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Kira Licht

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Beschreibung

+++Eine Cozy-Romance im eisigen Alaska+++

Sie sind wie Feuer und Eis. 

Nach langer Zeit ist Lys, Tochter eines Delikatessen-Fabrikanten, zurück in ihrer Heimat Blackfish Bay, einem malerischen Küstenort im eisigen Alaska. Lys will endlich mit ihrer Vergangenheit abschließen und sich mit ihrem Vater aussöhnen. Umso misstrauischer begegnet sie Zane – denn sie glaubt, er sei eingestellt worden,   sie zu überwachen. Doch Zane verfolgt eigene Ziele: Er ist Mitglied der Seawolves, einer Gruppe von Umweltaktivisten, die kriminelle Machenschaften in der Firma von Lys Vater untersucht.  Überzeugt, dass Lys darin verwickelt ist, will Zane sich von ihr fernhalten. Als sich die beiden dennoch ineinander verlieben, werden ihre Gefühle auf eine harte Probe gestellt …


Tierschutz, Selbstfindung und die große Liebe – mit ihrer emotionalen Romance sorgt Spiegel-Bestseller-Autorin Kira Licht für Herzklopf-Momente und Wanderlust im Sehnsuchtsort Blackfish Bay, an der traumhaft-wilden Küste Alaskas.

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Das Buch

Sie sind wie Eis und Feuer.

Nach langer Zeit ist Lys, Tochter eines Delikatessen-Fabrikanten, zurück in ihrer Heimat Blackfish Bay, einem malerischen Küstenort im eisigen Alaska. Lys will endlich mit ihrer Vergangenheit abschließen und sich mit ihrem Vater aussöhnen. Umso misstrauischer begegnet sie Zane – denn sie glaubt, er sei eingestellt worden, sie zu überwachen. Doch Zane verfolgt eigene Ziele: Er ist Mitglied der Seawolves, einer Gruppe von Umweltaktivisten, die kriminelle Machenschaften in der Firma von Lys Vater untersucht. Überzeugt, dass Lys darin verwickelt ist, will Zane sich von ihr fernhalten. Als sich die beiden dennoch ineinander verlieben, werden ihre Gefühle auf eine harte Probe gestellt …

SPIEGEL-BESTSELLER-AUTORIN

Die Autorin

© Picturepeople

Kira Licht ist in Japan und Deutschland aufgewachsen. In Japan besuchte sie eine internationale Schule, überlebte ein Erdbeben und machte ein deutsches Abitur. Danach studierte sie Biologie und Humanmedizin. Sie lebt, liebt und schreibt in Bochum, reist aber gerne um die Welt und besucht Freunde.

Aktuelle News zu Büchern, Gewinnspielen und Leserunden verrät die Autorin auf Instagram:https://www.instagram.com/kiralicht/

Der Verlag

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Deshalb sind alle Inhalte dieses E-Books urheberrechtlich geschützt. Du als Käufer erwirbst eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf deinen Lesegeräten. Unsere E-Books haben eine nicht direkt sichtbare technische Markierung, die die Bestellnummer enthält (digitales Wasserzeichen). Im Falle einer illegalen Verwendung kann diese zurückverfolgt werden.

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Planet! auf Instagram:https://www.instagram.com/thienemannesslinger_booklove

Viel Spaß beim Lesen!

Prolog

LYS

New York, eine Woche zuvor

Das Herz findet seinen Weg. Ich drehte den kleinen Kühlschrankmagnet zwischen meinen Fingern. Die sanft geschwungene goldene Schrift passte perfekt zu dem fliederfarbenen Hintergrund. Das Herz findet seinen Weg. Nicht nur der Spruch klang optimistisch, sogar die Farbkombination aus Flieder und Gold strahlte Gelassenheit und Zuversicht aus. Eigenschaften, die mir verloren gegangen schienen. Stattdessen kreiste diese eine Frage in Endlosschleife in meinem Kopf: Hatte ich die richtige Entscheidung getroffen?

Die Tür meines Zimmers wurde schwungvoll aufgestoßen.

»Ich sehe keinen nennenswerten Fortschritt.« Meine beste Freundin Chloe ließ zwei leere Müllsäcke auf den Boden sinken. Dann warf sie ihre Sonnenbrille auf die Couch, während sie sich gleichzeitig die Plateausandalen von den Füßen kickte und einen prüfenden Blick auf ihr Handy warf.

Ich beobachtete sie wie immer fasziniert dabei. Chloe war die ungekrönte Königin des effektiven Zeitmanagements. Ich konnte ein Lied davon singen. Drei Jahre lang hatte ich nach dem Volleyballtraining neben ihr geduscht. Während ich mich noch für ein Shampoo entschied, hatte Chloe bereits eine Haarmaske aufgetragen.

»Du warst bloß zehn Minuten weg«, verteidigte ich mich halbherzig und ließ den Blick aus dem Fenster schweifen. Aber nicht mal der strahlend blaue Himmel über Carnegie Hill konnte meine grauen Wolken vertreiben. Um mich herum auf dem Bett verteilt lagen Kleidungsstücke, die darauf warteten, dass ich sie begutachten und wahlweise aussortieren oder zurück in den Schrank packen würde. Chloe und ich waren beide an der Brown University angenommen worden. Ich im Studiengang BWL, sie würde Jura studieren. Chloe war sich, wie in allen anderen Dingen des Lebens auch, ganz sicher, die richtige Wahl getroffen und den Herausforderungen des Studiums gewachsen zu sein. Sie besaß eine innere Selbstsicherheit, um die ich sie sehr beneidete. Sie würde in einer Woche ein Praktikum bei »Latham & Watkins«, einer der renommiertesten Anwaltskanzleien New Yorks, beginnen. Eine große Chance, für die sie hart gekämpft hatte und die ihr einen Vorgeschmack auf das Studium geben würde.

Ich hingegen fühlte mich eingeschüchtert von der Vorstellung, mich bald zwischen so vielen anderen Studenten beweisen zu müssen. Wir hatten schon unsere Stundenpläne und die Bücherlisten bekommen, und das hatte es nicht besser gemacht. Ich war nicht so perfekt organisiert wie Chloe, nicht so zielstrebig und nicht so selbstbewusst. An manchen Tagen fühlte ich mich regelrecht gelähmt und war mir sicher, bei dem Großprojekt »BWL-Studium« zu versagen.

Meine Aufmerksamkeit wanderte zurück zu dem Berg Kleidung auf meinem Bett. Da Chloe und ich am Ende der Sommerferien gemeinsam ins Wohnheim auf dem Campus der Brown ziehen würden, hatten wir beschlossen, unsere Zimmer noch mal gründlich auszumisten.

Und heute war mein Reich an der Reihe.

»Wenn du in diesem Tempo weitermachst, verpasst du noch die Einführungsveranstaltung in sechs Wochen.« Chloe schaute von ihrem Smartphone auf und ließ sich im Schneidersitz auf meiner durchgesessenen Couch nieder. Ihre Miene wurde weich. »Niemand zwingt dich, Lys. Noch kannst du alles canceln. Storniere deine Flüge, ruf in Blackfish Bay an und sag ihnen, dass du es dir anders überlegt hast.«

Ich seufzte und begutachtete alibimäßig ein blau-weiß geringeltes Shirt. »Nein, ich kneife jetzt nicht.« Oder vielleicht doch? Ich klang erbärmlich. Und da waren sie wieder, die Fragen: Hatte ich die richtige Entscheidung getroffen? Oder erwartete mich die größte Enttäuschung meines Lebens?

Ich legte das Shirt zurück auf die Patchwork-Tagesdecke, dann betrachtete ich Chloe, die mich immer noch leicht besorgt musterte. Das cremefarbene Polohemd ließ ihre hellbraune Haut strahlen, dazu die dunkle Jeans, die in Pastellrosa lackierten Finger- und Fußnägel, der dezente Schmuck. Sie sah klasse aus. Ich hingegen versumpfte in der Jogginghose meines Ex-Freunds und trug dazu ein XL-Shirt, auf dem ein quietschgelber Pikachu herumsprang.

Als mein Magen in die Stille knurrte, rang ich mir ein zuversichtliches Lächeln ab. »Lass uns etwas zu essen holen. Ich habe Lust auf einen Wrap.« Ich drehte den Magnet zwischen meinen Fingern. »Fürs restliche Ausmisten brauche ich nur noch eine halbe Stunde.«

»Aber so gehe ich nirgendwo mit dir hin.« Chloe schoss hoch, marschierte zu meinem Kleiderschrank und riss die Türen auf.

»Du weißt, ich liebe dich, aber wir haben hier einen verdammten Ruf zu verlieren«, sagte sie zu meinem beigefarbenen Trenchcoat.

»Sei nett zu ihm, er mag dich.«

Chloe schwang herum. »Nicht frech werden, Fräulein. Ich weiß, wo deinen Klamotten hängen.« Sie grinste.

Ich lächelte. »Das sagt die Richtige.« Chloe würde auch im Schlafanzug mit mir essen gehen, das war mir klar. Sie war die Erste, die ich hier in New York kennengelernt hatte, und sie war das Beste, was mir seit Langem passiert war. In ihr hatte ich eine wahre Freundin gefunden, die mit mir durch dick und dünn ging. Nach außen wirkte sie vielleicht etwas überdreht und auch ihre pathologische Schwäche für Mode erschien oberflächlich. Aber Chloe war lieb und loyal und sie war immer für mich da.

