestand. Es handelt sich um keinen Diebstahl, um keine Erregung öffentlichen Ärgernisses, ebenfalls nicht um eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit. Ich kann nur eine Zeugenaussage aufnehmen, wobei ich noch nicht einmal ein Ereignis eintragen kann, für das ich Sie als Zeuge angeben könnte.«

Andresen schaute ihn mit einer Mischung aus Verachtung und Misstrauen an.

»Wissen Sie, was ich mich schon seit Jahren frage, Herr Hille?«

»Nein, aber ich bin mir sicher, Sie werden es mir gleich sagen, Herr Andresen. Tun Sie sich keinen Zwang an.« Hille spiegelte den Blick des Bürgermeisterschaftskandidaten. Wäre ihm nicht diese rechtsorientierte Partei sowieso schon wegen ihrer politischen Ausrichtung zuwider gewesen, so hätte die Person Andresen ihn dazu gebracht, diese Partei nicht zu mögen. Er, wie auch viele andere, räumten der politischen Zukunft der Partei keine wirklichen Chancen auf das Amt des Bürgermeisters ein, doch war im komplizierten politischen System Dänemarks vieles möglich.

»Ich frage mich, wie Sie es jemals geschafft haben, eine Polizeischule abzuschließen.«

Was er jetzt in Worte gefasst hatte, erfüllte noch nicht den Tatbestand der Beamtenbeleidigung, es schrammte aber haarscharf daran vorbei.

»Ich denke, wir haben dann alles zu diesem Thema gesagt, Herr Bürgermeisterkandidat«, sagte Hille und ließ sich seinen Ärger nicht anmerken. Er nahm das Formular wieder vom Tisch und drehte dem Mann den Rücken zu.

»Wenn ich gewählt werde, dann werde ich dafür sorgen, dass Sie hier nicht länger Polizist sind«, sagte Andresen, der sich über die verpuffte Provokation ärgerte.

»Na, da haben unsere Wähler noch ein Wörtchen mitzureden«, sagte Hille und legte sich ein gekünsteltes breites Grinsen aufs Gesicht.

»Freuen Sie sich nicht zu früh, Herr Dorfpolizist.«

»Noch haben Sie nicht eine einzige Stimme eingefahren, Herr Andresen!«

Sie lösten den Blickkontakt und Andresen verließ die kleine Polizeistation in Hvide Sande.

Arrogantes Arschloch, dachte Hille und verschloss den Rollladenschrank mit einem lauten Krachen, das noch eine Weile in seinem Kopf nachhallte.

*

Kamener Kreuz, Deutschland

Der Stau kam nicht unerwartet, doch die Heftigkeit erstaunte alle, die dort festsaßen. Die Klimaanlage ballerte. Franziska öffnete trotzdem die Seitentür und trat auf die Fahrbahn. Vor und neben ihnen standen die Fahrer und Mitfahrer ebenfalls neben ihren Fahrzeugen auf der Autobahn. Einige junge Leute, die mit einem alten VW-Bus unterwegs waren, drehten ihre Musikanlage voll auf und tanzten. Nackte Füße auf heißem Asphalt. Hell schaltete den Diesel aus. Die Klimaanlage hatte Pause. Bei den jungen Leuten ging eine Flasche mit Hochprozentigem herum. Alle bis auf den Fahrer tranken.

Eine Minute später veränderten alle beteiligten Fahrzeuge ihre Position um ungefähr zehn Meter vorwärts, dann gab es erneut Stillstand. Die jungen Leute liefen neben dem VW-Bus her. Einer von ihnen saß an der geöffneten Schiebetüre und ließ seine Füße über den Asphalt schleifen, einer verteilte Bier aus einem Sixpack.

Franziska tauchte plötzlich vor dem Wohnmobil auf. Mit ihrer Sonnenbrille und dem Sommerkleid, das sie trug, sah sie aus wie die Verkörperung eines Sommertraumes.

Dieses Lächeln. Er liebte sie. Hell beobachtete, wie sie zu den jungen Leuten hinüberging und mit ihnen sprach. Sie bekam eine Flasche Bier gereicht und prostete den Jugendlichen zu. Sie trank einen Schluck, prostete ihm ebenfalls zu und er musste lachen, als sie ihm das Bier entgegenstreckte.

War das die angesehene Profilerin, die sich auf den Sachverständigen-Bühnen der Welt gut auskannte? Oder war sie eine ewig Junggebliebene?

