Crimson Sky – Der Schattenprinz - Kira Licht - E-Book

Crimson Sky – Der Schattenprinz E-Book

Kira Licht

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Beschreibung

Ein Geheimnis, das den Tod bedeuten könnte Keon hat Remy das Herz gebrochen und jetzt soll sie ihn auf Befehl des Königs auch noch heiraten. Ihr bleibt nichts anderes übrig, als sich zu fügen. Die unfreiwillige Nähe raubt Remy die Nerven. Sie versucht, sich auf das Bändigen ihrer neuen Kräfte zu konzentrieren, denn die Anderswelt schwebt in großer Gefahr. Doch es fällt ihr schwer, dem Prinz des Totenreichs zu widerstehen, der jeden Tag um sie kämpft. Dabei weiß er nicht, dass Remy ein Geheimnis hütet, für das er sie hassen würde, sollte er je davon erfahren … Band 1: Crimson Sky − Die Seelenjägerin Band 2: Crimson Sky − Der Schattenprinz

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Impressum E-Book

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Covergestaltung: Guter Punkt, München

Coverabbildung: Stephanie Gauger, Guter Punkt München unter Verwendung von Motiven von iStock / Getty Images Plus und AdobeStock

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Zitat

Karte

Imbolc

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Ostara

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Beltane

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

EPILOG

DANKE

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Zitat

Vergib,

aber vergiss nicht.

Keltisches Sprichwort

Karte

Imbolc

Kapitel 1

»Entschuldigung?« Ich hatte mich verhört, ganz sicher. König Reval von den Schwarzen Inseln, seines Zeichens Herrscher über das Totenreich und im Übrigen mein zukünftiger Schwiegerpapa, hatte gerade nicht gesagt, was er gesagt hatte.

Oder hatte er es doch?

König Reval wiederholte sich nur ungern, denn seine Miene wurde noch finsterer. Er starrte von dem Podest, auf dem die beiden juwelengeschmückten Throne des Herrscherpaars standen, auf mich herunter, als wollte er mich wie eine Fliege zerquetschen. »Die Beischlaf-Zeremonie findet um Mitternacht statt.«

»Die …« Ich konnte das unsägliche Wort nicht mal aussprechen. Ja, ich wusste, dass sich die Anderswelt der Sidhé, die ich seit Kurzem mein Zuhause nannte, zeitlich im finsteren Mittelalter einpendelte. Ich wusch mich mit eiskaltem Wasser im Wald. Ich frühstückte schleimigen Haferbrei. Und von dem Donnerbalken, den man hier als Toilette benutzte, wollte ich gar nicht erst anfangen. Aber was zu weit ging, ging zu weit.

Ich drehte den Kopf, um meinen zukünftigen Ehemann anzusehen. Keon von den Schwarzen Inseln, Kronprinz des Totenreichs, Anführer der Wilden Jagd, gefürchteter Gegner, gnadenloser Kämpfer … und in diesem Moment schwer damit beschäftigt, die Spitzen seiner Stiefel zu betrachten.

Kann mich mal jemand kneifen?

»Weitere Details besprechen wir, wenn die Hochzeit näher rückt.«

Damit schien das Thema für den König beendet. »Keon, möchtest du deine Verlobte ein wenig herumführen? Du könntest ihr das Schloss oder die Gärten zeigen.«

Ich hob die Hand, als säße ich im Unterricht.

König und Königin wechselten einen Blick. Jedes Mal, wenn ich Königin Ylara traf, tat sie mir leid. Die schweigsame blonde Frau wirkte immer traurig. Und obwohl sie keinerlei Interesse an mir zeigte, war ich neugierig, woher diese getrübte Stimmung kam.

Der König gab mir mit der Hand zu verstehen, dass ich sprechen sollte. Dann strich er sich ungeduldig über den langen, schwarzen Bart.

»Das sind mir eindeutig zu wenig Informationen.« Ich rang mir ein Lächeln ab, aber es fiel mir schwer, ruhig zu bleiben. Das konnten sie doch nicht ernst meinen. Und überhaupt, was stellten sie sich vor? Dass wir unter den Augen des gesamten Hofstaats übereinander herfielen und sie applaudierten, wenn wir zum Höhepunkt kamen?

Hilfe. Schon der Gedanke daran war mehr als grenzwertig, um es mal ganz harmlos auszudrücken.

Der König sandte mir einen wütenden Blick zu. Richtig, ich hatte vergessen, eine höfliche Anrede anzuhängen. Aber das konnte ich mir einfach nicht merken.

»Eure Majestät«, fügte ich hastig hinzu.

Er seufzte, und plötzlich wusste ich, von wem Keon die Gabe geerbt hatte, seinem Gegenüber bodenlose Enttäuschung zu suggerieren.

Zugegeben, ich konnte den König verstehen. Ich war nicht die Wunschkandidatin für seinen Sohn. Eigentlich hatte Keon die liebreizende Monya heiraten sollen. Doch dann hatte sich ihr Onkel, König Kymrin von Sommerland, plötzlich dagegen entschieden und stattdessen mich erwählt.

Glücklich war damit niemand. Monya wollte Keon unbedingt heiraten. Auch ich hätte vor ein paar Wochen noch vor lauter Vorfreude heiße Wangen bekommen. Doch seit ich herausgefunden hatte, dass Keon wusste, dass die beiden Könige eine Verlobung zwischen ihm und Monya vereinbart hatten, war ich sauer auf ihn.

Ich hatte mich in ihn verliebt, mit Haut und Haaren, mit allem, was ich zu geben hatte. Das zwischen uns war roh und wild und echt gewesen. Das hatte ich mir zumindest eingebildet.

Stattdessen hatte er da schon die ganze Zeit gewusst, was die beiden Könige verabredet hatten. Und anstatt mir die Wahrheit zu sagen, hatte er immer mehr Zeit mit mir verbracht. Ich wurde immer noch rot, wenn ich daran dachte, was wir getan hatten. Ich erinnerte mich an das Stöhnen, die Hitze, dieses unbändige Verlangen zwischen uns. Dort, wo einst das Feuer gelodert hatte, war nun nichts mehr als Eis. Und ausgerechnet jetzt sollte ich Keon heiraten. Schlimmer konnte es zwischen uns nicht stehen, doch das schien allen egal zu sein.

»Ich möchte damit vorschlagen, dass dir dein baldiger Ehemann dein zukünftiges Heim zeigt.« Revals Eckzähne, die deutlich kürzer waren als Keons, blitzten zwischen seinen Lippen hervor. Keine Ahnung, warum der König das Wort »zukünftig« so sehr betonte. Ob er mir klarmachen wollte, dass ich zurzeit nur ein Gast war?

Egal, denn das hatte ich nicht gemeint mit meiner Frage. Was interessierte mich ein Rundgang? Ich wollte wissen, ob ich vor dem gesamten Hofstaat mit Keon schlafen musste, damit die Hochzeit anerkannt wurde.

Dieses Mal dachte ich an seine geliebte höfliche Anrede. Ich räusperte mich, denn meine Frage war mir ziemlich unangenehm. »Eure Majestät, ich würde gern mehr über die … ähm …« Ich konnte es immer noch nicht aussprechen. »… mehr über besagte Zeremonie erfahren. Ich bin übrigens keine Jungfrau mehr«, warf ich noch hinterher, was es vermutlich nicht besser machte. Ich hatte in der Schule zwar nicht oft aufgepasst, aber ich wusste noch aus dem Geschichtsunterricht, dass wohl früher von Frauen erwartet wurde, jungfräulich in die Ehe zu gehen. Nun, damit konnte ich nicht mehr dienen.