Jetzt griff sie in meinen Schrank und warf ein dunkelblaues Maxikleid auf mein Bett. »Das hier?«

Ich nickte, dann hielt ich den Magnet hoch. »Erinnerst du dich noch, wann du mir den geschenkt hast?«

»Jacob hatte dich abserviert und du warst ein Wrack.« Sie lächelte triumphierend. »Und jetzt beulst du seine Jogginghose aus und fliegst quer durchs Land, um die Firma deines Vaters zu übernehmen.«

»Oh ja.« Ich lachte und angelte nach den Riemchensandalen unter meinem Bett. »Und dabei war Jacob keine einzige Träne wert.« Und was die Übernahmepläne anging … Nun ja, wir würden sehen.

Ich tauschte Schlabberlook gegen Maxikleid, während Chloe ihr Lipgloss auffrischte.

Als ich in meine Sandalen schlüpfte, glitt mein Blick erneut zum Fenster, und ich machte die paar Schritte darauf zu. Die Silhouette von New York malte sich wie ein grauer Schatten vor den wolkenlosen Himmel. »In einer Woche sitze ich schon im Flieger.«

»Bleib hier, Lys.« Chloe seufzte leise. »Blackfish Bay ist deine Vergangenheit. Ich sage es gerne noch mal, aber ich glaube, du verklärst diese Vergangenheit, vor allem die Situation mit deinem Vater und seiner Freundin. Vielleicht ist es besser, es bleibt alles so, wie es ist. Manche Dinge kann man nicht reparieren.« Sie stellte sich neben mich an das Fenster. »Vielleicht zieht es dich auch nach Blackfish Bay, weil du es mit den Erinnerungen deiner Kindheit verbindest. Sorglose, fröhliche Bilder eines Mädchens, das behütet aufwächst. Jetzt hat dein Vater eine neue Familie und du bist erwachsen. Deine Sicht auf die Welt ist eine andere.« Ihre Stimme wurde leiser. »Und sehr wahrscheinlich hat sich auch in Blackfish Bay vieles verändert. Warum sagst du nicht einfach ab? Ich sehe doch, wie unwohl du dich fühlst.«

Bei ihren Worten waren Erinnerungsfetzen vor meinem inneren Auge aufgetaucht. Das stürmische Beringmeer, das gegen den Pier der Fabrik schlug. Endlose grüne Hügel und Täler, eine freie und wilde Natur, die den kleinen Ort umgab. Unser Leben mit den Jahreszeiten, den Gezeiten, den Sonnenstunden. Lange sonnige Nachmittage am Strand, mit Robben, die ihre Köpfe neugierig aus den Wellentälern reckten. Eisige Winter mit kalt gefrorenen Nasenspitzen und jeder Menge warmem Tee. Es war, als würde ich das Salz des Meeres auf meiner Zunge schmecken. Und plötzlich war alles so real, so greifbar, dass eine unbändige Sehnsucht in mir erwachte. Nach Hause. Ich würde nach Hause zurückkehren, in ein Land, das einem viel abverlangte und das so unendlich viel mehr gab. Ich wollte wieder das schwankende Deck eines Schiffs unter meinen Füßen spüren. Ich wollte, dass die raue Seeluft mir das Haar zerzauste. Ich wollte, dass der kühle Sand mich zwischen meinen Zehen kitzelte und –

»Ist alles okay?«, riss Chloes Stimme mich zurück in die Realität. »Deine Augen glänzen plötzlich so. Hast du Fieber?« Sie legte mir sacht eine Hand an die Stirn.

»Was?« Alaska. Es war mal meine Heimat gewesen. Chloe hatte natürlich recht und ich war eine andere. Ich war nicht mehr der wütende Teenager, der seinem Vater die Schuld für alles gab. Wir hatten uns vier Jahre lang nicht gesehen, kaum Kontakt gehabt. Und jetzt wollte ich einen Neuanfang wagen. Ich wollte herausfinden, ob eine Beziehung, die so zerrüttet war wie unsere, so voller ungesagter Worte, so voller bereuter Worte, noch zu kitten war. Wir waren doch mal eine Familie gewesen. Sollte es da nicht eine zweite Chance für uns geben?

»Fieber hast du jedenfalls nicht.«

»Danke.« Ich strich Chloe kurz über den Arm. »Mir geht es gut.« Es war zwar merkwürdig, doch auf einmal fühlte ich mich tatsächlich besser.

Als wir mein Zimmer verließen, betrat meine Tante May gerade die Wohnung. Sie lächelte und stellte Einkaufstaschen neben dem Sideboard an der Tür ab.

»Hallo Mädels. Habt ihr schon etwas gegessen?« Ihr Blick fiel auf Chloes schwindelerregend hohe Plateausandalen. »Du lieber Himmel, pass bitte auf, dass du nicht die Treppe herunterfällst, Chloe.« May war Lehrerin an einer Privatschule in einem der Nobelviertel von New York und konnte ihren Stand nicht verleugnen. Sie sprach meistens mit uns, als wären wir immer noch zwölf.

Während Chloe May ihren geradezu Ninja-gleichen Gleichgewichtssinn erklärte, erklang aus meiner Tasche der WhatsApp-Gong. Tamika, leuchtete auf dem Display auf, darunter stand nur ein Satz. Ich sehe dich am Strand.

Ich lächelte.

Chloe und May sprachen mittlerweile über unsere Pläne für das Abendessen. »Wollen wir?«, fragte ich Chloe. »Sollen wir dir was mitbringen?«, wandte ich mich jetzt an May.

Diese schüttelte den Kopf. »Das ist lieb, aber ich muss für morgen noch fünfzehn Klassenarbeiten korrigieren und werde das Abendessen ausfallen lassen.« Sie sah mich liebevoll an. »Wie läuft das Ausmisten?«

»Geht so«, sagten Chloe und ich gleichzeitig.

»Dann will ich euch lieber nicht aufhalten. Bis später.« May lächelte, doch ich kannte sie zu gut. Sie hatte sich noch nicht an die Vorstellung gewöhnt, dass ich bald ausziehen würde. Und noch weniger gefiel ihr der Gedanke, dass ich nach Alaska reiste. Sie hatte sogar mehr als einmal versucht, es mir auszureden.

Chloe zog die Tür hinter uns zu. »Sie liebt dich so sehr«, wisperte sie.

Das beruhte auf Gegenseitigkeit, denn ich liebte meine Tante ebenso. Nicht nur dafür, dass sie mich vor vier Jahren bei sich aufgenommen hatte. Das Leben mit ihr war harmonisch und unkompliziert. »May ist wunderbar. Sie wird mir in den fünf Wochen in Alaska fehlen.«

Chloe stupste mich an, während wir die Treppen hinuntergingen. »Es ist echt total verrückt, dass dein Vater ein eigenes Flugzeug besitzt.«

Ich grinste. »In Alaska ist das nicht so ungewöhnlich.«

»Trotzdem echt abgefahren.« Chloe riss die Haustür auf. Auf dem Gehweg begrüßte uns das geschäftige New Yorker Großstadttreiben. Die Straße war verstopft von gelben Taxen, Wasserdampf stieg aus einem Gully auf und vor dem veganen Restaurant links von uns hatte sich wie immer am frühen Abend eine kleine Schlange gebildet. »Ich hoffe für dich, dass dein Vater sich zusammenreißt. Ihr habt euch lange Zeit nicht gesehen, hattet kaum Kontakt, aber du bist seine einzige Tochter.«

»Das hoffe ich auch«, erwiderte ich, doch ich wich dem Blick meiner besten Freundin aus. Schuldgefühle wallten in mir auf, als ich daran dachte, dass Chloe jetzt seit vier Jahren mit mir durch dick und dünn ging.

Ich war feige, ich war rückgratlos, denn ich hatte ihr nie die ganze Wahrheit erzählt. In meinen Erzählungen hatte ich meinen Vater stets als den Schuldigen dargestellt.

Doch die Böse in dieser Geschichte war ich.

Kapitel 1

LYS

USA, Alaska, Port Moller-Flughafen

Logbuch von Lys, der Abenteuerreisenden19:07 Uhr, leichter Nieselregen, die Sonne hinter einerdichten Wolkendecke verborgenReisedauer bisher: acht StundenEntfernung vom Reiseziel: zwei StundenStimmung: schwer zu sagen

Ich gähnte, während ich mich bückte und meine beiden Reisetaschen noch etwas näher zu mir unter den Verschlag zog. Der Port Moller-Flughafen war ehemaliges Militärgelände. Genauer gesagt ein ehemaliger Flugplatz der Air Force. Jetzt wurde er privat betrieben und war für die zivile Luftfahrt geöffnet. Aber er war nur so minimal aufgerüstet worden, dass es lediglich einen kleinen Verschlag gab, in dem die Fluggäste sich aufhalten konnten. »Bretterbude mit einem Wellblechdach« wäre wohl eine treffendere Beschreibung gewesen. Doch bedachte man, dass die momentane Einwohnerzahl der nächstgelegenen Stadt Cold Bay genau hundertacht betrug, konnte man sich vorstellen, wie häufig dieses Gelände genutzt wurde.

Ich fühlte mich aufgekratzt, aber vielleicht war es auch nur das viele Adrenalin in meinem Blut. Nach einem Flug von Boston nach Fairbanks mit kurzem Zwischenstopp in Dallas war Port Moller der letzte Halt vor Blackfish Bay. Nicht mehr lange und ich hatte mein Ziel erreicht.

Erneut sah ich mich nach der Cessna um. Die kleine Transportmaschine meines Vaters sollte mich hier abholen und wir würden ein paar Hundert Meilen übers Meer fliegen, um dann direkt hinter dem Fabrikgebäude zu landen. Doch bis jetzt fehlte von ihr jede Spur. Ob man mich vergessen hatte? Oder war das Wetter schuld? Nein, entschied ich, der Nieselregen war sicherlich nicht das Problem. Die Piloten Alaskas waren hart im Nehmen und flogen selbst bei Blizzard-Warnung.