Hell vermochte beides mit Ja zu beantworten. Aber sie jetzt mit diesen Jugendlichen dort stehen zu sehen, lag jenseits seiner Erwartungen. Er war sicher, dass er in diesem Urlaub noch mehr Facetten ihrer Persönlichkeit entdecken würde, von denen er bisher noch nichts geahnt hatte. Auch das gehörte zu den Geheimnissen. An jeden Urlaub hatte man Erwartungen, doch hier erwartete er nichts. Er freute sich darauf, sie in einem anderen Licht kennenzulernen. Hell fragte sich, wo er die Kameratasche hin gepackt hatte. Zu gerne hätte er ein Foto von ihr gemacht, Franziska im Kleid mit einem Bier in der Hand mitten auf der Autobahn. Er überlegte, schnell nach der Tasche zu suchen, als der Verkehr wieder zu rollen begann.

Der VW-Bus setzte sich in Bewegung, Franziska blieb solange auf der Fahrbahn stehen, bis Hell mit dem Wohnmobil auf ihrer Höhe war und sie wieder einsammelte.

Die Türe flog zu. »Siehst du, so schnell kommt man an ein Bier«, sagte sie und setzte sich auf die Sitzbank hinter Hells Fahrersitz.

»Prost«, sagte er.

»Es gibt hier Sicherheitsgurte, darf ich auch hier sitzen während der Fahrt?«

»Ja, das darfst du. Mach es dir bequem«, antwortete Hell.

Wie so oft, löste sich der Stau in Wohlgefallen auf und keiner wusste, warum man jetzt hier eine halbe Stunde verloren hatte.

Seis drum, dachte Hell. Er blickte auf seine Armbanduhr und rechnete aus, dass sie ihre geschätzte Ankunftszeit im Neumünster nicht würden halten können.

»Warum fahren wir eigentlich nicht direkt ans Meer?«, fragte Franziska, deren Stimme man schon die Müdigkeit anhörte.

»Du hast den Platz zusammen mit mir ausgesucht, weil wir dann morgen direkt über die Grenze fahren können.«

»Aber heute Abend die Füße in die Nordsee zu halten, wäre doch auch schön«, sagte sie mit leiser werdender Stimme. Hell blickte zu wiederholten Mal dorthin, wo bei einem normalen PKW der Rückspiegel war, doch hier machte ein Rückspiegel keinen Sinn. Das Wohnmobil bot keine Durchsichtsmöglichkeit. Also konnte er nur mit einem kurzen Blick über die Schulter nach ihr sehen. Sie hatte die Augen geschlossen. Wenn Hell es hätte hören können, so wäre ihm ein leises Schnarchen aufgefallen. Franziska schlief. Das tat sie auch noch die nächste Stunde lang. Ihr Kopf fiel nach vorne auf die Brust und das Schnarchen wurde lauter.

Also genoss Hell alleine die Sonne, während er das Wohnmobil auf seinem Weg an Osnabrück vorbei in Richtung Hamburg lenkte. Zum ersten Mal, seitdem sie losgefahren waren, hatte Hell das Gefühl, dieses Wohnmobil, in dem Franziska und er dahinglitten, verlöre den Bezug zur Außenwelt. Was für ihn durchaus etwas Positives hatte, denn auf diese Art konnte man den Ballast abwerfen.

Es gab nur noch das sonore Brummen des Dieselmotors, der bei einem Überholmanöver auch schon das eine oder andere Mal etwas kreischend protestierte. Als sie Norddeutschland erreichten und das Land flacher wurde, stellte sich bei Hell das erste Mal dieses Kribbeln in der Magengegend ein. In einem Reisemobil schien es noch intensiver zu sein als in einem PKW. Man hatte das Haus dabei, während man mit einem PKW von A nach B fuhr, somit war solch ein Reisemobil nicht nur ein Mittel zum Zweck, sondern der Zweck an sich. Hell war Franziska dankbar, dass sie schlief. So konnte er sich in Ruhe mit seinen Gedanken auseinandersetzen.

Es war jetzt zwanzig nach zwölf. Sie wollten schon um halb drei in Neumünster sein, was sie nie schaffen würden. Doch das spielte jetzt keine Rolle mehr.

Nur noch freie Tage lagen vor ihnen. Eine abzählbare, aber trotzdem nicht minder kostbare Anzahl an Tagen, an denen man so lange im Bett bleiben konnte, wie man wollte. Während der Tageszeit konnte man sich welchen Dingen auch immer widmen. Zusammen mit Stephanie und ihrer Freundin Sarah konnte man abends am Grill sitzen und bis tief in die Nacht dem Knistern eines Lagerfeuers lauschen. Urlaub. Die süße Belohnung für die Strapazen. Keine Toten, keine Morde, keine Staatsanwälte. Nur das Meer, Franziska und er. Beinahe hätte er sich gewünscht, sie hätten einen Hund dabei.