»Die Beischlaf-Zeremonie«, wiederholte König Reval das unsägliche Wort.

Ich nickte mit einem einbetonierten Lächeln. Viel lieber hätte ich die Hände vors Gesicht geschlagen und wäre im nächsten Loch im Boden versunken. Ich war nicht prüde, aber alles, was dieses Wort suggerierte, gefiel mir nicht.

Der König machte es wie die meisten guten Ehemänner. Stellten die Kinder peinliche Fragen, überließ man die Beantwortung der Ehefrau. »Meine Liebe, möchtest du das übernehmen?«

Er tarnte es wie eine Frage, doch es war ein Befehl. Wäre ich seine Angetraute gewesen, ich hätte ihm was gehustet. Doch Königin Ylara neigte schicksalsergeben das Haupt, bevor sie sich an mich wandte.

»Niemand erwartet, dass du eine Jungfrau bist, Remy. Diese zutiefst menschlichen Traditionen lehnen wir ab.« Sie musterte mich, und fast so etwas wie ein Lächeln huschte über ihre Züge. »Ich weiß nicht, wie viel dir mein Sohn schon über unsere Hohen Feiertage erzählt hat. Aber einmal pro Jahr feiern wir die Fruchtbarkeit der Erde, ihre reichen Gaben, die sie uns schenkt, das Wunder des Lebens. Beltane ist eine Nacht voller Sinnlichkeit, Zügellosigkeit und Lust. Junge Männer und Frauen dürfen daran teilnehmen, sobald sie in unserem Reich als erwachsen gelten. Hier sind den Spielarten der körperlichen Liebe keine Grenzen gesetzt, solange es einvernehmliche Spiele sind.«

Ich spürte, wie Hitze in meinen Wangen aufflammte, und fragte mich unwillkürlich, wie oft Keon schon daran teilgenommen hatte. Und mit wem.

Ich sah zurück in das Gesicht der Königin, das zum ersten Mal nicht resigniert und teilnahmslos wirkte. Ob vor ihrem inneren Auge Erinnerungen lebendig wurden, während sie sprach? Mit wem hatte sie diese magische Nacht verbracht, bevor sie Königin wurde? Ich wusste bereits, dass gerade an den Königshöfen Ehen häufig arrangiert wurden. Ob sie den düsteren Reval sonst erwählt hätte?

»Die Beischlaf-Zeremonie ist eine jahrhundertealte Tradition in unserem Reich. Wir zelebrieren damit die Liebe zwischen einem jungen Paar.«

»Bei einer arrangierten Ehe von Liebe zu sprechen, finde ich ziemlich vermessen«, rutschte es mir heraus.

Die dünnen Augenbrauen der Königin wanderten nach oben. König Reval wollte schon den Mund aufmachen, doch seine Ehefrau war schneller. »Findest du meinen Sohn abstoßend?«

»Nein, aber …«

»Ihr habt gewiss beieinandergelegen.«

Ich war verwirrt. »Beieinander?«

»Miteinander geschlafen«, erklang Keons tonlose Stimme neben mir. »Nicht, dass es dich etwas angeht, Mutter, aber nein, das haben wir nicht.«

Himmel und … Ich war bereit zu sterben. Wer bitte besprach so etwas mit seinen Eltern? Ich warf Keon einen kurzen Blick zu. Zum Glück schien er sich genauso unbehaglich zu fühlen wie ich.

»Aber ihr habt andere Dinge getan?«, beharrte die Königin.

Konnte sie bitte damit aufhören? Schon wieder dachte ich an das, was zwischen Keon und mir passiert war. So etwas besprach man definitiv nicht mit seinen Eltern. Dass sie für mich Fremde waren, machte es nicht besser.

Trotzdem nickte ich.

»Dann sehe ich nicht, was dieser Zeremonie im Weg stehen könnte.« Die Königin lächelte zuckersüß und sehr zufrieden. »Ihr findet euch ansprechend, ihr seid bereits vertraut miteinander. Ihr werdet das Publikum gar nicht wahrnehmen.«

Publikum? Das Wort hallte in mir nach. Das konnten sie unmöglich ernst meinen.

»Hinzu kommt, und das ist ebenfalls eine Tradition unseres Reiches, dass wir die Hochzeit in deine fruchtbaren Tage legen. Dein Verlangen wird größer sein und …«

Halt.

Stopp.

An diesem Punkt war ich offiziell raus. Nicht nur, dass wir Publikum haben würden, sie würden meine Hochzeit in jene Tage legen, in denen ich rollig wie eine Katze war? Und alle würden es wissen? Niemals!

Ich würde genau morgen um eine Audienz bei König Kymrin von Sommerland bitten und ihn auf Knien anflehen, dass er mich aus seinem Plan entließ. Monya war ganz wild darauf, Keons Frau zu werden. Sie war mit diesen seltsamen Traditionen aufgewachsen, hatte vermutlich bereits anderen Hochzeiten beigewohnt und fand es deshalb nicht so abgrundtief peinlich und absolut unvorstellbar wie ich.

»Tut mir leid, ich …« Ich brach abrupt ab. »Nein.« Ich lachte heiser auf. »Nein, eigentlich tut es mir gar nicht leid. Nur so viel sei gesagt.« Ich sah erst Keon und dann seine Eltern an. »Das alles wird niemals passieren. Ich werde mit König Kymrin sprechen. Monya ist ganz verrückt nach Keon, und sie ist mit den Traditionen des Landes vertraut. Soll sie sich wie eine paarungsbereite Trophäe begaffen und besteigen lassen.« Mit diesen Worten drehte ich mich um und marschierte durch den düsteren Thronsaal Richtung Ausgang.

Wäre die Situation nicht so unangenehm, hätte ich mir Zeit genommen, den hohen Raum ausgiebig zu betrachten. Eigentlich gefielen mir das dunkle Holz, die ovalen Schilde an den Wänden und die matt glänzende Bronze der riesigen Kerzenständer. Alles wirkte wie das Innere jener mittelalterlichen Burgen, die ich aus Filmen kannte. Der Kamin war groß genug, dass man einen Ochsen darin braten konnte. Das Feuer prasselte gemütlich, und trotz der Kälte, die der Januar mit sich brachte, wirkte alles anheimelnd. Die Wandteppiche erzählten von Schlachten, von Siegen und Niederlagen. Den Waffen sah man an, dass sie so manche Auseinandersetzung überstanden hatten. Und die grünen Ranken, die sich zwischen den Fugen der schweren Steinplatten an den Wänden emporschlängelten, ließen den Raum fast wie einen lebendigen Organismus wirken. Es war ein Respekt einflößender Ort, der von Blut und Tod erzählte und dennoch so viel Leben in sich barg.

Wie auf einen geheimen Befehl lösten sich plötzlich zwei der Wachen rechts und links von der Wand. Sie stellten sich mir in den Weg und kreuzten ihre langen Speere, um mich aufzuhalten.

Ich lachte. »Jungs, ernsthaft?« Ich war eine Jägerin. Das Kämpfen lag mir buchstäblich im Blut.

Die beiden Wachen warfen sich unsichere Blicke zu.

»Lasst sie gehen«, dröhnte König Revals Stimme durch den hohen Raum.

Den Wachen war ihre Erleichterung ins Gesicht geschrieben, als sie zur Seite wichen. Ich salutierte sarkastisch und hielt meinen Blick fest auf das große Tor gerichtet, das mich in die Freiheit führte.

Im Burghof wartete meine Füchsin Hazel auf mich, mit der ich über den Himmel jagen und Burg Raunacht weit hinter mir lassen würde.

