Changers - Band 4, Kyle - T Cooper - E-Book

Changers - Band 4, Kyle E-Book

T Cooper

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Beschreibung

Kim und Audrey stehen sich auf der RaChas Demonstration gegenüber und Audreys Blick ruht auf Kims Armband. Das gleiche Armband, das sie Drew geschenkt hat und dann bei Oryon gefunden hat. Der Moment der Wahrheit ist gekommen und Kim will sich nicht länger verstecken. Sie erzählt Audrey alles. Wie wird sie reagieren? Ist ihre Liebe stark genug, um diese Wahrheit zu verkraften? Gleichzeitig wartet seine letzte Identität auf Kim. Kyle, ein gutaussehender Mädchenschwarm. Und eine Frage rückt unaufhaltsam näher: Für welche Identität wird er sich entscheiden? Das grandiose und langersehnte Finale der Changers-Reihe! Übersetzt von Anja Herre.

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Seitenzahl: 294

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T COOPER

ALLISON GLOCK

CHANGERS

KYLE

Aus dem amerikanischen Englisch übertragen von Anja Herre

KOSMOS

Umschlaggestaltung: Henry’s Lodge GmbH Kilchberg (Schweiz)

unter Verwendung einiger Fotos von © GlebStock/Shutterstock und © ostill/Shutterstock

Diese Geschichte ist frei erfunden. Alle Namen, Charaktere, Orte und Ereignisse entspringen der Fantasie der Autoren. Etwaige Ähnlichkeiten mit realen Ereignissen und lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.

© 2018, T Cooper und Allison Glock-Cooper, originally published in English by Akashic Books, New York (akashicbooks.com)

Aus dem Englischen von Anja Herre

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele

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Spielen, Experimentierkästen, DVDs, Autoren und

Aktivitäten findest du unter kosmos.de

© 2018, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-440-15766-4

eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Für Mary Gonzalez 1933–2016

Bevor er zu demjenigen wurde, zu dem er bestimmt war, bevor er diese vier Jahre, genannt Highschool-Zeit, durchlebt hatte, in denen alles, was ihm jemals vertraut gewesen war, sich in Luft auflöste, in denen ihm der Boden unter den Füßen weggezogen wurde und in denen er sich verliebte, in denen er Hass und Gewalt erfuhr und seinen besten Freund verlor und er Leben rettete, ohne sich bewusst zu sein, wie, und von einem Mädchen und einem Jungen gerettet wurde und von Worten und Musik und er alles falsch machte, bis er einige wichtige Dinge richtig machte, bevor er hinterfragte, was es hieß, etwas Besonderes zu sein, überhaupt irgendetwas zu sein, und sich seine Macht zunutze machte, die Macht, an die er nicht geglaubt hatte und die andere an sich zu reißen versuchten, bevor irgendetwas von alldem und hundert andere schreckliche, wundersame, wahnsinnige, magische Dinge geschahen, war er nur ein Mädchen namens Kim, das in Tennessee in den USA lebte.

FRÜHLING

KIM

CHANGE 3

TAG 201

Ich habe das Streichholz angezündet.

Ich habe die Flamme ans Dynamit gehalten, zugesehen, wie die Zündschnur zu Asche verbrannte, und bin reglos stehen geblieben, bis die Explosion mit gleißendem Lichtschein mein ganzes Leben in die Luft jagte.

Es war herrlich.

Wisst ihr, wie fantastisch es sich anfühlt, anderen zu zeigen, wer man ist?

Es ist wie bei den Naturdokumentationen, wo in jedem Lebewesen, jedem Insekt, jedem Blatt, jedem Tröpfchen Wasser so dermaßen viel Schönheit steckt, dass das Herz ganz voll wird und Endorphine den Körper fluten und man wieder daran glaubt, dass die Welt, so voller Müll und Müllmenschen sie auch sein mag, trotz allem ein einziges Wunder ist.

So fühlt es sich an, wenn man die Wahrheit über sich preisgibt. Besonders, wenn man jahrelang ein riesengroßes Geheimnis für sich behalten hat: Wer man ist. Das kann man höchstens damit vergleichen, geboren und aus der Dunkelheit befreit zu werden, zu explodieren wie ein verdammtes gigantomanisches Feuerwerk.

Heute Nachmittag war ich ein Feuerwerk. Und ich weiß, dass es Kollateralschäden geben wird. Trümmer. Aufräumarbeiten. Aber ich bin zu müde, um darüber nachzudenken. Im Augenblick will ich mich nur in meinem Strahlen sonnen.

