Puls - Felix Francis - E-Book

Puls E-Book

Felix Francis

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Beschreibung

Dr. Chris Rankin, Ärztin am Cheltenham Hospital, leidet an einer Depression, die zu Essstörungen und Panikattacken führt. Als ein Mann bewusstlos auf der benachbarten Rennbahn gefunden wird und unter ihren Händen stirbt, ist Rankin am Ende ihrer Kräfte. Um ihr eigenes Leben zu retten, muss sie wissen, wer für den Tod des Mannes verantwortlich ist, und beginnt, auf eigene Faust zu ermitteln.

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Felix Francis

Puls

Roman

Aus dem Englischen von Malte Krutzsch

Diogenes

Für meine Enkeltochter

Emma Grace Francis

 

Mit verbindlichstem Dank an Simon Claisse,

Clubsekretär der Rennbahn Cheltenham,

und an die medizinischen Betreuer

der Jockeys in Cheltenham,

insbesondere die Ärztin Sue Smith,

die Ärzte Andy Simpson und Lee Humphreys,

die Krankenschwestern Sarah Godfrey und Sue Denley

und die Physiotherapeutin Jennifer (Rabbit) Slattery.

 

Und wie immer, mit viel Liebe,

mein besonderer Dank an Debbie

Ich versichere, dass alle meine Charaktere erfunden sind. Die paar Freiheiten, die ich mir herausgenommen habe, verzeihen Sie mir hoffentlich.

ERSTER TEILNovember

1

Ich hatte nicht damit gerechnet, dass der Patient stirbt, aber er starb, und es war meine Schuld.

Meine Kollegen widersprachen mir zwar und meinten, ich hätte mir nichts vorzuwerfen, doch das wusste ich besser.

Ich war ein schlechter Mensch, und meine Unzulänglichkeit und Dummheit hatten den Mann das Leben gekostet.

Ich fühlte mich elend.

 

Der Mann war mit dem Krankenwagen eingeliefert worden, bewusstlos, aber noch atmend, und mit schnellem, schwachem Herzschlag.

»Unbekannter Mann mittleren Alters«, sagte einer der Sanitäter laut, als er den Patienten dem Notaufnahmepersonal des Krankenhauses übergab. »Heute Abend gegen zehn nach sieben vollständig bekleidet, aber bewusstlos aufgefunden in einer Kabine der Herrentoilette auf der Tribüne der Rennbahn Cheltenham.«

Ich sah auf die Uhr an der Wand – jetzt war es halb neun.

»Wie lange er schon da drin war, ist offen. Das letzte Rennen lief um fünf nach vier, das wäre dann schon ziemlich lange. Beide Pupillen sind groß und starr, Blutdruck hoch, aber stabil, hundertsiebzig zu hundertzehn, Puls hundertachtzig. Atmung symmetrisch, Sauerstoff 95 Prozent. Die Körpertemperatur ist zwar hoch, neununddreißig Grad, aber nicht extrem. Keine Anzeichen von Gewalteinwirkung, aber wir haben ihm vorsorglich eine Halskrause umgelegt, und ab Fundort hat er vier Liter Sauerstoff pro Minute bekommen plus 250 Milliliter Kochsalzlösung beim Transport. Währenddessen keinerlei Anzeichen von Bewusstsein.«

»Blutzucker?«, fragte ich.

»Am Fundort getestet 6,5. Gleicher Wert beim Test in der Ambulanz.«

6,5 Millimol pro Liter waren im Normalbereich, an zu niedrigem Blutzucker litt der Mann also nicht. Darauf tippe ich als Erstes, wenn jemand bei so hohem Puls bewusstlos ist.

»EKG?«, fragte ich.

Der Sanitäter zog einen langen rosa Papierstreifen aus der Tasche und gab ihn mir. »Typische SVT.«

Ich schaute mir die Herzspannungskurve auf dem Papier an, und sie sah wirklich ganz nach SVT aus – supraventrikuläre Tachykardie oder Herzrasen, eine Herzrhythmusstörung, die beim ruhenden Menschen zu einer Pulsfrequenz von über 150 Schlägen pro Minute führt.

»Medikamente?«, fragte ich.

»Er führt keine mit, und von uns hat er nur die Salzlösung bekommen.«

»Gut«, sagte ich. »Danke.«

Die Sanitäter packten ihre Sachen und fuhren davon. Auf zum nächsten Samstagabendunglück.

Ich betrachtete den Mann, der vor mir auf dem fahrbaren Bett lag. Er war vermutlich Anfang vierzig, genau wie ich, und hatte nichts Ungewöhnliches oder Auffälliges an sich. Ein Patient wie jeder andere.

Er hatte olivbraune Haut, an den Schläfen grau werdendes schwarzes Lockenhaar und war unter der Sauerstoffmaske glattrasiert. Sein weißes Hemd war wegen der EKG-Elektroden über dem Brustkorb weit geöffnet, dazu trug er eine dunkelblaue Nadelstreifenhose, schwarze Socken und blitzblanke Schnürschuhe.

Als diensthabende Oberärztin in der Notaufnahme des Allgemeinkrankenhauses Cheltenham war ich jetzt für sein Wohlergehen verantwortlich, und ich spürte förmlich die durchdringenden Blicke der drei anderen Mitglieder meines Teams, die auf Weisung warteten.

Angst und Panik stiegen in mir auf wie eine Flutwelle.

Ich wollte weglaufen und mich verstecken.

Im Stillen versuchte ich, mich zusammenzureißen. Du schaffst das. Du machst das doch die ganze Zeit. Jeden Tag. Atme mal tief durch. Beruhig dich.BERUHIG DICH!

Die Panik ließ nach – fürs Erste.

»Okay«, sagte ich langsam und überlegt. »Machen wir ein paar Tests – Blutbild und alles andere. Sucht nach äußeren Verletzungen, besonders an Kopf und Hals. Wir brauchen Monitore für die Vitalparameter, und sobald wir ihn stabil haben, lassen wir ein CT machen. Es muss einen Grund haben, dass er bewusstlos ist.«

Es war recht ungewöhnlich, dass jemand ohne äußerlich erkennbares Trauma so lange komatös blieb, zumal wenn er am Nachmittag noch auf der Rennbahn herumgelaufen war. Ungewöhnlich waren aber auch hundertachtzig Herzschläge in der Minute.

Naheliegende Erklärungen wären eine Überdosis Drogen gewesen, ein Schlaganfall oder ein Hirntumor – darüber würde das Computertomogramm Aufschluss geben.

Meine beiden Krankenschwestern und mein Assistenzarzt zogen den Mann aus und schlossen ihn an mehrere Monitore an. Eine Schwester führte eine Kanüle in eine Vene an der Ellenbeuge ein und nahm ihm Blut ab. Die andere leuchtete ihm in beide Augen, um zu sehen, wie die Pupillen auf das Licht reagierten.

»Beide Augen immer noch ohne Reaktion«, sagte sie.

Die Verengung der Pupillen durch Lichteinfall ist beim gesunden Menschen ein Reflex. Es passiert, ob man will oder nicht, und wenn der Reflex in beiden Augen ausbleibt, kann das auf extrem hohen Kopfdruck oder auf eine Schädigung des Hirnstamms hindeuten, aber auch auf den Konsum bestimmter Drogen wie etwa Barbiturate.

»Das Labor soll besonders prüfen, ob eine Überdosis vorliegt«, sagte ich zu der Schwester, die das Blut aus der Kanüle auf Reagenzgläser verteilte. »Nehmen Sie bitte auch eine Urinprobe.«

Herauszufinden, was dem Mann fehlte, war ein wenig wie das Enträtseln eines Mordes in einem Roman von Agatha Christie, mit mir in der Rolle des Detektivs. Als Ursache seines Zustands kamen viele Verdächtige in Frage, und ich musste den Schuldigen ermitteln, indem ich die anderen der Reihe nach ausschloss.

Während mein Team Hand anlegte, trat ich zurück und versuchte, mir ein Bild vom Ganzen zu machen.

Am Rand der Gruppe stand ein sehr jung aussehender Polizist in Uniform.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte ich. »Ich bin Dr. Rankin, Chris Rankin. Ich leite heute Abend die Notaufnahme.«

»PC Filippos.« Unwillkürlich streckte er die Hand aus, die ich aber nicht ergriff, da ich sterile Latexhandschuhe trug.

»Filippos?«, fragte ich.

