Champion - Felix Francis - E-Book

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Felix Francis

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Beschreibung

Dave Swinton ist mehrfacher Champion-Jockey und hat ein delikates Geheimnis: Er wird erpresst, Rennen absichtlich zu verlieren. Als er seinen Fehltritt ausgerechnet Jeff Hinkley gesteht, setzt sich eine tödliche Spirale in Gang, der Hinkley nur knapp, Swinton jedoch nicht entkommt. Von Selbstmord, an den die Polizei glaubt, will Hinkley nichts wissen und tritt entschlossen gegen einen scheinbar übermächtigen Gegner an: die Millionen und die Skrupellosigkeit der Schwerreichen.

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Seitenzahl: 426

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Felix Francis

Champion

Roman

Aus dem Englischen von Malte Krutzsch

Diogenes

Mit besonderem Dank an Debbie

{5}Der Peter O’Sullevan Charitable Trust »The Voice of Racing« bat mich, anlässlich des Annual Award Lunch der Stiftung im November 2014 eine Gastrolle in meinem nächsten Roman als Auktionslos anzubieten.

Das Los ging an Mr Derrick Smith, der es für seine Frau Gay ersteigerte.

Der Erlös von £ 40000 wurde unter den sechs wohltätigen Einrichtungen aufgeteilt, die der Trust unterstützt:

Blue Cross, The Brooke Hospital for Animals, Compassion in World Farming, World Horse Welfare und The Thoroughbred Rehabilitation Centre.

Ich habe sowohl Gay wie auch Derrick als fiktive Charaktere in das Buch eingebaut und hoffe, sie sind mit der künstlerischen Freiheit, die ich mir dabei genommen habe, einverstanden.

{7}Felix, qui potuit rerum cognoscere causas

Vergil, Georgica 2, 490

 

Glücklich, wer zu erkennen vermag die Gründe der Dinge.

{9}1

Das Display des Digitalthermometers links von mir zeigte 105 Grad an – 105 Grad Celsius, gleich 221 Grad Fahrenheit.

Schweiß lief mir als stetes Rinnsal von der Nasenspitze, und beim Einatmen der sengenden Luft spürte ich die Hitze tief in der Brust.

In der Sauna war ich schon öfter gewesen, aber in einer derart heißen noch nicht.

»Was möchtest du also?«, fragte ich.

Mein Gefährte in dieser Höllenglut antwortete nicht. Er blickte nur starr auf den Boden zwischen seinen Füßen.

»Komm schon«, sagte ich. »Ich bin nicht extra hierhergefahren, nur um was für meine Gesundheit zu tun. Mir ist viel zu heiß hier drin. Du wolltest reden, also rede.«

Er hob den Kopf.

»Wenigstens hast du nicht so ein Drecksding an.« Er zupfte an dem Trainingsanzug aus schwarzem Nylon, den er trug. Als wäre die Hitze allein nicht schlimm genug.

»Mag sein, aber ich hatte nicht vor, mich hier langsam grillen zu lassen.«

Er redete immer noch nicht. Er sah mich nur an. Dave Swinton, neunundzwanzig Jahre alt und schon achtfacher Hindernis-Champion. Dass er mit seinen {10}einsachtundsiebzig ständig Gewichtsprobleme hatte, war allgemein bekannt, doch für sein herausragendes Können im Sattel nahmen Besitzer und Trainer ein wenig Übergewicht gern in Kauf. Und das aus gutem Grund – laut Statistik gewann er fast jedes dritte Rennen, in dem er antrat.

»Unter uns?«, fragte er.

»Sei nicht albern«, antwortete ich.

Ich war Chefermittler der Britischen Rennsportbehörde BHA, der Organisation, die für die ordnungsgemäße Durchführung aller Galopprennen im Vereinigten Königreich zuständig war. Nichts, was ich in Sachen Rennsport hörte oder sah, konnte unter uns bleiben.

»Dann streite ich alles ab.«

»Was denn?«, fragte ich. »Ich schmore hier jetzt schon seit über zehn Minuten und sehe langsam wie ein Hummer aus. Entweder du sagst mir, warum ich hier bin, oder ich bin weg.«

Ich fragte mich, warum er so darauf bestanden hatte, dass wir uns in seiner Sauna unterhielten. Zuerst hatte ich angenommen, er müsse vor seinem nächsten Start heute Nachmittag in Newbury noch ein paar Pfunde loswerden, aber vielleicht wollte er auch nur sichergehen, dass ich kein Aufnahmegerät dabeihatte. Normalerweise zeichnete ich Gespräche mit meinem Smartphone auf, doch das steckte in meiner Jackentasche, und die Jacke hing mit meinen anderen Sachen draußen an einem Haken.

Dave sah mich weiter an, als sei er noch unentschlossen.

»Gut«, sagte ich. »Das war’s.« Ich stand auf, schlang mir das Handtuch, auf dem ich gesessen hatte, um die Hüfte und stieß die Holztür der Sauna auf.

»Ich hab diese Woche ein Rennen verloren.«

{11}Ich war schon mit einem Fuß draußen. »Und? Man kann ja nicht immer gewinnen.«

»M-m«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Ich hab’s absichtlich verloren.«

Ich blieb stehen und drehte mich zu ihm um. Die meisten Bestimmungen der Rennordnung kannte ich auswendig. Laut Nr. (D) 45.1 war ein Jockey unbedingt verpflichtet, die Gewinnaussichten seines Pferdes im Rennen nach besten Kräften wahrzunehmen und zu fördern, d.h. alles dafür zu tun, dass es die bestmögliche Platzierung erreicht.

Wer absichtlich ein Rennen verlor, setzte sich mutwillig über diese Bestimmung hinweg, ein Verstoß, der mit bis zu zehn Jahren Ausschluss vom Rennbetrieb geahndet werden konnte.

»Warum?«, fragte ich.

Er gab keine Antwort. Er ging einfach wieder dazu über, den Boden zwischen seinen Füßen zu betrachten.

»Warum?«, fragte ich noch einmal.

»Vergiss, was ich gesagt hab.«

»Das geht schlecht«, erwiderte ich.

Man konnte die Zeit nicht zurückdrehen. So wenig, wie man die Atombombe unerfunden lassen konnte.

Ich sah ihn an, aber er musterte weiter den Fußboden.

»Sollen wir nicht lieber raus aus der Scheißhitze und bei einem kühlen Bier alles besprechen?«

»Ich darf nichts trinken«, entgegnete er scharf, ohne den Kopf zu heben. »Nicht mal Wasser. Was meinst du denn, warum ich das hier mache? Ich muss zwei Pfund loswerden, damit ich Integrated im Hennessy reiten kann.«

»Trocknest du dann nicht aus?«

{12}»Das ist mein Normalzustand«, sagte er und lachte gezwungen. »Seit ich sechzehn bin, hungere ich jeden Tag. Ich weiß schon gar nicht mehr, wie ein richtiges Essen aussieht. Oder ein Bier. Ich trink seit Jahren überhaupt keinen Alkohol, viel zu viel Kalorien. Nicht, dass es mir groß fehlt, mir schmeckt das Zeug eh nicht.« Er lachte wieder, aber nur kurz. »Warum ich mir das antue, willst du wissen? Das ist eine verdammt gute Frage.«

Er stand auf, und wir gingen beide aus dem Holzverschlag heraus ins Kühle. Ich fragte mich, wie viele Leute wohl eine Sauna in ihrer Garage hatten und außerdem noch reichlich Platz für zwei teure Autos: einen silbernen Mercedes E-Class Saloon und ein dunkelgrünes Jaguar XK Sportcoupé, beide mit personalisiertem Kennzeichen.

Dave legte einen großen roten Schalter neben der Tür um.

»Diese Schwitzbude zu beheizen kostet bestimmt ein Vermögen«, sagte ich.

»Ich setze meine Stromkosten als Betriebsausgabe ab«, meinte er lächelnd. »Die Sauna ist für meine Arbeit unverzichtbar.«

»Wie oft gehst du da rein?«

»Jeden Tag. Früher bin ich dafür ins Fitnesscenter, aber die haben bei ihrer Sauna die Temperatur runtergeregelt, aus gesundheitlichen Gründen und wegen der Sicherheit.«

Er stieg aus dem Nylontrainingsanzug und stellte sich nackt auf die Waage.