Aber wie sollte er in seiner Situation einen Hund halten? Das arme Tier würde ja vor Langeweile und Nichtbeachtung eingehen.

Aber zu einem langen Strandspaziergang gehört auch irgendwie ein Hund. Hatte er das aus irgendeinem Werbespot? Die glückliche Familie am Strand - mit Hund.

Hell gähnte. Sie waren jetzt beinahe vier Stunden unterwegs. Kurz entschlossen fuhr er die nächste Autobahnraststätte an. Einen Kaffee trinken, mal pinkeln gehen und Franziska wecken. Er wollte sich nicht den Vorwurf anhören, sie nicht geweckt zu haben.

Dammer Berge hieß der Rastplatz. Ist ja fast ein dänischer Name, dachte Hell.

*

Nach einem zweiten Kaffee kletterten sie wieder in ihr fahrendes Paradies, wie Franziska das Wohnmobil genannt hatte. Hell kramte aus einem der Stauräume seine Kameratasche hervor und legte die Kamera neben Franziska auf die Ablage, wo auch der Picknickkorb stand. »Ich bin mal gespannt, wie die erste Nacht in dieser Schaukel sein wird«, sagte Hell, nachdem sie sich wieder in den rollenden Verkehr eingereiht hatten.

»Das kommt ganz auf deine Verfassung an«, antwortete Franziska und es war ein schönes Gefühl für Hell, sich in ihren Augen zu verlieren.

Bis hinter Bremen lief es ganz ausgezeichnet, in Richtung Hamburg wurde der Verkehr langsam zäher. Vor allem, nachdem sie die A1 verlassen hatten und sich auf der A7 dem Stadtzentrum näherten.

*

»Ja, Hamburg ist schon eine Weltstadt, so wie alle Hafenstädte der Welt ein besonderes Flair haben. Diese Containerterminals haben für mich immer die Option auf die weite Welt inne«, sagte Hell, der es auch bedauerte, nicht mehr davon zu sehen. Franziska hatte aber als kleinen Trost ein paar Fotos unter seiner Anleitung geschossen.

Um zehn Minuten nach drei fuhren sie dann auch schon durch einen staufreien Elbtunnel.

»Irgendwo rechts über uns liegt der Altonaer Fischmarkt«, sagte Hell, kurz nachdem sie in den Tunnel unter der Elbe eingefahren waren. Doch man sah für beinahe dreieinhalb Kilometer nur die erleuchtete Röhre und er musste sich darauf konzentrieren, sich hinter einem LKW zu halten. Überall signalisierten grüne Ampeln an der Decke einen freien Verkehrsfluss. Hell hatte insgeheim die Befürchtung gehabt, dass sie dort ein Stau ereilen würde, doch sie kamen ohne hindurch und schon bald hatte sie das Tageslicht wieder. Kurz darauf waren sie auch schon wieder aus dem Hamburger Dunstkreis gen Norden entschwunden. »Das war ja wirklich einfach«, sagte Franziska und machte erneut ein Foto von Hell, der sich betont entspannt in seinem Fahrersitz postierte. Eine Hand am Lenkrad, die andere lässig auf dem Schaltknüppel liegend.

»King of the road«, sagte er und ließ lässig einen Mundwinkel hängen. »Das sah gerade eher wie ‚Depp on the road‘ aus«, quietschte Franziska.

»Pass bloß auf, was du sagst«, drohte Hell mit erhobenem Zeigefinger, was Franziska sofort wieder fotografierte, »Übrigens, es sind nur noch knapp achtundsiebzig Kilometer bis nach Neumünster. Das sollten wir in einer Stunde schaffen oder?«

»Super, dann suchen wir uns den nächsten Supermarkt, kaufen ein und dann ab auf den Stellplatz. Ich bin so gespannt, wie das alles so funktioniert«, sagte Franziska.

»Und ich kaufe mir in der Stadt sofort eine Sonnenbrille. Das tut not!« Hell nickte bekräftigend. Franziska lachte, weil sie seinen Gesichtsausdruck irgendwie komisch fand.

Die Stimmung hätte nach der langen Fahrt gar nicht besser sein können. Ein Blick auf den Tankanzeiger verriet ihnen, dass sie auf jeden Fall vor der Grenze noch tanken mussten.