»Ja.« Er lächelte. »Halbgrieche. Ich habe Ihren Patienten begleitet.« Er deutete kurz auf den Mann im Krankenbett. »Die Rennbahn hat zuerst uns verständigt. Man dachte, er sei betrunken. Ich habe dann den Krankenwagen gerufen.«

Es hatte mich schon gewundert, dass der Mann erst so spät ins Krankenhaus gekommen war.

»Gut gemacht«, sagte ich.

»Was fehlt ihm denn?«, fragte der Polizist.

»Ich bin mir noch nicht sicher. Wir müssen ihn noch weiter untersuchen. Aber betrunken ist er glaube ich nicht.«

Der Mann hatte eine ganz leichte Alkoholfahne, aber besinnungslos Betrunkene rochen ungleich stärker. Damit hatte ich an Samstagabenden schon reichlich Erfahrung gesammelt. Promis nannten wir die – kurz für Promilletiger.

»Wissen Sie, wer das sein könnte?«, fragte ich.

»Keine Ahnung. Ich habe ihn durchsucht, als ich auf den Krankenwagen wartete. Er hatte nur zweiundachtzig Pfund in bar in der Tasche und einen zerknüllten Wettschein. Keine Karten, keine Brieftasche, keine Schlüssel, nichts.«

»Er muss einen Mantel gehabt haben«, sagte ich. Mitte November war es viel zu kalt, um beim Rennbahnbesuch nur ein dünnes Hemd zu tragen.

Der Polizist nickte. »Stimmt. Jackett und Krawatte hatte er auch. Hab ich zusammengepackt.« Er hielt eine durchsichtige Plastiktüte hoch. »Soll ich seine anderen Kleider dazutun?«

»Er braucht doch für nach Hause was zum Anziehen.«

»Wenn er nach Hause kommt«, meinte der Polizist.

Ich warf ihm einen Blick zu. »Wissen Sie was, was ich nicht weiß?«

»Nein«, antwortete er, aber ich war nicht sicher, ob ich ihm das glauben konnte.

Eine Krankenschwester unterbrach uns. »Wir sind bereit für das CT, Dr. Rankin.«

»Entschuldigen Sie mich«, sagte ich dem Polizisten. »Ich muss den Patienten begleiten.«

»Dann warte ich hier«, antwortete PC Filippos entschieden.

Ich zog überrascht die Brauen hoch.

»Auch wenn es vielleicht nicht nötig ist«, sagte er, »ich warte. Dann kann ich seine Angehörigen verständigen, wenn er zu sich kommt. Er erinnert mich ein wenig an meinen Vater, vom Aussehen und wie er angezogen war. Wenn mein Vater bewusstlos in einer Rennbahntoilette gefunden würde, hätte ich auch gern, dass mich jemand benachrichtigt.«

»Sie können im Besucherraum warten«, sagte ich. »Da steht ein Kaffeeautomat.«

»Danke.«

 

Das CT war in Ordnung – keine sichtbaren Gerinnsel oder Blutungen im Hirn.

Noch ein paar Verdächtige ausgeklammert.

Und jetzt?

Schon wurde ich wieder zittrig.

Komm. Lass gut sein.

Auf dem Monitor sah ich, dass das Herz des Mannes 196 Mal pro Minute schlug, noch schneller als bei seiner Ankunft. Und die Herzkurve auf dem Schirm wurde immer sprunghafter, nicht zu vergleichen mit dem glatten, regelmäßigen Verlauf beim gesunden Organ. Sein Blutdruck aber blieb trotz der Herzsprünge oben, er war viel zu hoch, und die Sauerstoffsättigung lag bei 98 Prozent.

»Er macht mir Sorgen«, sagte ich zu meiner Oberschwester.

Eine Urinprobe für einen Schnelltest hatten wir nicht entnehmen können. Hieß das, seine Nieren arbeiteten nicht richtig? Und deutete die leichte Gelbfärbung seiner Haut auf eine fehlerhafte Leberfunktion hin? Beides konnte die unmittelbare Folge seiner Herzrhythmusstörung sein.

In der Medizin wie im Leben kann ein Ausgangsproblem nur zu schnell alle möglichen Sekundärprobleme anstoßen. Die Blutprobe würde uns weiterbringen, aber wir warteten noch darauf, dass sie aus der Pathologie zurückkam.

Samstags schien nirgends im Krankenhaus etwas schnell zu gehen. Unfälle und Notfälle richteten sich jedoch nicht nach der normalen Arbeitswoche. Im Gegenteil, samstags und sonntags hatten wir mit Abstand am meisten zu tun.

»Sein Puls ist immer noch viel zu hoch und wird sehr ungleichmäßig«, sagte ich. »Offensichtlich ermüdet sein Herz. Wenn das SVT ist, wird es höchste Zeit, dass wir seinen Rhythmus normalisieren.«

Ich holte tief Luft.

»Wir geben ihm sechs Milligramm Adenosin«, sagte ich entschieden.

»Wir wissen nicht, was er noch im Körper hat«, gab die Oberschwester zu bedenken.

Adenosin ist ein Antiarrhythmikum, das zur Entschleunigung überhöhter Herzfrequenzen eingesetzt wird, verträgt sich aber schlecht mit bestimmten Psychopharmaka.

»Darauf müssen wir’s wohl ankommen lassen«, sagte ich. »Haben Sie ihn auf Einstiche untersucht?«

»Ja, und mir ist nichts aufgefallen.«

Einstiche verraten natürlich den Süchtigen, der sich Drogen spritzt, und damit hatten wir viel zu oft zu tun.

»Wir könnten doch das Ergebnis der Blutprobe abwarten«, sagte die Oberschwester. »Das müsste bald kommen.«

Wäre es ein Wochentag gewesen, zwischen acht und sechs, hätte ich einfach einen Kollegen von der Kardiologie angerufen und um Rat gefragt, doch samstagabends um neun saßen die alle zu Hause vorm Fernseher oder waren ausgegangen.

Sollte ich einen Kardiologen von der Bereitschaft anpiepsen? Ihn beim Dinner stören und ins Krankenhaus kommen lassen?

Entscheiden bitte.

Ich war die leitende Ärztin hier. Rief ich an, war der diensthabende Kardiologe wahrscheinlich ein Arzt in der Ausbildung, also rangniedriger. Die Entscheidung läge immer noch bei mir.

Handeln oder nicht?

Was war richtig?

Ich spürte das erste Kribbeln in den Fingerspitzen und merkte, wie mein rechtes Bein leicht zu zittern anfing.

Atmen, sagte ich mir. Zieh die Luft durch die Nase ein, behalt sie kurz bei dir, und stoß sie durch den Mund wieder aus – so hatte ich das gelernt.

Tief durchatmen, und noch mal, und noch mal.

Das Zittern im Knie ließ langsam nach.

Ich sah noch einmal auf die jetzt alarmierend schnelle, sprunghafte Monitorkurve. Selbst wenn ich den Herzspezialisten rief, stand zu befürchten, dass sich der Zustand des Patienten verschlimmerte, bevor er eintraf.

»Ich glaube, länger können wir nicht warten«, sagte ich.

»Okay«, antwortete die Schwester. »Ich hole das Adenosin.«

»Jemand soll auch mit dem Defi kommen.«

Sie ging und ließ mich mit dem Patienten allein in der Kabine.

Ich betrachtete den Mann.

Er sah noch wehrloser aus als bei seiner Ankunft, wahrscheinlich, weil er ganz entkleidet und in ein verwaschenes hellblaues Klinikhemd gesteckt worden war, das an den Schultern halb herunterhing.

Namenlose Traumafälle waren in der Notaufnahme zwar nicht ganz ungewöhnlich, aber ich fand es doch etwas seltsam, dass jemand im Nadelstreifenanzug mit Krawatte überhaupt keine Papiere bei sich trug.

Ich berührte seine Stirn. Sie war schweißfeucht.

»Wer sind Sie?«, fragte ich leise in die Stille hinein. »Und was ist mit Ihnen?«

Er antwortete nicht. Das hatte ich auch nicht erwartet. Der Monitor über seinem Kopf zeigte mir nur weiter den sprunghaften Puls und den überhöhten Blutdruck.

Die Oberschwester kam mit einer kleinen und einer wesentlich größeren Spritze zurück, dem Adenosin und der Kochsalzlösung, die das Medikament zum Herz des Mannes transportieren würde.