»He, was ist das denn?« Ich wies auf einen hässlichen schwarzvioletten Kreis auf seinem Rücken.

»Da ist was auf mir gelandet«, sagte er lächelnd. »Hufabdruck.«

{13}Er schaute auf die Waage.

»Ich bin immer noch zu schwer«, seufzte er. »Kein Essen für mich heute Mittag, genau wie heute Morgen.«

»Aber irgendwas essen musst du doch wohl. Du brauchst die Energie.«

»Kann ich mir nicht erlauben«, sagte er. »Wenn ich bis heute Nachmittag um zwei nicht auf fünfundsechzigeinhalb Kilo bin, lässt der Scheißbesitzer mich nicht Integrated reiten, und das ist einer der besten Steepler im Land. Fürs Hennessy hat er ein unglaublich gutes Handicap, und wenn ich ihn heute nicht kriege und er gewinnt, kann ich es mir abschminken, dass ich ihn irgendwann noch mal zu reiten bekomme – dann kann ich mir vielleicht meine ganze Laufbahn abschminken.«

Die konnte er sich ohnehin abschminken, wenn er vorsätzlich Rennen verloren hatte.

»Erzähl mir von deinem nicht gewonnenen Rennen«, sagte ich.

»Ich muss unter die Dusche«, wischte er meine Bitte beiseite und ging ins Haus. »Du kannst im Gästebad duschen, wenn du willst. Die Treppe hoch rechts.«

Er lief nach oben, verschwand, wie ich annahm, in seinem Zimmer und schloss die Tür hinter sich.

Nicht zum ersten Mal fragte ich mich, was ich hier machte.

»Du musst sofort kommen, Jeff.« Das waren Daves Worte gewesen, als er mich an diesem Morgen um zehn vor sieben Uhr mit hörbarer Anspannung angerufen hatte. »Auf der Stelle. Ich muss mit dir reden. Jetzt gleich. Es ist dringend.«

»Können wir das nicht am Telefon besprechen?«, hatte ich gefragt.

{14}»Nein. Auf keinen Fall. Es ist viel zu wichtig. Das geht nur Auge in Auge.«

Dave Swinton war eines der ganz wenigen Mitglieder der Rennsportgemeinde, die ich als Freunde ansah. In der Regel mied ich den geselligen Umgang mit denen, die ich überwachen sollte, doch zwei Jahre zuvor hatten Dave und ich vierundzwanzig Stunden lang gemeinsam in einem saisonunüblichen Eissturm festgesessen, als wir nach dem Maryland Hunt Cup, nördlich von Baltimore, nach Hause fliegen wollten. Er war als Gastreiter dort gewesen, und mich hatte man eingeladen, um die Einführung eines neuen Dopingtests für amerikanische Hindernispferde zu überwachen.

Wir hatten eine Polarnacht in einem Provinzhotel ohne Heizung und Licht durchgestanden, da das Eis die Stromversorgung gekappt hatte. In Wolldecken eingemummt hatten wir vor dem lodernden Kamin gekauert, und wir hatten uns unterhalten.

Also war ich zu ihm gekommen, als er mich darum bat, hatte aufs samstagmorgendliche Ausschlafen verzichtet und mich in den Zug von Paddington nach Hungerford gesetzt, um dann mit dem Taxi zu Daves Haus am Stadtrand von Lambourn zu fahren.

Er hatte mit seiner Behauptung, absichtlich ein Rennen verloren zu haben, zwar ein Bombenei gelegt, aber wenn er nichts weiter dazu sagen wollte, war mein Ausflug für die Katz gewesen.

Ich ging in seine Küche und trank dankbar zwei Gläser kaltes Leitungswasser. Und hatte immer noch Durst. Wie Dave es fertigbrachte, nach diesem Saunagang nichts zu trinken, war mir schleierhaft.

{15}Ich duschte in Daves Gästebad, musste dann unten aber trotzdem gut zwanzig Minuten warten, bis er in Jeans, dunkelgrünem Polohemd und Turnschuhen, seiner üblichen Werktagskleidung, wieder auftauchte.

Während die meisten Jockeys nach wie vor in Schlips und Kragen zur Rennbahn kamen, um Besitzer und Trainer zu beeindrucken, verzichtete Dave Swinton schon lange auf solche Förmlichkeiten. Auf der Rennbahn ging es, abgesehen von Royal Ascot und dem Derby, heute im Allgemeinen viel lässiger zu als früher, und der derzeitige Champion Jockey war der Lässigste von allen.

»Ich fahr jetzt nach Newbury«, sagte er und schnappte sich eine Sporttasche, die im Flur lag. »Ich will vorm ersten Rennen den Kurs abgehen.«

Ich sah auf die Uhr. Es ging auf zehn zu.

»Ich bin mit Zug und Taxi gekommen«, sagte ich. »Kannst du mich mitnehmen?«

»Wohin?«

»Gern bis Newbury«, sagte ich. »Dann seh ich mir das Hennessy an und fahr anschließend mit dem Zug nach Hause.«

»Warum fährst du nicht mit dem Auto wie jeder andere auch?«, fragte er sichtlich irritiert.

»Ich hab keins«, sagte ich. »In London brauche ich kein Auto. Ich fahre mit dir.«

Er konnte schlecht nein sagen, aber ich sah ihm an, dass er nicht gerade glücklich darüber war. Was immer er mir heute früh um sieben Uhr noch hatte erzählen wollen, inzwischen hatte er es sich offensichtlich anders überlegt, und eine halbe Stunde mit mir zusammen im Auto zu verbringen {16}passte nicht in seine Pläne, ob wir nun Freunde waren oder nicht.

»Okay«, sagte er widerwillig. »Bist du so weit?«

 

Er fuhr den Jaguar mit hohem Tempo von Lambourn den Hungerford Hill hinauf, aber wenn er dachte, das Dröhnen des starken Motors würde mich vom Reden abhalten, hatte er sich schwer getäuscht.

»Erzähl mir von dem Rennen, das du nicht gewonnen hast.«

»Bitte, Jeff. Du solltest es doch vergessen.«

»Das kann ich nicht«, sagte ich.

»Versuch’s.« Er fuhr stumm am The Hare Restaurant vorbei und weiter zur M4, wobei er mühelos eine Reihe langsamerer Autos überholte.

»Welches Rennen war’s?«, fragte ich.

Er beachtete mich nicht. Wir bogen nach Osten ab und rauschten auf die Schnellstraße.

»Los, Dave, du hast mich extra vorbeikommen lassen, weil du mir was erzählen wolltest, das sich am Telefon nicht sagen ließ. Jetzt bin ich da. Rede mit mir.«

Er konzentrierte sich stur auf die Straße und blieb stumm, während der Tacho flugs auf über hundertsechzig kletterte.

»Bist du irgendwie in Schwierigkeiten?«, fragte ich, aber wenn es stimmte, was er mir gesagt hatte, war er das mit Sicherheit.

Er ging vom Gas und fuhr nach links rüber. Einen fiesen Augenblick lang dachte ich, er wollte auf dem Seitenstreifen halten und mich rauswerfen, aber das tat er nicht. Er fuhr ganz friedlich mit hundertdreißig die Lkw-Spur entlang.

{17}»Jeff, kann ich im Vertrauen mit dir sprechen?«, fragte er erneut.

»Du weißt, dass das bei meinem Job nicht geht.«

»Ich mache mir aber eher Sorgen um meinen Job.«

Wir nahmen die Ausfahrt Newbury, und ich wartete still, während er die Ampeln am Kreisverkehr hinter sich brachte.

»Was du mir sagst, werde ich so vertraulich wie möglich behandeln«, sagte ich, um ihn zum Weiterreden zu ermutigen, »aber versprechen kann ich nichts.«

Ihm musste klar sein, dass ich verpflichtet war, jeden Regelverstoß dem Disziplinarausschuss der BHA zu melden.

Er seufzte schwer. »Ich brauche deine Hilfe.«

»Erzähl.«

»Ich werde erpresst.«

»Von wem?«, fragte ich, so ruhig ich konnte.