Das Handy in meiner Tasche brummte. Es war ein Videocall von Chloe.

»Ich habe es fast geschafft!«, sagte ich zur Begrüßung und versuchte, meine innere Unruhe zu verbergen.

Chloe durchschaute mein Schauspiel und seufzte mitfühlend. »Ich wollte nur kurz wissen, wie es dir geht. Wie war dein Trip bisher?«

»Das ist so lieb von dir. Es lief alles glatt. Und das Essen an Bord war wirklich lecker.«

»Und wie geht es dir?« Jetzt war ihr Blick ernst. »Wie fühlst du dich?«

Ich schluckte. »Ganz okay. Bisschen nervös, denke ich.«

Chloe schnalzte missbilligend. »Setz dich nicht so unter Druck, Lys. Du hattest fast vier Jahre lang keinen Kontakt zu deinem Vater. Und wir wissen beide, dass er dem Praktikum erst nach langem Hin und Her zugestimmt hat. Das sagt ja schon eine Menge aus, zumal es offensichtlich nur ein Vorwand von dir ist.« Sie blickte immer noch ernst drein. »Ich kenne deine Argumente. Du hast deinen Schulabschluss hinter dir, du willst dein Leben im Griff haben und die Dinge geregelt kriegen. Aber bitte lass es langsam angehen, und wenn in Blackfish Bay einfach alles nicht passt, nimm den nächsten Flieger nach Hause.«

Chloe hatte natürlich recht und es war nicht das erste Mal, dass wir das alles besprachen. Ich rechnete es ihr wirklich hoch an, dass sie nach wie vor mit dem gleichen Elan darüber redete. »Das mache ich.« Ich zog meine Strickjacke noch etwas enger um mich, weil der Wind erneut auffrischte. »Du weißt doch, wie sehr ich –«

»Lysandra Saunderman?«

Ich hob den Kopf. Ein junger Typ in Pilotenjacke kam mir entgegen. Er war vielleicht drei oder vier Jahre älter als ich. Seine mandelförmigen Augen verrieten sein Inuit-Erbe und sein breites Lächeln war einnehmend und ansteckend zugleich. Das war definitiv nicht Dave Mitchell, der »Hauspilot« meines Vaters, der die Cessna sonst flog.

»Süße, ich muss Schluss machen. Ich melde mich später.« Chloe und ich verabschiedeten uns schnell. »Hi«, meinte ich dann zu dem Typen. »Sag mir nicht, dass mein Flug gecancelt wurde.«

»Keine Sorge, das kann ich ganz sicher verneinen«, gab er zurück und baute das Lächeln noch aus. Verschmitzt strich er sich durch das kurz geschnittene Haar. »Ich bin nämlich der Pilot.« Dann salutierte er gespielt. »Pilotenschein und Sondergenehmigung für den Transport von Gefahrengütern vor einem Jahr erfolgreich erworben, Ma’am.« Beim Wort »Gefahrengüter« schaute er einmal an mir hinab und wieder hinauf. »Wertvolle Fracht, die Kronprinzessin nach Hause zu fliegen.«

Die Kronprinzessin. Ich hatte diesen Spitznamen noch nie gemocht.

Dann endlich machte es Klick. »Keiko!« Wie hatte ich ihn nicht erkennen können? Keiko war Daves Sohn und offenbar in seine Fußstapfen getreten. »Entschuldige«, sagte ich und schüttelte die mir dargebotene Hand. »Aber ich bin jetzt seit gefühlt einer Ewigkeit unterwegs und irgendwie sehe ich schon alles doppelt.«

Keiko winkte ab. »Kein Problem. Sind das deine Taschen?« Ohne meine Antwort abzuwarten, hob er die beiden Reisetaschen hoch, als hätten sie das Gewicht einer Feder. »Ich habe die Kleine drüben im Hangar geparkt, weil ich noch tanken musste. Aber jetzt kann es sofort losgehen.«

Er wartete kurz auf mich, dann gingen wir gemeinsam am Rollfeld entlang.

Mir brannte eine Frage auf der Zunge. »Ich hoffe, es ist alles okay mit deinem Vater?«

»Ja, alles gut. Dad fliegt nur nicht mehr so häufig.« Er warf mir im Gehen einen kurzen Seitenblick zu. »Was führt dich zurück in die Heimat? Du warst ja ewig nicht mehr hier. Du lebst in New York, richtig?«

»Ja, richtig.«

Wir betraten den Hangar. Trotz der kühlen Brise, die über das Rollfeld strich, roch es hier intensiv nach verbranntem Gummi und Kerosin. Ein Mann im Blaumann hob grüßend die Hand.

Keiko grüßte zurück, ich nickte nur leicht verlegen.

»Und?« Keiko klang, als warte er auf etwas.

»Und?«, echote ich.

»Was führt dich zurück ins wilde Hinterland?«

Ich hätte mir gern vor die Stirn gehauen. Mir fehlte definitiv Schlaf. Nicht mal zwei Fragen hintereinander konnte ich beantworten. »Sorry. Ich werde ab Herbst BWL studieren und mache deshalb ein Praktikum bei meinem Vater.«

Keiko schnalzte beifällig mit der Zunge. »Nice.«

Die kleine Laderampe der Cessna war ausgeklappt. Während Keiko leichtfüßig ins Innere marschierte, musterte ich den ausgeblichenen roten Schriftzug. »Feines von Saunderman«. Drei Worte, die mich in die Vergangenheit katapultierten. Wie oft waren wir mit diesem Flugzeug in die größeren Städte im Umland geflogen. Mein Vater hatte es immer unsere »Familienkutsche« genannt. Er hatte sich stets kleine Spiele ausgedacht, damit der Flug für uns nicht langweilig wurde. Einmal hatte er sogar eine Hängematte für mich im Frachtraum aufgespannt. Ich lächelte, als die vielen schönen Erinnerungen vor meinem inneren Auge vorbeizogen. Das war, bevor Mom gestorben und mein Vater mit Cheryl –

»Alles okay?« Keikos Kopf tauchte aus dem Inneren der Maschine auf.

Ich riss mich von dem Schriftzug los und lächelte, als er mir galant eine Hand entgegenstreckte.

»Ja, danke dir.« Ich sah mich in der Maschine um. Auch hier hatte sich praktisch nichts verändert. Nur die Spanngurte wirkten neu und ein paar der Frachtnetze schienen ausgetauscht worden zu sein. Sechs Kartons mit nicht erkennbarem Inhalt waren auf beiden Seiten des Flugzeugs mit ein paar Gurten an Haken am Boden verankert. Ich schloss zu Keiko auf, der bereits im Cockpit angekommen war. Etwas ungelenk glitt ich auf den freien Platz. Das letzte Mal hatte ich am Ende der achten Klasse hier gesessen. Gott, das alles schien so ewig her zu sein.

Keiko prüfte irgendwelche Schalter und es piepte leise. »Schnallst du dich an? Wir haben schon Startfreigabe.«

»Sofort.« Meine große Umhängetasche war im Weg und ich brauchte einen Moment, bis ich die Gurte schließen konnte. Sie waren hoffnungslos zu weit eingestellt.

Keiko grinste schief. »Dad hat in den letzten Jahren ein wenig zugelegt.«

»Dave fliegt als dein Copilot?« Normalerweise wurden kleine Maschinen wie diese von nur einem Piloten geflogen.

»Hin und wieder.« Keiko seufzte, während die zwei Triebwerke der Cessna leise zu rotieren anfingen. Der Motor brummte auf, als Keiko Gas gab und wir langsam aus dem Hangar rollten. »Er sitzt dann neben mir und meckert die ganze Zeit. Noch schlimmer als beim Autofahren.«

Ich warf ihm einen Seitenblick zu, aber allein der liebevolle Tonfall verriet ihn. Keiko und sein Vater hatten ein tolles Verhältnis. Er betätigte einige Knöpfe und Schaltregler über unseren Köpfen, dabei stand er permanent mit dem Tower in Kontakt. Ich reckte beeindruckt den Hals, während ich immer noch meine Gurte auf die richtige Länge brachte. Und dann endlich sah ich ihn. Der Tower ragte rechts von mir am Rand des Rollfeldes auf. Eine ungewöhnliche Position. Ich war bereits auf vielen kleinen Flughäfen in der Gegend gelandet, doch meistens befanden sich die Tower weiter entfernt. »Bist du so weit?« Keiko schaute prüfend auf meine Gurte, die endlich stramm um meinen Oberkörper lagen.

»Aye, Captain«, sagte ich. Die Startbahn schien im Meer zu enden. Was für ein Ausblick. Keiko lachte, dann rollte die Cessna los. Mein Vater hatte damals bei ihrem Kauf Wert auf eine PS-starke Maschine gelegt, dementsprechend mühelos jagte das fast leere Flugzeug nun über den Asphalt.

Das graue Meer kam immer näher, die Cessna beschleunigte und jede Schweißnaht schien zu ächzen.

»Sag Hallo zum Beringmeer«, meinte Keiko, bevor die Maschine die Bodenhaftung verlor und wir abhoben. Regen peitschte vor die Frontscheibe und ein Aufwind riss uns in die Höhe, während die Wellen unter uns stetig kleiner wurden. Mir entfuhr eine Mischung aus Jauchzen, Lachen und glücklichem Seufzen, als ein überwältigendes Glücksgefühl durch meinen Körper strömte wie ein berauschender Cocktail. Flüge wie dieser waren kein Trip in einer fünfhundert Plätze fassenden Passagiermaschine. Unsere Cessna war ein Spielball der Elemente und schien in dieser Sekunde sinnbildlich für dieses wilde Land.