KIM

CHANGE 3

TAG 202

Also dann.

Audrey weiß es.

Alles.

Na ja, nicht alles alles. Aber sie weiß über mich Bescheid. Über alle Ichs. Oder zumindest, dass es mehrere Ichs gibt. Aber dass sie alle dasselbe Ich sind. Mehr oder weniger. Den Rest wird sie herausfinden. Ich helfe ihr. Ich werde erklären und sie wird verstehen, und die Puzzleteile werden sich zusammenfügen und das prachtvolle Bild wird sich in all seiner befriedigenden Vollendung offenbaren. Ich glaube daran! Endlich bin ich gläubig!

Die gestrige Demo der RaChas entwickelte sich zu einer beschissenen Darbietung erster Güte, als Audrey das Armband an mir entdeckte, das sie mir geschenkt hatte – das sie Drew geschenkt hatte, im ersten Highschool-Jahr. Ich sah, wie es bei ihr klick machte. Sie flüsterte: »Drew?«, mit einer Stimme, die ängstlich und zugleich erleichtert klang. (Das mit der Erleichterung bilde ich mir vielleicht auch bloß ein.)

Ich kann mich nicht erinnern, ob ich nickte oder lächelte oder mit den Schultern zuckte oder alles zusammen, aber ich weiß ganz sicher, dass sich ihr Blick eine ganze Minute lang nicht von meinem löste, und es fühlte sich endlich so an wie in alten Zeiten, als wir beste Freundinnen waren, die sich mehr aufeinander verlassen konnten als auf irgendwen sonst auf der Welt.

Audrey begann zu zittern und ich hätte sie liebend gern umarmt. Doch bevor ich dazu in der Lage war, kam, natürlich, ihr Bruder auf uns zugestürmt. Sein Halsband spannte über den geschwollenen Adern, die seinen Hals durchzogen. Jason hatte keinen Bock auf irgendeinen Aspekt der Botschaft »Anderssein ist keine Schande!«, die wir in den Straßen proklamierten, und noch viel weniger Bock darauf, dass seine Schwester sich mit uns Schilder haltenden und Slogans rufenden Alternativfreaks zusammentat, die wir für unser Recht eintraten, anders zu sein als seine Version von »normal«.

Ihm dicht auf den Fersen war Destiny (meine treue Beschützerin, seit Chase nicht mehr da ist), die, statt zu protestieren, nun herbeistürzte, um Jason abzufangen, bevor er die Schwefelbombe seiner giftigen, weißen, männlichen Privilegien zünden konnte.

Während Jason und Destiny auf uns zusteuerten, packte Audrey meinen Unterarm, drehte ihn um und schob einen Finger unter das Armband, um es ganz genau zu betrachten. Yepp, dasselbe, das sie Drew geschenkt hatte. Dasselbe, das Oryon irgendwie auch hatte. Und jetzt Kim. Den Tränen nahe schaute sie gerade wieder auf, als Jason und Destiny uns erreichten und Audrey und mich in die Zange nahmen.

»Na logo, wenn in einem Umkreis von hundert Meilen die Missgeburtenflagge gehisst wird, taucht die alte Kuh auf«, bellt Jason in meine Richtung.

»Hast du was gesagt, Faschist?«, schäumt Destiny und rammt Jason so überraschend fest gegen die Schulter, dass er fast hinfällt.

Jason findet rasch das Gleichgewicht wieder und lacht Destiny ins Gesicht. »Ihr Leute seid schon echt angriffslustig«, sagt er und leckt sich die Lippen.

Daraufhin tut Destiny, was Destiny tun muss: Sie holt aus und boxt ihm gegen den Kiefer, so fest, dass Jason auf dem Arsch landet. Audrey schnappt nach Luft. Mehrere Leute filmen den Zwischenfall mit ihren Handys. Ich greife nach Destiny und ziehe sie zurück.

»Weg hier«, flüstere ich. »Das könnte hässlich werden.«

»Ist es schon«, sagt sie und wirft einen wütenden Blick zu Jason, der sie spürbar zornig vom Gehsteig aus anstarrt.

Mittlerweile sind die radikalen Changers stehen geblieben und verstummt. Benedict ist sonderbar still geworden, der Vortrag vor dem Fernsehjournalisten abgebrochen, im Fokus der Kamera nun der brodelnde Konflikt zwischen Jason und Destiny. Audrey hingegen klammert sich immer noch an meinen Arm, ihre Finger umfassen fest mein Handgelenk.