»Keine Ahnung«, sagte er. »Von jemandem, der über meine Finanzen besser Bescheid weiß, als er sollte.«

»Ist denn etwas mit deinen Finanzen nicht in Ordnung?«

»Na, klar ist damit alles in Ordnung.« Er zögerte. »Aber die scheiß Steuern sind eben kompliziert. Vielleicht hab ich mir das etwas vereinfacht.«

»Indem du nicht alles angegeben hast?«

»Mag sein. Aber warum soll ich denn auch Geschenke versteuern?«

Es kam darauf an, ob die »Geschenke« nicht eher Zahlungen für geleistete Dienste waren.

»Wie viel machen denn die Geschenke aus, die du nicht angegeben hast?«

»Nicht viel«, sagte er. »Jedenfalls im Vergleich zu dem, was ich angebe.«

{18}Dave Swinton war der mit Abstand bestverdienende Jockey im britischen Galopprennsport. Als das öffentliche Gesicht des Sports hatte er jede Menge Werbe- und Sponsorenverträge. Sein Konterfei schmückte die »Der Rennsport braucht Euch!«-Poster einer großangelegten aktuellen Kampagne, die junge Leute dazu bewegen sollte, sich als Jockeys zu versuchen. Sein allgegenwärtiges grünes Polohemd trug das unverkennbare »Swoosh«-Logo eines führenden Sportartikelherstellers über Daves Namen auf der linken Brust, und beide Ärmel hatten Werbeaufnäher. Er verdiente zweifellos weit mehr mit Werbeverträgen als mit seinen Ritten.

»Wie viel?«, fragte ich noch einmal.

»Um die zweihundert.«

Ich lachte. »Das ist doch ein Klacks. Gib es einfach in deiner nächsten Steuererklärung mit an. Damit kann dich doch wohl keiner erpressen!«

»Zweihunderttausend.«

»Ach so.« Vorbei war’s mit dem Lachen.

»Ja. Aber ich gebe über eine Million an.« Schweigend überholte er eine Fahrzeugschlange vor einer Ampel und schwenkte im letzten Moment auf die richtige Fahrbahn ein, um links abzubiegen. »Und dann ruft irgend so ein Schwein an und sagt, ich muss ein Rennen verlieren, sonst verpfeift er mich bei der Steuerbehörde.«

»Und du hast keine Ahnung, wer es ist?«

»Leider nicht«, sagte er. »Sonst würde ich ihn umbringen.«

»Das wäre aber auch keine große Hilfe.«

»Mag sein, aber dann ginge es mir besser.«

{19}Er fuhr schweigend weiter, bis wir zur Rennbahn gelangten.

»Welches Rennen hast du verloren?«, fragte ich noch einmal, als wir auf den Parkplatz einbogen.

»Unter der Woche bin ich achtundzwanzigmal geritten und hab zehnmal gesiegt, also achtzehn Rennen verloren.«

»Komm mir nicht blöd, Dave«, sagte ich. »Du weißt, was ich meine.«

Er antwortete nicht.

Er stellte den Jaguar im Parkbereich für Jockeys ab.

»Soll ich dir einen Rat geben?«, fragte ich.

»Brauchst du nicht.«

Ich gab ihn ihm trotzdem. »Geh zum Finanzamt und sag, du hast in deiner Steuererklärung versehentlich was ausgelassen und möchtest das nachtragen. Zahl diese Steuern. Damit hat sich’s dann, und ich seh zu, dass ich vergesse, was du mir gesagt hast.«

»Und wenn ich nicht hingehe?«

»Dann bist du schön dumm. Wenn einer die Informationen hat, nutzt er sie auch. Er geht damit vielleicht nicht direkt zur Polizei, aber nutzen wird er sie. Vielleicht versucht er, sie an eine Zeitung zu verkaufen. Dann sitzt du echt in der Scheiße. Es ist viel besser, wenn du vorher zum Finanzamt gehst.«

»Für Geschenke sollte ich aber keine Steuern bezahlen müssen. Das sind ja in dem Sinn keine Einnahmen.«

Es klang, als wollte er eher sich selbst als mich davon überzeugen.

»Frag deinen Steuerberater, ob du sie angeben musst.«

»Scheiß auf meine Steuerberater«, sagte er und lehnte sich {20}in den Sitz zurück. »Denen darf man nichts erzählen, was das Finanzamt nicht erfahren soll. Ich bezahle sie, aber sie arbeiten ausschließlich für den Staat, wie es scheint, und sagen mir immer nur, was ich alles nicht absetzen darf, obwohl es für meine Arbeit unerlässlich ist.«

»Dann such dir andere Steuerberater. Und zwar sofort.«

Wer weiß, dachte ich, vielleicht war es sogar jemand von seinem Steuerbüro, der von der Hinterziehung wusste und einen kleinen Nebenverdienst herausschlagen wollte.

»Wie viel hat der Erpresser verlangt?«, fragte ich ihn auf dem Weg zum Eingang.

»Das ist ja das Komische«, sagte Dave. »Er wollte kein Geld, er hat nur gesagt, ich darf das Rennen nicht gewinnen.«

»Welches Rennen?«

Er schwieg.

{21}2

Dave Swinton und ich wurden vom Kassierer der Rennbahn durchgewinkt, der Dave erkannte und beinah einen Diener machte. »Morgen, Mr Swinton«, sagte er, ohne sich die Jockeykarte um Daves Hals groß anzusehen. Meinen Ausweis prüfte er genauer. Unter meinem Namen und meinem Foto stand in schwarzer Blockschrift BHA-Ermittler. Der Kassierer guckte böse. Polizisten mag anscheinend niemand, auch Rennsportpolizisten nicht.

»Wie ist der Erpresser mit dir in Kontakt getreten?«, fragte ich, als wir außer Hörweite waren.

»Er hat mich auf dem Handy angerufen.«

»Hast du seine Nummer gesehen?«

»Sie war unterdrückt.«

Naheliegend.

»Was hat er gesagt?«

»Dass ich ein Rennen verlieren soll.«

»Ja«, sagte ich etwas gereizt, »den Wortlaut wüsste ich gern. Was genau hat er gesagt?«

»Dass ich ein Rennen verlieren muss, sonst steckt er dem Finanzamt, dass ich teure Geschenke von Besitzern erhalten und sie nicht angegeben habe.«

»So hat er das formuliert?«

»Ja, nah dran.«

{22}»Er muss doch gesagt haben, welches Rennen du verlieren sollst.«

»Nur, dass ich nicht gewinnen soll auf …« Er brach ab.

»Auf?«, setzte ich nach.

»Lass mal.«

»Nein, Dave. Ich will dir doch nur helfen, verdammt noch mal.«

»Dann vergiss, was ich gesagt hab.«

Er eilte zum Waagegebäude und flüchtete sich in die Jockey-Umkleide. Theoretisch hätte ich ihm mit meinem BHA-Ausweis dahin folgen können, aber ich war mir sicher, es hätte nichts genützt. Und Freunde hätte ich mir damit auch nicht gemacht. Ich hatte zwar uneingeschränkten Zugang zu allen Teilen der Rennbahn, aber von dieser Berechtigung war, wenn überhaupt, äußerst sparsam Gebrauch zu machen. Wenn ich in die Privatsphäre der Jockeys eindrang, würde sich meine moralische Autorität bei ihnen schneller verflüchtigen als Äther auf der Kochplatte.

Stattdessen wanderte ich umher und genoss die Rennbahnatmosphäre am Morgen eines großen Rennens – gerade jetzt, in der vergleichsweise ruhigen Zeit, bevor das Gros der Rennbahnbesucher aus den Sonderzügen quoll, durch die Eingänge strömte, die Gaststätten füllte und die Spannung hochkochen ließ.

In Newbury war ich schon länger nicht gewesen, doch es blieb eine meiner Lieblingsbahnen. Das flache Gelände bot den Zuschauern auf den Rängen gute Sicht auf den gesamten Ablauf, und die lange Einlaufgerade mit ihren vier strammen Hindernissen stellte eine große Herausforderung für Pferd und Reiter dar.

{23}Die Schlussgerade in Newbury war nicht nur lang, sondern auch breit. Beides zusammen leistete einer optischen Täuschung Vorschub, die das Ziel immer näher erscheinen ließ, als es tatsächlich war, so dass die Unerfahrenen und Leichtsinnigen den Schlussspurt zu früh ansetzten, während die Ziellinie weiter am Horizont blieb und geduldigere Jockeys ruhig im Hintergrund auf ihre Chance lauerten.