Kaum hatte ich den Thronsaal verlassen, bog ich nach links ab, um einen schmalen Korridor zu nehmen, der zu einem der Türme führte, in denen sich eine Treppe dem Innern eines Schneckenhauses gleich nach unten wand. Im Burghof würde ich mir nur noch schnell meine Waffen wiedergeben lassen und dann wortwörtlich einen Abflug machen. Obwohl ich keine Angst hatte, war ich nervös. Innerlich zählte ich die Schritte mit.

Nicht mehr lange und du hast es geschafft.

Geh einfach weiter.

Du schnappst dir deine Füchsin und dann …

»Remy …«

Ich hatte gerade den Turm betreten, um die eine Etage nach unten zu laufen, da erklang eine dunkle Stimme hinter mir.

Ich drehte mich weder um, noch dachte ich daran, stehen zu bleiben.

Im nächsten Moment hatte er mich auf der Treppe überholt und bremste mich mit seinem Körper aus. Er stand eine Stufe unter mir, trotzdem war er noch ein gutes Stückchen größer als ich. Ich war mittlerweile gut genug trainiert, um nicht mehr blindlings in diese Wand aus Muskeln zu rennen, dennoch bremste ich scharf ab.

»Und auch mit dir will ich nicht reden, Keon.« Ich sah ihm nicht ins Gesicht, blickte über seine linke Schulter und schob das Kinn vor.

»Was hatten wir zum Thema Loyalität vereinbart?«

Ich schnaubte. »Ja, du bist mein Anführer. Aber bald wirst du mein Ehemann sein, und dann kannst du dich mal so was von darauf einstellen, dass …«

»Ich dachte, du willst mich nicht mehr heiraten.«

Ich klappte den Mund zu, öffnete ihn erneut, hatte keine Ahnung, was ich antworten sollte, und schloss ihn wieder.

Ich spürte Keons Blick auf mir, seine Nähe, die Art, wie mein Körper auf ihn reagierte. Wir standen immer noch so nah voreinander. Ich könnte meine Hand auf seine Brust legen und ihm meinen Mund zum Kuss entgegenrecken. Und er würde mich küssen. Er würde seine großen Hände an meinen Hintern legen und mich an sich ziehen. Gerade zart, gerade bestimmt genug, um mich aufseufzen zu lassen. Ich erinnerte mich an die Worte, die er mir zugeflüstert hatte, als ich gerade mal einen Tag in der Anderswelt verbracht hatte: Ich bin das größte Raubtier in diesem Wald.

Nein. Schluss damit. Hormone, zurück in die Reihe.

Es kostete mich Mühe, die Worte zu formulieren. »Geh mir aus dem Weg.«

Er rührte sich nicht.

»Mach den Weg frei, Keon.« Ich wollte ruhig klingen, aber ich hörte mich an, als wäre ich auf der Flucht. Und genau das war ich auch. Vor ihm, vor diesen irrationalen Gefühlen für ihn, vor diesem dummen Verlangen, ihm alles zu verzeihen. Wieso hatte er immer noch so eine Wirkung auf mich?

Ich sah hoch in diese schwarzen Abgründe, die seine Augen waren. Der Schmerz darin überschwemmte mich wie eine Woge. Aber ich wollte ihm nicht verzeihen. Ich konnte es nicht.

Ohne wegzusehen, hob ich die Hand und drückte mit dem Zeigefinger gegen seine Brust.

Er wich zurück.

Ich hörte nicht auf, bis er seitlich von mir stand und die Treppe freigab.

Ich atmete auf, und gleichzeitig hasste ich mich dafür. Es war erniedrigend und beschämend, dass Tränen in meinen Augen brannten, als ich den Fuß der Treppe erreichte. Wieso zerriss es mich so? Wieso konnte ich ihn nicht einfach aus meinem Kopf radieren? Es war erbärmlich, denn ich lauschte, ob ich das Geräusch schwerer Stiefel hörte. Aber er folgte mir nicht.

Unten im Hof konnte ich nicht widerstehen. Der Turm hatte Fenster. Hoch und schmal, aber breit genug für eine Person.

Ich sah nach oben. Und da war er. Die Beine locker überkreuzt, lehnte er mit der Schulter in einem der Rahmen.

Er war mir einen Schritt voraus. Er wusste, welche Wirkung er immer noch auf mich hatte. Und als sich unsere Blicke trafen, lächelte er zum Beweis.

Mistkerl.

Kapitel 2

Ich flog einen kleinen Umweg. Eigentlich hätte ich von Burg Raunacht aus nach Westen fliegen können, um die Grenze des Totenreichs und die Silbernen Wälder zu überwinden und direkt auf die Mag Mor, die große Ebene, zu fliegen, um den Palast auf der Glasinsel zu erreichen.

Ich beugte mich nahe zum linken Ohr meiner Füchsin. »Fliegen wir ein wenig tiefer. Mal sehen, ob wir jemanden entdecken.«

Hazel gehorchte sofort. Schon kam eine der Schwarzen Inseln in Sicht. Die Heimat der Wilden Jagd. Hier lebten die stärksten Kämpfer des Totenreichs. Woche für Woche führte sie ihre Jagd nach Seelen auf die Erde. Woche für Woche sorgten sie dafür, dass Cromm Cruach, der schlafende Totengott, besänftigt wurde und nie wieder erwachte. Die Frauen und Männer waren mein Zuhause geworden, auch wenn ich nach meiner Verwandlung ein wenig Zeit gebraucht hatte, um damit klarzukommen. Und dann hatte sich mein Leben erneut um hundertachtzig Grad gedreht.

Wir überflogen die sich ordentlich in einer Reihe gegenüberstehenden kleinen Hütten. Es war Mittag. Die Tagschicht war auf der Jagd, während die Nachtschicht ihren verdienten Schlaf nachholte. Zwischen den Hütten entdeckte ich nur ein paar Nachtmahre, die für Ordnung sorgten. Ich hob grüßend die Hand, und sie winkten zurück.

Ich war etwas deprimiert, dass ich keinen von meinen Leuten entdeckt hatte, aber die Zeit war auch einfach ungünstig.

»Zurück zur Glasinsel, Mausi.« Das war seit Kurzem mein Spitzname für Hazel. Ich benutzte ihn nur, wenn wir unter uns waren. Es war sozusagen ein Privatname, und irgendwie war ich kindisch stolz darauf. Sie schien ihn zu mögen, denn wie jedes Mal schnaubte sie. Hazel drehte ab, und wir flogen nach Westen.

Eigentlich hätte ich es vorher wissen müssen. Unsere Flugroute führte uns genau an der Stelle entlang, an der ich nach meiner vermeintlichen Flucht in die Silbernen Wälder gestrandet war. Sie waren das Wirkungsgebiet der Druiden. Auf der Lichtung entdeckte ich den Steinkreis und erinnerte mich an den Moment, in dem ich zum ersten Mal meine Kräfte gespürt hatte. Im nächsten Augenblick tauchte ein blonder Schopf aus dem Eingang des angrenzenden Tempels auf.

»Warte.«

Hazel konnte in der Luft stehen wie ein Kolibri. Eine Superkraft, die mich immer noch beeindruckte.

Ich reckte den Hals. Das ist doch nicht etwa? Habe ich so viel Glück?

Ich konnte nicht widerstehen.

»Sagen wir kurz Hallo«, raunte ich Hazel zu. In einer eleganten Schleife ließ sie sich nach unten sinken. Bei den ersten Malen war mir noch der Magen wild umhergehüpft, und ich hatte mich gefühlt wie ein Kind, das zum ersten Mal auf einer Schaukel saß. Doch mittlerweile hatte ich mich daran gewöhnt.

