Castor Pollux 4 - Rafael Marques - E-Book

Castor Pollux 4 E-Book

Rafael Marques

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Beschreibung

Kreta, 65 n. Chr.
Längst war die Nacht hereingebrochen, als eine Gestalt zu einem der Häuser huschte. Die junge Frau drückte die Tür leise auf und schluckte, als sie in den Raum trat, in dem der Tote aufgebahrt worden war.
Eigentlich hätte der Körper des siebenjährigen Jungen Ruhe verdient, obwohl seine Seele längst auf dem Weg in den Hades war. Er war in weiße Gewänder gehüllt, und der Kopf war mit bunten Blüten bedeckt. Vorsichtig legte sie die Blüten zur Seite und sorgte dafür, dass einige der Tücher zur Seite glitten, bis der Hals frei lag und ihr Blick auf die schrecklichen Wunden fiel.
Endlich sah Zoe, die erst vor Kurzem aus Rom in ihr Heimatdorf zurückgekehrt war, dass sie sich mit ihrer düsteren Ahnung nicht getäuscht hatte. "Es geht wieder los", flüsterte sie.


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Inhalt

Cover

Titel

WIE WAR´S WIRKLICH?

Vampire auf Kreta

… UND IM NÄCHSTEN ROMAN LESEN SIE:

Fußnoten

Impressum

Vampire auf Kreta

von Rafael Marques

Kreta, 65 n. Chr.

Längst war die Nacht hereingebrochen, als eine Gestalt zu einem der Häuser huschte. Die junge Frau drückte die Tür auf und schluckte, als sie in den Raum trat, in dem der Tote aufgebahrt worden war.

Eigentlich hätte der Körper des siebenjährigen Jungen Ruhe verdient, obwohl seine Seele längst auf dem Weg in den Hades war. Er war in weiße Gewänder gehüllt, und der Kopf war mit bunten Blüten bedeckt. Vorsichtig sorgte sie dafür, dass einige der Tücher zur Seite glitten, bis der Hals frei lag und ihr Blick auf die schrecklichen Wunden fiel.

Endlich sah Zoe, dass sie sich mit ihrer düsteren Ahnung nicht getäuscht hatte. »Es geht wieder los«, flüsterte sie.

WIE WAR´S WIRKLICH?

In dem vorliegenden Roman spielt Kaiser Nero Caesar Augustus Germanicus – wie er mit vollem Namen hieß – keine Rolle, was uns Gelegenheit gibt, in aller Ruhe einen Blick auf den schillernden Herrscher zu werfen, der in der Geschichte des römischen Reiches nachhaltige Spuren hinterlassen hat.

Wenn Nero hätte entscheiden können, wäre er vielleicht gar nicht Kaiser geworden. Seine Leidenschaft galt dem Gesang, dem Schauspiel und dem Wagenrennen. Allerdings hatte er wohl wenig mitzureden, als ihn seine überaus ehrgeizige Mutter Agrippina im Alter von gerade siebzehn Jahren auf den Thron bugsierte. Agrippina, Schwester des berühmt-berüchtigten Kaisers Caligula, hatte es zuvor geschafft, dass der amtierende Kaiser Claudius sie ehelichte und Nero adoptierte. Was die Chancen seines leiblichen Sohns Britannicus auf die Nachfolge drastisch reduzierte (später kam dieser im Alter von vierzehn Jahren unter mysteriösen Umständen ums Leben).

Im Oktober54starb Claudius, nachdem er ein Pilzgericht verzehrt hatte. Es ist nicht bewiesen, dass die Mahlzeit von Agrippina vergiftet worden war, aber in den Kram passte es ihr auf jeden Fall. Claudius hatte kaum seinen letzten Atemzug getan, da krempelte sie die Ärmel hoch und ließ Nero von der kaiserlichen Leibgarde, den Prätorianern, zum neuen Kaiser ausrufen. Da sie sich zuvor die Gunst von deren Befehlshaber gesichert hatte, ging das Ganze ohne größere Diskussionen über die Bühne. Auch der Senat, ermüdet und dauerbeleidigt von der Geringschätzung durch Claudius, winkte die Personalie durch.