Umgekehrt konnte auch zu langes Warten verhängnisvoll sein. Kein Jockey wird so verunglimpft wie der, der zu spät rauskommt und einen schnellen Finisher nicht mehr abfangen kann.

Eigentlich hatte ich ein arbeitsfreies Wochenende, doch auf einer Rennbahn war ich nie ganz außer Dienst. Ich lief mit weitgeöffneten Augen und Ohren herum, damit mir nichts entging, das anders war, als es sein sollte. Reine Gewohnheit, nehme ich an, die ich nicht abstellen konnte und auch nicht unbedingt abstellen wollte. Ich ging zur Berkshire-Tribüne und von dort zum Buchmacherplatz, wo die Bookies ihre Stände herrichteten, die elektronischen Kurstafeln aufstellten und ihre Computer an das WLAN der Rennbahn anschlossen. Wie viel sich doch geändert hatte seit den Schiefertafeln und den großen Rechnungsbüchern, die diesen Herrschaften ihren Namen gegeben hatten.

Ich ging auf die Tribüne, um mich aufzuwärmen und mir einen Kaffee zu holen. Ich hatte immer noch mächtig Durst nach dem Saunaaufenthalt bei Dave. Wie er es jetzt ohne was zu trinken aushielt, war mir ein Rätsel, zumal er gerade im Trainingsanzug um die dreieinhalb Kilometer lange Bahn lief, um vielleicht noch ein halbes Kilo Flüssigkeit loszuwerden.

{24}Die Ränge füllten sich rasch, als die über siebzehntausend erwarteten Zuschauer scharenweise eintrafen, und ich lief zwischen ihnen umher und horchte auf Informationsschnipsel, die sich als nützlich erweisen könnten.

»Jeff Hinkley?«, rief jemand hinter mir.

Ich drehte mich um. Ein gutgekleideter untersetzter Mann mit zurückgekämmten grauen Haaren kam mit ausgestreckter Hand auf mich zu. Wir begrüßten uns.

»Mr Smith«, sagte ich. »Schön, Sie wiederzusehen.«

»Sagen Sie doch bitte Derrick.«

Derrick Smith war ein führender Besitzer, zu dessen zahlreichen Rennpferden auch der große Camelot, Sieger des Two Thousand Guineas und des Derby, gehört hatte.

Derrick machte mich mit seinem Begleiter bekannt, einem großen grauhaarigen Mann im Tweedanzug und einem eleganten hellbraunen Mantel mit Samtkragen.

»Jeff Hinkley, das ist Sir Richard Reynard.« So, wie er das sagte, nahm ich an, ich hätte wissen müssen, wer Sir Richard Reynard war.

Ich wusste es nicht.

»Freut mich sehr«, sagte ich und gab ihm die Hand.

»Geht mit nächster Woche alles klar?«, fragte Derrick.

»Unbedingt«, sagte ich. »Vielen Dank. Ich freue mich darauf.«

Er hatte mich für den kommenden Samstag zum Lunch in seiner Loge in Sandown eingeladen, als Dank für die Aufdeckung und Vereitelung der geplanten Entführung eines seiner Pferde am Vorabend des Royal Ascot im Juni.

»Gut«, sagte er.

»Haben Sie heute einen Starter?«, fragte ich Derrick.

{25}»Nein. Richard und ich sind als Gäste von Hennessy hier. Kommen Sie doch mit hoch und trinken Sie was mit uns. Es hat sicher niemand was dagegen.«

»Dafür bin ich wohl kaum passend angezogen.« Sie trugen Anzug, ich nur eine Sportjacke und keinen Schlips.

»Unsinn. Sie sehen gut aus.«

Zu dritt fuhren wir mit dem Aufzug zur vierten Ebene der Berkshire-Tribüne hinauf und betraten die große Hennessy-Cognac-Besucherlounge, wo mir ein Champagner-Cocktail in die Hand gedrückt wurde.

Der Raum war bereits halb voll, und viele Gesichter waren mir bekannt.

Umgekehrt kannten mehrere Gäste offensichtlich auch mich. Die wenigen, mit denen ich schon beruflich – im Rahmen von Ermittlungen – zu tun gehabt hatte, warfen mir ein paar vorsichtige Blicke herüber.

»Godfrey«, rief Derrick dem Präsidenten der Cognac-Brennerei zu, fasste ihn am Arm und nötigte ihn, sich uns zuzuwenden, »kennen Sie Jeff Hinkley? Das ist der Mann, der in Ascot mein Pferd gerettet hat.«

Godfrey, offiziell bekannt als Viscount Marylebone, war unser Gastgeber. Er ergriff meine Hand mit einem verwirrten Gesichtsausdruck, der mir aussah, als versuchte er verzweifelt, sich die Gästeliste in Erinnerung zu rufen.

Ich stand nicht drauf.

»Danke für das Getränk, mein Lord«, sagte ich. »Ich bin mit Mr Smith gekommen, aber ich bleibe nicht lange.«

Godfrey Marylebone war die Erleichterung deutlich anzumerken. »Ach so. Freut mich«, sagte er, blickte dabei aber schon an mir vorbei zu anderen, geladenen Gästen. {26}Er ging zu ihnen hinüber. Derrick Smith hatte sich derweil einen neuen Gesprächspartner gesucht und Sir Richard mitgenommen.

Ich nutzte die Gelegenheit, um auf den Aussichtsbalkon hinauszugehen. Von einer so erhöhten Warte aus bekam ich eine Rennbahn nicht oft zu sehen. Meistens war ich hinter irgendwelchen niederen Sterblichen auf den unteren Ebenen her.

Zwei Männer trotzten da draußen der Kälte und steckten im konzentrierten Gespräch die Köpfe zusammen. Der kleinere der beiden war sehr wütend auf den anderen und machte keinen Hehl daraus. »Sie sind so ein gottverdammter Idiot!«, hörte ich ihn sagen. »Sie dürften überhaupt nicht hier sein. Sie dürften noch nicht mal im Land sein. Das ist viel zu riskant.«

»Das erfährt doch nie jemand«, sagte der andere.

»Ich weiß es, und das ist schon schlimm genug«, erwiderte der erste.

In dem Moment bemerkten sie beide offenbar meine Anwesenheit und verstummten sofort. Der eine drehte sich sogar ostentativ weg, damit ich sein Gesicht nicht sehen konnte.

»Entschuldigen Sie«, sagte ich. »Lassen Sie sich nicht von mir stören. Ich wollte nur etwas frische Luft schnappen.«

Da sie bloß abwartend dastanden, ging ich wieder hinein.

Langsam wurde es in dem Raum richtig voll, und man steuerte auf die zum Lunch gedeckten Tische zu. Zeit abzuhauen, dachte ich.

Ich sah mich nach Derrick Smith und Lord Marylebone um, von denen ich mich verabschieden wollte, aber da sie {27}auf der anderen Seite der Loge in Gespräche vertieft waren, arbeitete ich mich zum Ausgang vor, um unauffällig zu verschwinden. Sir Richard Reynard stand dort für sich allein neben der Garderobe.

»Grüßen Sie bitte Mr Smith von mir«, sagte ich zu ihm.

Er sah mich an und nickte.

Als ich mich der Tür zuwandte, sah ich durch die Fenster noch einmal zum Balkon. Die beiden Männer diskutierten immer noch lebhaft, doch diesmal konnte ich die Gesichter von beiden sehen.

Ich zückte mein Smartphone und machte schnell eine Fernaufnahme. Als ich das Handy hochhielt, hatten sie zufällig genau zu mir rübergeschaut, so dass ich ihre Gesichter gut draufbekam.

Man konnte nie wissen, wann sich so etwas mal als nützlich erwies.

 

Der Verzicht aufs Mittagessen und der Lauf um die Rennbahn schienen ihren Zweck erfüllt zu haben, denn Dave Swinton hatte offensichtlich die fünfundsechzigeinhalb Kilo geschafft.

Um Viertel vor drei sah ich, wie er in Integrateds Farben, Schwarz, Rot und Weiß, aus der Waage kam und im Führring zum Besitzer und Trainer des Pferdes stieß.