»Aud, ich wollte es dir sagen«, murmele ich. »Ich wollte es dir nie nicht sagen –«

Ohne Vorwarnung springt Jason auf, stößt Audrey beiseite und katapultiert sie damit in die Menschenmenge, als er auf Destiny zuprescht. Er langt nach ihrem Gesicht und seine Hand quetscht ihre Nase und ihr Kinn, als wäre dies ein Footballspiel und er wollte einen Tackle verhindern. Hinter ihm taucht plötzlich Andy auf, brüllt: »Rühr sie nicht an!«, und hängt sich an Jasons Rücken. Die beiden drehen sich zweimal im Kreis, bevor sie zu Boden gehen, wo sie wie wild herumrollen und sich gegenseitig die Köpfe einschlagen, während die Fernsehkamera die ganze Zeit auf sie gerichtet ist.

Erschüttert, dass seine sorgfältig inszenierte Werbung um Frieden und Akzeptanz des Andersseins in eine blutige Straßenschlägerei ausgeartet ist, rennt Benedict zu ihnen. »Du solltest überhaupt nicht hier sein!«, schreit er Andy an und versucht, die beiden zu trennen, wird dabei aber selbst in die Schlägerei verwickelt.

Jetzt sind sie schon drei – Benedict, Anführer der RaChas, Andy, der schlagkräftige Verbündete der RaChas, und Jason, der flügge gewordene Getreue –, die auf dem glühend heißen Asphalt miteinander ringen und sich winzige Steinchen in die Ellbogen und Knie bohren. Destiny steht daneben, tritt Jason gegen den Oberschenkel und feuert Andy an.

Die wenigen Polizisten, die die Demo begleiten, stürmen heran und ziehen im Laufen ihre Schlagstöcke. Als Benedict das bemerkt, zieht er sich zurück, denn er will nicht auf der falschen Seite des Gesetzes landen (alles schon gehabt). Er schlängelt sich geschickt durch die Menge und außer Reichweite. Die Polizisten richten ihre Schlagstöcke gegen Jason und Andy, die sich trotzdem weigern aufzuhören, weshalb schon bald Holz auf Knochen kracht. Nach wenigen Knüppelschlägen lassen Andy und Jason voneinander ab, Jason heult auf und fasst sich mit schmerzverzerrtem Gesicht ans rechte Knie.

»Hoch mit dir!«, brüllt der Cop ihn an, doch Jason bricht beim Versuch, sein Knie zu belasten, sofort zusammen. »Wir dulden hier keine Anarchisten.«

»Ich bin keiner von denen!«, schreit Jason, als man ihn und Andy mit Kabelbindern fesselt. »Ich habe ein Footballstipendium!«

In all dem Chaos suche ich nach Audrey, und schließlich entdecke ich sie weit drüben auf der anderen Seite, orientierungslos. Ich hüpfe auf und ab und winke mit beiden Armen. Sie sieht mich und schiebt sich durch das Gedränge in meine Richtung. Mühsam arbeiten wir uns auf einander zu, die Arme ausgestreckt. Bevor wir uns erreichen, packt ihre Mutter Audrey am Kragen.

»Versprich mir, dass ich dir das erklären darf!«, rufe ich, als sie, Umstehende anrempelnd, weggezerrt wird. »Wenn du danach nie wieder mit mir reden willst, lass ich dich in Ruhe, ich schwör’s!«

Audrey nickt und versucht, den Blickkontakt mit mir zu halten, während ihre Mutter sie immer weiter wegzieht, bis ich schließlich ihr Gesicht in dem Menschengewühl nicht mehr ausmachen kann.

Neben mir hüpft Destiny auf Zehenspitzen wie ein Boxer, der soeben den Titelkampf gewonnen hat. Die wenigen übrig gebliebenen RaChas zerstreuen sich, als Jason auf den Rücksitz des Polizeiwagens gedrückt wird.

Andy wird in einen anderen Streifenwagen geschoben und mir wird schlagartig klar, dass es an mir liegt, ihn wieder auf freien Fuß zu kriegen, da niemand hier weiß, wer er ist, und unser furchtloser Anführer Benedict sich sonst wohin aus dem Staub gemacht hat.