Nach den relativ entspannten ersten fünf Jahren seiner Amtszeit hatte Nero von seiner nervigen Mutter, die sich ständig in alles einmischte, die Nase voll und ließ sie im März59ermorden. Danach agierte er wie entfesselt. Das Verhältnis zum Senat verschlechterte sich, die Senatoren waren ihm lästig. Neben allerlei sexuellen Eskapaden frönte er nun verstärkt seinen eigentlichen Neigungen. Er trainierte seine Stimme und trat als Sänger und Schauspieler auf, sehr zum Missfallen der Oberschicht. Zum Vergleich: Das wäre heute etwa so, als würde der Bundeskanzler regelmäßig als Leadsänger einer Punkrockband auf der Bühne stehen.

Nach einer gescheiterten Verschwörung im April65witterte Nero Verräter an allen Ecken und Enden und Widerspruch als Zeichen dafür, dass ihm der Urheber ans Leder wollte. Man war also gut beraten, seine Meinung für sich zu behalten, wenn sie nicht identisch mit der des Kaisers war. Im Jahr68war es dann tatsächlich so weit. Senat und Oberschicht hatten die Faxen dicke, die Prätorianer riefen den70-jährigen Galba zum neuen Kaiser aus. Nach langem Zaudern stach sich der in die Enge getriebene Nero auf einem seiner Landgüter einen Dolch in den Hals. »Was für ein Künstler geht mit mir zugrunde«, sollen seine letzten Worte gewesen sein.

Michael Schauer

Vampire auf Kreta

Kreta,65n. Chr.

»Milou! Milou, wo steckst du?«

Wie lange Loukas nun schon in dem Wald unterwegs war, um seine entlaufene Katze zu suchen, wusste er längst nicht mehr. Angst verspürte er nicht, da er sich in der Gegend sehr gut auskannte. Georgios, sein Vater, arbeitete als Holzfäller und nahm ihn immer wieder zu Rundgängen in dieses Gebiet mit. Einige Male war Milou auch dabei gewesen, und nun wollte sie anscheinend den ganzen Tag hier verbringen.

Ob sie wohl mit ihm spielte? Oder ihn locken wollte? Manchmal glaubte er, einen kleinen kompakten Schatten zwischen den Stämmen der Oliven- und Granatapfelbäume hindurchhuschen zu sehen, bei anderer Gelegenheit hallte ein leises, verwirrtes Maunzen durch den Wald. Immerhin sagten ihm diese klagenden Laute, das Milou sich hoffnungslos verlaufen hatte und eigentlich gerettet werden wollte.

»Lass sie gehen, sie ist nur eine Katze«, hörte er Vater im Geiste sagen. »Irgendwann kommt sie schon wieder.«

»So wie Ziri?«, hatte er gefragt, als er losgelaufen war.

Mit Tränen in den Augen erinnerte er sich an seine erste Katze, die mehrere Jahre lang seine treue Gefährtin gewesen war. Eines Tages war sie nicht mehr nach Hause zurückgekehrt, trotzdem hatte Vater geglaubt, sie würde bestimmt zurückkehren, wenn sie hungrig wurde. Doch das hatte nicht gestimmt. Wochen später stieß Loukas beim Spielen mit Freunden in den unheimlichen Höhlen östlich des Dorfes auf Ziris Überreste, die er an dem geflochtenen Halsband erkannte, das er ihr kurz vor ihrem Verschwinden angelegt hatte.

Milou durfte auf keinen Fall das gleiche Schicksal wie Ziri erleiden. Deshalb würde er alles daransetzen, sie zu finden, selbst wenn das bedeutete, die Regeln des Dorfes zu brechen. Seit einiger Zeit war es den Kindern verboten, dieses ohne Begleitung mehr als hundert Fuß weit zu verlassen, und überhaupt sollte niemand sich so weit von Zarkos entfernen. Ianos, der Dorfälteste, befürchtete, dass sie mit den Bewohnern des Nachbardorfes Kodas in Kontakt gerieten, mit denen es in letzter Zeit zu großen Spannungen gekommen war. Loukas verstand das überhaupt nicht, schließlich stammten einige seiner Freunde aus Kodas.