Der Hennessy Cognac Gold Cup, immer am letzten Samstag im November in Newbury ausgetragen, gehört zu den renommiertesten Rennen im Jahr.

Die beiden Jagdrennen, die jeder Besitzer, Trainer und Jockey unbedingt gewinnen möchte, sind der Cheltenham Gold Cup und das Grand National, aber an dritter Stelle {28}käme, zusammen mit dem King George VI in Kempton am Zweiten Weihnachtstag und dem Queen Mother Champion Chase, vielleicht schon das Hennessy.

Dementsprechend war die Mischung aus Spannung und Vorfreude im Führring von Newbury greifbar, man sah Besitzer von einem Fuß auf den anderen treten, zu nervös, um einfach ruhig da auf dem Gras zu stehen.

Das galt auch für die Jockeys.

Für den Nachwuchs war es ein Tag, der über die Zukunft entscheiden konnte, während die alten Hasen besorgt nach den Jungspunden äugten, die ihnen ohne Zögern oder Wimpernzucken den Job wegnehmen würden.

Schließlich läutete ein Funktionär die Glocke zum Aufsitzen, worauf die Jockeys der Reihe nach ihren vorgesehenen Platz auf dem Rücken der Pferde einnahmen und sich endgültig von kleinwüchsigen Randfiguren in Götter verwandelten.

Ich stellte mich ans Geländer, als die Pferde vom Ring hinaus zum Geläuf gingen.

»Viel Glück«, rief ich Dave zu, als er vorbeikam.

Er sah mich lächelnd an, sagte aber nichts. Ich fand, er sah schlecht aus mit den tief in den Höhlen liegenden Augen, den eingefallenen Wangen und den schmalen Lippen – so unterernährt und ausgetrocknet, wie er war.

Er trat zum vierten Mal an diesem Nachmittag an, und die meisten normalen Männer wären schon von einem dieser Rennen geschlaucht gewesen. Dave hingegen hatte weder gefrühstückt noch zu Mittag gegessen und nicht mal einen Schluck Wasser getrunken.

Kein Wunder, dass er schlecht aussah.

 

{29}Integrated gewann das Hennessy in einem superknappen Einlauf mit einer Nasenlänge, wobei Dave Swinton seine ganze Zauberkraft einsetzte, damit das Pferd genau im richtigen Moment den Hals lang machte, um vor dem Favoriten durchs Ziel zu gehen.

Das Publikum stand Kopf und jubelte auch noch, als Dave Integrated auf den Absattelplatz für den Sieger manövrierte, jetzt nicht mehr mit Hungergesicht, sondern dank eines heftigen Adrenalinschubs glücklich strahlend.

Er grinste auch noch, als er auf dem Rückweg zur Waage mit dem Sattel überm Arm an mir vorbeistiefelte.

»Deswegen mach ich das«, sagte er. »Einfach Wahnsinn.«

»Verlieren kam da also nicht in Frage?«, sagte ich.

Sein Grinsen verschwand einen Moment lang, kehrte aber gleich wieder, auch wenn es nicht mehr ganz bis zu den Augen reichte.

»Auf keinen Fall.«

{30}3

Den zweiten Tag hintereinander weckte mich Dave Swinton vor sieben Uhr früh mit einem Anruf.

»Jeff, ich muss mit dir reden.«

»Das hast du gestern auch gesagt«, antwortete ich.

»Ja, ich weiß. Tut mir leid. Aber ich muss jetzt wirklich mit dir reden.«

»Sprich am Telefon mit mir«, sagte ich.

»Nein. Das geht nur Auge in Auge.«

»Dann musst du zu mir nach London kommen. Du hast gestern meine Zeit verschwendet, und ich lass nicht zu, dass das noch mal passiert.«

»Ich kann nicht nach London kommen. Ich hab nachher fünf Ritte und muss davor in die Sauna. Hab das Hennessy gestern mit einem Steak gefeiert und Fett angesetzt.«

Er konnte mir sonst was über sich erzählen, aber fett war er bestimmt nicht.

»Hör zu, Dave«, sagte ich, »noch mal extra nach Lambourn zu kommen hat für mich nur einen Sinn, wenn du mir dann auch sagst, was los ist. Und zwar mit allem, was dazugehört. Das gestern war reine Zeitverschwendung.«

»Du hast gesehen, wie ich den Hennessy Cup hole – das war keine Zeitverschwendung.« Ich sah ihn förmlich am anderen Ende grinsen.

{31}»Na gut. Das war schon was«, gab ich zu. »Toller Sieg.«

»Du kommst also?«

Ich seufzte.

»Versprich mir, dass du etwas Wichtiges zu erzählen hast.«

»Hab ich«, sagte er. »Zum Beispiel weiß ich, wer es ist.«

»Wer was ist?«, fragte ich.

»Das, worüber wir gestern gesprochen haben. Ich weiß, wer es ist.«

Ich nahm an, er sprach von dem, der ihn erpresste.

»Dann sag es mir jetzt, am Telefon.«

»Du machst wohl Witze, Alter«, sagte er. »Den Dingern traue ich nicht mehr.«

Das konnte man ihm kaum verdenken. Dave Swinton gehörte zu den Prominenten, die schon einmal von einem Revolverblatt abgehört worden waren.

»Okay«, sagte ich. »Aber wehe, du verarschst mich noch mal.«

»Keine Sorge«, sagte er. »Ehrenwort. Aber komm gleich. Ich steh in Towcester im ersten Rennen, das ist um Viertel vor eins, da muss ich allerspätestens um halb elf hier weg sein.«

 

Sonntags fuhren die Züge nicht so oft wie an Sonnabenden, und in Reading musste ich in einen Bummelzug umsteigen, der eine Ewigkeit brauchte, um nach Hungerford zu kommen.

Vor dem Bahnhof wartete ein einziges Taxi, und in der Unterführung vom Bahnsteig zur Straße setzte ich mich beinah ebenso knapp gegen einen potentiellen anderen Fahrgast durch, wie Integrated das Hennessy gewann.

{32}»Ich fahre nach Lambourn«, sagte ich dem Verlierer, einem weißhaarigen Mann mit Stock, den ich auf Anfang siebzig schätzte. »Möchten Sie mitfahren?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, danke, ich muss in die andere Richtung.«

Ich war fast geneigt, dem Älteren das Taxi zu überlassen, aber wenn ich mich noch mehr verspätete, lief ich ernstlich Gefahr, Dave vollends zu verpassen. Leicht beschämt stieg ich ein und schlug die Tür zu.

»Nur ich hab heute Taxidienst in Hungerford«, sagte der Fahrer im Losfahren. »Er wird hier ziemlich lange stehn – bis ich zurück bin, wenn er Pech hat.«

Wollte der Fahrer, dass ich mir noch mieser vorkam? Es war ihm gelungen.

 

Das Taxi hielt vor Daves weit offenstehender Haustür.

Ich war versucht, dem Fahrer zu sagen, er solle auf mich warten, doch dann fiel mir der alte Mann am Bahnhof ein. Also zahlte ich, und das Taxi schlingerte mit auf der Kieseinfahrt leicht durchdrehenden Rädern davon. Dave würde mich auf dem Weg zur Rennbahn Towcester am Bahnhof absetzen müssen.

»Jemand da?«, rief ich durch die offene Tür.

Es kam keine Antwort.

Ich trat ein, rief noch einmal. »Dave! Ich bin’s, Jeff!«

Keine Reaktion. Vielleicht hatte er mich nicht gehört. Es war ein großes Haus, das Dave einst mit einer attraktiven jungen Frau geteilt hatte, in der Hoffnung und Erwartung, mit ihr Kinder zu bekommen, aber sie hatte ihn längst verlassen, und jetzt bewohnte er diese Villa allein.

{33}Ich ging durch den langen Flur in die Küche. Auch dort war niemand.

»Dave«, rief ich laut noch einmal.

Immer noch keine Antwort.

Er muss in der Sauna sein, dachte ich. Deshalb hört er mich auch nicht.

Ich öffnete die Tür vom hinteren Flur zur Garage und spürte sofort die Hitze, denn die Saunatür stand offen.

Ich zog meine Steppjacke aus und hängte sie über einen Fahrradlenker.