*

»So, das war’s für heute«, sagte er laut, sodass auch Franziska es draußen hören konnte. Sie hatten den Wohnmobilparkplatz in Neumünster erreicht und Franziska hatte Hell soeben auf einen Stellplatz gelotst.

Ihr Gesicht tauchte in der Türe auf. »Hier einen Kaffee trinken oder direkt mit den Fahrrädern in die Stadt radeln?«, fragte sie.

»Wir müssen uns erst einmal umsehen und uns anmelden. Dann können wir immer noch in die Stadt düsen«, sagte er, machte aber keine Anstalten, seinen Sessel zu verlassen. Er ließ den Kopf zur Seite fallen und machte ein Schnarchgeräusch.

»Wer ist denn hier müde? Das geht aber gar nicht«, sagte sie und war schon über ihm. Er spürte ihre Lippen auf seinem Mund. »Ich knutsch … dich … so lange, bis … du … wieder wach … bist«, sagte sie, und in jeder Pause gab sie ihm einen feuchten Kuss, auf was auch immer sie gerade traf. Hell wehrte sich. Umsonst. Er krabbelte mit einem schrillen Schrei unter ihr hervor.

»Ich geh ja schon, du kannst ja mal den Stadtplan von Neumünster checken, wo wir einen Supermarkt finden.« Franziska hielt inne. Ihr Kleid war verrutscht und für eine Sekunde sah er ihre rechte Brust und ihre Brustwarze.

Hell schluckte und war für einen Augenblick der Versuchung sehr nahe, die Gunst dieser Sekunde zu nutzen, doch dann besann er sich und machte sich auf den Weg.

Manchmal bist du wirklich ein Trottel, dachte er. Kein anderer Mann hätte sich diese Gelegenheit entgehen lassen. Kopfschüttelnd ging er weiter.

Gleich neben der Einfahrt befand sich auf der rechten Seite eine Entsorgungs-Station. Er bückte sich und sah, dass man hier das Grauwasser in einen Gully ablassen konnte. Frischwasser erhielt man gegen Gebühr und das Toilettenwasser wurde in die Sanitäts-Station gegeben.

Der Platz war fast komplett leer, außer ihnen standen gerade einmal zwei weitere Wohnmobile auf dem Platz, der locker zwanzig und mehr aufnehmen konnte. Die Wohnmobile waren abgeschlossen, von den Bewohnern war niemand zu sehen.

Hell blieb stehen und schaute sich um, kurze Zeit später fiel sein Blick auf die Stromverteilungssäule.

Genau, Strom. Da war doch was.

*

»Unsere Innenstadt hat einiges zu bieten. Ich empfehle Ihnen, einen Abstecher in den kleinen Park zu machen. Es lohnt sich. Sollten sie Hunger haben, empfehle ich Ihnen einen Imbiss direkt neben dem Cineplex Kino. Fahren Sie mit dem Fahrrad?«, fragte die nette Dame hinter der Theke des Schwimmbades, die gleich die Vermietung der Stellplätze mit übernahm.

Hell nickte. »Hervorragend, dann ist es ein Katzensprung bis in die Innenstadt. Das schaffen auch ungeübte Radler«, sagte sie und Hell überlegte einen Moment lang, ob sie das auf ihn gemünzt hatte.

»Wir haben auch sehr viele nette Straßencafés und Kneipen hier. Lassen Sie sich überraschen.«

Hell wechselte noch zwei Euro in 50 - Cent - Münzen, damit sie den Stromkasten füttern konnten. Mit den neugewonnenen Informationen spazierte er hochzufrieden zurück zum Wohnmobil. Die Tür des fahrenden Paradieses stand offen.

»Franziska, ich habe uns schon einen Korb Strom gekauft, jetzt brauchen wir nur noch die Nabelschnur«, rief er hinein.

Keine Antwort. Er warf einen Blick hinein. Auf der Sitzecke saß niemand, auch nicht auf den Fahrersesseln.

»Franziska?«

Ihn befiel leichte Panik.

»Bist du auf der Toilette?«, fragte er laut und war mit einem Sprung im Wohnmobil.

Sein Blick fiel auf das Bett am Ende des Gefährts. Dort schwang ein Unterschenkel Auf und Ab. Nackt. Der Rest seiner Franziska verbarg sich hinter dem hellen Holz des Einbauschranks.

»Hier bin ich«, erwiderte sie endlich und Hell fiel ein Stein vom Herzen. Er lugte um die Ecke. Was er jetzt sah, raubte ihm den Verstand. Nicht nur der Unterschenkel seiner Franziska war nackt.