Hinter ihr schob ein Assistenznotarzt den Medikamentenwagen mit dem Defi herein, dem elektrischen Defibrillator oder Schockgeber, mit dem das Herz des Patienten wieder in Gang gesetzt werden konnte, falls das Adenosin wider Erwarten zum Herzstillstand führte.

Die Oberschwester schloss beide Injektionsspritzen so an die Kanüle in der Ellenbeuge das Mannes an, dass ihre Gehäuse im rechten Winkel zueinander standen.

»Okay?«, fragte sie und sah mir ins Gesicht.

»Sind Sie so weit?« Ich schaute den Assistenzarzt an.

»Kann ich davon ausgehen, dass der Patient keinen Schrittmacher hat?«

»Er hat keinen«, bestätigte ich. Sonst wäre das aus dem CT ersichtlich gewesen. Dennoch eine gute Frage. Eine Person mit Schrittmacher konnte man zwar auch schocken, aber dann musste man aufpassen, wo man die Elektroden anbrachte.

»Okay«, sagte der Assistenzarzt. »Ich bin so weit.«

»Gut«, sagte ich. »Los.«

Die Schwester drückte den Kolben der kleinen Spritze nach unten und schickte den Inhalt der großen Spritze direkt hinterher.

Adenosin hat eine sehr kurze Halbwertzeit und wird von den roten Blutkörperchen rasch abgebaut. Deshalb muss es möglichst schnell zusammen mit einer großen Dosis Salzlösung verabreicht werden in der Hoffnung, dass eine ausreichende Menge des Wirkstoffs das Herz erreicht, um die Erregungsleitung zwischen Vorhöfen und Kammern vorübergehend zu blockieren, damit das Herz dann wieder zu einem normalen Rhythmus findet.

Unsere Augen waren fest auf den Monitor gerichtet. Wenn das Adenosin wirkte, dann sehr schnell.

Zunächst tat sich nichts, doch als der Wirkstoff beim Herz ankam und der Block eintrat, flachte die Kurve ab.

Ich hielt den Atem an.

Es waren nur Sekunden, aber es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis wieder Ausschläge kamen. Unregelmäßig erst, dann gleichmäßiger, aber immer noch viel zu schnell, schon stieg die Pulsfrequenz wieder auf über 190.

Das Adenosin hatte nichts genützt.

»Verdammt«, sagte ich.

»Noch mal mit doppelter Dosis?«, fragte die Oberschwester. Das war gängige Praxis.

Ich nickte, und sie ging neue Spritzen mit Adenosin und Salzlösung holen.

»Sind Sie sicher, dass es SVT ist?«, fragte der Assistenzarzt.

»Nein«, antwortete ich. »Wir bekommen ja noch die Ergebnisse der Blutproben aus dem Labor.«

Wir warteten schweigend.

»Notfall. Zwei Erwachsene, Polytrauma, sind in 6 Minuten da«, sagte eine scheinbar körperlose Stimme aus der Lautsprecheranlage der Abteilung.

Samstagabend in der Notaufnahme.

Mehr Betrieb als in einem Eiscafé im Hochsommer.

2

»Chris, ich brauche Sie.« Es war Jeremy Cook, mein Kollege in der Notaufnahme.

»Komme«, sagte ich, ohne den Monitor über dem Kopf meines Patienten aus den Augen zu lassen. Er hatte gerade die zweite Dosis Adenosin erhalten.

»Jetzt gleich«, beharrte Jeremy und zupfte leicht an meinem Ärmel.

»Okay.« Ich wandte mich um. Die Sorge stand ihm im Gesicht.

»Sieht wirklich schlimm aus. Der Mann hat auf dem Weg nach London die Kontrolle über sein Motorrad verloren und ist mit hundertvierzig gegen einen Laternenpfahl gekracht. Und er hatte eine Beifahrerin. In zwei Minuten sind sie hier, beide mit lebensgefährlichen Verletzungen.«

»Okay«, sagte ich noch einmal. »Ich komme.«

Ein eingehender Traumafall mit lebensbedrohlichen Verletzungen verlangte die ungeteilte Aufmerksamkeit eines Notfall-Oberarztes, und nur Jeremy und ich waren momentan im Dienst. Ich überließ den Komapatienten dem Assistenzarzt.

»Halten Sie mich auf dem Laufenden«, rief ich ihm noch zu, als ich davoneilte.

Die Notaufnahme im Allgemeinkrankenhaus Cheltenham wurde nach Meinung der Ärzte und des Pflegepersonals fast durchweg ohne Not beansprucht, einfach, weil es das Bequemste und Praktischste war, aber echte Notfälle gab es eben auch.

Als die mit dem Motorrad Verunglückten eintrafen, waren zwei sechsköpfige Traumateams für sie bereit. Und in der Gewissheit, dass er gebraucht würde, hatte ich auch schon den Bereitschaftsorthopäden verständigt.

Einen Neurologen brauchten wir wahrscheinlich auch. Bei solchen Hochgeschwindigkeitsunfällen wirken ungeachtet der modernen Sicherheitshelme so enorme Kräfte auf den Kopf ein, dass das Gehirn so gut wie immer verletzt und oft sehr schwerwiegend in Mitleidenschaft gezogen wird, von irreversiblen Verletzungen der Wirbelsäule ganz abgesehen. Unsere Aufgabe in der Notaufnahme bestand darin, die Patienten einzuschätzen, ihren Zustand zu stabilisieren und dafür zu sorgen, dass sie nicht starben. Erst danach konnten sich die Fachärzte näher mit den Auswirkungen des Unfalls befassen.

Die beiden Patienten wurden auf fahrbaren Betten hereingerollt. Bei ihnen waren je zwei Rettungsassistenten und der an den Unfallort gerufene Notarzt. Ich übernahm die Sozia, Jeremy den Fahrer. Beide waren in sehr schlechter Verfassung und dem Tode nah.

Ungefähr eine Stunde lang bemühten mein Team und ich uns fieberhaft, den Zustand der jungen Frau zu stabilisieren.

Da der Notarzt sie an der Straße in ein künstliches Koma versetzt hatte, konnte man sie nicht fragen, wo es ihr weh tat. Aber das Ausmaß einiger ihrer Verletzungen war auch ohne großen medizinischen Sachverstand zu erkennen.

Aus der ungewöhnlichen Stellung der Füße ging hervor, dass beide Beine gebrochen waren, und die zahlreichen Risse in ihrer Ledermontur deuteten auf schwere Fleischwunden hin.

In der Notfallmedizin gilt jedoch das gleiche Mantra wie in der Ersten Hilfe: Luftwege, Atmung, Kreislauf. Ohne Atmung und Blutzirkulation stirbt der Patient, da ist jede andere Maßnahme sinnlos.

Also konzentrierten wir uns darauf, ihre Atemwege freizumachen, die Lungen zu belüften und ihr Herz in Gang zu halten. Dann suchten wir nach Anzeichen starker äußerer oder innerer Blutungen, insbesondere im Brustraum. Als wir darauf vertrauen konnten, dass sie uns nicht in der Kammer wegsterben würde, machten wir ein Ganzkörper-CT von ihr, das nicht nur vielfache Unterschenkelbrüche, sondern auch mehrere gebrochene Rückenwirbel offenbarte sowie eine Prellung mit kleiner Einblutung am Gehirn.

Wenn das Gehirn durch die Prellung anschwoll, musste der Druck im Schädel verringert werden. Dazu wäre eine intensive neurologische Behandlung nötig, die wir hier in Cheltenham nicht leisten konnten. Wären wir nicht so nah am Unfallort gewesen, hätte man sie wahrscheinlich gar nicht erst zu uns gebracht.

Sobald ihr Zustand es erlaubte, würde sie in das gut sechzig Kilometer entfernte regionale Traumazentrum nach Bristol verlegt werden. Eine Ambulanz dafür stand schon bereit.

Als sich ihre Atmung und ihr Puls endlich stabilisierten, musste ich als Nächstes sicherstellen, dass ihre unteren Gliedmaßen ausreichend mit Blut versorgt wurden. Wenn die gebrochenen Knochen die Schienbeinarterien durchstoßen hatten, würden ihre Füße absterben, bevor sie in Bristol ankam.

Ich sah mir das CT genau an. Eine kleine innere Blutung in den Kniekehlen war zu erkennen, aber nichts, was für einen Arterienriss sprach. Außerdem ertastete ich auf den Fußoberseiten einen schwachen, aber gleichmäßigen Puls.