Hallo Alaska, ich habe dich vermisst. Ich freute mich schon auf den Moment, an dem wir das Meer überwunden haben und ein kleines Stück über Land die Küste entlangfliegen würden. »Lust auf einen kleinen Snack?« Keiko griff unter seinen Sitz und zog eine Tüte hervor.

Ich schlug vor Begeisterung in die Hände, als ich den Schriftzug erkannte. »Ist nicht dein Ernst.«

Er grinste, riss die Tüte auf und reichte sie mir dann. »Die original Lachs Jerky von ›Alaska Smokehouse‹.«

»Danke dir.« Ich griff in die Tüte und nahm mir zwei Stücke des getrockneten Lachses. Natürlich gab es auch an der Ostküste Jerky zu kaufen, aber die original Gewürzmischung war einfach die beste. »So lecker«, sagte ich zwischen zwei Bissen. »Danke.«

»Gerne.« Keiko nahm sich selbst ein paar und kaute dann andächtig.

»Oh, warte.« Ich kramte in meiner Umhängetasche. Ich hatte mir am Flughafen in Vancouver ein Trinkpäckchen gekauft. Im Flugzeug selbst hatte ich auch noch eins geschenkt bekommen, nachdem ich der Stewardess erzählt hatte, wohin ich auf dem Weg war. Ich hielt meinem Piloten die zwei kleinen Kartons unter die Nase. »Multivitamin oder Himbeer- Zitrone-Aloe Vera?«

Er lachte. »Wer denkt sich so eine Mischung aus?«

Ich legte ihm den Multivitaminsaft auf den Schoß. »Gut, ich nehme dir die Entscheidung ab. Ich glaube, ich bin eindeutig die Experimentierfreudigere von uns beiden.« Ich löste den Strohhalm vom Rand, schob ihn in die vorgesehene Öffnung und probierte von der Himbeerlimonade. Eigentlich schmeckte sie hauptsächlich nach Zitrone, doch als ich spürte, wie Keiko mich von der Seite aus musterte, tat ich so, als würde ich einen besonders teuren Wein trinken. »Sehr guter Jahrgang.«

Keikos Schultern hatten bereits zu beben begonnen, während er den Strohhalm in sein Trinkpäckchen schob. Jetzt lachte er so laut, dass seine tiefe Stimme in meiner Lunge zu vibrieren schien. »Du solltest unbedingt der Theatergruppe beitreten, solange du hier bist. Ich werde Ella gleich auf dich ansetzen.«

Der Name sagte mir nichts. »Und wer ist Ella?«

»Sie ist seit acht Monaten Referendarin an der Grundschule in Blackfish Bay. Aber sie hat auch Theaterpädagogik studiert und ist seit Kurzem komplett verantwortlich für die schönen Künste dort.«

Irgendetwas an Keikos Tonfall ließ mich aufhorchen. »Magst du sie?«

Keiko stieß ein leicht ersticktes Lachen aus. »Was? Wie kommst du denn darauf?«

»Weibliche Intuition.« Ich hielt mein Saftpäckchen hoch. »Und allwissende Himbeerlimonade.«

Keiko stieß sein Saftpäckchen gegen meines. »Schon klar.« Er nahm einen Schluck. »Erinnert mich an meine Schulzeit.«

»Und jetzt erzähl mir mehr von Ella.«

»Nichts da.« Keiko schüttelte den Kopf und deute mit seinem Saftpäckchen auf mich. »Jetzt erzählst du mir, was du die vier Jahre in New York erlebt hast.«

Ich kapitulierte. »In Ordnung, aber danach …«

»Ja, schon klar«, lachte Keiko. »Alles über Ella.«

Ich grinste. »Genau.«

Kapitel 2

ZANE

USA, Massachusetts, Waterfront

»Showtime.« Lassen wir die Bombe platzen.

Ich warf meinem besten Freund Stuart Bonnehaven einen kurzen Seitenblick zu.

Er nickte knapp, während er seine Action Cam bereit machte. Wir waren durch einen Hintereingang ins Gebäude gelangt und hatten uns dort umgezogen und die Arbeitskleidung der Fabrikarbeiter gegen Anzughose, Oberhemd und Krawatte getauscht. Auch eine Uniform, aber so hatte uns im Bürogebäude niemand aufgehalten, als wir durch die schicke Eingangshalle spaziert waren. Wir konnten ungehindert den Aufzug betreten.

Ich beobachtete die Zahlen, die nacheinander rot aufleuchteten. Zweiter Stock, dritter Stock … Die Anspannung in mir wuchs. Bald würden sich die Türen wieder öffnen und das war dann der Moment, ab dem nichts mehr voraussehbar war. Aber es gehörte mittlerweile dazu. Angefangen hatten wir klassisch, mit Enthüllungsberichten, Leaks, YouTube-Videos, doch all das brachte uns nur wenig Aufmerksamkeit. Dann hatte ich etwas in der Instagram-Story posten wollen und war aus einer Laune heraus während einer Aktion live gegangen. Dieses eine Video machte uns quasi über Nacht berühmt und katapultierte unsere Followerzahlen in unglaubliche Höhen. Die Leute liebten es, live dabei zu sein, wenn wir unsere Hintern riskierten. Wenn kein Raum blieb für Schnitt, Fakes oder geplante Posts, sondern der Puls unserer Follower zeitgleich mit unserem in die Höhe schoss.

Es war riskant, denn wir wussten nie, was passierte und wie die Leute, die wir bloßstellten, reagierten. Unsere Follower sahen mir zu, sahen den Seawolves zu, und damit lenkten wir ihren Blick dorthin, wo die Gierigen und Gewissenlosen sich auf Kosten der Menschen und unseres Planeten die Taschen vollmachten.

Meine Aufmerksamkeit wanderte erneut zu den Zahlen. Sechster Stock. Es ging los.

Bevor ich live auf Instagram ging, zog ich mir ein schwarzes Tuch über Mund und Nase. Stuart hatte die Akte mit dem Beweismaterial unter den Arm geklemmt und schob seines gerade noch etwas höher über den Nasenrücken. Vor Ort gab es immer nur eine begrenzte Anzahl an Menschen, die sich an einen erinnern würden, aber das Netz vergaß nicht.

Schließlich bekam ich das Signal, dass ich nun live auf dem Kanal der Seawolves sein würde.

»Okay Leute, hier ist wieder Zane von den Seawolves. Wir sind jetzt im Bürogebäude der Marinas Fishing Company. Ihr erinnert euch sicher, was wir vorhin drüben in den Kellerräumen der Fischfabrik Interessantes gefunden haben. Wir fahren jetzt in die oberste Etage, auf der sich auch die Büros des Vorstands befinden. Wir werden mal Hallo sagen und die Chefs mit unserem Beweismaterial konfrontieren.«

»Die Marinas Company ist ein inhabergeführtes Unternehmen«, ergänzte Stuart. »Hoffentlich können wir mit Sherman Miller senior oder einem seiner Söhne sprechen. Bleibt dran.«

Der Aufzug kam mit einem Ruckeln zum Stehen. Ich befestigte mein Handy in einem Brustgurt, um unseren Followern eine optimale Perspektive zu bieten.

Die Türen öffneten sich zu einem Großraumbüro. Kaffeeduft waberte durch die Luft und irgendwo ratterte ein fleißiger Drucker. Eine junge Frau in dunklem Blazer direkt links von uns sah geschäftsmäßig von ihren Unterlagen hoch. Ihr Gesichtsausdruck war höflich und nichtssagend, bis sie uns etwas genauer betrachtete.

»Moment mal.« Sie sprang auf. »Hallo, Sie beide, Sie müssen …« Stuart hatte zu mir aufgeschlossen und filmte jetzt das Büro und die Angestellten. Ich drehte mich noch mal kurz zu der Frau um. »Machen Sie sich keine Sorgen. Das hier dauert nicht lange. Versprochen.«

»Hör auf zu flirten«, knurrte Stuart neben mir. »Das ist jetzt echt der falsche Zeitpunkt.«

Überraschtes Gemurmel erklang, als auch die anderen Angestellten uns entdeckten, doch niemand stellte sich uns in den Weg. Noch nicht.

Dann standen wir auch schon vor der Tür, die zum Vorzimmer der Vorstandsbüros führte. Das Gemurmel in unserem Rücken wurde noch lauter.

Ich kannte diese Art von aufwallender Unruhe zu gut. Es würde nicht mehr lange dauern, bis jemand den Sicherheitsdienst rief. In diesem Falle eine sechsköpfige Truppe, bestehend aus fünf gut trainierten jungen Typen mit Nahkampfausbildung und angeführt von einem Ex-Cop, der seine Leute mit eiserner Hand in Schach hielt. Ich selbst hätte keine Probleme mit ihnen gehabt, aber dem Rest meiner Crew wollte ich so einen Zusammenstoß nicht zumuten. Uns lief also die Zeit davon. Schnell klopfte ich an die Tür. Natürlich wartete ich nicht auf ein »Herein«, sondern spazierte direkt ins Vorzimmer. Vier Augenpaare sahen irritiert zu uns hoch. Hinter uns wurden schon wieder Stimmen laut. Ich schaute nach links und atmete für einen Moment auf. Natürlich hatten wir uns die Baupläne der Gebäude besorgt. Und natürlich legten wir uns immer geeignete Fluchtwege zurecht. Wenn man einmal aufgeflogen und sich gewaltigen Ärger eingehandelt hatte, war es keine schlaue Idee, den Aufzug zu nehmen. Doch jetzt fiel mein Blick auf die Streben der Feuertreppe, die am Gebäude entlang in die Tiefe führte. Das war unser auserkorener Fluchtweg nach unten.