Hazel landete mitten im Steinkreis. Und da war er.

»Jonus!« Ich winkte ihm zu.

Er kontrollierte gerade irgendwelche Kräuter, die am Eingang des Tempels zum Trocknen aufgehängt worden waren. Jetzt schwang er herum. Sein Lächeln erhellte sein ganzes Gesicht. »Remy, was für eine schöne Überraschung!« Obwohl er ein großer schlanker Mann war, besaß er einen eleganten Gang, der ihn kein bisschen linkisch wirken ließ. Wie immer trug er das helle Gewand des Obersten Druiden und seinen bronzenen Gürtel um die Hüften. Sein langes, blondes Haar fiel ihm offen über die Schultern.

Ich sprang von Hazels Rücken und lief auf ihn zu. Wie immer, wenn ich ihn in der traditionellen Kleidung sah, war ich beeindruckt. Er galt als der mächtigste Druide von Sommerland. Ich fand die Bezeichnung irreführend, denn eigentlich bezog sie sich auf das gesamte Reich, denn in der Anwn gab es keine Druiden.

Wir waren nur noch wenige Schrittlängen voneinander entfernt, da jagte ein rot-brauner Fellball an mir vorbei. Meine Füchsin war zurück auf ihre normale Größe geschrumpft. Jonus und Hazel hatten sich in meiner Zeit am Hof von Sommerland besser kennengelernt. Sie war oft dabei, wenn er mich unterrichtete. Ganz offensichtlich war sie ihm ein klein wenig verfallen, genau wie ich. Und vermutlich auch jede andere Frau, die den Obersten Druiden von Sommerland jemals kennengelernt hatte.

Jonus lachte laut, als Hazel sich mit einem Satz in seine Arme katapultierte. »Mein hübsches Mädchen.«

Eine überraschte Sekunde lang glaubte ich, dass er mit mir sprach. Stattdessen drückte er Hazel an sich und strich ihr über die spitzen Ohren. Sie hechelte und jaulte vor Begeisterung.

»Was für eine Freude«, sagte ich, als ich ihm endlich gegenüberstand. Mit dem Kinn deutete ich auf meine Füchsin, die sich gar nicht mehr einkriegte. »Man könnte meinen, ihr hättet euch wochenlang nicht gesehen.«

»Also einen Arm hätte ich noch frei.« Jonus hielt Hazel in seiner Rechten, und den linken Arm streckte er mir entgegen.

Ich war etwas verunsichert. Eigentlich umarmten wir uns nicht. Ich hatte ihn als einen hilfsbereiten Gelehrten kennengelernt und später als meinen Lehrer. Außerdem war ich einfach nicht der überschwängliche Typ. Ich wollte ihn jedoch nicht beleidigen und außerdem, warum nicht? Wir kannten uns gut genug für eine Umarmung, und sie war mir auch nicht unangenehm. Jonus war ein gutaussehender, beeindruckend gebildeter Mann, der mir bisher mit nichts als Freundlichkeit und Respekt begegnet war.

Ich war überrascht, als ich sehnige Muskelstränge unter dem dünnen Stoff seines Gewandes ertastete. Er wirkte schlank, aber wenn er selbst am Rücken so durchtrainiert war, hatte ich ihn wohl die ganze Zeit unterschätzt.

Wir lösten uns voneinander, und Jonus ließ Hazel runter. Sie schnüffelte in die Luft und richtete ihre Schnauze wie von einem Peilsender gelotst in Richtung des Tempels.

»Schau mal im Innern nach, Hazel«, sagte Jonus. »Wir haben heute Morgen frischen Honig geholt.«

Hazel war verrückt nach Süßem. Zum Glück verstand mein Reittier jedes Wort.

Dennoch hatte ich Bedenken. »Sie wird wahllos alle Schalen ausschlecken. Das ist dir aber schon klar, oder?«

»Es befinden sich noch zwei Novizen im Tempel. Sie werden Hazel weiterhelfen.« Er lächelte mich schief an. »Aber sag, wie war das Treffen mit deiner Schwiegerfamilie?« Jonus hatte diese unbekümmerte Art, den Finger in die Wunde zu legen, die mich immer wieder kalt erwischte. Er hatte wohl meinen Gesichtsausdruck bemerkt, denn er lachte leise. »Ich verstehe. So schlimm also.«

»Ich will nicht darüber reden.« Ich bohrte eine Spitze meines Stiefels in die dünne Schneedecke auf dem Gras.

»Was kann ich dann für dich tun?« Wie immer war Jonus darauf bedacht, für alles eine Lösung zu finden. Bei unserem ersten Treffen hatte er mir eine Salbe gegen meine Verletzungen und einen Tee gegeben, der mich ruhiger schlafen ließ. Und auch jetzt schien er nur daran interessiert, zu helfen. Er war wirklich der geborene Druide.

»Ich brauche nichts, vielen Dank.« Etwas unschlüssig sah ich von meinen Stiefelspitzen wieder hinauf in sein Gesicht. »Ich habe dich gesehen und dachte, es wäre schön, kurz Hallo zu sagen. Im Palast ist es manchmal einsam.« Ich zuckte die Schultern. »Du hast die Silbernen Wälder, den Heiligen Nemeton.« Ich deutete auf den Tempel hinter seinem Rücken. »Du hast eine Aufgabe, einen Platz in dieser Welt. Auch ich hatte gedacht, ich hätte ihn bei der Wilden Jagd gefunden, aber jetzt ist plötzlich wieder alles anders. Und manchmal fühle ich mich freischwebend und …« Ich zögerte. »… auch ein wenig einsam.« Jonus wollte etwas erwidern, doch ich sprach hastig weiter. »Ich weiß, ich trainiere jetzt alle zwei Tage wieder mit der Wilden Jagd. Ich soll wieder mit ihnen reiten. Und ich bin dankbar, dass König Reval sich dahingehend für mich eingesetzt hat. Das hätte er nicht tun müssen. Eigentlich wollte ich dankbar sein und ihn …« Wieder brach ich ab. »Aber heute haben wir über die Hochzeit gesprochen, und es kamen Details ans Licht, die …« Ich plapperte, und ganz gewiss wollte ich nicht mit Jonus über das Thema »Beischlaf-Zeremonie« reden. Ich seufzte. »Ich habe mich einfach gefreut, dich zu sehen, und dachte, wir unterhalten uns ein paar Minuten, bevor ich wieder in meine großen, leeren Räume zurückkehre und über den Sinn meines Daseins nachdenke.«

Erneut öffnete Jonus den Mund, um etwas zu erwidern. Wieder kam er nicht dazu, zu sprechen. Zwei Novizen, gut erkennbar an ihren dunkelgrünen Gewändern, waren im Eingang des Tempels erschienen. Hazel drängte sich zwischen sie. Jonus drehte sich zu ihnen um, als habe er ihre Anwesenheit gespürt.

Die zwei Novizen, ein Junge und ein Mädchen, vermutlich beide um die vierzehn Jahre alt, deuteten eine Verbeugung an. »Oberster Druide«, sagte das Mädchen leise. »Eure Anwesenheit im Tempel wird benötigt.«

Ich wusste, dass die Druiden auch Medizin herstellten. Vielleicht hatten die beiden ein Problem mit irgendwelchen Pflanzen. Da wollte ich Jonus lieber nicht aufhalten.