»Wow!«, entfuhr es ihm.

»Ist das alles, was du dazu sagen kannst, Herr Kommissar?«, fragte sie und drehte sich auf die Seite. Ihre Brüste verbarg sie geschickt hinter ihrem linken Arm.

»Lass mich mal überlegen, ob mir vielleicht noch etwas Besseres einfällt. Wenn ich so überlege … ja, ich denke schon …«

*

Hvide Sande

Als Merit Holzheuser an diesem Nachmittag mit ihrem Hund am Strand spazieren ging, hatte sie eine ziemlich eindeutige Vorstellung vom Ablauf der nächsten Tage. Sie blickte auf das Meer hinaus und überlegte. Es war ein herrlicher Sommertag und ihre düsteren Gedanken wollten nicht zum fröhlichen Geschrei der Möwen passen.

Von der Stelle am Strand konnte sie gerade noch das Leuchtfeuer auf der Mole, das den südlichen Hafeneingang markierte, als grünen Strich vor dem Horizont wahrnehmen.

Ihr Hund Falco spielte mit seinem Ball. Damit konnte er sich ganz hervorragend selbst beschäftigen.

»In diesem Hund ist sicher ein Fußballer wiedergeboren worden«, hatte ihr Freund und Tierschützer-Kollege Kjell Kloft einmal gesagt. Dabei lag seine Vermutung sicher nicht weit entfernt von der Wahrheit. Falco drehte durch, wenn er Bälle sah. Welcher menschliche Ballkünstler auch immer vorzeitig das Zeitliche gesegnet haben mochte, in Falco konnte er seiner Passion immerzu frönen.

Sie fing an zu lächeln, als sie ihren Hund betrachtete. Warum lächle ich eigentlich, fragte sie sich. Du hast keinen Grund dafür. Sie musste eine Entscheidung treffen, von der viel abhängen würde. Dabei wollte diese Entscheidung nicht zu dem passen, was sich sonst in dieser Woche noch ereignen würde. Die anderen Dinge würden passieren, so wie sie immer passierten. Ohne großes Potenzial, die Erdkruste aufzureißen oder mitten in Hvide Sande einen Vulkan entstehen zu lassen. Von dieser Entscheidung konnte viel abhängen. Von dieser Entscheidung würde viel abhängen.

Sie fuhr sich mit der Zunge über die Schneidezähne. Dann atmete sie tief die würzige Seeluft ein und rief Falco zu sich. Der Hund dribbelte mit dem Ball zwischen den Vorderbeinen auf sie zu, so lange, bis das Leder vor ihren Füßen zu liegen kam.

Sie überlegte, welcher Dribbelstar in den letzten Jahren verstorben war. Falco war jetzt drei Jahre alt, ein Border-Collie-Mischling. Nein. Ihre Fußballkenntnisse waren zu beschränkt, um einen Namen zu finden. Der Hund setzte sich und gab einmal kurz laut. Sein Signal. Nun schieß schon den Ball, Frauchen. Los!

Als der Ball endlich losflog, sprintete auch der Hund los und der Sand, der sich in seinem Fell angesammelt hatte, stob im hohen Bogen davon.

*

Neumünster

»Diese Currywurst hat das Potenzial zum Klassiker«, sagte Franziska und schob sich das letzte Stückchen Wurst zwischen die Zähne.

»Stimmt, das ist keine Soße aus der Tonne, sondern die ist garantiert selbst hergestellt«, stimmte ihr Hell zu. Er tauchte eine Pommes in die Soße und führte sie genüsslich zum Mund.

Franziska reichte ihm wortlos eine Serviette und er wischte sich seinen Mund damit ab. »Manchmal ist es gut, auf den Rat der Einheimischen zu hören«, sagte er.

»Ja.« Sie musste lachen.

»Was?«

Hell strich sich die Haare aus der Stirn und lehnte sich zurück. Er musste seine Augen erneut zu Schlitzen verengen, damit er sie sehen konnte. Der Kauf einer Sonnenbrille stand als Nächstes auf der Agenda. Das Currywurst-Essen war eigentlich nur dazwischen geschoben.

Wow!«, sagte Franziska und grinste.

»Was gibt’s da zu grinsen?«, fragte Hell, der ihre Anspielung sehr wohl verstanden hatte. Er hielt seine Hand an die Stirn, um die Sonne abzuschatten.

»Och ich habe mich nur gefragt, was du wirklich in dem Moment gedacht hast«, sagte Franziska und zupfte sich ihr Kleid wieder zurecht.