Ein Typ in unserem Alter sprang von seinem Schreibtischstuhl auf. »Entschuldigen Sie mal. Was soll das?«

»Das ist ein Überfall!«, rief eine Frau in einer bunt gemusterten Bluse und presste sich beide Hände auf die Brust. »Das ist bestimmt ein Überfall!«

»Niemand wird hier überfallen«, stellte ich klar. »Wir sind Mitglieder der Umweltschutzorganisation Seawolves und es gibt da etwas, das wir mit dem Vorstand besprechen möchten. Und da wir auf unsere vielen Mails keine Antwort bekommen haben, dachten wir, wir schauen einfach mal persönlich vorbei.«

Eine der Türen zu den Vorstandsbüros ging auf. Ein Anzugträger Mitte fünfzig trat heraus. »Was ist denn das für ein Geschrei?«

Wir hatten die Biografien aller Vorstandsmitglieder auf der Homepage studiert und ich erkannte ihn sofort. Das war der große Boss persönlich. Was für ein Glück. »Einen wunderschönen Guten Tag, Mr Miller«, begrüßte ich ihn mit meinem nettesten Lächeln. »Finden Sie es moralisch und ethisch vertretbar, mit Quecksilber verseuchtes Wasser in die Massachusetts Bay zu leiten? Woher beziehen Sie eigentlich das Desinfektionsmittel, das schon seit acht Jahren auf dem Markt verboten ist? Und wieso genehmigen Sie solcherlei Praktiken sogar schriftlich?«

Sherman Miller wirkte überrumpelt, fing sich aber erstaunlich schnell. Sein Blick glitt von dem Handy in meinem Brustgurt zu der Kamera, die Stuart ihm vor die Nase hielt. »Ich habe gar nichts genehmigt. Ich höre zum ersten Mal davon.« Er plusterte sich auf wie ein Gockel und rückte dann seinen Gürtel zurecht. »Ziehen Sie gefälligst diese Tücher vom Gesicht, wenn Sie mit mir reden. Wer sind Sie überhaupt?«

Ich ignorierte sein lächerliches Platzhirschgehabe und seine letzten Worte ebenfalls. »Sie meinen, Sie haben gar nichts genehmigt, weil Sie die betreffenden Anweisungen auf Ihrem Computer gelöscht haben?« Ich deutete auf die Akte, die Stuart ihm nun entgegenhielt. »Meinen Sie diese Genehmigungen?«

Millers Augenmerk glitt zu dem Ordner mit dem großen Aufkleber in der Mitte. SORRY – SIE WURDEN GEHACKT, stand darauf in großen roten Lettern und darunter prangte der Schriftzug der Seawolves.

»Möchten Sie sich diese Dokumente noch mal ansehen, um Ihr Gedächtnis aufzufrischen? Wir haben alle Dateien wiederhergestellt. Aber keine Sorge, dieser Service ist gratis.«

Miller wurde nervös, rührte die Akte aber nicht an. »Das ist doch alles nur ein Bluff.«

Stuart hielt ihm sein Handy entgegen. »Ich finde, dieses Foto von zwanzig Kanistern Mercurex, aufgenommen in dem Lagerraum Ihrer Fabrik vor genau fünfzehn Minuten, spricht eine deutliche Sprache. Außerdem haben wir Wasserproben vorliegen, die das Mittel eindeutig identifizieren.«

Miller wich zwei Schritte zurück. Schweiß hatte sich auf seiner Stirn gebildet. Er brauchte nichts mehr sagen, sein Gesichtsausdruck, ja seine gesamte Körpersprache verriet seine Schuld. Schachmatt. Mein kurzes Triumphgefühl wich einer tiefen Zufriedenheit. Dies war der eigentliche Moment, der all die Arbeit und die Risiken wettmachte. Wenn Menschen wie Miller merkten, dass sie eben nicht mit allem durchkamen, und wenn sie gezwungen waren, der Welt ihr wahres Gesicht zu zeigen.

Miller wand sich, doch ich hakte weiter nach. Ich tippte auf mein Handy. »Wie wäre es mit einem Statement für die Menschen da draußen, die Sie mit Ihrem Quecksilber in Gefahr bringen?«

Miller zuckte zusammen, als er sich selbst auf dem Display des Handys entdeckte. Er trat zur Seite, ich drehte mich mit. »Das ist Hausfriedensbruch«, bellte er dann. »Sie verschwinden jetzt sofort oder ich werde unsere Anwälte …«, hob Miller gerade an, als es hinter uns laut wurde. Jemand schrie einen Befehl. Verdammt.

Wir hatten das Gelände lange genug überwacht, um zu wissen, wessen Stimme das war. Der Ex-Cop, der Chef des Sicherheitsdienstes, war mit seiner Truppe im Anmarsch.

Zeit für einen Abgang.

Ich deutete mit dem Kopf nach links und Stuart verstand sofort.

Schnell stürzte ich zum Fenster und schob es mit einem Knall nach oben, während Stuart die Akte mit den ehemals gelöschten Dokumenten auf einen der Schreibtische warf. Die schreckhafte Assistentin schrie schon wieder auf, während Sherman Miller irgendwas in Richtung des Sicherheitsdienstes brüllte. Stuart und ich flüchteten über die Feuertreppe und gelangten eine Etage tiefer, hinter uns hörten wir bereits die Sicherheitsleute. Ich warf einen Blick durch die Streben der Stufen nach oben. Vier Typen hatten die Verfolgung aufgenommen.

Ich löste mein Handy aus dem Brustgurt und drehte die Kamera zu mir. »Wir werden jetzt vom Gelände verschwinden«, rief ich den explodierenden Emoticons und Kommentaren zu, bemüht, mir die Anstrengung nicht anmerken zu lassen. »Sherman Miller war ja leider zu keinem Statement bereit. Sobald wir zurück im Hauptquartier sind, werden wir unser restliches Material auf YouTube und Instagram hochladen. Das hier war längst nicht alles, aber jetzt verzeiht uns, wir müssen uns etwas beeilen.« Das Trampeln schwerer Stiefel über uns wurde noch mal lauter. Die Männer vom Wachdienst holten auf. Vermutlich hatte der Cop sie zu Übungszwecken diese Leiter hinauf- und hinuntergejagt und sie kannten das Gelände in- und auswendig. Ich, der zwar sportlich war, doch neben dem Treffen der Stufen auch noch sichergehen wollte, dass die Kamera möglichst viel erwischte, war nicht ganz so schnell unterwegs.

»Komm schon!«, brüllte Stuart mir zu, als wir gerade die zweite Etage erreicht hatten.

Ich schaffte es, Stuart einzuholen, und zum Glück erreichten wir die erste Etage, ohne dass der Sicherheitsdienst signifikant aufholte. Sie brüllten uns zu, dass wir stehen bleiben sollten und dass die Polizei schon unterwegs wäre, doch das kümmerte uns natürlich nicht.

Als wir endlich wieder festen Boden unter den Füßen hatten, wedelte Stuart mit den Armen. Das war das Signal für Kara Dellaware, ebenfalls Gründungsmitglied der Seawolves und die Dritte in unserem Bunde. Ein paar Seawolves hatten sich in der Zwischenzeit unbemerkt auf dem Dach versammelt. Kara reckte den Daumen hoch und in der nächsten Sekunde entrollte sich ein riesiges Transparent vor den Fenstern des Bürogebäudes.

Ich zoomte im Laufen näher auf unser Transparent. Es zeigte einen großen Totenkopf, der von breiten roten Balken eingerahmt war. Das global geltende Symbol für »Vorsicht, giftig«.

»Hier noch mal ein kleiner Hinweis darauf, was hinter diesen Mauern geschieht«, sagte ich, als ich mein Handy so hielt, dass die Kamera direkt auf das Plakat zielte. Gleich darauf entrollte sich ein ähnliches Plakat vor dem Eingang der Fabrik. »Und auch hier …«, begann ich gerade, als hinter mir etwas explodierte.

Der Krach war ohrenbetäubend. Ich schwang herum, genauso wie die Wachleute, für die wir plötzlich nur noch halb so interessant schienen. Auf dem Dach des Firmengebäudes hatten einige Seawolves begonnen, Feuerwerkskörper zu zünden. Das war so nicht abgesprochen. Und es war nicht das erste Mal, dass so etwas passierte. Was verdammt noch mal dachten sie sich dabei?

Die Comments der Liveübertragung hingegen überschlugen sich förmlich vor Begeisterung.

Fackelt den Laden ab.

Richtig so. Lasst alles hochgehen.

Noch mehr Böller! Jagt sie aus ihrem Bau!

Ich runzelte die Stirn. Was ging denn hier ab? Farbbomben flogen vom Dach, als die ersten Angestellten aus dem Gebäude liefen.

Was zur Hölle?

Stuart brüllte auf und reckte die Faust nach oben, doch sein Schrei lenkte die Aufmerksamkeit der Wachleute erneut auf uns. Wir nahmen die Beine in die Hand, und im Zurückblicken sah ich, dass sie sich aufteilten. Zwei von ihnen nahmen die Verfolgung auf, zwei von ihnen rannten zurück Richtung Bürogebäude.

»Hier lang«, rief ich, als ich Stuart überholte. Mittlerweile stürmten auch die ersten Arbeiter aus der Fabrik. Shit.

Wir hatten uns diverse Fluchtwege zurechtgelegt. Doch da es sich jetzt auch einige Arbeiter auf die Fahne geschrieben zu haben schienen, uns zu stellen, blieb uns nur der Weg, der am schwierigsten war. Super. Und das alles in einer Anzughose.

»Bleibt dran, Leute!«, rief ich und befestigte das Handy wieder am Brustgurt.