Er drehte sich zu mir, da rief ich bereits nach Hazel. »Du musst nicht gehen.«

Ich lächelte ihn an. »Du bist beschäftigt, das hätte ich wissen müssen. Ich wollte dich nicht stören.« Ich streichelte Hazel kurz über den Kopf. »Wir machen einen Abflug, und wir beide …« Ich deutete zwischen ihm und mir hin und her. »… sehen uns zur nächsten Lehrstunde.«

Hinter uns räusperten sich die Novizen.

Jonus zog vielsagend die Brauen hoch. »Das ist vermutlich die beste Idee. Aber schön, dass wir uns gesehen haben.«

Ich hob kurz die Hand zum Gruß, als ich mich umdrehte, während Hazel bereits wieder größer wurde. Einen Moment später schwang ich mich auf ihren Rücken.

Ich konnte nicht verhindern, dass mich ein Gefühl von Enttäuschung durchflutete. Zwar hatte ich nicht genau gewusst, was ich hier wollte, aber allein die Gegenwart des Druiden beruhigte mich. Nach diesem aufwühlenden Treffen auf Burg Raunacht und meinem kurzen Zusammentreffen mit Keon hätte ich das gut gebrauchen können.

Ich war noch ein gutes Stück von dem Palast auf der Glasinsel entfernt, da hörte ich schon die Fanfaren. Alarmiert streckte ich den Rücken durch, denn das bedeutete nie etwas Gutes. Ich kniff die Augen ein wenig zusammen, um sie vor dem Wind zu schützen und besser sehen zu können. Intuitiv rechnete ich mit einem weiteren Überfall der Clann. Jener Wesen, zu denen eine Seele wurde, wenn der Körper nicht bemerkte, dass er gestorben war. Die Clann waren furchterregende Monster, und für die meisten Sidhé endete eine Begegnung tödlich. Für Menschen selbst stellten sie keine direkte Gefahr dar, aber auf der Erde konnten sie Chaos stiften und Umweltkatastrophen auslösen.

Ich lehnte mich einmal gefährlich nach rechts und links, doch ich erkannte keine Schneise der Verwüstung, so wie die Clann sie nach ihrem letzten Überfall auf den Palast hinterlassen hatten.

Bis heute war nicht geklärt, wer diese gefährlichen Wesen in die Anderswelt gelassen hatte. Normalerweise hatten sie keine Möglichkeit, die Tore zu überwinden, die beide Welten verbanden, da diese auf der Erde hoch oben in der Luft lagen. Wie erwartet hatte dieser Überfall für Zwietracht zwischen den beiden Königreichen gesorgt. Ich war nach wie vor der Meinung, dass dies die heimliche Absicht gewesen war. Viele Sommerländer vermuteten, dass es nur darum gegangen war, möglichst viele ihrer Leute zu töten. Doch ich glaubte daran, dass die Absichten viel raffinierter waren. Die Reiche versuchten, sich einander anzunähern. Jetzt sollte es sogar eine Hochzeit geben. Die erste überhaupt, mit mir als einer Adligen aus Sommerland und Keon als Kronprinz des Totenreichs. Aber nach diesem Zwischenfall, der Dutzende Tote gefordert hatte, stand der wacklige Frieden auf noch dünneren Beinen als zuvor.

Schon wieder schallten die Fanfaren laut in den Himmel.

»Schnell, Hazel«, rief ich. »Wir müssen nachsehen, was dort los ist.«

Ich konnte keine Bedrohung ausmachen. Was war passiert? Ich näherte mich dem Palast, der auf einem riesigen Felsen, durchsichtig wie Bergkristall, aus dem großen See aufragte. Das ganze Gemäuer war aus einem Stück erbaut. Druiden mit der seltenen Gabe der Windsinger, so wie ich sie besaß, hatten den Palast aus dem Stein geformt. Auch dadurch war er uneinnehmbarer als jede Festung.

In schmalen Booten entdeckte ich auffallend viele Personen in beigefarbenen und dunkelgrünen Gewändern. Sie kennzeichneten die Druiden-Gesellen und die Novizen.

Ich runzelte die Stirn. Was ging hier vor? Waren die Fanfaren ein Hinweis auf ein Treffen der Druiden? Ich kam nicht mehr mit, und neugierig beugte ich mich vor, als Hazel bereits tiefer flog.

Im Burghof rannten die Wachen durcheinander. Aus der Luft wirken sie wie aufgeschreckte Ameisen. Ein paar von ihnen sahen wohl unseren Schatten, denn sie richteten ihre Bögen in die Luft, ließen sie aber schnell wieder sinken, als sie uns erkannten.

Hazel landete weich im Innenhof. Ich sprang von ihrem Rücken und hielt eine Wache an. »Was ist passiert? Droht eine Gefahr?«

Ich war viel zu sehr Jägerin, um nicht sofort darüber nachzudenken, wie ich diese Burg verteidigen konnte.

»Ich bin nicht befugt, darüber zu sprechen.« Die Wache hastete mit gesenktem Kopf davon.

Ein ungutes Gefühl machte sich in meinem Bauch breit. Wären es die Clann, hätte ich schon jetzt die Schreie der Sterbenden Sidhé gehört. Doch trotz der Unruhe auf dem Innenhof war es ohne die Fanfaren geradezu gespenstisch still.

Hazel blieb an meiner Seite, als wir durch die große Doppelflügeltür in das Innere des Palastes gingen. Ich wollte zu den privaten Räumen der Königsfamilie, denn hier würde ich gewiss jemanden antreffen, der mir mehr erzählte.

Es waren Elvys Räume, aus denen ich lautes Weinen hörte. Sofort krampfte sich mein Herz vor Mitgefühl zusammen. Elvy war hier am Königshof zu meiner Freundin geworden. Wir waren ungefähr im selben Alter und hatten uns sofort gut verstanden. Außerdem war sie die Verlobte von Kronprinz Tylenn, dem älteren Bruder von Jonus. Irgendwann würde Elvy an dessen Seite über Sommerland herrschen. Und ich war mir sicher, sie würde eine wunderbare Königin sein.

Ihre Tür war nur angelehnt, trotzdem klopfte ich und schob sie vorsichtig auf. Elvy lag auf dem Bett, ihr hüftlanges, weißblondes Haar um sie ausgebreitet. Ihre Adoptivschwester Monya war bei ihr und tröstete sie.

»Was ist geschehen?«, fragte ich und bemühte mich trotz meiner Sorge um einen leisen Tonfall. Da Elvy mich nicht wahrzunehmen schien, richtete ich meine Aufmerksamkeit auf Monya. Wie immer, wenn sie mich sah, verdunkelte sich ihre Miene.

»Was kümmert es …«

Elvy drückte sich von der Matratze hoch und drehte sich zu mir um. Nicht mal Tränen konnten ihr wunderschönes Gesicht entstellen.

»Remy!« Die Art, wie sie erstickt meinen Namen hervorstieß, ließ mein Herz verkrampfen.

Ich eilte zu ihrem Bett und ließ mich an ihrer freien Seite nieder. Sehr zu Monyas Missfallen schlang sie ihre Arme um mich.

»Was ist denn los?« Ich streichelte beruhigend ihren Rücken. »Sag es mir. So schlimm wird es nicht sein.«

Elvy wich in dem Moment zurück, als der laute Klang der Fanfaren durch den Stein zu dringen schien. Ihre Augen waren rot geädert und riesengroß. Ihre Stimme war nur noch ein heiseres Flüstern. »Der Kronprinz liegt im Sterben.«

Kapitel 3

Zum zweiten Mal an diesem Tag war ich mir sicher, dass ich mich verhört hatte.