»Okay«, sagte ich. »Sie kann fahren.«

Ein neues Rettungsassistentengespann schloss sie an eine tragbare Monitorausrüstung an und rollte sie vorsichtig zu dem wartenden Krankenwagen hinaus.

Mein Team atmete kollektiv auf.

»Glückwunsch, Leute«, sagte ich. »Gut gemacht.«

Die junge Frau hatte bei ihrer Ankunft am Rand des Todes gestanden, und jetzt hatte sie gute Aussichten, am Leben zu bleiben. Ob die Hirnverletzung bleibende Schäden hinterließ, würde sich erst noch herausstellen.

Die Rettung dieser Patientin hatte mich so in Anspruch genommen, dass ich an den bewusstlos zurückgelassenen Mann in der anderen Kabine gar nicht mehr gedacht hatte – jedenfalls nicht, bis mein Blick auf den Assistenzarzt fiel, der an der Seite stand und auf eine Unterbrechung im Ablauf wartete. Sein Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes.

»Was ist?«, fragte ich.

»Er ist gestorben«, sagte er ohne Umschweife.

»Was?«, schrie ich ihn an. »Wieso denn?«

»Herzstillstand«, antwortete er. »Gleich, nachdem Sie weg sind. Fast die ganze letzte Stunde haben wir versucht, ihn wiederzubeleben.« Er sah auf die Uhr an der Wand. »Vor fünf Minuten habe ich ihn für tot erklärt.«

»Warum haben Sie mich nicht gerufen?«, schrie ich.

»Sie waren doch beschäftigt«, sagte er kleinlaut. »Und seine Blutergebnisse sind gekommen.«

»Und?«, fragte ich.

»Er hatte eine Überdosis Kokain genommen. Niemand hätte noch etwas für ihn tun können.«

Das Kribbeln in meinen Fingerspitzen kehrte zurück, und mein rechtes Bein fing wieder an zu zittern.

 

Für eine ausgewachsene Panikattacke kann man sich bestimmt unpassendere Orte aussuchen als die Notaufnahme eines Krankenhauses. Dennoch wollte ich keinesfalls, dass meine Kollegen etwas davon mitbekamen.

Zum Glück legte sich die Hektik ein wenig, nachdem der Krankenwagen abgefahren und der Motorradfahrer in den OP gebracht worden war, wo ihm ein Beinbruch gerichtet werden sollte. Ich wusste aber, es war nur die Ruhe vor dem Sturm. Der würde später am Abend losgehen, wenn die Pubs und Bars schlossen und die Angetrunkenen oder auch Volltrunkenen sich bei uns einstellten, ob sie nun einfach im Rinnstein umgekippt waren oder sich bei einer wüsten Schlägerei verletzt hatten. Die Leute vom Trinken abzuhalten war jedoch nicht unsere Aufgabe; hatten wir sie zusammengeflickt, durften sie torkeln, wohin sie wollten.

Das Kribbeln wanderte von den Händen in meine Arme, und ich konnte Jeremy Cook gerade noch bitten, mich ein paar Minuten zu vertreten, dann verschwand ich und sperrte mich in der Wäschekammer der Abteilung ein.

Das Zittern, das im rechten Knie angefangen hatte, breitete sich langsam im ganzen Körper aus, und das Kribbeln pflanzte sich durch meine Arme bis in den Hals fort.

Das macht nichts, sagte ich mir, im Dunkeln kauernd. »Atme nur weiter. Es geht vorbei.« Auch wenn es sich nicht danach anfühlte.

Es war aber auch nicht das erste Mal.

Seit nunmehr achtzehn Jahren war ich Ärztin und seit zehn Jahren Fachärztin für Notfallmedizin. Von daher meinte ich, mich mit den Funktionen und Funktionsstörungen des menschlichen Körpers gut auszukennen, aber ich hatte keine Ahnung, was mit meinem eigenen passierte.

 

Vor etwa einem Jahr war ich beim Gynäkologen gewesen.

»Die Menopause setzt ein«, hatte er mit einem kundigen Nicken gesagt.

»Doch wohl kaum«, widersprach ich und stieß ein hohles Lachen aus. »Ich bin erst vierzig.«

»Etwas verfrüht, gebe ich zu, aber es stimmt. Einwandfrei. Deshalb muss man sich ja aber keine Sorgen machen. Es ist ganz normal.«

Ich hatte ihm im Stillen mangelnde Einfühlung bescheinigt, als er mich aus dem Sprechzimmer komplimentierte. Er habe viel zu tun, erklärte er ungerührt. Sein Wartezimmer sei voll.

Menopause.

Ich hatte mich draußen ins Auto gesetzt und geweint.

Ich weinte meiner verlorenen Jugend nach und auch den Zukunftsplänen, die mein Mann und ich gehegt hatten.

Wir hatten Zwillinge, zwei Jungen von vierzehn Jahren, und seit einiger Zeit versuchten wir, noch ein Kind zu bekommen – vielleicht sogar die Tochter, die wir uns beide so sehr wünschten.

Mein Mann, Grant, war Soldat gewesen, als ich ihn kennenlernte, und durch die Uniform war ich auf ihn aufmerksam geworden. Wir waren Gäste bei der Hochzeit meiner Cousine mit seinem Cousin. Wir hatten den ganzen Abend miteinander verbracht und dann auch die Nacht, ohne Uniform.

Er war Pionier gewesen und die ersten zwölf Jahre unserer Ehe beim Militär geblieben. Daher hatte er, als die Jungen klein waren, wegen seiner Einsätze im Irak und in Afghanistan vieles von dem verpasst, was die meisten Väter als selbstverständlich ansehen. Er hatte in Basra Brücken gebaut, als die Zwillinge ihre ersten Gehversuche machten. Auch als sie eingeschult wurden, war er im Ausland gewesen, von ihren Krippenspielen, ihren Weihnachtskonzerten hatte er nie etwas mitbekommen, und auch ihre Sportfeste hatte er meistens verpasst.

Aber jetzt war Grant Zivilist und arbeitete von neun bis fünf als Leiter der Produktforschungsabteilung eines hiesigen Fluginstrumente-Herstellers. Er hatte sich darauf gefreut, beim Baden behilflich zu sein, Gutenachtgeschichten vorzulesen, der Papa zum Anfassen zu sein, der er den Zwillingen nicht hatte sein können.

Doch ich konnte nicht schwanger werden. Ich hatte es auf mein Alter geschoben, aber viele andere Frauen bekommen mit über vierzig noch Kinder. Wenn Madonna und Meryl Streep das konnten, warum dann nicht ich? Gerade deshalb war ich zum Gynäkologen gegangen.

Menopause. Wie konnte das sein? Ich hatte keine Wallungen und keinen Nachtschweiß. Meine Periode kam zwar etwas unregelmäßig, aber das war schon immer so. Alles andere schien mir normal. Doch der Arzt hatte mir Blut abnehmen lassen und mir gerade das Ergebnis mitgeteilt.

Kein Östrogen.

Keine Eizellen.

Keine Fruchtbarkeit.

Kein Baby.

Menopause.

Über eine Stunde hatte ich in meinem Wagen gesessen und geheult.

Aber jetzt, zwölf Monate später, hockte ich hier in der Wäschekammer, und alles war schlimmer, als ich es mir hätte ausmalen können. Viel schlimmer. Kein Kind mehr bekommen zu können war jetzt das geringste meiner Probleme.

 

Eigentlich hatte Grant die Nachricht gut aufgenommen, aber ich hatte das Gefühl, ihn schwer enttäuscht zu haben.

Bald stellte ich mir vor, er würde sich anderweitig nach einer fruchtbaren Frau als Mutter für seine Tochter umsehen, und ich wurde maßlos eifersüchtig auf seine junge, unverheiratete Sekretärin, erst recht, als man nicht mehr übersehen konnte, dass sie schwanger war.

Ich stellte Grant sogar zur Rede und warf ihm vor, er sei der Vater.

Er lachte nur und meinte, ich solle nicht albern sein, aber der Gedanke ging mir nicht aus dem Kopf. Ich war so besessen davon, dass ich sie nach der Entbindung auf der Wöchnerinnenstation besuchte. Das Kind würde mit Sicherheit so aussehen wie Grant.

Ihr Freund war gerade da, ein großgewachsener Afrokaribe namens Leroy, und das Baby, das er in den Armen wiegte, war dunkelhäutig.