Stuart und ich rannten zur Rückseite der Fabrik. Dort sprangen wir erst auf eine niedrige Industriemülltonne, dann weiter auf einen Tank mit Stickstoff und schließlich auf das Dach der Fabrikhalle. Die Arbeiter gaben vor den Mülltonen auf. Der Wachmann, der deutlich schneller war als sein Kollege, erklomm das Dach, warf sich nach vorn und erwischte Stuart am Kragen. Er drehte Stuart zu sich herum und schlug ihm dann mit der geballten Faust mitten ins Gesicht. Stuart schrie auf, da war ich schon bei ihnen. Der Wachmann versuchte gerade, Stuart seine Kamera abzunehmen. Ich verpasste dem Typen einen groben Stoß vor die Schulter, der ihn erst verblüfft taumeln und dann auf seinen Hintern fallen ließ.

»Alles okay?« Ich drehte mich zu meinem Freund.

Stuarts Braue war aufgeplatzt, aber er nickte und hielt die Kamera fest umklammert.

»Dann weiter.« Ich schob ihn vorwärts. Im nächsten Moment war der Wachmann wieder da. Er packte meine Schultern von hinten und schlang sofort ein Bein um meines, um mich mit meinem eigenen Gewicht zu Fall zu bringen.

Ich analysierte seine Technik im Bruchteil von Sekunden. Das war Krav Maga, ein Kampfsport, den ich ebenfalls beherrschte. Ich parierte, indem ich mich drehte und nach seinem Arm griff. Ich wandte einen Judo-Griff an und warf ihn über meine Schultern. Sein Rücken knallte auf das Dach, während er die Finger nach meinem Hals ausstreckte. Seine Finger schlossen sich eng um meinen Hals und er drückte zu. Zeit, ihm zu zeigen, dass auch ich Krav Maga konnte. Ich hebelte seine Arme zu den Seiten, bis seine Finger sich von meinem Hals lösten. Dann presste ich ihm den Unterarm auf den Kehlkopf.

»Lauf weiter!«, rief ich Stuart zu, doch der blieb stehen.

Der Wachmann strampelte in meinem Griff.

»Gib auf«, zischte ich ihm zu. »Ich will dir nicht wehtun.«

Der Typ lachte. Er zog die Knie an, wollte sich mit mir drehen, doch ich war schneller. Im nächsten Moment lag er flach auf dem Bauch und ich verdrehte ihm einen Arm so sehr nach hinten, dass er keuchte.

»Liegen bleiben«, knurrte ich, beugte mich nah zu seinem Gesicht und drehte den Arm noch etwas mehr. »Klar?«

»Dreckiger Scheißkerl.« Der Typ versuchte, mich anzuspucken. Ich wich aus. Tief in meinem Inneren brodelte es. Ich musste mich zur Ruhe zwingen. Das, was dort in mir schlief, sollte besser nicht geweckt werden. Ich besaß ein gefährliches Temperament, das sich schwer kontrollieren ließ. In meinen Kämpfen nützte es mir und hatte mir einen gewissen Ruf verschafft, aber in einer Situation wie dieser würde es nur unnötigen Schaden anrichten.

Von unten hörte ich, wie der zweite Wachmann versuchte, den Stickstoff-Tank zu erklimmen.

»Letzte Warnung.« Ich wollte gerade seinen Arm loslassen, da schwang der Typ herum und ich griff reflexartig wieder fester zu. Leider hatte er sich dabei vertan und sich mit all seinem Gewicht in die falsche Richtung gedreht. Ich hörte es förmlich, als er sich die Schulter auskugelte. Der Wachmann brüllte auf in der Sekunde, in der ich ihn losließ. Obwohl Mitleid in mir aufwallte, war ich erleichtert, dass er sich selbst schachmatt gesetzt hatte. Ich kam hoch und sah im Umdrehen noch, wie das Gesicht des zweiten Wachmannes über dem Rand der Regenrinne erschien. Stuart und ich jagten weiter über das Dach. Der Wachmann schien sich um seinen Kollegen zu kümmern, denn ich hörte keinen Verfolger hinter uns. Am anderen Ende des Dachs sprangen wir in einen Container mit Papiermüll. Der war zum Glück gut gefüllt und wir fielen nicht allzu hart. Schnell kletterten wir hinaus und rannten in Richtung der Mauer, die das Gelände von dieser Seite aus zum Hafen abgrenzte. Nachdem wir diese überwunden hatten, rannten wir weiter, denn schließlich wussten wir nicht, ob die Polizei bereits unterwegs war.

Wie auf Kommando erklangen die Sirenen mehrerer Streifenwagen.

»Das war’s erstmal von uns, Leute, wir sehen uns später!«, sagte ich und beendete die Liveübertragung. Stuart machte die Kamera aus und dann rissen wir uns die Tücher herunter, damit wir nicht unnötig verdächtig wirkten.

»Geht’s dir gut?«, fragte ich erneut. »Ist dir schwindelig? Übel? Siehst du verschwommen?« Mit der Wucht, mit der der Wachmann Stuart am Kopf erwischt hatte, war nicht zu spaßen.

»Halb so wild«, erwiderte Stuart und wischte sich das Blut von der Braue. »Mir geht’s gut.«

Ich war erleichtert. Wir joggten am Pier entlang, doch die meisten Leute, die uns entgegenkamen, waren Arbeiter, die sich nicht für uns interessierten. Das hier war kein Platz für Touristen, es war ein Industriehafen.

Stuart hatte unser Motorboot schon erreicht und sprang hinein.

Wo blieb Kara?

Plötzlich machte Stuart eine »endlich!«-Geste mit den Händen und ich folgte seinem Blick. Kara. Sie kam den Pier aus einer anderen Richtung heruntergejoggt. Ihr langer dunkler Pferdeschwanz wippte beim Rennen. Ich war erleichtert.

Kara hingegen winkte genervt ab, kaum dass sie schnaufend vor uns zum Stehen gekommen war. »Ist ja gut«, sagte sie dann. »Wir hatten einen sehr hartnäckigen Verehrer abzuschütteln, und ich wollte sichergehen, dass Jamie, Summer und Jordy es gut vom Gelände schaffen.« Ihr Blick blieb an Stuart hängen und sie riss die Augen auf. »Oh mein Gott. Was ist passiert?«

Am Ende des Piers leuchteten blaue Sirenen auf. Kara bekam die Kurzfassung, während Stuart den Motor startete.

Wir jagten aus dem Hafenbecken ein Stückchen auf den Boston Main Channel hinaus und erst dann atmete ich auf. Im nächsten Moment wandte ich mich meinen Freunden zu.

»Tickt ihr eigentlich noch richtig?«

Kapitel 3

LYS

Der Flug verging wie im Flug, was für ein schönes Wortspiel, dachte ich versonnen, als sich die Maschine langsam in den Sinkflug begab. Nach einem sanften Bogen kam endlich Land in Sicht und ich presste meine Nase an das Glas wie ein Kleinkind. Keiko ging etwas tiefer, dabei legte ich die Hand auf den Mund, als mir klar wurde, wie vertraut all dies war. Mein Gott. Selbst nach all den Jahren … Dort drüben entdeckte ich die Felder von Selma und Akim, westlich in Richtung des Yukon Deltas befanden sich die Wiesen der Bio-Bauern Eliza und Panuk. Wir flogen an dem Waldstück namens »Nunualuk Forest« entlang, in dem Tannenspitzen für den berühmten Tee geerntet wurden. Der Strand wurde breiter, der Sand heller und das Meer schien an den aus der Luft gut sichtbaren Sandbänken an Kraft zu verlieren.

»Landeanflug«, sagte Keiko zu mir, bevor er über Funk mit jemandem sprach. Wir sanken noch etwas tiefer. Grüne Wiesen ersteckten sich vor uns, ein unendlich großes, ebenbürtiges Pendant zu dem grauen Meer.

»Schau mal.«

Keikos Worte ließen mich den Kopf in Flugrichtung drehen. Unwillkürlich richtete ich mich auf. Die Landebahn war in Sichtweite gekommen. Sofort nahm mein Herz wieder Fahrt auf. Nur noch Minuten und meine Reise hätte ein Ende. Minuten! Vorfreude und Anspannung schienen in meinem Inneren um die Oberhand zu ringen.

Ich entdeckte das Fabrikgelände, die zwei Piers, an denen die zwei Boote lagen, die Apartments der Arbeiter. Dann die Halle mit dem Fuhrpark, den Lkws, den Pick-ups und Jeeps. Auf der anderen Seite, dem hübscheren Bereich des Piers, lag das kleine Gästehaus mit Blick aufs Meer und dann, ein gutes Stück auf halbem Weg zwischen Fabrik und Blackfish Bay, ragte das Anwesen auf einem sanften Hügel auf. Der Familiensitz der Saundermans namens »Fairway Manor«, erbaut 1734 und vierzehn Jahre lang mein Zuhause. Der Name des Hauses sollte Glück bringen. Denn »Fairway« hieß Fahrrinne, also jener Bereich in Flüssen oder Meeren, der tief genug war, dass Schiffe ihn gefahrlos passieren konnten. Vor unserer Küste mit ihren vielen Sandbänken waren solche Fahrrinnen unerlässlich wichtig.

Keiko landete die Maschine so weich, dass ich erst realisierte, dass wir Bodenhaftung hatten, als er scharf abbremste. Aus dem kleinen Hangar, der direkt an das Fabrikgebäude angrenzte, trat ein älterer Mann mit schütterem grauem Haar. Es war Keikos Vater Dave. Er winkte und kam auf uns zu, während Keiko die Maschine zum Stehen brachte.