Ich richtete meinen fragenden Blick auf Monya. Sie nickte nur, ihre Lippen zu einem dünnen Strich zusammengepresst.

»Das tut mir so leid«, flüsterte ich und lehnte meinen Kopf an den von Elvy. »Was ist geschehen?«

Ich vermutete, dass es ein Unfall sein musste, denn noch gestern war es Tylenn gut gegangen. Was war geschehen? Obwohl ich ihn nicht mochte, hoffte ich, dass Elvy sich irrte. Nicht wegen des Kronprinzen, sondern weil ich nicht wollte, dass meine Freundin unglücklich war.

Hazel spürte die Stimmung, denn sie hüpfte aufs Bett, um die Prinzessin ebenfalls zu trösten.

»Runter, du flohverseuchtes Vieh.« Monya machte eine angewiderte Geste und erschreckte meine Füchsin damit. Diese legte die Ohren an und wich hinter mich zurück.

»Sprich nicht so mit ihr«, fuhr ich Monya an. »Sie hat vermutlich genauso viele Flöhe wie du.«

»Ich habe keine.« Monyas Augen sprühten Funken. Seit sie der Meinung war, ich hätte ihr ihren vermeintlichen Verlobten weggenommen, hasste sie mich. Und sie machte keinen Hehl daraus.

»Genau«, erwiderte ich und war nicht bereit, auch nur einen Millimeter zurückzuweichen. Das war Elvys Bett. Monya hatte hier gar nichts zu entscheiden.

»Komm her.« Elvy streckte den Arm nach Hazel aus. Sie zog sie an sich, während Monya mit wütendem Gesicht zurückwich.

Ich verkniff mir ein triumphierendes Lächeln, obwohl mir stark danach war, und richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf meine Freundin. »Möchtest du mir erzählen, was passiert ist?«

Elvy schüttelte kurz den Kopf, bevor ihr Weinen wieder lauter wurde. Hazel fiel aus lauter Mitgefühl mit ein und stieß ein leises Jaulen aus.

Monya tat übertrieben erschrocken und musterte mich dann wieder, als wolle sie mich am liebsten vom Balkon werfen.

»Kannst du mir etwas erzählen?« Ich ahnte, was sie antworten würde, noch bevor sie den Mund aufmachte.

»Ich kann schon, aber ich will nicht.«

Was für ein kindisches Benehmen. Als hätten wir in einem riesigen Becken ein Schlammcatchen veranstaltet und die Siegerin sich den Kronprinzen geangelt. Dabei war alles ganz anders gewesen. König Kymrin von Sommerland hatte die Entscheidung getroffen. Und niemand, außer vielleicht Monyas Mutter Wyltha, war wirklich glücklich damit.

Ich hätte ihr gern ein »Komm endlich damit klar, Mädchen« an den Kopf geworfen, aber ich wollte nicht, dass sie wieder beim König petzte. Das war nämlich eine ihrer liebsten Beschäftigungen. Sie ließ mich durch ihre Bediensteten beobachten, um jeden Fauxpas brühwarm an Kymrin weiterzutragen. Zu unser aller Überraschung fand der meine ungehobelte Art »ganz erfrischend«, seine Worte, nicht meine, und dachte gar nicht daran, seine Entscheidung zu revidieren.

Mein Plan war damit komplett nach hinten losgegangen. Ich pfiff auf das Protokoll, in der Hoffnung, irgendwann davongejagt zu werden. Stattdessen war ich zu des Königs liebstem Unterhaltungsprogramm geworden. Karma war manchmal echt …

Da aus den beiden nichts herauszukriegen war, beschloss ich, mich selbst schlauzumachen. »Soll ich mal sehen, wie es ihm geht?«

Elvy stieß weinend ein lang gezogenes Ja aus, und ihr zarter Körper zitterte unter ihren heftigen Schluchzern. Ich drückte mich noch mal an sie und strich ihr sanft über das Haar. »Alles wird gut, da bin ich mir ganz sicher.«

Eigentlich würde ich Hazel jetzt bei Elvy lassen, aber ich traute Monya nicht. Also gab ich meiner Füchsin ein kurzes Zeichen, und sie folgte mir.

Auf dem Flur kamen mir zwei Druidinnen entgegen, die leise miteinander sprachen. Das Weiß ihrer Gewänder zeichnete sie als Meisterinnen ihres Faches aus.

»Entschuldigung.« Ich deutete eine höfliche Verbeugung an. »Könnt Ihr mir Auskunft über den Gesundheitszustand des Kronprinzen geben? Ich frage im Auftrag seiner Verlobten.«

Die beiden sahen mich an, und ich wusste, dass sie mich erkannten. »Ihr solltet mit dem König sprechen«, erwiderte die eine. »Er ist gerade bei seinem Sohn.« Sie nickten mir höflich zu und verschwanden auf lautlosen Sohlen.

Ich sah den langen Gang hinunter und musste mich einen Moment orientieren. Ich wusste, dass Tylenns Gemächer auf dieser Ebene lagen. Aber natürlich hatte ich ihn nie besucht, und besonders gut aufgepasst bei der Führung hatte ich auch nicht.

Ich drehte mich um, um die zwei Druidinnen zu fragen, doch sie waren bereits verschwunden.

Mir würde also nichts anderes übrig bleiben, als zu suchen.

Zum Glück kam mir irgendwann noch eine Gruppe Druiden entgegen. Der eine wischte sich im Gehen die Hände ab. Das Tuch hatte sich schon rot gefärbt. Ich schluckte. Das sah nicht gut aus. Seit meiner Zeit bei den Jägern hatte ich viel über Verletzungen gelernt. Knochen heilten, Blutergüsse verblassten irgendwann, und auch gezerrte Sehnen taten zwar höllisch weh, brachten einen aber nicht um. Aber so viel Blut zu verlieren, das war immer ein schlechtes Zeichen.

Ich fragte sie nach dem Weg und musste feststellen, dass ich gar nicht so weit entfernt war. Nur noch rechts in den Gang abbiegen.

Vor der Tür standen zwei Wachen, doch sie ließen es zu, dass ich anklopfte.

»Herein.« Die Stimme des Königs klang fest, aber ich kannte ihn mittlerweile gut genug, um darin zu hören, wie aufgewühlt er war.

Da der Kronprinz offene Wunden zu haben schien, hielt ich es für unangemessen, Hazel mit in das Zimmer zu nehmen. Ich bedeutete ihr, sich neben der einen Wache auf den Boden zu setzen. Der Mann verzog keine Miene, aber er protestierte auch nicht. Die andere Wache öffnete mir die Tür.

Das Zimmer lag im Halbdunkel. Die Gardinen vor den Fenstern, die normalerweise Licht auf Tylenns breites Bett warfen, waren vorgezogen. Nur die zwei großen Fenster im hinteren Bereich des Raumes ließen die müden Sonnenstrahlen des Winters hinein.

Der König saß am Bett seines Sohnes, der sich nicht rührte. Dahinter, vor einem der Fenster, hatten vier Druiden Position bezogen. Ihre Gesichter waren starr, nur der jüngste von ihnen schien mit den Tränen zu kämpfen. Es roch nach Blut und etwas Beißendem, das ich nicht recht zuordnen konnte.

»Darf ich, mein König?« Ich blieb in gebührendem Abstand stehen.

»Remy.« Er hob die schweren Lider, und der bittere Zug um seinen Mund erschreckte mich. Eine Hand hatte er mit der seines Sohnes verschränkt. Mit der anderen winkte er mich zum Bett.