»Dave«, rief ich erneut. »Hier ist Jeff.«

Ich ging zur Saunatür und steckte den Kopf rein. Da war niemand.

Gerade wollte ich mich umdrehen, da beförderte mich ein heftiger Stoß von hinten der Länge nach auf die heißen Holzbänke.

»He!«, rief ich. »Was soll das denn?«

Aber es kam keine Antwort. Ich hörte nur, wie die Holztür der Sauna hinter mir zugeknallt wurde.

Ich wollte sie aufstoßen, aber es ging nicht.

»Mach die Tür auf«, sagte ich laut und hämmerte mit der Faust dagegen.

Keine Reaktion.

»Mach bitte die Tür auf, Dave.« Ich schlug einen viel ruhigeren Ton an, bekam aber dennoch keine Antwort.

Mir war heiß. Verdammt heiß.

Ich zog den Kaschmirpullover aus, den ich zum Schutz vor der Endnovemberkälte trug, aber das vertrieb nicht die sengende Hitze aus Nase, Mund und Brustkorb.

Das Thermometer an der Wand zeigte 110 Grad Celsius {34}an, fünf Grad mehr als bei meinem Saunastündchen gestern, und schon das hatte ich kaum ausgehalten.

Ich warf mich gegen die Tür, doch sie gab keinen Millimeter nach.

»Mach die scheiß Tür auf«, rief ich noch einmal, doch wieder kam keine Antwort.

Ich hörte Schritte. Jemand war in der Garage zugange.

»Dave«, rief ich, »bist du das? Lass mich raus. Hier drin ist es zu heiß, verdammt noch mal.«

Wieder keine Antwort, aber ich wusste, da war jemand. Ich hörte, wie das Garagentor geöffnet wurde.

»Lass mich raus!«, rief ich, und diesmal hämmerte ich mit der Faust gegen die Holzwand der Sauna.

Ein Wagenmotor wurde angelassen, und sein Geräusch erfüllte plötzlich den Raum um mich her. Das sanfte Schnurren des Mercedes, dachte ich, nicht das Dröhnen des Jaguars. Es wurde leiser, als der Wagen rückwärts aus der Garage fuhr, und noch viel leiser, als ich hörte, wie das Garagentor wieder geschlossen wurde.

»Lass mich raus!«, rief ich und hämmerte dabei gegen die Saunatür, doch niemand tat mir den Gefallen.

Mein Angstpegel stieg beträchtlich, als ich hörte, wie der Wagen davonfuhr – wer immer mich in diesen Glutofen gesperrt hatte, überließ mich mir selbst.

Ich klopfte meine Hosentaschen nach meinem Handy ab, wusste aber, dass es in meiner Jacke war, und die hing über dem Fahrrad draußen in der Garage.

Mittlerweile schwitzte ich stark, und meine Kleider wurden nass und klebten mir am Körper. Ich zog Hemd, Hose, Schuhe und Socken aus, so dass ich nur noch meine {35}Unterhose trug, aber kühler wurde mir dadurch auch nicht. Eher noch wärmer von der ganzen Anstrengung.

Ich musste raus aus der Hitze, und zwar bald.

Mein Herz klopfte schon stark, weil es mehr Blut in meine Gliedmaßen pumpte, um meine Kerntemperatur zu verringern. Leider mit wenig Erfolg, denn die Saunahitze machte das Blut unter der Haut immer heißer, und der Kreislauf trug die Hitze zum Herz zurück und heizte den Körperkern auf, so dass das Herz nur wieder noch schneller schlug.

Das war eine positive Rückkopplungsschleife, die erst durchbrochen würde, wenn mein Herz den aussichtslosen Kampf aufgab und zu schlagen aufhörte, oder wenn mein Gehirn zu kochen anfing. Beides wäre mein Tod.

Ich warf mich gegen die Tür, rammte sie mit der Schulter, doch wieder gab sie nicht nach. Ich versuchte es mit Treten, aber auch das half nicht. Mir wurde davon nur heißer.

Und ich hatte Durst.

Ein etwa zu einem Viertel mit Wasser gefüllter kleiner Holzeimer mit Holzkelle stand auf dem Fußboden. Ich kniete mich hin und trank etwas von dem heißen Wasser aus der Kelle. An der Trockenheit in meinem Mund änderte es wenig.

Ich war erst seit ungefähr fünf Minuten in der Sauna, doch meine Zeit lief schon ab. Wenn ich nicht bald aus dieser Hitze herauskam, war es zu spät.

Okay, dachte ich, Zeit für eine Strategie.

Wenn ich nicht rauskonnte, musste ich die Wärmequelle zerstören.

Ein nach oben hin offener Metallkasten stand in der Ecke {36}der Sauna, mit einer Grundfläche von vielleicht dreißig Quadratzentimetern und einer Höhe von fünfundsiebzig Zentimetern. Er war bis zum Rand mit etwa faustgroßen grauen Steinen gefüllt, die viel zu heiß waren, um sie anzufassen.

Ich suchte nach einem Stromkabel an dem Kasten, aber er war genau in die Ecke eingepasst, der Strom kam direkt aus der Wand.

Ich wollte den Kasten wegrücken, doch da er zum Anfassen zu heiß war, trat ich mit voller Wucht dagegen, aber auch damit bewirkte ich nichts.

Er verströmte weiter Hitze.

Mit Hemd und Pullover als Küchenhandschuhen nahm ich die Steine heraus und legte sie auf eine der gebleichten Holzbänke. Es waren zwanzig Steine auf einer Blechablage. Ich versuchte, die Finger um das Blech zu legen, aber für die bloßen Finger war es viel zu heiß, und mit Stoff umwickelt waren meine Finger zu dick und ungelenk.

Ich nahm den Hausschlüssel aus meiner Hosentasche und hebelte das Blech damit hoch.

Darunter befanden sich vier Heizspiralen, wie man sie aus Elektroherden kennt, nur waren sie hier vertikal statt horizontal angebracht, und alle waren glühend heiß.

Selbst mit meinem Handschuhersatz konnte ich sie beim besten Willen nicht anfassen. Die Hitze drang sofort durch den Stoff, und mein eines Hosenbein fing sogar Feuer. Mit meinem Schuh klopfte ich die Flammen auf dem Boden aus.

Inzwischen war ich verzweifelt.

Durch das Herausnehmen der Steine und des Blechs war alles nur noch schlimmer geworden, da die Hitze jetzt direkt von den Heizelementen ausstrahlte.

{37}Ich war versucht, den Eimer Wasser über die Spiralen zu schütten in der Hoffnung, damit einen Kurzschluss auszulösen, aber vielleicht brauchte ich das Wasser noch zum Trinken.

Ich ergriff einen Stein und schleuderte ihn mit Wucht auf die Heizspiralen. Eine verbog sich leicht, glühte aber weiter.

Ich warf noch einen Stein und dann einen dritten. Es reichte nicht.

Die Hitze wurde mir zu viel, und allmählich geriet ich in Panik.

Beruhig dich, sagte ich mir, atme mal tief durch.

Ich hätte meinen Rat gern beherzigt, aber die Luft war so heiß, dass ich heftig husten musste.

Ich atmete wieder langsam und flach. Irgendwie hatte mir der Hustenanfall geholfen, mich auf die vorliegende Problematik zu konzentrieren statt auf das furchtbare Ende, das mir drohte.

Ich zog Socken und Schuhe wieder an, stellte mich auf eine Bank und trat von oben auf die drei Steine, die jetzt auf den Heizelementen lagen. Schon roch ich den schmelzenden Gummi an den Sohlen der Turnschuhe.

Ein Element ging aus, und das gab mir den Mut, weiterzumachen.

Ich sprang mit beiden Füßen auf die Steine, und alle Heizspiralen knickten ein.

Es blitzte gewaltig in dem Kasten unter mir, und alles wurde dunkel. Offensichtlich hatte ich einen Kurzschluss verursacht, und die Sicherung war rausgeflogen. Die Heizelemente gingen aus, aber leider auch die Wandbeleuchtung, und die Sauna lag im Dunkeln. Dieser Nachteil wurde {38}allerdings mehr als aufgewogen durch die Erleichterung darüber, dass keine Hitze mehr nachkam.