»Milou!«, rief er noch einmal, lugte in einen querliegenden, hohlen Baumstamm, schreckte aber nur eine Wildkatze auf, die sich hier über den Tag verstecken wollte. Auch Loukas fuhr überrascht in die Höhe und griff nach dem angespitzten Ast, den er an der Hüfte mit sich führte. Das Tier fauchte wütend und zog sich tiefer in den Wald zurück, statt den Jungen anzugreifen.

Loukas seufzte, drehte sich wieder um und setzte die Suche fort. Schnell wie der Blitz rannte er einen kleinen Hügel hinauf, kämpfte sich durch das Unterholz und glaubte dabei erneut, einen Ruf seiner verschwundenen Katze zu vernehmen. Die Laute spornten ihn noch weiter an, sodass er kaum mehr auf seine Umgebung achtete, bis er einen kleinen glitzernden Wasserlauf erreichte, der sich seinen Weg zwischen diesem und einem weiteren Hügel bahnte. Sehr alte Eichen reckten sich dort in Richtung Himmel, und genau zwischen ihnen sah er einen Schatten, bei dem es sich durchaus auch um Milou handeln konnte.

»Hallo, Junge.«

Loukas schreckte nur leicht zusammen, als ihn die fremde Stimme von der rechten Seite erreichte. Er war von Grund auf nicht ängstlich, sondern überaus neugierig. Selbst bei der Begegnung mit der Wildkatze hatte sein Herz kaum schneller geschlagen, während andere Jungen und Mädchen in seinem Alter sicher schreiend davongelaufen wären. Für ihn steckte die Welt voller Wunder und Überraschungen, die es zu ergründen galt, und so empfand er auch, als er den ihm völlig unbekannten Mann erblickte, der am Rande des Baches aufgetaucht war.

Der Fremde trug ein voluminöses, dunkles Himation und zusätzlich noch einen dünnen Umhang, der seinen normalerweise nackten linken Arm und Teile des Kopfes verdeckte. Scheinbar als Zeichen dafür, dass er nichts zu verbergen hatte, schlug der Mann seine Kapuze zurück und zeigte Loukas einen haarlosen Schädel, ein bleiches, etwas knochiges Gesicht und dunkle Augen, in denen ein seltsamer Schimmer lag. Etwas an dem Unbekannten faszinierte den Jungen, er wusste nur nicht genau, was es war.

»Wer bist du?«, fragte Loukas neugierig, als er näher an den Mann herantrat. »Ich habe dich hier noch nie gesehen.«

Der Fremde lächelte, sehr schmal, als wollte er ihm seine möglicherweise schlechten Zähne nicht zeigen. »Tatsächlich bin ich vor langer Zeit schon einmal in dieser Gegend gewesen«, sprach er mit rauer Stimme. »Mein Name lautet übrigens Amyntor. Und deiner?«

»Loukas.«

»Freut mich, dich kennenzulernen, Loukas«, erklärte der Fremde freundlich.

Der Junge ließ sich auf einem großen Stein nieder, nicht ohne dabei den nahen Hügel aus den Augen zu verlieren. Von Milou war im Moment nichts zu sehen, und wenn er weiter hier Zeit vertrödelte, würde er seine Katze wohl niemals einholen. Andererseits interessierte es ihn schon, wer Amyntor war, was ihn zurück in die Nähe von Zarkos trieb und warum seine Haut so ungewöhnlich bleich schimmerte.

»Wann warst du denn schon mal in dieser Gegend?«, hakte Loukas nach.

Amyntor winkte ab. »Oh, das ist schon lange her. Ich bin sehr alt, musst du wissen, älter, als man es mir vielleicht ansieht. Damals sah hier vieles noch ganz anders aus. Häuser, die mir mit blühenden Gärten oder fröhlichen Menschen in Erinnerung blieben, sind heute verschwunden oder existieren nur noch als Ruinen. So ist das mit der Zeit, kleiner Loukas. Alles vergeht, nur wenig bleibt.«

So richtig verstand Loukas die Bemerkung zwar nicht, allerdings machte ihm das auch nichts aus. Vieles, was die Erwachsenen sich so erzählten, stellte für ihn ein großes Rätsel dar. In solchen Fällen ließ er seiner Fantasie freien Lauf.