Anders als bei Elvy nahm ich natürlich nicht Platz. So diskret wie möglich versuchte ich, einen Blick auf Tylenn zu erhaschen. Sein Oberkörper war nackt, aber man hatte ihn zum Teil mit einem weißen Laken bedeckt. Dieses verfärbte sich schon wieder rot. Ich vermutete eine Bauchwunde. Das waren die tödlichsten Verletzungen, die man sich in einem Kampf zuziehen konnte. Aber wie war das geschehen? Die beiden Reiche führten keinen Krieg mehr gegeneinander. In Sommerland wurde nur zu Übungszwecken gekämpft, noch dazu mit Waffen, die nur Attrappen waren.

Tylenns Augen waren geschlossen, doch seine Lider flatterten leicht. Und wie er so dalag, die Züge entspannt, der Mund weich, das helle Haar kaum ein Kontrast zu der Bettwäsche, erinnerte er mich so sehr an seinen jüngeren Bruder Jonus. Normalerweise war sein Gesichtsausdruck streng, die Lippen zusammengepresst, die Haltung so gerade wie bei einem Soldaten. Aber jetzt … Jetzt war die Ähnlichkeit der Geschwister unverkennbar. Ich schämte mich für meine Dankbarkeit, dass es nicht Jonus war, der hier mehr tot als lebendig vor mir lag.

»Es war ein Attentat.«

Ich zuckte kurz zusammen, als König Kymrin zu sprechen begann. Ich riss meinen Blick von Tylenn los und sah ihm ins Gesicht. Die Resignation darin ging mir durch und durch.

»Tylenn hat mit den königlichen Wachen trainiert, so wie immer. Sie benutzen Holzschwerter.« Er lachte leise, aber ich hörte die Verzweiflung darin. »Damit kann nichts passieren, außer einer Prellung. Einer seiner treuesten Männer, ein erfahrener Kämpfer, hat mit ihm trainiert. Als er es schaffte, Tylenn die Spitze des Holzschwertes gegen den Brustkorb zu drücken, stieß eine echte Klinge durch das Holz, das am Heft gebrochen ist. Sie ist sofort tief in seine Haut gedrungen. Bei den Göttern, dieses viele Blut …« Der König flüsterte nur noch. »Der Mann schwört, dass er wahllos eins der Trainingsschwerter aus dem Korb genommen hat, genau wie alle anderen. Wir haben Zeugen, die das bestätigen. Ich glaube ihm. Aber jemand hat dieses Schwert manipuliert, in der Hoffnung, dass derjenige einen Treffer landet, wenn der Kronprinz ihn trainiert. Als Anführer der königlichen Wachen ist es seine Aufgabe, seine Männer in bestmögliche Form zu bringen. Er unterrichtet sie, er bringt ihnen alles bei, was seine Lehrer ihn gelehrt haben. Er ist ihr Anführer, er steht für jeden von ihnen ein.« Der König wirkte jetzt verzweifelt, als er mich ansah. »Irgendjemand hat darauf gesetzt, dass der Kronprinz von einem seiner eigenen Männer getötet wird.«

Ich nickte langsam, dann glitt mein Blick wieder zu Tylenn. War es wirklich nur ein Zufall gewesen? Ich war nicht überzeugt. »Was sagen die Druiden?«

Der König schloss kurz die Augen, bevor er mir antwortete. »Wenn er die Nacht überlebt, hat er eine Chance, dass er wieder gesund wird.«

Er brach mir das Herz, wenn ich an Elvy dachte. Sie würde ihren Verlobten verlieren, den Mann, den sie heiraten wollte. Ich hatte die beiden miteinander beobachtet. Sie gingen liebevoll miteinander um, sie kümmerten sich umeinander. In ihrer Gegenwart war Tylenn ein anderer Mann. Er war sanft, er lächelte viel, und die Liebe zu ihr war in jeder Geste zu sehen und zu spüren. Es durfte einfach nicht sein, dass ihr das Herz auf so grausame Art und Weise gebrochen wurde. Auch der König tat mir leid. Obwohl wir keine enge Beziehung aufgebaut hatten, hatte er mich gut behandelt. Ihn jetzt so gebrochen zu sehen, schmerzte mehr, als ich es mir eingestehen wollte.

»Darf ich sie sehen?«, fragte ich leise.

Der König nickte, und einer der Druiden eilte herbei und hob das Laken an.

Die Wunde sah fatal aus. Das einzig Gute war, dass die Wundränder glatt waren und die Klinge auf Höhe der Lunge ins Fleisch eingedrungen war. Hätte sie Magen oder Darm verletzt, stünden seine Chancen viel schlechter. Rocket war bei dem Angriff der Clann im Bauchraum verletzt worden und hatte nur durch eine riesige Portion Glück überlebt. Ich hatte viel mit Jonus darüber gesprochen, deshalb kannte ich mich mittlerweile etwas damit aus.

Die Wunde blutete zwar noch, aber es war keins der großen Gefäße getroffen worden. Tylenn war jung, und er war sehr gut in Form. Der König und Elvy waren natürlich persönlich involviert, weshalb die Katastrophe für sie viel größer war. Doch nüchtern betrachtet, hatte Tylenn meiner Ansicht nach gute Chancen, diese Stichwunde zu überleben.

Ich hielt mich mit meiner Meinung zurück. Es war grausam, aber es war besser, vom Schlimmsten auszugehen und positiv überrascht zu werden, als davon auszugehen, dass alles gut werden würde, und dann kam es doch anders.

Dann fiel mir etwas ein. »Soll ich Jonus holen? Ich habe vorhin noch in den Silbernen Wäldern mit ihm gesprochen.« Die Sommerländer besaßen keine Tiere, die sich auf Befehl in Reittiere verwandeln konnten. Dies war die schnellste Möglichkeit, jemanden zu transportieren.

Der König schüttelte den Kopf. »Wir haben eine Nachricht auf die Schwarzen Inseln geschickt. Jemand wird Jonus abholen. Vermutlich sind sie schon auf dem Weg hierher.«

Da die beiden Königreiche nicht mehr verfeindet waren, halfen sie sich hin und wieder aus. Die Sommerländer verschickten Nachrichten mit Vögeln, so wie wir Menschen es früher mit Tauben getan hatten. Der Königshof hatte also bereits um Hilfe gebeten, und jemand von der Wilden Jagd würde mit seinem Reittier in die Silbernen Wälder fliegen, um den Obersten Druiden zum Palast auf der Glasinsel zu bringen.

Obwohl ich vermutete, dass man Tylenn ruhiggestellt hatte, murmelte er plötzlich etwas. Sofort war der König ganz bei seinem Sohn.

»Es wird alles gut, mein Kleiner.« Tylenn war mittlerweile größer und kräftiger als er, dennoch strich der König seinem Sohn wie einem Kind übers Haar. »Wir schaffen das.«

Ich fühlte mich überflüssig. Das war eine intime Situation, in der ich nichts zu suchen hatte.

»Ich erkundige mich später noch mal nach Tylenn, mein König.« Ich verbeugte mich, doch Kymrin nahm ich gar nicht mehr wahr. Also nickte ich den Druiden zu und verließ leise den Raum.

Hazel und ich wollten zurück in den Burghof gehen, um nachzusehen, welcher Jäger den Obersten Druiden zur Glasinsel geflogen hatte. Doch in der großen Eingangshalle wurde mein Blick plötzlich von etwas anderem abgelenkt.

Die Tür zu einem der Empfangszimmer stand weit offen. Dies war vermutlich dem Durcheinander geschuldet, das Tylenns Unfall verursacht hatte. Überall herrschte Aufregung, die Bediensteten standen zusammen und tuschelten, die Wachen unterhielten sich flüsternd.