Hell runzelte die Stirn. »Was soll ich groß gedacht haben? Du hast nicht geantwortet und ich …« Sie unterbrach ihn. »Komm, lass uns nach einer Sonnenbrille für dich schauen, ich kann das Elend nicht mehr mit ansehen.«

Hell wollte den Satz noch zu Ende bringen, den er angefangen hatte, doch Franziska flüsterte ihm etwas in Ohr. »Man hat dir genau angesehen, was du gedacht hast.«

»Nämlich? Jetzt bin ich mal gespannt!«

»Warum um alles in der Welt trägt sie noch dieses alberne Spitzenhöschen?«, sagte sie kokett lächelnd und zog Hell am Arm weiter.

Hell wurde plötzlich heiß. »Nein … Quatsch, das habe ich nicht gedacht. Ehrlich nicht.«

»Ist doch auch egal. Hauptsache, es war schön und es war wirklichsehrschön«, sagte sie und gab ihm einen Kuss auf den Mund.

Ihm war klar, dass sie ihn bloß necken wollte und er alles andere als cool reagierte, aber das war ihm in dem Moment egal.

»Ja, das war es, Franziska.«

Je länger er sich den Gefühlen für Franziska hingab, desto mehr verspürte er, wie sich die innere Leere, die er so lange gespürt hatte, verflüchtigte. Sehnsüchtige Erinnerungen an das, was er einst Liebe genannt hatte, sie tauchten wie aus einem Nebelschleier wieder an die Oberfläche. Es war so, als würde ein Teich, der lange trockengelegt war, endlich wieder mit Wasser gefüllt. Alles um ihn herum erblühte zu neuem Leben. Die tiefe Wunde, die heimlich in seinem Herzen gewütet hatte, sie heilte und er genoss jeden Atemzug, den er neben Franziska atmen durfte.

Mehr als diese dürren Worte aber vermochte er ihr nicht zu sagen. Er suchte noch nach einem Satz, mit dem er ihr all seine Gefühle würde erklären können, doch sie zog ihn einfach weiter.

»Da vorne ist ein Sportgeschäft. Fangen wir doch dort mal an«, sagte sie und er folgte ihrer verlockenden Stimme.

Franziska beobachtete Hell, wie er dort vor dem Spiegel stand, eine Brille nach der anderen auf seine Nase setzte, dabei jedesmal versuchte, das dämliche Preisschild, das bei jeder Brille genau auf dem Steg zwischen den beiden Gläsern saß, aus dem Blickfeld zu halten.

Mit seinen Bermuda-Shorts und dem locker über der Hose getragenen Hemd hatte er nichts mehr von dem sonst so bärbeißigen Ermittler.

Einige Brillen kommentierte er direkt mit einem dahingeworfenen ‚nein‘ oder er verzog sein Gesicht zu immer neuen Grimassen. Der Verkäufer, der sie zuerst noch hatte bedienen wollen, suchte das Weite. So viel gute Laune schien er am frühen Abend nicht mehr ertragen zu können, vor allem nicht von irgendwelchen Touristen.

Wenig später war die Entscheidung gefallen. Die Brille, die sich Hell ausgesucht hatte, war zwar mit Abstand die teuerste, aber Franziska hatte ihn mit sanfter Gewalt zu diesem Kauf gedrängt.

»Ray Ban stellt eben immer noch die coolsten Brillen für die coolsten Männer her«, sagte sie und hob beide Daumen hoch, während Hell sich das obligatorische Schild wegdenken musste. Er musterte sich im Spiegel.

Dagegen hatte Hell nichts mehr zu sagen. Den letzten Rest an Widerstand gegen den hohen Preis der Brille hatte sie mit ihrer Äußerung längst weggespült. Als sie dann nach draußen in das warme Abendlicht traten, tat es sofort gut, die Brille auf der Nase zu haben.

»Was machen wir jetzt?«, fragte er und blieb stehen.

»Mach einen Vorschlag.«

»Kino?«

»Nein, zu dunkel. Ich will Licht und Luft um mich haben.«

»Wir müssen noch einkaufen. Holen wir uns einen guten Wein und setzen uns vor unser fahrendes Paradies?«

»Sehr guter Vorschlag.« Hell machte eine Geste, dass sie warten sollte, ging schnell in den Sportladen zurück, wo der Verkäufer innerlich zusammenzuckte, weil er befürchtete, der Kerl wolle die Brille wieder zurückgeben und das ganze Spiel würde von vorne beginnen. Als Hell ihn nur nach dem nächsten Supermarkt fragte, sackte er erleichtert zusammen.