»Bist du dann nicht traurig, dass du zurückgekommen bist?«

Als Reaktion auf seine Frage ließ Amyntor seinen Blick in Richtung Himmel wandern, wo die Nachmittagssonne gerade von einer dunklen Wolke verschluckt wurde. Ein leiser, erleichterter Seufzer ging dem Bleichen über die Lippen, als würde er den Schatten weit mehr genießen als das Licht. »Ein wenig traurig bin ich schon«, gab er zu. »Andererseits freue ich mich auch auf ein kommendes Ereignis. Meine alte Gefährtin, die auch in dieser Gegend wohnt, werde ich endlich wiedersehen, nachdem ich sie damals leider zurücklassen musste.«

»Oh«, stieß Loukas überrascht hervor. »Wenn das schon so lange her ist, muss deine Gefährtin ja uralt sein. Bestimmt noch älter als Ianos, der ist schon fast sechzig. Wie heißt sie denn?«

»Pherenike.«

Der Junge kratzte sich am Kinn. »Hm, der Name sagt mir gar nichts. Bist du sicher, dass sie noch in dieser Gegend lebt?«

»Ja, das bin ich«, antwortete Amyntor überzeugt, wobei er sich einige Schritte näherte und sich neben Loukas ins Gras setzte. »Sie lebt sehr zurückgezogen, deshalb wirst du wahrscheinlich noch nichts von ihr gehört haben. Weißt du, die Menschen reagieren oft mit Ignoranz und Enttäuschung, wenn sie auf ihresgleichen treffen und diese gerne für sich sein wollen. Noch schlimmer wird es, wenn sie es mit Leuten zu tun bekommen, die sie nicht verstehen. Sie beginnen, ihnen nachzustellen, sie zu jagen, zu vertreiben und sogar zu töten. So etwas ist mir vor sehr langer Zeit passiert, deswegen musste ich mich auch von Pherenike trennen, doch jetzt hoffe ich, dass sie mir noch einmal vergibt. Und vor allem wünsche ich mir, dass noch etwas von der Frau in ihr steckt, die ich einmal geliebt habe.«

Wieder verstand Loukas nicht so richtig, was der Fremde meinte. Andererseits klang er ein wenig traurig, weshalb er versuchte, ihn zu trösten. »Es wird bestimmt alles gut«, sagte er und lächelte.

Amyntor lächelte zurück. »Danke, das ist sehr nett von dir.«

»Schon gut.«

Loukas sah hinauf zum Waldrand. Beinahe hätte er aufgeschrien, als er Milou wiedersah. Die pechschwarze Katze hockte ebenfalls auf einem Stein und blickte ihn aus großen Augen an, als wartete sie nur darauf, dass er ihr entgegenlief und sie in die Arme schloss.

»Ich muss jetzt los, meine Katze fangen«, rief er und sprang auf. »Danach muss ich dringend wieder nach Hause.«

Amyntor sah zu Milou hinauf und legte Loukas eine Hand auf die Schulter. Sie war eiskalt, wie die eines Toten. »Du wirst heute nicht mehr nach Hause kommen, mein Junge«, erklärte er und öffnete dabei den Mund.

Loukas’ Augen weiteten sich, als er sah, was sich hinter den Lippen verborgen hatte. Noch einmal sah er zu Milou hinauf, die sich in diesem Moment von ihm abwandte und im Wald verschwand. Als wüsste sie bereits, dass er nicht mehr kommen würde, um sie zu holen.

»Ianos, bitte, du kennst mich besser als jeder andere«, flehte Georgios verzweifelt. »Und ich kenne meinen Sohn. Loukas ist sehr verantwortungsbewusst und würde niemals bis nach der Dämmerung im Wald bleiben. Ja, er hat die Regeln gebrochen, indem er Milou hinterhergelaufen ist, aber er war so verzweifelt, nachdem seine letzte Katze gestorben ist. Trotzdem weiß er genau, dass er großen Ärger bekäme, wenn er stundenlang nicht nach Hause zurückkehren würde. Ich sage dir, da ist etwas passiert.«

Ianos, der hinter seinem alten Amboss auf einem Schemel saß und eine Faust nachdenklich gegen seinen Mund presste, zögerte mit seiner Antwort. Mehrmals fuhr er sich durch seinen schlohweißen Bart, der ihn älter aussehen ließ, als er eigentlich war, wenngleich einfache Menschen wie er selten das sechzigste Lebensjahr erreichten.