Ich hätte schreien können vor Freude.

Und ich kam mir lächerlich vor.

Aber darüber konnte ich schon damals hinwegsehen.

Hätte ich ein Jahr zuvor einen Beinbruch, eine Lungenpunktur oder einen Milzriss behandeln müssen, hätte ich genau gewusst, was zu tun war, doch chemische Ungleichgewichte im Gehirn und ihre Auswirkung auf das seelische Befinden waren ein Buch mit sieben Siegeln für mich.

Nicht, dass ich jetzt wirklich besser darüber Bescheid wüsste, trotz ausgedehnter Forschung mit mir selbst als Versuchskaninchen.

Im Lauf des Jahres war ich an zwei verschiedene Gynäkologen, einen Endokrinologen und, als alles nichts half, an einen Psychiater überwiesen worden. Und mir war so oft Blut abgenommen worden, dass meine Arme wie Nadelkissen aussahen.

Doch nicht einer dieser angesehenen Ärzte konnte den Finger darauf legen und mit Überzeugung sagen: »Das fehlt Ihnen.« Jeder hatte seine eigene Meinung, und die schien sich mit jedem neuen Blutprobenergebnis zu ändern.

»Ach so«, sagte etwa mein Endokrinologe beim Lesen eines Ausdrucks. »Ihr Schilddrüsenhormonspiegel ist zu niedrig. Da müssen wir nachhelfen.«

Also nahm ich jeden Abend eine Tablette. Bei der nächsten Untersuchung zeigte sich dann aber, dass jetzt das Thyroxin zu hoch und das Testosteron zu niedrig stand. Ich bekam neue Tabletten.

Und so ging das weiter.

Es lief auf einen abendlichen Medikamentencocktail von einem Dutzend Tabletten hinaus, plus verschiedene Heilpflaster und Salben, und trotzdem fühlte ich mich noch nicht wohl.

Mit der Diagnose »Depression« fand ich mich erst nach einer ganzen Weile ab.

Wie konnte ich deprimiert sein? Ich hatte einen liebenden Mann, der mir alles bedeutete, zwei wunderbare Kinder, die in der Schule gut zurechtkamen, ein schönes Haus, Rosen im Garten, zwei Autos in der Einfahrt, einen sinnvollen Beruf und keine finanziellen Sorgen. Weshalb hätte ich deprimiert sein sollen?

»Es geht nicht darum, was Sie haben oder nicht haben«, sagte mir der Psychiater. »John D. Rockefeller war der reichste Mensch, den es je gab, und auch er litt an Depression. Wegen akuter Ängste fielen ihm sämtliche Körperhaare aus.«

Sollte mich das trösten?

Jedenfalls führte es dazu, dass ich morgens meine Haarbürste inspizierte, um zu sehen, ob mir meine auch ausfielen. Nachts lag ich stundenlang wach und sorgte mich darüber. Und wenn nicht darüber, dann über etwas anderes, und nicht nur nachts, sondern auch tagsüber. Ich konnte mir Sorgen um England machen und um eine ganze Palette von Dingen, auf die ich keinen Einfluss hatte und auch keinen zu haben brauchte. Das Ganze machte mich einfach unendlich müde und nur noch besorgter.

Manchmal war meine Stimmung so gedrückt, dass es mir schwerfiel, morgens aufzustehen. Ich wollte mich nur in mich verkriechen und wünschte die Welt sonst wohin.

Aber ich hatte Kinder, die zur Schule mussten, einen Mann, der Wert auf sein Frühstück legte, und beruflich mit Menschen zu tun, die mich brauchten, um am Leben zu bleiben. Verkriechen kam also nicht in Frage.

Dabei versuchte ich immer, meinen Zustand zu verbergen – vor meinen Kindern, meiner Mutter und besonders bei der Arbeit –, keine ganz leichte Aufgabe, wenn man tagtäglich von hochqualifizierten, aufmerksamen Ärzten umgeben ist. Man hatte mir auch schon Fragen gestellt, Fragen, denen ich ausgewichen war und die ich unbeantwortet gelassen hatte.

»Sag es ihnen doch einfach«, meinte Grant oft. »Sie haben sicher Verständnis für dich und sind bereit, dir zu helfen.«

Wäre das so?

Der Stiftung für seelische Gesundheit zufolge leidet nahezu jeder Vierte im Vereinigten Königreich an irgendeiner seelischen Störung.

Ich war also nicht so allein, wie ich mich fühlte.

Schade nur, dass solche Störungen als Makel gelten, dass diejenigen, die davon betroffen sind, von anderen leicht für gefährlich und gewalttätig gehalten werden.

Aber der wahre Grund, warum ich meinen Zustand verbarg, war vielleicht die Angst zu enttäuschen, die Befürchtung, plötzlich eine Versagerin und eine Last für andere zu sein.

Wenn es mich nicht von vornherein meine Stelle kostete, würden meine Kollegen mich zumindest in einem anderen, ungünstigen Licht sehen. Sie würden meine Kompetenz und meine Fähigkeit zu praktizieren in Frage stellen. Ich würde abgeschrieben und heruntergestuft zu einer Zeit, wo die Arbeit das einzig Normale in meinem Leben war, der Fels, an den ich mich immer noch klammerte.

Also hielt ich mich hier in der Wäschekammer versteckt, während meine Psyche mit meinem Körper ihre Scherze trieb. Das Wort Panikattacke war mir von Anfang an unpassend erschienen. Es kam mir nicht so vor, als hätte mich irgendetwas in Panik versetzt. Die Symptome traten unter Stress wie aus dem Nichts auf. Stressattacke hätte vielleicht besser gepasst.

Jedenfalls war die körperliche Wirkung ausgeprägt. Abgesehen von dem Zittern und Kribbeln hatte ich starkes Herzklopfen und bekam nicht genug Luft. Beides sorgte für noch mehr Stress, bis eine Rückkopplungsschleife entstand, bei der jedes neue Symptom das Problem verstärkte und die Lage immer noch schlimmer machte. Es war, als stürzte ich im freien Fall in ein bodenloses Loch.

Ich zwang mich, langsam zu atmen – ein durch die Nase, aus durch den Mund. Erfahrungsgemäß würde der Anfall vorbeigehen. Manchmal dauerte es nur ein paar Minuten, mitunter aber auch Stunden.

Stunden hatte ich nicht.

Wiederholt sagte ich mir, reiß dich zusammen, aber einem seelisch Kranken zu sagen, er soll sich zusammenreißen, ist zwecklos und sogar kontraproduktiv.

Ich konnte mich so wenig zusammenreißen, wie ein Krebskranker sich zusammenreißen und seine Heilung in Angriff nehmen kann.

Depression ist eine Krankheit, wenn auch eine seelische und keine körperliche. Man hat kein Fieber, blutet nicht, sieht nichts davon auf Röntgenaufnahmen oder CTs, es gibt keinerlei äußerlich erkennbare Anzeichen. Dennoch ist es eine Krankheit. Sie ist wie ein Wurm, der sich im Kopf festsetzt, sich ins Gehirn bohrt, dein Lachen und deine Selbstachtung auffrisst und dir nichts lässt außer Enttäuschung, Kummer, Einsamkeit und Unglück.

Man fühlt sich wertlos, hässlich und glaubt, den Seinen nur zur Last zu fallen.

Leicht führt das zu der Überzeugung, man wäre besser tot.

3

Etwa zehn bis fünfzehn Minuten später kam ich aus der Wäschekammer heraus.

Zum Glück war es keine längere Attacke gewesen, und niemand von der Abteilung schien sich über meine Abwesenheit groß Gedanken gemacht zu haben.

»Ein Polizist sucht nach Ihnen«, sagte mir eine Mitarbeiterin im Vorbeilaufen.

Es war PC Filippos, und er fand mich in der Schwesternstation.

»Ah, Dr. Rankin, da sind Sie ja«, sagte er mit einem Hauch von Gereiztheit. »Ich müsste Ihnen ein paar Fragen stellen.«

»Ich hab zu tun«, sagte ich.

Fragen beantworten war gerade das Letzte, was ich wollte.

Er warf einen Blick auf die erstaunlich leeren Kabinen hinter mir. »Es dauert nicht lange.«

»Wenn ein Notfall eintrifft, werde ich gebraucht.«

»Es dauert nicht lange«, wiederholte er. »Können wir uns irgendwo ungestört unterhalten?«

Sein Gesichtsausdruck sagte mir, dass er nicht klein beigeben würde, also ging ich mit ihm in den Besucherraum.