»Wir haben mehrere Möglichkeiten. Einen Discounter gibt es, aber auch einen Spirituosenladen, zwei Querstraßen weiter«, verkündete Hell seine Neuigkeiten.

»Was machen wir?«, fragte sie entspannt.

»Lass uns in dem Supermarkt schauen, was wir dort nicht erhalten, können wir noch in dem Spirituosenladen einkaufen.«

*

Franziska hatte den Tisch gedeckt.

Als Hell das erste Mal in einem Wohnwagen gesessen hatte, gab es noch dieses schreckliche Plastikbesteck, das einem jegliche Speise mit seinem Eigengeschmack verderben konnte. Diese Erinnerung hatte er noch in sich getragen, als sie das Wohnmobil bei dem Vermieter inspiziert hatten. Während Franziska sich von dem Mann die Dusche hatte erklären lassen, öffnete er mit einem verstohlenen Blick den Schrank, in dem das Geschirr lagerte, und nahm einen Teller heraus. Er roch daran. Das Material war ein komplett anderes, der Teller hatte keinen Eigengeruch und sah auch wirklich wertig aus. Kein Plastikschrott mehr wie in den Siebzigern. Diese Teller lagen jetzt auf dem Tisch. Sie hatten beschlossen, für das Essen die Stühle und den Tisch aus der Garage nicht extra unter dem Bett hervor zu holen, daher fand ihr erstes Essen im Inneren des Wohnmobils statt.

Sie hatte sich Mühe gegeben. Es gab Baguette, Käse und der spanische Wein, den sie im Supermarkt gekauft hatten, funkelte bereits in den Gläsern.

Hell hatte sich mit der Bedienungsanleitung in der Hand mit den Anschlüssen für Wasser und Strom vertraut gemacht. »Ich habe jetzt, glaube ich, alles kapiert«, sagte er und hielt das Heft hoch, trat auf den herausklappbaren Tritt und stand mit einem Schritt vor dem gedeckten Tisch.

»Wo möchtest du sitzen?«, fragte sie ihn und schlang von hinten ihre Arme um seine Taille.

»Ist mir egal«, sagte Hell.

»Gut, dann darfst du den Fahrersitz nehmen, ich mache mich dann hier auf dem Sofa breit, wenn man das Sofa nennen kann!«

»Meckere nicht, diese Sessel sind sündhaft teuer. Erinnere dich daran, was der Vermieter gesagt hat: Dieses Modell ist das Beste, was die Marke zu bieten hat.« Er imitierte den Ton des Mannes. Franziska lachte und ließ sich auf den Sitz fallen. Schwarzes Leder mit Stoff, so wie man es auch aus einigen Autos kannte.

»Man sitzt ja hier auch sehr bequem, es sieht eben ein bisschen aus wie ein … Autositz.« Ihre Hand tastete über das Leder.

»Du bist in einem Auto«, sagte Hell lachend und stellte die jetzt störenden Lehnen an dem Fahrersitz nach oben.

Franziska schmunzelte. »Stimmt!«

Alles in allem teilten sie den gleichen Geschmack, was Einrichtungsdinge anging, einen Mix aus alten Möbeln und modernen Accessoires.

»Auf einen wundervollen Urlaub«, sagte Franziska und hob ihr Weinglas.

Hell hob ebenfalls sein Glas und prostete ihr zu. »Auf einen tollen Urlaub. Dass er so schön wird wie unser erster Trip an die Nordsee.«

Die Gläser hingen noch eine Weile über dem Tisch, trafen sich dann mit einem klirrenden Ping. Richtiges Glas, dafür hatte Franziska gesorgt.

»Was denkst du, wie lange brauchen wir bis nach Hvide Sande?«, fragte sie und griff nach einigen Scheiben Baguette.

»Kommt drauf an, ob wir durchfahren oder hier und da einen Halt machen. Es sind noch etwas über dreihundert Kilometer, wenn wir die westliche Route ohne Autobahn nehmen, sind es weniger, dafür dauert es etwas länger«, antwortete Hell.

»Wann erwarten uns Stephanie und ihre Freundin?«

»Sie wissen, dass wir eventuell einen Tag länger brauchen. Sie sind ebenfalls heute Morgen losgefahren.«

»Schicke Ihnen doch eine SMS und frage, ob sie schon angekommen sind.«

Franziska legte sich einige Stücke eines französischen Weichkäses auf den Teller. Hell wollte aufstehen, um sein Handy zu holen.