Nicht, dass meine Sorgen damit vorbei gewesen wären – weit gefehlt. Denn etwas in dem Metallkasten verbrannte mir das rechte Bein, meine Kerntemperatur war nach wie vor extrem hoch, und mein Herz klopfte so schnell, dass es mir aus dem Brustkorb zu springen drohte.

Und ich schwitzte immer noch stark.

Schnell stieg ich aus dem Kasten, tastete mich auf die Bank zurück, von dort zum Fußboden und legte mich auf die Holzlatten.

Da war es am kühlsten.

Nach und nach fiel die Temperatur.

Das merkte ich daran, dass ich unglaublicherweise zu zittern anfing.

Ich tastete im Dunkeln nach meinem Hemd und zog es an.

Zeit, aus dem Gefängnis herauszukommen.

{39}4

Als meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten, bemerkte ich, dass doch ein wenig Licht in die Sauna schien. Um die Tür herum verlief ein winziger Spalt, und auf der Rückseite schloss die Bretterwand nicht ganz dicht ab, so dass ein schmaler Lichtfitzel durchkam.

Ich hielt meine Uhr an den breitesten Spalt bei der Tür. Halb elf. Seit etwa einer halben Stunde war ich in diesem Schwitzkasten, die meiste Zeit bei einer Temperatur über dem Siedepunkt von Wasser – und von Blut.

Ein Wunder, dass ich überhaupt noch denken konnte.

Aber ich dachte nach.

Wie kam Dave Swinton dazu, mich bei Höchsttemperatur in seiner Sauna einzusperren und davonzufahren? Ihm musste klar sein, dass er mein Leben damit ernsthaft gefährdete. Selbst wenn ich mein Handy hätte benutzen können, hätte die Polizei wahrscheinlich über zwanzig Minuten gebraucht, um mir zu Hilfe zu kommen. Bis dahin wäre ich tot gewesen, wenn ich die Heizelemente nicht ausgeschaltet hätte.

Was hatte er davon, wenn er mich umbrachte?

Klar, dann könnte ich ihn nicht beim BHA-Disziplinarausschuss anzeigen, weil er vorsätzlich ein Rennen verloren hatte, aber das wäre doch wohl das kleinste Problem, wenn er dafür eine Leiche in seiner Sauna erklären müsste.

{40}Es ergab keinen Sinn.

Jetzt musste ich sehen, dass ich hier rauskam – am besten, bevor Dave wieder erschien, um Nägel mit Köpfen zu machen.

Aber wie?

Erneut versuchte ich, die Tür aufzustoßen, doch sie gab nicht nach. Auch nicht, wenn ich mich mit voller Wucht dagegen warf.

Ich fragte mich, wie lange es dauern würde, bis jemand mein Fehlen bemerkte.

Es war Sonntag, und die BHA-Zentrale in London war geschlossen, auch wenn es darauf nicht ankam. Ich hatte zwar meinen Schreibtisch in der Zentrale, arbeitete aber viel außerhalb, und es war keineswegs ungewöhnlich, dass ich tagelang, mitunter sogar wochenlang, nicht dort auftauchte.

Vor einem Jahr hätte meine damalige Verlobte Lydia noch meine Abwesenheit bemerkt, aber das war einmal – Lydia war nicht mehr Teil meines Lebens.

Meine Schuld, nehme ich an.

Ich hatte so lange gezaudert, gezögert und mich vorm Heiraten gedrückt, dass Lydia, als ich mich endlich dazu durchgerungen hatte, die Ehe einzugehen, sich schon anderweitig umschaute.

Und ich hatte es nicht kommen sehen.

Ich dachte, alles sei in Ordnung, außer dass ihr erklärtermaßen mein Beruf nicht gefiel. Seinetwegen war es zunehmend zu Reibungen zwischen uns gekommen. Sie fand ihn zu gefährlich, und damit hatte sie vielleicht nicht ganz unrecht, wenn man bedachte, wie ich gerade wieder in der Klemme saß.

{41}Aber sie hatte mir kein Ultimatum gestellt oder so etwas. Von Entweder ich oder dein Beruf war keine Rede.

Im vorigen Januar kam ich eines Tages nach Hause und sah, dass sie einfach ihre Sachen gepackt hatte und verschwunden war. In einem auf dem Kaminsims zurückgelassenen Brief schrieb sie, es tue ihr sehr leid, aber sie habe jemanden mit einer weniger gefährlichen Anstellung kennengelernt und werde zu ihm ziehen – vielen Dank für die fünf tollen Jahre. Mit im Briefumschlag lag der Verlobungsring, den ich erst acht Monate zuvor für sie gekauft hatte.

Ich weiß noch, wie ich dastand und immer wieder wie vor den Kopf geschlagen den Brief las. Auch wenn ich erst nach allzu langer Zeit um ihre Hand angehalten hatte, war ich doch fest entschlossen gewesen, und wir hatten schon überlegt, wo und wann die Hochzeit stattfinden sollte.

Zuerst war ich wütend gewesen.

Aber ich ärgerte mich mehr über mich selbst als über Lydia. Wieso hatte ich nichts mitbekommen? Ich war verdammt noch mal Ermittler, gewohnt, die Realität aus bruchstückhaften Hinweisen zusammenzupuzzeln, und doch hatte ich nicht bemerkt, was direkt vor meiner Nase ablief.

Ich hatte versucht, sie zurückzuholen, aber was passiert war, war passiert, unser gegenseitiges Vertrauen war erschüttert, und es führte kein Weg zurück.

Ich verbrachte sogar eine Unmenge Zeit damit, möglichst viel über ihren Neuen herauszufinden, einen Rohstoffhändler namens Tony Pickering, der an der Metallbörse in der Leadenhall Street im Herzen der Londoner City arbeitete.

Vermutlich war ich neugierig zu erfahren, was er mir in Lydias Augen voraushatte.

{42}Geld zum Beispiel. Als Börsenmakler verdiente er wahrscheinlich ein Vielfaches von dem, was ich bei der BHA bekam, und Familienvermögen hatte er auch.

Ich redete mir ein, das Geld allein könne es nicht gewesen sein, sah aber auch nicht, was es sonst hätte sein können. Ich wäre bei seinem Job vor Langeweile umgekommen – Derivate von Tausenden Tonnen noch ungeförderten Kupfers für unvorstellbar hohe Summen zu kaufen und gleich wieder loszuschlagen in der Hoffnung, dass der Verkaufspreis ein klein wenig über dem Kaufpreis lag und eine »Marge«, also einen Gewinn hergab.

Dabei bekam er niemals Kupfer zu Gesicht. Der ganze Handel spielte sich auf Papier oder am Bildschirm ab, und es hätte für meine Begriffe ebenso gut um Knöpfe gehen können.

So jemanden hatte Lydia mir vorgezogen?

Das Klingeln meines Handys holte meine schweifenden Gedanken in die Realität zurück. Ich hörte es durch die Holzwände der Sauna, verlockend nah und doch so unerreichbar.

Es klingelte wie immer sechsmal, bevor es auf Voicemail umsprang.

Wer mich da wohl anrief?

Faye vielleicht.

Faye war meine zwölf Jahre ältere große Schwester und langjährige Ersatzmutter nach dem Tod unserer leiblichen Mutter, die starb, als ich erst acht war. Sie rief mich immer noch regelmäßig an, um sicherzugehen, dass ich auch genug aß und mich hinter den Ohren wusch, obwohl ich jetzt zweiunddreißig war und sie ihre eigenen Probleme hatte, die weitaus gravierender waren.

{43}Das Telefon klingelte erneut.

Sicher die Voicemail-Benachrichtigung. Na toll.

 

Die Sauna war stabil gebaut – viel zu stabil für meinen Geschmack.

Es war ein auf den Betonboden der Garage gesetzter Kiefernholzwürfel mit einer Seitenlänge von je zwei Metern.

Ich versuchte, das ganze Ding hochzustemmen, aber es ließ sich nicht bewegen. Seitwärts über den Boden schieben konnte ich es auch nicht.

Als Nächstes versuchte ich, die Wände in den Winkeln auseinanderzudrücken, ohne Erfolg. Ich legte mich sogar auf die obere Bank und versuchte, die Decke mit den Füßen loszustemmen, aber sie gab selbst unter wütenden Tritten nicht nach.