»Kaffee?«, fragte er an dem Automaten in der Ecke.

»Nein, danke.« Koffein konnte ich in meinem wackligen Zustand wirklich nicht gebrauchen. Er machte sich eine Tasse und nahm mir gegenüber auf einem der rosa Krankenhausstühle Platz.

»Wie ich höre, ist mein Patient gestorben.«

Sein Patient, dachte ich. Ganz was Neues.

»Ja«, sagte ich. »Er hatte einen Herzstillstand und konnte nicht wiederbelebt werden.«

Er zog ein schwarzes Notizbuch hervor und schrieb etwas hinein. »Was hat den Herzstillstand verursacht?«

»Das muss der Pathologe feststellen und der Coroner bestätigen.«

»Sie als die behandelnde Ärztin haben aber doch sicher eine Vermutung.«

»Ich war nicht bei ihm, als der Stillstand eintrat«, sagte ich.

Wenn ihn das überraschte, ließ er es sich nicht anmerken. »Und wie kommt das?«

»Ich wurde zu einem anderen Patienten gerufen – eine Motorradsozia mit lebensgefährlichen Verletzungen.«

Er nickte, als hätte er das schon gewusst.

»Das Leben meines Patienten war aber doch auch gefährdet.«

Mein Stresspegel stieg an.

»Wie sich herausgestellt hat, ja. Ich hielt seinen Zustand nicht für so kritisch.«

Er schrieb wieder in sein Notizbuch. Nahm einen Schluck Kaffee.

»Wollen Sie mir irgendetwas vorwerfen?«, fragte ich, jetzt himmelhoch gestresst mit dem dazugehörigen Kribbeln in den Fingerspitzen.

»Ganz und gar nicht, Dr. Rankin.« Er lächelte, und das Kribbeln ließ nach. »Ich muss nur den Ablauf für meinen Bericht nachvollziehen.«

Er schrieb weiter, dann sah er mich an. »Sie können doch sicher einkreisen, woran er gestorben ist.«

»Das wird sich wie gesagt bei der gerichtlichen Untersuchung der Todesursache durch den Coroner herausstellen.«

»Und Sie haben keine Ahnung?« Er ließ nicht locker.

»Aus einer Blutprobe ging offenbar hervor, dass er extrem viel Kokain im Körper hatte, aber ich habe die Ergebnisse nicht selbst gesehen.«

Der Polizist zog die Brauen hoch. »Kokain?«

»Ja. Anscheinend hatte er eine Überdosis genommen. Ein Kollege von mir ist der Meinung, wir hätten absolut nichts mehr für ihn tun können, aber ob das zutrifft oder nicht, wird der toxikologische Befund zeigen.«

Er schrieb es auf.

»Gab es irgendeinen Hinweis, wie das Kokain in seinen Körper gelangt ist?«

»Wenn Sie damit Einstichstellen meinen, dann nein. Aber auch darüber sollte die Obduktion Aufschluss geben. Manche Süchtige spritzen sich dort, wo man es so leicht nicht sieht.«

»In der Rennbahntoilette habe ich keine Spritze gefunden.«

»Kokain muss ja nicht unbedingt gespritzt werden«, sagte ich. »Die meisten Konsumenten schnupfen es, und einige rauchen es. Man kann es sogar oral einnehmen.«

»Sie kennen sich offenbar gut aus.«

Bestimmt bin ich rot geworden.

»Eine vergeudete Jugend«, meinte ich lachend.

Er brauchte nicht zu wissen, dass ich in letzter Zeit alles Mögliche probiert hatte, um meine Verzweiflungsgefühle zu lindern. Alkohol, Drogen, Zigaretten – irgendwann in den vergangenen zwölf Monaten waren sie alle meine Busenfreunde gewesen. Einige waren es noch.

»Fertig?«, fragte ich. »Ich müsste mal zurück.«

»Vorerst genügt es«, erwiderte PC Filippos. »Aber können Sie mir für alle Fälle Ihre Privatadresse geben?«

Was für Fälle, fragte ich mich.

Ich gab ihm meine Adresse, er notierte sie und klappte das Notizbuch zu.

»Danke, Dr. Rankin.« Er stand auf. »Das war sehr hilfreich. Zu gegebener Zeit wird sich wohl das Büro des Coroners mit Ihnen in Verbindung setzen.«

»Was passiert denn, wenn Sie nicht herausfinden, wer er war?«, fragte ich.

»Ach, das finden wir schon raus. Zuerst mal gleichen wir seine Personenbeschreibung mit den Vermisstenanzeigen ab. Das führt meistens zur Identifizierung der Verstorbenen. Irgendwo wird ihn irgendjemand vermissen, wenn er nicht nach Hause kommt – heute vielleicht noch nicht, aber schon bald.«

Mich schauderte bei der Vorstellung, dass Frau und Kinder des Mannes nichtsahnend auf seine Rückkehr warteten, während er schon hier im Leichenaufbewahrungsraum gekühlt wurde.

»Schrecklich, so allein zu sterben«, sagte PC Filippos, als hätte er meine Gedanken gelesen. Er trank den Kaffee aus und sah auf seine Armbanduhr. »So, ich muss weiter. Noch mal zur Rennbahn, Spurensicherung in der Toilette.«

»Was, jetzt?«, fragte ich. »Die ist doch bestimmt saubergemacht worden.«

»Die Putzfrau hat ihn ja gefunden. Die Ärmste war ganz durcheinander. Der Mann saß in einer verschlossenen Kabine, und sie konnte nur seine Füße unter der Tür sehen. Ich habe angeordnet, dass niemand die Herrentoiletten betritt, deshalb geh ich am besten heute Abend noch mal hin. Morgen müssen sie zugänglich sein.«

Er eilte davon, und ich nahm mich der Kranken und Verletzten an, wobei ich immer wieder an den Namenlosen denken musste, der ein paar Türen weiter auf einer Edelstahlbahre lag.

Meine Entscheidung, ihm das Adenosin zu geben, machte mir zu schaffen. Warum hatte ich die Blutergebnisse aus dem Labor nicht abgewartet? Das war leichtsinnig von mir gewesen. Sehr wahrscheinlich hatte es seinen Tod beschleunigt. Womöglich aber hätte er sogar überlebt, wenn ich nicht so blöd gewesen wäre.

Schon war ich überzeugt, dass meine Dummheit ihn das Leben gekostet hatte.

Es war allein meine Schuld.

 

Meine Schicht ging bis zwei Uhr früh, und danach bretterte ich wie eine Irre nach Hause.

Die Wut, die in mir brodelte, musste raus.

Ich war wütend auf den Mann, weil er gestorben war, und wütend auf mich selbst, weil ich es nicht verhindert hatte. Vor allem machte mich wütend, was aus mir geworden war – diese elende Depression, die mein Leben zerstörte.

Ich pfiff auf die rote Ampel an der Evesham Road und fuhr ohne auch nur zu bremsen über die Kreuzung.

Als wäre mir alles egal.

Und das war es.

Die Straßen waren leer jetzt, mitten in der Nacht, und mir passierte nichts. Ich fuhr ohne nachzudenken, nicht mit dem Vorsatz, mich umzubringen. Todessehnsucht hätte ich mir eigentlich nicht bescheinigt, aber wäre Freund Hein des Wegs gekommen und hätte mich mit seiner Sense erwischt, hätte mich das nicht groß gekümmert.

Vielleicht war ich lebensmüder, als ich wahrhaben wollte.

Aber dann musste ich an die Insassen des Wagens denken, mit dem ich vielleicht zusammenstieß. Was es für furchtbare Verletzungen bei Autounfällen mit hoher Geschwindigkeit geben konnte, wusste ich nur zu gut. Mein Arbeitstag bestand darin, die Betroffenen zu retten.

Wenn ich andere ernsthaft verletzte oder ihren Tod verursachte, würde ich mir das nie verzeihen.

Ich fuhr etwas langsamer.

Vielleicht war es besser, wenn ich mit Vollgas gegen einen schönen dicken Baum brummte. Das ginge doch.

»Alleinunfall« nannte die Polizei das. »Ts, ts«, würde es heißen, »die ist nach dem langen Krankenhausdienst bestimmt am Steuer eingeschlafen. Eine Schande. Wie sinnlos.«

Aber Grant wüsste Bescheid. Was würde er den Jungs erzählen?