»Nein, bleib, das hat noch Zeit bis nach dem Essen.« Hell stand trotzdem auf, Franziska blickte ihm nach.

»Ich möchte es trotzdem wissen«, sagte er und setzte sich mit dem Smartphone in der Hand. Er tippte einige Worte ein, sendete und legte das Telefon dann neben sich auf den Tisch.

»Wie weit ist es von dem Stellplatz bis zu Stephanies Ferienhaus?«, fragte sie und biss in ihr Baguette.

Hell schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Ahnung. Kommt drauf an, welchen wir nehmen.«

Das Handy piepte. Hell las die Nachricht. »Sie sind da«, sagte er, »Sie meint, sie seien an einem Campingplatz vorbeigekommen, der nur ein paar Kilometer von ihrem Haus entfernt liegt. Der heißt Norre Lyngvig und liegt am Holmsland Klitvej.«

»Klingt doch nach einem Urlaub der kurzen Wege«, analysierte Franziska.

Hell tippte noch schnell eine Antwort, dann nahm er einen Schluck Wein.

»Dafür, dass wir keine Ahnung von Fahrten mit einem Wohnmobil haben, ist doch bis jetzt alles gut verlaufen.«

Sie erwiderte seinen Blick und er glaubte darin lesen zu können, dass sie diese Tatsache genauso beruhigte wie ihn auch.

»Ich freue mich schon so auf den Strand und das Wasser und die Wellen, auf gemütliches Zusammensitzen, Grillen und auf den Wein, den wir trinken werden.«

Sie streckte die Arme aus, als wolle sie die ganze Welt umarmen. Dabei schlug sie mit der Hand gegen das Fenster neben sich.

»Upps!«

»Stephanie wollte heftig einen zechen und mit uns pokern«, erinnerte sich Hell. »Pokern? Ich kann nicht pokern!«

»Das wird sie uns schon beibringen.«

»Dann wirst Du mein Leck’sches Pokerface kennenlernen«, sagte sie und machte ein völlig regungsloses Gesicht, um kurz darauf in Lachen auszubrechen, »Wie gut, dass ich so etwas nie lange durchhalte.«

»Das geht mir genauso, bei unseren Doppelkopf-Abenden früher hat auch immer jeder gesehen, wenn ich gute Karten hatte. Ich kann mich dabei nicht verstellen.«

»Was für einen Kriminalen aber keine gute Einrichtung ist. Da brauchst du schon ein Pokerface, wenn du einen schweren Jungen vor dir hast.«

Hell schwang seinen Finger über dem Teller und schüttelte den Kopf. Er musste erst kauen, bevor er protestierte. »Das ist was anderes. Das kann ich sehr wohl, das weißt du.«

»Naja, wir werden sehen, wie du dich beim Pokern schlägst.«

Mit Glas Wein Nummer zwei setzten sie sich später noch vor das Wohnmobil auf die Stühle, die Hell doch noch eilig aus der Garage hervorgeholt hatte. Es folgte Glas Nummer drei und vier. Im Hintergrund lief das Autoradio. Der Wettermann versprach für den kommenden Tag Temperaturen bis dreißig Grad.

Sie planten, am nächsten Morgen in aller Herrgottsfrühe aufzustehen, eine Kleinigkeit zu frühstücken und sich dann auf den Weg nach Dänemark zu machen. Franziska äußerte den Wunsch, noch nach Flensburg zu fahren, bevor sie die Grenze überschreiten würden.

Zufrieden mit den Planungen für den nächsten Tag kippte sich Hell zum Abschluss den letzten Schluck Wein auf die Bermuda-Shorts.

*

Hvide Sande

Die Nacht legte sich wie ein schützendes Tuch über ihre Aktivitäten. Mit ausgeschalteten Scheinwerfern näherte sich ein Jeep der alten Fischerkate, der Fahrer kannte den holprigen Weg auch ohne Licht. Er stellte den Motor aus, kurbelte das Fenster ganz herunter und horchte in die Nacht hinein.

Nichts. Kein Laut war zu vernehmen. Selbst der Wind, der den ganzen Tag über die Werbefahnen vor seinem Geschäft in hektische Aufregung versetzt hatte, flaute mehr und mehr ab. Er öffnete die Autotür. Aus der Kate war kein Laut zu vernehmen. Eigentlich hatte er erwartet, einer der Hunde würde anschlagen und die anderen würden ins Konzert einfallen. Doch noch blieb alles ruhig.