Dann drückte Keiko auf einen Knopf und die Laderampe öffnete sich.

»Sie ist ja noch hübscher, als ich gedacht hatte«, dröhnte Daves Stimme durch den Innenraum.

Keiko ließ die Schultern hängen und sah dann entschuldigend zu mir, bevor er sich in seinem Sitz umdrehte. »Dad, ich habe dir gesagt, du sollst dich nicht peinlich benehmen. Das war kein guter Anfang.« Er schüttelte zwar den Kopf, aber es war deutlich zu erkennen, dass das zwischen den beiden nur liebevolles Geplänkel war.

»Hallo Dave«, sagte ich und streckte ihm die Hand hin. »Schön, dich zu sehen.«

»Die Freude ist ganz auf meiner Seite, Lys«, brummte Dave, während wir uns die Hand schüttelten. »Ganz auf meiner Seite.« Er schaute sich kurz um, bevor sein Blick wieder zu mir glitt. »Ist er anständig geflogen?« Dave sah mit schmalen Augen zu seinem Sohn. »Keine ›Schau her, ich bin Kunstflieger‹-Manöver? Er hat schon mal eine ganze Palette Ananas-Konserven in Piña Coladas verwandelt, weil er sich für einen Artisten hält.«

Ich lachte schon wieder und die Anspannung in meinem Körper löste sich für einen kurzen Moment. »Keineswegs. Dein Sohn ist ein wunderbarer Pilot, genau wie du.«

Dave schoss Keiko noch einen weiteren strengen Blick zu, dann drehte er sich zu mir und sein grauer Schnauzbart wanderte kontinuierlich in Richtung seiner Ohren. »Nicht wahr? Ich bin schrecklich stolz. Wenn seine Mutter das noch miterleben könnte. Damals schon als kleiner Junge hat er –«

»Ja, die alten Geschichten.« Keiko drängte sich an uns vorbei. »Lys war lange unterwegs und sie würde jetzt gerne eine Pause machen. Wie wäre es, wenn du ihr erst morgen wieder auflauerst, um sie vollzutexten?«

»Es ist schön, dich wiederzusehen, Lys.« Dave nahm erneut meine Hand und drückte sie. »Erzählst du mir alles«, raunte er mir dann in verschwörerischem Ton zu, »… wenn du Zeit hast?«

Ich nickte. »Auf jeden Fall.«

Dave drehte sich zu seinem Sohn und beäugte kritisch, wie er die Kartons im Frachtraum befestigt hatte. »Da gehört aber noch ein Spanngurt dran«, befand er schließlich.

»Schon klar, Dad«, erwiderte Keiko und es klang, als wäre es zum einen Ohr rein- und zum anderen Ohr wieder rausgegangen. Er hatte meine zwei Reisetaschen bereits auf der Laderampe abgestellt. »Sollen wir mal gucken, wo dein Vater ist?«

Ich nickte. »Bis später, Dave!«

Dave brummte irgendwas und besah sich immer noch höchst interessiert die Kartons.

Keiko ließ den Blick über das Rollfeld schweifen. Anders als in Port Moller war das Wetter hier angenehm mild und nur kleine Schleierwölkchen trübten den blauen Himmel.

»Ob er im Hangar ist?« Keiko überprüfte kurz seine Armbanduhr. »Soll ich mit dir hier warten?«

Ich winkte ab. »Danke für den angenehmen Flug, aber das ist nicht nötig. Du hast jetzt Feierabend. Es ist auf jeden Fall schön, dass wir uns wiedergetroffen haben.« Dann fiel mir etwas ein. Ich kramte mein Handy aus meiner Umhängetasche hervor und hielt es ihm hin. »Gibst du mir deine Nummer?« Ich wollte ein nächstes Treffen nicht dem Zufall überlassen.

»Klaro.« Er grinste schief.

»Und jetzt verschwinde«, sagte ich lachend, als er mir das Handy zurückgab. »Ab in den wohlverdienten Feierabend.«

Er wandte sich um und zeigte mir dabei einen Daumen hoch. »Und melde dich.«

»Das mache ich.«

Keiko ging in Richtung der Cessna, wo ich ihn erneut lautstark mit seinem Vater diskutieren hörte.

Wer sich jedoch nicht blicken ließ, war mein eigener Vater. Ich beantwortete eine Nachricht von May. Ich sandte ihr ein paar Fotos von der Reise und dann schickte ich noch eine Nachricht an Chloe. Zuletzt fiel mein Blick auf den dritten Namen in der Liste. Tamika. Ich sehe dich am Strand. Dieser Satz bedeutete auf Inuit: Ich erwarte dich zu Hause. Mit einem Lächeln tippte ich die drei Worte. Ich bin da.

Das Scharren von Sohlen auf Asphalt ließ mich den Kopf heben. Und da war er endlich. Mein Vater. Er war älter geworden, natürlich, dennoch überraschte es mich, wie viel er von seiner dynamischen Ausstrahlung verloren hatte. Er war ein großer Mann, doch jetzt schienen seine Schultern zu hängen, sein Gang war leicht gebeugt und der Blick aus seinen Augen war mir völlig fremd. Was ist passiert, Dad? Er blieb vor mir stehen, doch anstatt mir wenigstens die Hand zu geben, schob er sie in seine Hosentasche. Mein Herz klopfte wie wild. Weil er einfach nichts sagte, stieß ich schließlich ein »Hallo, Dad« hervor.

»Hallo. Jetzt bist du also da.« Ein winziges Lächeln, allerdings keine echte Freude, keine Umarmung. »Wie war die Reise?«

Der Stich in meinem Bauch schmerzte so sehr, dass ich mich gerne gekrümmt hätte. »Gut, danke.« Meine Stimme klang fremd in meinen Ohren.

Er sah auf die Taschen neben mir. »Das ist alles?«

»Ja.« Hatte er erwartet, dass ich mit einem Set von Schrankkoffern hier im Hinterland anreisen würde? Kannte er mich so schlecht?

»Wo steht das Auto?« Ich nahm eine der Taschen hoch.

Schon wieder so ein peinliches Schweigen. Dann deutete mein Vater mit dem Kopf nach rechts. »Drüben.«

Er griff nach meiner zweiten Reisetasche, lief los und ich folgte ihm. Immer noch fühlte ich mich wie in einem schlechten Film. Dad hievte die Taschen in den Kofferraum der dunklen Limousine, dann stiegen wir schweigend ein.

Erst als wir das Gelände verließen, musterte er mich kurz. »Cheryl hat sich schon zurückgezogen, sie hat Migräne. Nathan ist unterwegs und Nataly schon im Bett. Ich habe gleich noch zwei wichtige Telefonate, aber Margret hat dir Sandwiches gemacht, solltest du Hunger haben. Sie liegen im Kühlschrank. Du kennst dich ja im Haus aus.«

»Vielen Dank.« Mich würde also weder jemand begrüßen, noch würden wir den Abend gemeinsam verbringen. Das war deutlich. Ich schluckte. »Wer ist Margret?«

»Unsere Haushälterin. Sie steht den Raumpflegern und den Gärtnern vor und nimmt mir eine Menge Arbeit ab.«

»Verstehe.« Mom hatte keine »Margret« gebraucht, aber die Dinge konnten sich ändern, wie man sah. Weil Dad, mal wieder, nichts erwiderte, ließ ich den Blick schweifen. Wir waren auf die Bay Road abgebogen und links von mir jagten die grauen Wellen den Strand hinauf. Eine Gruppe Robben lag träge in der schäumenden Gischt, trotzdem hatte ich kaum einen Blick für sie. Mein Magen hatte sich erneut verkrampft, seit Fairway Manor in Sicht gekommen war. Die schwarzen Dachschindeln reflektierten das letzte Licht der Abendsonne und ließen die zwei spitzen Giebel umso beeindruckender wirken.

Schon erreichten wir die Abfahrt, deren Weg in zwei sanften Windungen den Hügel hinauf bis zu der mit hellen Kieseln bestreuten Auffahrt führte.

Nichts hatte sich verändert und doch fühlte sich alles fremd an. Das imposante Haus mit seiner Fassade aus dunklem Backstein wirkte nach wie vor majestätisch und abweisend.

An einem der alten Obstbäume hing immer noch die Schaukel, auf der ich bereits als Kind geschaukelt hatte. Jetzt schien sie verwittert und nicht mehr zu gebrauchen, dennoch überrollten mich die Erinnerungen wie eine Welle. Mom hatte mich stundenlang angeschubst, damit die Schaukel in Bewegung blieb. Dabei hatte sie mir irgendwelche Geschichten erzählt, die mich zum Lachen brachten. Ich war noch nie besonders kontaktfreudig gewesen, und meine Mom schon immer so etwas wie mein Rettungsanker. Weder im Kindergarten noch in der Schule hatte ich wirklich Freunde gefunden. Aber wenn ich mit meiner Mutter durch unseren Obstgarten spaziert war, dann hatte ich mich geliebt und geborgen gefühlt. Und irgendwie hatte mir nichts gefehlt. Vielleicht hatte ich aber auch damals schon diese dunkle Seite in mir gespürt. Vielleicht hatte ich mich deshalb niemandem genähert. Ich schluckte, als ich den Blick von der Schaukel weiter über das Grundstück gleiten ließ. Und dann war diese dunkle hässliche Seite von mir hervorgebrochen, ungebremst und nicht gestoppt von Moms unerschütterlicher Ruhe und dem Halt, den sie mir gab. Schnell wandte ich mich ab.

Dad parkte den Wagen neben einem Fuhrpark an Fahrzeugen. Ein aufgemotztes schwarzes Motorrad mit Cross-Reifen, ein cremefarbenes Cabriolet, ein hellblauer Jeep, der etwas in die Jahre gekommen war, und ein Quad. Hatte Dad in die Automobilbranche gewechselt?