Die Jungs!

Mein Gott, das konnte ich ihnen nicht antun!

Ich fuhr noch etwas langsamer.

 

Und ich kam heil zu Hause an.

Wir wohnten in einem frei stehenden modernen Vierzimmerhaus in einer Neubausiedlung am Rand von Gotherington, einem Dorf acht Kilometer nördlich von Cheltenham.

Die Straße führte an der Rennbahn Cheltenham vorbei.

Dort kannte ich mich aus. Regelmäßig war ich einer der Rennbahnärzte, die den Pferden im Land Rover folgten, um sofort herausspringen und helfen zu können, wenn ein Jockey sich bei einem Sturz verletzte.

Heute Abend aber war ich mit den Gedanken nicht beim Geläuf, den Pferden und den medizinischen Belangen, sondern bei der Herrentoilette unter der Tribüne. Ich musste an die arme Putzfrau denken, die den bewusstlosen Mann in der Kabine entdeckt hatte. Was für ein Schock das für sie gewesen sein musste. Aber wenigstens hatte er da noch gelebt.

Während meines Medizinstudiums war eine Geschichte über einen Mann in Umlauf gewesen, der starb, als er auf dem Klo saß. Und mit dem makabren Humor aller Medizinstudenten hatten wir darüber gelacht, dass er erst gefunden wurde, als die Totenstarre schon eingesetzt hatte. Die Krankenwagenbesatzung hatte ihn nicht auf ihre Trage legen können. Er musste auf einem Stuhl zur Leichenhalle gebracht werden.

Ich bog in die Einfahrt und stellte meinen Mini Cooper neben Grants Audi.

Ein gutes Zeichen, dachte ich. Er ist noch da.

Ich hatte große Angst, dass Grant mich verlassen würde, dass er genug hätte von meinem unberechenbaren Verhalten und eines Abends, wenn ich nach Hause kam, ausgeflogen wäre. Eine handfeste Grundlage für diese Befürchtung gab es nicht. Keine unerklärten Anrufe, keine rätselhaften E-Mails, aber Gedanken machte ich mir trotzdem. Wir hatten schon sehr lange nicht mehr miteinander geschlafen, und ich an seiner Stelle hätte mich wahrscheinlich inzwischen verlassen.

Er versicherte mir regelmäßig, er würde nicht weggehen, aber ich wusste, dass er es satthatte, wie auf Eiern um mich herumzuschleichen und lieber still zu sein, als ein falsches Wort zu sagen, an dem ich Anstoß nehmen könnte.

Mir war bewusst, dass mich auch die kleinste Kritik direkt ins Herz traf; jede Unmutsäußerung war ein Stich mit dem Messer.

Ging es nicht jedem so?

Nein.

Ich hatte mich sehr bemüht, die Dinge gelassen zu nehmen, Streit als bloßes Geplänkel zwischen Mann und Frau abzutun, aber Gott hatte mein Gehirn falsch verdrahtet. Ich konnte nichts einfach auf sich beruhen lassen. Grant musste mir jedes Mal genau erklären, was er mit seinen Worten meinte, und wenn er zur Antwort gab, »nichts«, glaubte ich ihm nicht. Es endete mit Tränen, bei ihm oder bei mir, und dann wechselten wir stundenlang kein Wort.

Leise schloss ich die Haustür auf. Im Flur brannte Licht, aber alles war still. Grant hatte den Jungs vielleicht erlaubt, Match of the Day anzuschauen, aber jetzt schliefen sie sicher tief und fest, wie nur Teenager das können.

Ich ging in die Küche, und trotz der Uhrzeit stellte ich die Frühstückssachen raus. Ein Ritual. Müslitüten, Schalen, Löffel, Becher, Teller, Messer, Butterdose und Marmelade – alles hatte seinen angestammten Platz auf dem Tisch.

Prüfend trat ich einen Schritt zurück.

Ein bisschen zwangsneurotisch war ich schon immer gewesen, aber durch die Depression hatte sich das verstärkt. Ich wusste, dass es unvernünftig war zu meinen, alles müsste auf eine ganz bestimmte Art und Weise angeordnet sein, aber ich konnte nicht anders. Womöglich brannte über Nacht das Haus ab, oder meine Mutter starb im Schlaf, oder sonst etwas ungeahnt Schlimmes geschah, nur weil ich die Löffel nicht richtig neben die Müslischalen gelegt hatte.

Ich glaubte daran. Unbedingt.

Ich ging nach oben und steckte den Kopf in die beiden Zimmer der Jungs. Wie erwartet schliefen sie fest, ihr Atmen war Musik in meinen Ohren. Sie waren mein Leben. Mein Ein und Alles.

Ich nahm im Bad meine äußerlich und innerlich anwendbaren Medikamente und glitt dann neben Grant unter die Bettdecke. Er gab einen Brummlaut von sich, den ich als »Willkommen zu Hause« verstand, und schnarchte gleich leise weiter.

Für mich war es die erste von drei aufeinanderfolgenden »Spätschichten« gewesen, und ich war seit sechs Uhr auf den Beinen, fast einundzwanzig Stunden am Stück. Ich war erschöpft, konnte aber dennoch nicht einschlafen.

Wie fast jeden Abend lag ich im Dunkeln und lauschte auf die Geräusche des abkühlenden Hauses. Mein Psychiater hatte mir schlaf‌fördernde Tabletten verschrieben, die aber nicht recht anschlugen. Vielleicht sollte ich die Dosis verdoppeln.

In meinem Kopf ging es zu sehr durcheinander. Ich machte mir Gedanken wegen des namenlosen Toten, wegen der noch lebenden jungen Frau, die ich nach Bristol geschickt hatte, wegen der Marmelade unten, ob sie stand, wo sie hingehörte, oder ob ich nicht lieber nachsehen sollte, wegen der Hypothek und wie ich sie bezahlen sollte, wenn Grant mich verließ, wegen der Hungersnot in Afrika und wegen der Atomraketen, die Nordkorea auf uns regnen lassen konnte. Auf die meisten Dinge, über die ich mich sorgte, hatte ich sowieso keinen Einfluss. Zum Sorgenmachen reichte es aber immer.

Ich drehte mich auf die andere Seite und versuchte erfolglos, mein Gehirn abzuschalten.

Ich war es leid, mir Sorgen zu machen.

Und ich war es leid, dauernd wütend zu sein, mir unnütz vorzukommen und mich innerlich leer zu fühlen.

Ich war es leid, deprimiert zu sein und dabei so zu tun, als ginge es mir prächtig.

Vor allem aber war ich es leid, alles leid zu sein.

 

Irgendwann musste ich eingeschlafen sein, denn als ich aufwachte, war es hell. Und ich lag allein im Bett. Ich drehte mich auf die andere Seite und sah auf den Wecker. Halb neun. Nicht schlecht, dachte ich. Meistens wachte ich um fünf auf.

Grant wird wie jeden Sonntagmorgen joggen, dachte ich. Er hatte ein paar Pfund zugesetzt seit dem Abschied vom Militär, legte aber Wert darauf, einigermaßen fit zu bleiben. Frühestens um halb zehn würde er zurück sein.

Ich gönnte es ihm. Für mich war Sport so ungefähr das Letzte auf meiner Liste. Mir fehlte schlicht die Energie, irgendetwas zu tun, was nicht unbedingt sein musste.

Ich drehte mich wieder auf die andere Seite und vergrub den Kopf im Kissen. Ein bisschen liegenbleiben konnte ich doch sicher noch; am Abend um sechs musste ich dann wieder für acht Stunden ins Krankenhaus und mich um die Nöte anderer Leute kümmern.

Käme ich doch nur mit meinen eigenen zu Rande.

»Bist du wach, Mama?«, rief einer der Zwillinge vom Flur her. Selbst nach vierzehn Jahren konnte ich ihre Stimmen nur schwer auseinanderhalten, besonders bei der Lautstärke.

»Jetzt schon«, rief ich zurück.