»Du hast recht, das würde er nicht tun«, gab der Schmied zu. »Es ist nur so, dass eine großangelegte Suchaktion schnell zu einem offenen Konflikt führen kann, wenn wir auf die Bewohner von Kodas treffen. Andererseits führt kein Weg daran vorbei. Komm, Georgios, ich werde einige Männer zusammenrufen.«

»Danke, Ianos.«

Es kam selten vor, dass Georgios, ein stämmiger, hochgewachsener Mann mit breiten Schultern und einem manchmal etwas wilden Bart, andere Menschen um etwas bat. Er war jemand, der Gefallen erwies und sie nicht einforderte, weil er dies als Teil der Dorfgemeinschaft als völlig normal ansah. Doch hier ging es nicht um etwas Alltägliches, sondern um seinen einzigen Sohn. Nichts auf der Welt liebte er mehr als Loukas, nichts war ihm wichtiger, besonders, seit seine geliebte Iolea kurz nach seiner Geburt gestorben war. Seitdem tat er alles im Leben nur für seinen Sohn.

Ianos war der Dorfälteste, sein Wort hatte großes Gewicht. So dauerte es auch nicht lange, bis sich dank seinem Zutun sechs weitere Männer auf dem Platz neben dem Brunnen zusammengefunden hatten. Unter ihnen war auch Damasos, ein Bursche von knapp über zwanzig Jahren, der gerne neben Ianos als Wortführer auftrat und dank seiner Kampfkraft einigen durchaus Respekt einflößte. Georgios war er immer ein wenig unsympathisch geblieben, weil er etwas Verschlagenes an sich hatte. Trotzdem war er froh, dass er ihm jetzt bei der Suche half.

In knappen Worten beschrieb er den Anwesenden, in welche Richtung Loukas gelaufen war, um seine geliebte Katze einzufangen. Da die Dämmerung längst über Kreta hereingebrochen war, machten sie sich mit mehreren Fackeln auf den Weg durch den Wald.

Wildtiere wie Hasen oder Eulen wurden durch den ungewohnten Aufmarsch aufgeschreckt und huschten aufgeregt durch das Unterholz oder die Luft. Immer wieder hallte Loukas’ Name durch das leicht hügelige, von den allgegenwärtigen Olivenbäumen sowie Eichen geprägte Gelände. Irgendwann würden sie auch die Küste erreichen, wobei Georgios hoffte, dass sein Sohn nicht in dieses Gebiet gelaufen war. Es war in der Vergangenheit schon manches Mal vorgekommen, dass Kinder beim Spielen auf den Klippen abgestürzt waren.

»Ich flehe euch an, ihr Götter«, murmelte Georgios. »Lasst nicht zu, dass Loukas etwas …«

»Hierher!«

Der Holzfäller zuckte zusammen, als wäre er von einem Blitz getroffen worden. Eigentlich wollte er Damasos’ Ruf gar nicht folgen, sondern sich weiter vorstellen, sein kleiner Sohn wäre irgendwo da draußen und hätte beim Versteckspiel mit seiner Katze die Zeit vergessen.

»Ich komme«, sagte er schließlich so leise, dass nur er die Worte vernahm. Eilig wischte er sich die Tränen aus dem Gesicht und rannte über einen bewaldeten Hügel, bis er einen kleinen Bach entdeckte, an dem er sicher schon einige Male entlangspaziert war.

Um Damasos hatten sich bereits mehrere Männer versammelt, die ihn nun traurig anstarrten. Wortlos wichen sie zur Seite, und selbst in Ianos’ Gesicht spiegelte sich blankes Entsetzen wider. Georgios wusste bereits, dass ihn etwas Schreckliches erwartete, dennoch wich er nicht zurück, sondern nahm die schweren letzten Schritte auf sich.