Er fing meinen Blick auf, während er mir eine Reisetasche reichte. »Richtig. Du kannst den Jeep nutzen, während du hier bist.« Er ließ den Kofferraum zuschnappen, griff in seine Tasche und warf mir einen Schlüsselbund zu. »Bevor ich es vergesse. Da hängt alles Nötige dran.«

»Wow, danke dir.« Mit einem Auto hatte ich nicht gerechnet. Das war echt umsichtig von Dad, denn ohne fahrbaren Untersatz kam man hier praktisch nicht vom Fleck. Natürlich waren es zu viele Schlüssel nur für den Jeep, aber das Haus verlassen zu können, wann ich wollte, war sicherlich auch ein Vorteil. Dad nickte knapp und war schon auf dem Weg zum Eingang.

Ich staunte nicht schlecht, als ich die Eingangshalle betrat, denn ich erkannte kaum etwas wieder. Hier war alles modernisiert worden, jedoch so raffiniert, dass der düstere Charme der alten Bausubstanz geschickt hervorgehoben wurde. Wieder mal dachte ich, dass man hier Filme drehen könnte. Sleepy Hollow 2? Dark Shadows 2? Oder besser gesagt: Jeden Tim Burton-Film …

»Du bekommst ein Gästezimmer, natürlich«, begann mein Vater und riss mich so aus meiner Betrachtung der neuen Umgebung. Meinen verwunderten Gesichtsausdruck beantwortete er, bevor ich nachfragen konnte. »Nathan und Nataly wohnen in deinen alten Zimmern.«

»Nathan wohnt also noch zu Hause?«, fragte ich. Er war ein Jahr älter als ich und das nächste College lag Hunderte Meilen entfernt.

»Nein.« Dad ging die Treppe hinauf. »Er hat sein erstes Jahr an der Uni in Fairbanks absolviert und kam gestern Abend an. Da er an Wochenenden öfters herkommt, hat er sein Zimmer behalten.«

Dad ging mit schnellen Schritten voraus und schien erleichtert, als wir das Gästezimmer erreicht hatten. Er stieß die Tür auf und machte das Licht an. Die Einrichtung war komplett neu, aber gemütlich und dem Stil des Hauses angepasst. Ein breites Bett aus dunklem Holz gegenüber einer hohen Kommode und eine Stehlampe. Ein Schrank, ein kleiner Sekretär neben einer Tür, die zu einem Badezimmer führte. »Auf dem Nachttisch findest du einen Zettel mit allen nötigen Telefonnummern. Melde dich bei Margret, wenn du etwas brauchst. Sie lebt in der Einliegerwohnung, aber sie ist keine Leibeigene. Bitte respektiere ihre Arbeitszeiten. Von abends um achtzehn Uhr bis morgens um sieben Uhr hat sie frei, klar?«

Ich sah ihn etwas verständnislos an. May und ich teilten uns ein winziges Apartment in New York und am Ende des Sommers würde ich ins Studentenwohnheim an die Brown ziehen. Und weder bei May noch dort gab es Gärtner, Raumpfleger oder einen guten Geist namens Margret. Für wen hielt er mich? Doch ich erwiderte nur: »Klar, mache ich. Danke für die Nummern.«

Dad schien eine Last von den Schultern zu fallen, als er sich nun verabschieden konnte. »Bis morgen. Schlaf gut.«

»Du auch. Bis morgen.«

Und schon war er verschwunden. Ich seufzte lautlos. Ich war müde und erschöpft und plötzlich hatte ich wieder Chloes Worte im Kopf. Manches kann man nicht reparieren. Doch das wollte ich einfach nicht glauben. Und weil ich noch viel zu aufgewühlt war von all den neuen Eindrücken und sowieso nicht zur Ruhe kommen würde, machte ich mich sofort ans Auspacken. Dabei tobten die Gedanken in meinem Kopf weiter. War es das, was ich mir erhofft hatte? Die erste Begegnung mit meinem Vater war mehr oder weniger eine Mischung aus Peinlichkeit und Verlegenheit gewesen. Ich ließ ein Oberteil sinken, das ich gerade aufs Bett legen wollte. Jetzt war ich hier. Und nun? Ich hatte vier Jahre auf diesen Moment gewartet.

Du bist wieder zu Hause. Jetzt wird alles gut.

Ich hoffte auf ein Gefühl von Befreiung, einen Moment der Erleichterung. Doch zurück blieb nichts als Ernüchterung.

Um kurz vor ein Uhr hatte ich eine Menge Zeit damit verbracht, grübelnd Löcher in die Luft zu starren, und tatsächlich erst eine Reisetasche ausgepackt. Irgendwann hatte ich eine Kerze mit meinem Lieblingsduft angezündet, und seit der warme Duft nach Zimt den Raum erfüllte, fühlte ich mich schon etwas heimischer. Aber jetzt knurrte mein Magen. Ich zögerte erst, doch dann löschte ich die Kerze und verließ das Zimmer.

Ich wollte niemanden stören, deshalb knipste ich im Flur nur eine kleine Wandlampe an. Ich kannte mich gut genug aus, um meinen Weg auch im Halbdunkel zu finden.

Dieses Haus steckte voller Erinnerungen. Die lange Treppe war ich auf einer Matratze heruntergerutscht. In dem großen Wohnzimmer hatten Mom, Dad und ich nächtelang Spiele gespielt. Ich war in der Eingangshalle sogar auf meinen Inlineskates gefahren. Mom hatte mich erst zurechtgewiesen und dann genauso gelacht wie ich.

Ich ließ meine Finger über den hölzernen Handlauf der Treppe gleiten. Zu Weihnachten wurde sie immer mit einer Ranke aus duftenden Tannenzweigen geschmückt. Dank Moms Backkünsten hatte das Haus wie eine Zuckerbäckerei gerochen.

Ich lächelte, doch es war ein wehmütiges Lächeln. Sie fehlte mir immer noch. Sie fehlte mir so sehr. Und jetzt, da ich wieder hier war, an diesem Ort voller Erinnerungen, schienen sie mich überall zu überfallen wie Schatten aus der Vergangenheit. Mom, die in der Küche saß und versuchte, einen Knopf anzunähen. Sie war völlig unbegabt im Nähen und war schließlich ins Dorf gefahren, um es einem Profi zu übergeben. Dad, der von einer Geschäftsreise zurückkehrte und jedes Mal eine Kleinigkeit für mich dabeihatte. Meine längst verstorbenen Großeltern, wie sie mit geröteten Wangen und strahlenden Gesichtern im Eingang standen, um gemeinsam mit uns einen Geburtstag zu feiern.

Ich hatte das Leben in diesem Haus geliebt und noch schien ein Teil von mir nicht akzeptiert zu haben, dass es für immer vorbei war. Nichts würde jemals wieder sein wie vorher.

In der Küche brannte kein Licht, dennoch nahm ich die Umrisse einer Silhouette wahr, kaum dass ich um die Ecke bog. Ich blieb abrupt stehen, als auch schon das Geräusch einer sich öffnenden Tür erklang.

Das kalte Licht der Kühlschrankbeleuchtung spiegelte sich auf seinem pechschwarzen Haar. Er hob den Kopf und drehte sich in meine Richtung. Ich hielt unwillkürlich die Luft an. Sein Gesicht war ein Puzzle aus Gegensätzen. Eine harte Kinnlinie, gerade gewachsene Augenbrauen, Wangenknochen, an denen man sich schneiden konnte. Im Gegensatz dazu seine Augen, eisblau und ausdrucksvoll, und ein Mund, der wie ein sinnliches Auf und Ab aus weichen Kurven in sein Gesicht gemalt schien. Er war nicht einfach nur attraktiv, er war verwirrend schön durch den Bruch aus harten und weichen Zügen, die sein Gesicht definierten.

Ich starrte ihn nach wie vor an, tastete dabei aber alibimäßig nach dem Lichtschalter an der Wand links von mir.

»Lysandra.« Die Art, wie er meinen Namen knurrte, jagte mir einen kühlen Schauer die Wirbelsäule hinab.

Sein dunkles Shirt besaß einen absichtlich ausgeleierten Kragen und die schwarze Jeans Löcher über den Knien. Im Gegensatz zu den vielen braun gebrannten Sunnyboys auf Instagram sah er aus wie ein Nachwuchs-Auftragskiller, der die Tränen seiner Opfer zum Frühstück trank. Er interpretierte mein Starren falsch, denn er lachte spöttisch auf. »Wie süß. Sie hat keine Ahnung.«

Er irrte sich. »Hallo Nathan.« Zugegeben, Cheryls Sohn aus einer früheren Beziehung hatte sich verändert. Sehr verändert. Als ich ihm das letzte Mal begegnet war, war er noch einen halben Kopf kleiner als ich gewesen und dem Babyspeck nicht ganz entwachsen. Nathan war ein Paradebeispiel dafür, dass die Pubertät eine Lotterie war, bei der man nicht nur verlieren konnte.

»Tiefer.«

»Hm?« Ich sah ihn fragend an.

»Tiefer.«

Erst jetzt erkannte ich, in welche Richtung sein Blick ging. Ich ließ die Hand sinken und endlich … da war der Lichtschalter. Eine moderne indirekte Beleuchtung sprang an, die die Größe des Raums vorteilhaft betonte. Nathan stellte eine große Glasflasche auf der rechteckigen Kücheninsel ab. Darin schaukelte eine leuchtend grüne Flüssigkeit.

Ich löste mich endlich vom Türrahmen und kam neugierig näher. »Dad hat erzählt, du studierst jetzt in Fairbanks?«