»Ich brauch meine Fußballsachen. Um neun hab ich Training.«

Toby, dachte ich. Der zwei Minuten Ältere. Fußballverrückt und jetzt in der Jungenmannschaft im Dorf. »Die sind im Trockenschrank«, rief ich. »Und deine Schuhe stehen unter der Treppe.«

»Danke.«

»Möchtest du was zum Frühstück?«

»Keine Zeit«, rief er. »Ich ess nachher.«

Oliver, der jüngere Zwilling, schlief bestimmt noch fest. Er hielt nichts von Fußball und sah sich Match of the Day nur an, damit er länger aufbleiben durfte. Nach Olivers oft lang und breit erklärter Meinung waren Fußballer nichts als überbezahlte Diven, die einem richtigen Beruf nachgehen sollten, statt dauernd dieses alberne Spiel zu spielen.

Aber ich fand, wir spielten alle ein albernes Spiel, das Spiel des Lebens, und wenn der Schiedsrichter pfiff, traten wir ab und trollten uns aus dem Rampenlicht, um durch einen unaussprechlich benamten Neuzugang von Real Madrid oder Juventus ersetzt zu werden. Das unendliche Spiel ging weiter, nur wir waren nicht mehr auf dem Platz. Und keiner nahm Notiz davon.

Die Haustür fiel ins Schloss, als Toby ging, und ich versuchte, noch ein wenig Schlaf zu bekommen.

Die Ruhe vor dem Sturm.

4

Es begann, heftig zu regnen, als ich am Sonntagabend ins Krankenhaus fuhr, zu einer Zeit, da die meisten normalen Menschen sich auf den Heimweg machen.

Der Tag hatte sich endlos hingezogen.

Mit dem Versuch weiterzuschlafen war ich kläglich gescheitert und hatte mich schließlich vom Bett ins Bad und unter die Dusche geschleppt, als auch schon Grant nassgeschwitzt vom Joggen wiederkam und duschen wollte.

Früher hätten wir uns zusammen in die Kabine gequetscht und die Berührung unserer nassen Körper unter dem warmen Wasser genossen. Unweigerlich wäre es auf ein noch heißeres Miteinander im Schlafzimmer hinausgelaufen.

Jetzt aber nicht mehr.

Es kostete mich schon Überwindung, nackt und zum Anfassen nah mit meinem Mann im selben Raum zu sein.

Ich hasste meinen Körper und er ihn auch, da war ich mir sicher, sooft er mir auch sagte, er liebe ihn. Meine einst festen, vorstehenden Brüste hingen erschreckend schlaff herunter, und obwohl ich allabendlich teure Anticellulite-Cremes auftrug, sah die Haut an meinen Oberschenkeln zunehmend nach Orangenschale aus.

Das allein war schon deprimierend genug.

»Was erwartest du denn?«, meinte Grant dazu. »Du bist über vierzig und hast zwei Kinder geboren. Das braucht dich doch nicht zu beunruhigen.«

Es beunruhigte mich natürlich trotzdem. Und immerzu befürchtete ich, er könnte mich gegen ein jüngeres Modell tauschen, so wie er es alle drei oder vier Jahre mit seinem Wagen machte.

Um kurz vor zehn war ich schließlich runter in die Küche gekommen, und siehe da, die Marmelade hatte die ganze Zeit an der richtigen Stelle auf dem Tisch gestanden. Sonst hätte ich es ja auch bestimmt schon gemerkt. Das Haus wäre abgebrannt, die Jungs hätten sich mit einer bösen Krankheit angesteckt, oder eine weltweite Atomkatastrophe wäre eingetreten, und wir hätten nur noch Minuten zu leben gehabt.

So entscheidend war nun mal der Standort der Marmelade.

Toby kam völlig verdreckt vom Fußballtraining zurück und blutete am Knie, weil ein Mitspieler ihn versehentlich getreten hatte. Aber seine Mutter, die Notfallärztin, durfte da natürlich nicht dran.

»Lass das, Mama«, fauchte er, als ich nachsehen wollte, wie tief die Wunde war. »Das geht schon.«

»Es könnte sich entzünden.«

»Ich hab doch gesagt, es geht«, beharrte er.

Vierzehn Jahre. Noch kein Mann, aber möglichst männlich daherkommen. Ein blutiges Knie war ein Ehrenabzeichen, eine Kriegsverletzung.

»Geh duschen, und tu was hiervon drauf.« Ich warf ihm eine Tube Wundsalbe zu.

Er verdrehte genervt die Augen, fing aber die Tube und nahm sie mit nach oben ins Bad.

Das Mittagessen verlief dann ohne viel Trara, Grant und die Jungs suchten sich irgendwelche Reste aus den Tiefen des Kühlschranks.

Ein Jahr zuvor hätte ich ihnen liebevoll ein richtiges Sonntagsessen vorgesetzt, Hähnchen vielleicht oder Rinderbraten mit allem Drum und Dran.

Ich war stolz gewesen auf meine Sonntagsmahlzeiten und hatte mich gefreut, dass die Familie wenigstens einmal in der Woche ohne Fernseher, Videospiele oder Handyunterbrechungen am Esszimmertisch zusammensaß und sich unterhielt.

Jetzt hatte ich einfach nicht die Energie dazu und auch keine Lust darauf.

Bei den Rankins gab es hauptsächlich Fertig- oder Mitnehmmahlzeiten, so dass Grant und die Wirte des nächsten indischen und chinesischen Restaurants sich mittlerweile mit Vornamen anredeten und er nur noch selten ihr etwas peinliches »Mr Wankin« zu hören bekam.

Ich hatte mir unterdessen vorgenommen, das Essen ganz einzustellen, und lebte nur noch von Gemüsesuppe und ab und zu einem Stück gegrilltem Fisch. Was allerdings wenig nützte. Die Waage im Bad zeigte zwar an, dass ich im Vormonat wieder drei Kilo abgenommen hatte, aber ich fühlte mich nicht dünner. Immer wieder stand ich viel zu lange vor dem Ganzkörperspiegel. Obwohl mir nicht gefiel, was ich sah. Es war nur stressig.

 

Ich stellte meinen Mini auf dem Belegschaftsparkplatz ab.

Es war zehn vor sechs, aber es hätte ebenso gut mitten in der Nacht sein können. Um Viertel nach vier war die Sonne untergegangen, und seit über einer Stunde war es stockdunkel. Zudem hatte der starke Regen die Straßen leer gefegt bis auf die Hartgesottensten.

Der verhasste Winter stand vor der Tür. Die kürzer werdenden Tage passten zu meiner trüben Stimmung. Nur fünf Wochen bis zur Wintersonnenwende, tröstete ich mich, dann würden die Tage ja wieder länger.

Fünf Wochen hielt ich doch wohl aus.

Aber dann kam Weihnachten.

Schon beim Gedanken daran krümmten sich die Zehen in meinen Schuhen.

Wie sollte ich das ganze Schlemmen, Trinken und Fröhlichsein überstehen? Jede Form von Sozialleben war mir zu viel. Ich hatte das Bedürfnis, mich vor allen außer meiner engsten Familie zu verstecken. Und ausgerechnet ich war jetzt wieder dabei, in eine Schattenregion des menschlichen Lebens einzutauchen, mich mit Menschen in all ihrer Verletzlichkeit zu befassen, die auf meine Hilfe angewiesen waren.

Aber sie waren Fremde.

Wieso das einen Unterschied machte, weiß ich nicht.

Ich hatte mehr Angst davor, mit engen Freundinnen ein Glas zu trinken, als in piranhaverseuchtem Wasser zu schwimmen. Mit einem Wartezimmer voller Patienten hingegen kam ich ganz gut zurecht.

Auch wenn ich an diesem Abend keine Patienten behandeln sollte.

 

Zwei Männer und eine Frau erwarteten mich, als ich vom Parkplatz hereinkam und mich umziehen wollte. Mir war sofort klar, dass das nichts Gutes bedeutete.

»Ah, Chris, da sind Sie ja«, sagte einer der Männer, als er mich erblickte. Ich kannte ihn gut. Er war der ärztliche Direktor der Kliniken von Gloucestershire. Mein oberster Chef. Was machte er hier an einem Sonntagabend? Noch dazu im Anzug.

»Können wir uns kurz unterhalten?« Er war sichtlich verlegen.

»Natürlich«, sagte ich. »Hier?«

Krankenhauspersonal lief umher, die einen kamen, die anderen gingen.

»Lieber irgendwo, wo wir ungestört sind«, sagte die Frau.

Zu viert gingen wir im kühlen Licht der Neonröhren durch den langen, kahlen Krankenhausflur. »Auf dem Weg zur Todeszelle«, schoss mir durch den Kopf.

Mir sollte es recht sein, wenn das Ende nur schnell kam.