Ich sah mich nicht prüfend um, stattdessen ging ich auf den Raum zu, als sei ich genau dorthin geschickt worden. Das Wort Raum war eine Untertreibung für diesen Saal, der vom Boden bis zur Decke mit Kunstwerken verziert war. Riesige Gemälde, Wandteppiche, Skulpturen. Normalerweise war er gut verschlossen und wurde nur geöffnet, wenn Besuch erwartet wurde, den man beeindrucken wollte.

Meine Kohorte und ich hatten in besagtem Saal warten müssen, während sich die Adligen begrüßten, die den Winterball besuchten. Da hatte ich zum ersten Mal von den vier heiligen Artefakten gehört. Hazel und ich betraten den Saal, und ich schloss leise die Tür hinter uns.

Ehrfürchtig ging ich darauf zu. Obwohl nur eines der vier ein Original war, wirkten sie Respekt einflößend. Das Schwert des Nuada war unter einem geschliffenen Bergkristall verborgen. Genau wie das letzte Mal, als ich ihm so nahe gekommen war, erhob sich diese Stimme in mir.

Finde dein Lied. Fordere das, was du sein wirst.

Mittlerweile wusste ich, dass es mit meinen Kräften als Windsingerin zusammenhing. Ich war eine Druidin und die heiligen Artefakte waren von meinen Vorfahren erschaffen worden. Dennoch hatte ich noch nicht entschlüsselt, was diese Worte gänzlich bedeuteten.

Fordere das, was du sein wirst.

Ob damit gemeint war, dass ich meinen Platz am Hofe einfordern sollte? Denn den hatte man mir schließlich schon eingeräumt. Ich war als Mitglied des Adels aufgenommen worden. Man hat mir wunderschöne Gemächer zur Verfügung gestellt. Der Oberste Druide arbeitete mit mir an der Kontrolle meiner Kräfte. Warum also hörte ich die Stimme immer noch?

Ich war noch zu aufgewühlt, um groß darüber nachzudenken. Stattdessen wandte ich den Blick entschieden von dem Schwert ab. Die anderen drei Artefakte waren Nachbildungen. Der Speer des Lugh, der Stein von Falias und der Kessel des Dagda.

Mein Blick blieb an dem Stein von Falias hängen. Angst breitete sich in mir aus. Keon, mein zukünftiger Ehemann, hatte sich bereit erklärt, die drei verschollenen Artefakte für das Königreich Sommerland zu finden. Im Tausch dafür, dass der Fluch von seinem Volk genommen wurde. Sie konnten nicht schlafen. Niemals. Doch im Tausch gegen die Artefakte würden sie erlöst werden. Keon hatte geschworen, alles dafür zu tun, sie wiederzubeschaffen. Doch laut Keon verbanden die Artefakte sich mit ihren Eigentümern, und diese verstarben, wenn man sie ihnen wegnahm.

Ich schloss kurz die Augen und schluckte schwer. Obwohl ich Keon von Herzen wünschte, dass dieser Fluch von seinem Volk genommen wurde, wusste ich doch, dass dies niemals geschehen würde. Denn der Stein von Falias befand sich im Besitz meiner Mutter.

Kapitel 4

Das Geräusch zerschnitt die friedliche Stille des Morgens wie ein Donnerhall.

Die Hälfte der Jäger erstarrte, die andere brach in Gelächter aus. Rocket besaß die Frechheit, Thiess strafend anzusehen. »Warst du das?«

Ich richtete mich aus der Position des herabsehenden Hundes auf und kämpfte darum, meine möglichst sachliche Miene nicht verrutschen zu lassen. »Das ist ganz natürlich. Kriegt euch wieder ein, Leute.«

Rockets Wangen überzog eine wütende Röte. Er deutete auf mich. »So viel Zeit mit dem Gesicht nach unten zu verbringen, kann nicht gesund sein.«

Samum grinste. »Wie man’s nimmt. Besser raus als rein, würde ich sagen.«

»Diese Hose ist ungeeignet.« Rocket riss wütend an seiner Lederhose.

»Nur ein Mann kann pupsen und es dann auf die Hose schieben.« Jelisaweta verschränkte die Arme vor der Brust und schüttelte den Kopf.

Rocket hatte endgültig genug. »Dieses Bodenturnen ist eh nur was für Weicheier.« Er kickte die Decke aus dem Weg, die er auf dem gefrorenen Gras ausgebreitet hatte, warf einen letzten Blick zu Thiess und stapfte davon.

Der verdrehte die Augen. »Er und seine toxische Männlichkeit stehen sich hin und wieder noch im Weg.«

Die anderen nickten verständnisvoll. Auch ich wusste, wovon er sprach. Thiess und Rocket waren erst seit einigen Wochen zusammen. Sie verband etwas, das ich kaum beschreiben konnte. Das zwischen ihnen war definitiv leidenschaftlich, aber hin und wieder konnte man schwer sagen, ob sie einander abgöttisch verfallen waren oder dem anderen doch lieber den Kopf abreißen wollten.

Andererseits musste ich Rocket recht geben. Die robuste und strapazierfähige Kleidung der Jäger eignete sich nur wenig für eine Sportart wie Yoga, die eine große Bewegungsfreiheit forderte. Da wir aber nun regelmäßig trainierten, nachdem Keon mich vor einigen Wochen auf meine Beweglichkeit angesprochen hatte, wäre es klug, unseren nächsten Ausgang auf der Erde für einen Besuch in einem Sportgeschäft zu nutzen. Obwohl ich mir beim besten Willen nicht vorstellen konnte, Rocket in eine der weit geschnittenen Saruelhosen mit extra hohem Bund zu bekommen. Ich setzte mal ganz zaghaft auf den Gruppenzwang, aber Rocket war einfach eine Nummer für sich.

Ich klatschte in die Hände. »Danke, Leute. Machen wir Schluss für heute.«

Ein paar der Jäger applaudierten zum Dank, Thiess hielt mir die Hand zum High Five hin. Wir hatten alle schon geduscht, denn im Moment waren die Übungen noch so einfach, dass niemand ins Schwitzen geriet, und jetzt freute ich mich auf mein Frühstück.

Thiess brachte es irgendwie fertig, seine Decke so hochzunehmen, dass er danach mit feuchtem Schneematsch gesprenkelt war. Angewidert sah er an sich hinunter. »Igitt, ich sehe aus wie ein Schwein.«

Sein Zwillingsbruder Thore gesellte sich zu uns und klopfte ihm auf den Rücken. »Stimmt, und eingesaut hast du dich auch noch.«

Thiess schüttelte bloß gutmütig den Kopf, aus mir platzte ein Lachen hervor. Ich liebte die beiden einfach. Sie waren mit die ersten Jäger, die ich in der Anderswelt kennengelernt hatte. Sie waren knapp zwei Meter große Hünen mit langem, hellblondem Haar, in das sie Perlen und anderen Schmuck geflochten hatten. Sie sahen aus wie eine Reinkarnation aller Wikinger, die ich mir jemals vorgestellt hatte. Und sie kamen tatsächlich aus Grönland, waren aber Schauspieler, die ihren Lebensunterhalt mit der Nacherzählung von Märchen und Sagen verdient hatten, bevor ihre Augen die Farbe gewechselt hatten und sie zur Wilden Jagd gekommen waren. Sie waren wie die zwei großen Brüder, die ich nie gehabt hatte.

Wir gingen direkt zu dem überdachten Bereich, in dem die Jäger ihre Mahlzeiten einnahmen. Die langen Tische mit den Bänken davor waren bereits eingedeckt.