Ich verbrauchte lediglich eine Menge Energie und verschlimmerte meinen Durst.

Mit dem Wasser in dem kleinen Holzeimer hatte ich hausgehalten. Jetzt nahm ich noch ein Schlückchen.

Das einzig Bewegliche an der Sauna waren die Kiefernbretter auf dem Fußboden, drei durch kürzere Querhölzer verbundene Planken von anderthalb Meter Länge. Ich nahm sie hoch und setzte sie als Rammbock gegen die Tür ein.

Nichts.

Denk nach.

Die Tür war wahrscheinlich der stabilste Teil des Ganzen, weil ihr Rahmen aus so viel zusätzlichem Holz bestand. Und die anderen Seiten?

Ich ging auf die gegenüberliegende Wand an der Stelle los, {44}wo das Licht durchschien, aber die Planken waren sperrig und zu lang, um ordentlich Schwung holen zu können.

Die Steine aus dem Ofen schienen mir eine gute Alternative, und ich suchte einen mit einer schönen spitzen Ecke aus dem Stapel heraus.

Nach zehn gezielten Schlägen redete ich mir ein, der Lichtspalt sei größer geworden.

Um mehr Wucht dahinterzulegen, packte ich den Stein mit beiden Händen und rammte ihn immer wieder gegen das Holz. Ich bemühte mich, immer dieselbe Stelle direkt unter dem Lichtspalt zu treffen.

Nach zwanzig weiteren Schlägen verschnauf‌te ich. Das Holz fing an zu splittern. Ich konnte es ertasten.

Weiter ging’s. Ich stellte ein Knie auf die Holzbank, um den Schlagwinkel zu verbessern. Wieder und wieder drosch ich auf das Holz ein, bis ich schwitzte, als wäre der Ofen noch an.

Und jetzt war der Lichtspalt eindeutig größer.

 

Fast eine Stunde dauerte es, bis das Loch so groß war, dass ein Finger durchpasste.

Ich legte mein Auge an die Öffnung und schaute, aber es war nicht viel zu sehen außer der hinteren Garagenwand und einer Lücke an der Stelle, wo bei meiner Ankunft der Mercedes gestanden hatte. Trotzdem gab es mir enormen Auftrieb, dass ich über die Saunawände hinaussehen konnte.

Ich bearbeitete die Bretterkanten weiter mit dem spitzen Stein, und es dauerte gar nicht mehr so lange, bis das Loch groß genug war, dass ich die ganze Hand rausstecken konnte.

Dann setzte ich das Ende einer Bodenplanke als {45}Brechstange ein und brach die Wand ober- und unterhalb des Lochs weiter auf, bis mein Kopf durch die Lücke passte.

Jetzt hatten die Saunawände keine Chance mehr gegen mich. Ich attackierte die ganze Konstruktion wie ein Besessener, trat die Bretter nur so weg, und kurz darauf stand ich draußen, in der Garage.

Ich sah mir die Saunatür an.

Eine Spatengabel war mit solcher Wucht zwischen die Saunatür und die Garagenwand geklemmt worden, dass die Gabelzinken Furchen ins Mauerwerk gegraben hatten.

Ich nahm meine Jacke von der Lenkstange des Fahrrads und zog das Handy aus der Tasche.

Der verpasste Anruf war tatsächlich von Faye.

Ich hielt das Smartphone in der Hand und überlegte, was ich tun sollte.

Die Polizei anrufen?

Für mich stand außer Zweifel, dass Dave Swinton versucht hatte, mich umzubringen, aber ich hatte die Befürchtung, es würde mir niemand glauben.

Ich ließ mir alles noch einmal durch den Kopf gehen. Konnte es irgendwie ein Versehen oder ein Unfall gewesen sein?

Ich blickte zu der immer noch fest die Saunatür blockierenden Spatengabel. Die war nicht versehentlich oder zufällig dahin geraten. Und wer immer sie da verkeilt hatte, musste gewusst haben, dass die Sauna eingeschaltet war.

Niemand konnte aus der Garage gefahren sein, ohne davon auszugehen, dass der in der Sauna Zurückgelassene stirbt. Dass ich überlebt hatte, verdankte ich nur meiner zähen Entschlossenheit und meinem Glück.

{46}Ich wählte die 999.

»Notrufzentrale, wen brauchen Sie?«

»Die Polizei«, sagte ich. »Ich möchte einen Mordversuch anzeigen.«

{47}5

Sie glaubten mir – trotz allem – dann doch.

Zuerst kamen zwei Polizisten in einem Streifenwagen. Sie hörten aufmerksam zu, als ich schilderte, was vorgefallen war, und machten große Augen, als ich ihnen die Spatengabel zeigte. Die Augen wurden noch größer, als sie das Loch in der Saunawand sahen, durch das ich entkommen war. Als ihnen dann schließlich aufging, dass ich einen der beliebtesten und prominentesten Sportler der Insel des versuchten Mordes beschuldigte, riefen sie Verstärkung in Gestalt eines Kriminalbeamten herbei, der sich als Detektivsergeant Jagger vom Dezernat für Schwerkriminalität der Thames-Valley-Polizei vorstellte.

»Also, Mr Hinkley«, sagte DS Jagger, »wie kommen Sie darauf, dass Mr Swinton Sie umbringen wollte?«

Warum hielt ich es immer noch für nötig, Daves Eingeständnis vertraulich zu behandeln? Von meinem Versprechen, zu vergessen, was er gesagt hatte, war ich ja wohl entbunden. Immerhin hatte er versucht, mich umzubringen.

»Ich weiß, dass er absichtlich ein Galopprennen verloren hat, und ich glaube, er wollte mich umbringen, damit ich die Behörden nicht darauf hinweise.«

Der Kripobeamte hielt das offensichtlich für ein schwaches Mordmotiv.

{48}»Wollen Sie im Ernst behaupten, Mr Swinton würde wegen einer solchen Lappalie eine Mordanklage riskieren?«

Ich versicherte DS Jagger, dass es für einen Berufsrennreiter keineswegs eine Lappalie sei, vorsätzlich ein Rennen zu verlieren, doch er wollte mir nicht glauben. Und irgendwie musste ich ihm auch recht geben. Warum hätte Dave eine lebenslange Haftstrafe riskieren sollen, wenn ich gar keinen konkreten Beweis dafür besaß, dass er ein Pferd zurückgehalten hatte? Ich wusste ja nicht mal, um welches Rennen, um welches Pferd es ging.

Hatte er darauf spekuliert, mich tot aufzufinden, wenn er am Abend aus Towcester zurückkam und die Spatengabel von der Tür wegnahm? Hatte er vorgehabt, es als schrecklichen Unfall hinzustellen – er habe mich in der Sauna zurückgelassen und ich sei offensichtlich zu lange in der Hitze geblieben und von ihr überwältigt worden?

»Stellen Sie ihm doch die Frage«, sagte ich.

»Das machen wir auch«, sagte der Detektivsergeant. »Sobald wir ihn finden.«

»Er wird auf der Rennbahn Towcester sein«, sagte ich hilfsbereit. »Da hat er heute Nachmittag fünf Ritte.« Ich sah auf die Uhr. »Das erste Rennen startet in rund zehn Minuten.«

»Mr Swinton ist noch nicht wie erwartet in Towcester eingetroffen. Meine Kollegen in Northamptonshire sind angewiesen, ihn in Gewahrsam zu nehmen, wenn und falls er auftaucht.«

»Ach so«, sagte ich. Jockeys sollen mindestens eine Dreiviertelstunde vor einem Rennen, in dem sie starten, auf der Rennbahn sein. Damit hatte sich meine Theorie, Dave {49}könne weitermachen, als sei nichts gewesen, und meinen Tod als Horrorunfall hinstellen, erledigt.

Ich musste meinen Bericht zum Mitschreiben für einen jungen Kriminalbeamten wiederholen. Dann wurde ich gebeten, die Aussage durchzulesen und zu unterschreiben.

»Und jetzt?«, fragte ich.

»Sie dürfen gehen, Mr Hinkley«, sagte DS Jagger.

»Einfach so?«

»Ärztliche Hilfe wollten Sie nicht in Anspruch nehmen, soviel ich weiß. Was brauchen Sie denn?«

»Eine Fahrt zum Bahnhof wäre nicht schlecht.«