Als er den leblosen, bleichen Körper seines einzigen Sohnes vor sich sah, sank er langsam neben ihm in die Knie. Die Pupillen waren starr auf ihn gerichtet, als wollte Loukas ihn auf diese Weise für seinen Tod verantwortlich machen. Dabei wäre das gar nicht nötig gewesen, denn was immer geschehen war, er wusste, dass er selbst eine Mitschuld daran trug. Aber es gab auch jemanden, der ihn getötet hatte, eine Bestie, ein Untier, ein Monster. Diese und viele andere Begriffe schossen ihm durch den Kopf, als er die Wunden am Hals seines Sohnes entdeckte.

»Loukas«, sagte er nur, sank über der Leiche seines Sohnes zusammen und begann zu schluchzen.

Einer Prozession gleich kehrten die Männer nach Zarkos zurück. Georgios hatte die Führung übernommen, Ianos folgte ihm, dann Damasos und die anderen fünf Männer. Keiner von ihnen sprach ein Wort, bis sie das am Rande des Dorfes gelegene Haus des Holzfällers erreichten. Erst da gesellten sich auch einige Frauen zu ihnen, trauerten und weinten um den Jungen, der bei allen aufgrund seiner erhellenden, aufgeschlossenen Art so beliebt gewesen war. Niemand verstand, warum das Schicksal ihn derart plötzlich und auf so brutale Weise aus dem Leben gerissen hatte, noch dazu, da sie alle sehr gläubig waren und den Göttern regelmäßig die Thysia in Form eines Tieropfers darbrachten.

Es fiel Georgios unglaublich schwer, den Leichnam seines Sohnes an seine Schwester Eunike zu übergeben, die nach dem Tod ihres Mannes wieder in seinem Haus lebte und für Loukas gesorgt hatte wie für ihr eigenes Kind. Die anderen Frauen und sie versprachen, seinen Körper für die Beerdigung vorzubereiten, was bedeutete, dass sie ihn unter anderem in helle Tücher hüllen und im größten Raum des Hauses aufbahren würden. Noch vor dem Morgengrauen sollten die Männer ihn zu dem außerhalb des Ortes gelegenen Friedhof bringen, um ihn dort würdevoll zu bestatten.

Bis es so weit war, würde also noch einige Zeit vergehen. Eigentlich wollte Georgios die ganze Zeit über an der Seite seines toten Sohnes Wache halten, doch je länger er die Frauen dabei beobachtete, wie sie sich um den schrecklich bleichen Leichnam kümmerten, desto stärker beschlich ihn ein Gefühl, für das er sich abgrundtief schämte. Er verspürte Angst. Ja, Angst vor seinem eigenen Sohn, dass sein toter Körper wieder erwachen und ihn dafür bestrafen könnte, dass er in den letzten Augenblicken seines Lebens nicht für ihn da gewesen war.

Irgendwann hielt er es nicht mehr aus. Er rannte aus dem Haus, auf dem Dorfplatz stützte er sich am Brunnen ab. Seit dem Tod seiner Frau hatte er sich nicht mehr so schwach gefühlt. Für wen sollte er nun leben, arbeiten, atmen, wenn nicht für seinen Sohn? Natürlich würde er sich nicht hinlegen, um neben Loukas zu sterben, aber so weitermachen wie bisher konnte er auch nicht.

Seine Gedanken verblassten, als erregte Stimmen an seine Ohren klangen. Das mussten die anderen Männer des Ortes sein, die sich in Ianos’ Haus versammelt hatten, um die weiteren Schritte zu besprechen. Wie es sich anhörte, waren sie sich darüber alles andere als einig. Eigentlich hatte Georgios nicht daran gedacht, an der Unterredung teilzunehmen, doch jetzt wollte er hören, um was genau es bei dem Streit ging.

Bedächtigen Schrittes näherte er sich dem Haus des Schmieds, dessen Lagerraum schon mehrmals für Versammlungen genutzt worden war. Auch Georgios war dort schon mit seinen Freunden und Nachbarn zusammengekommen, manchmal zu dem einen oder anderen Glas Wein, was er im Moment verabscheut hätte. Im Angesicht des Bösen musste man einen klaren Kopf bewahren.