»Na, das ist doch mal ein Anblick, den man nicht alle Tage hat«, sagt Destiny und nickt den zwei weißen Jugendlichen nach, die mit heulenden Sirenen zur Polizeiwache gebracht werden. »Ich würde sagen, diesen kleinen Sieg sollten wir feiern!«

Ich lächle, bin jedoch geistig abwesend, rastlos. Ich will meinen eigenen kleinen Sieg feiern. Ich habe mich geoutet. Und obwohl es scheißkompliziert war, ist meine Welt nicht untergegangen. Im Gegenteil. Es fühlt sich an, als wär dies endlich der Anfang.

Die Sache mit der Wahrheit ist die: Wenn man einmal damit angefangen hat, kann man schwer wieder aufhören.

Nachdem ich mich Audrey offenbart hatte, wurde mir bewusst, dass meine Liste von Leuten, denen ich mein Geheimnis verraten wollte, ganz schön lang war. Das ist den Changers – natürlich – verboten. Die erste Regel vom Changers-Club lautet, man spricht nicht über die Changers. Meine Advokatin Tracy würde mich mit ihrem kanariengelben Tory-Burch-Gürtel strangulieren, wenn sie herausfände, dass ich unsere Bewegung verraten habe.

Aber … irgendwie ist mir das mittlerweile ziemlich egal.

Benedict hat uns schließlich alle da auf die Bühne gestellt. Das Video von Destiny, wie sie Jason unerwartet ins Gesicht boxt, geht in den sozialen Medien viral. (Verschiedene Leute haben es mittlerweile sogar mit Musik unterlegt, wobei bei meiner Lieblingsversion der Schlag zeitlich genau auf den Einsatz des Schlagzeugs in Phil Collins’ In the Air Tonight abgestimmt ist. Zu sehen, wie dieser Schlag in Jasons dämlichem Gesicht landet, ist ganz großes Schadenfreudekino. War wohl nix mit »feel it coming in the air« für ihn, in dieser Nacht, ähem.)

Ich bin sicher, dass der Rat sich weder über diese noch irgendeine andere Form der öffentlichen Enthüllung freuen wird. So mächtig er auch sein mag, letztlich kann nicht einmal er die lauffeuerartige Verbreitung via SnapChat, Instagram und YouTube eindämmen. In der CB gibt es kein Kapitel über Geheimhaltung in Zeiten der sozialen Medien. Vielleicht kann Tracy einen Anhang mit Tabellen und Grafiken erstellen, wie man das Unbändige bändigt. Ihre Tabellen und Grafiken sind erstklassig.

Nicht dass es bisher überhaupt wahnsinnig viel öffentliches Interesse gegeben hätte. Dieser Tage sind alle so mit sich selbst beschäftigt, dass diese Angelegenheit vielleicht gerade mal ein Ruckeln von einer Millisekunde im sozialen Gefüge verursacht hat. Entweder begreifen die Leute nicht, was Changers sind (wahrscheinlich, da Benedict uns aufgefordert hat, möglichst vage zu formulieren), oder es interessiert sie einen schnuckligen Scheiß (wahrscheinlicher), solange es nicht ihr eigenes Leben spürbar behindert oder beeinflusst. Was mich zu Andy bringt.

Armer, bemitleidenswerter Andy. Er hat echt die Popokarte im Changers-Spiel gezogen. Erst verliebt in einen Changer, der ihn verlassen hat, gegenwärtig verknallt in Destiny, als ob Destiny je mit einem Typen wie Andy was anfangen würde, dem es, nennen wir die Sache ruhig beim Namen, an Coolness mangelt, und zwar nicht auf die charmant nerdige Art eines Jon-Cryer-Duckie. Und damit nicht genug, er hat auch seinen besten Freund an die Changers-Plage verloren. Nicht, dass ihm das bewusst gewesen wäre. Bis jetzt.

Ja, genau. (Siehe oben, Absatz zum Thema Wahrheit.)

Passiert, nachdem Andy und der rechts (und trotzdem nicht richtig) tickende Jason wieder auf freiem Fuß waren. Ein paar Stunden nach ihrer Verhaftung ließ man sie schon wieder gehen, mit nichts als einer Verwarnung wegen Störung der öffentlichen Ordnung. (Eine Liebenswürdigkeit, die Oryon, DJ oder Destiny sicher niemals zuteilgeworden wäre, wie ich aus eigener Erfahrung weiß und weil ich Augen im Kopf habe.)

Jasons Eltern waren schon auf der Wache, wo sie einen Aufstand um auf sein verletztes Knie machten und damit drohten, die Stadt auf entgangenes Einkommen zu verklagen, falls er nicht mehr Football spielen könnte, als Destiny und ich anrollten, um Andy abzuholen. (Kein Lebenszeichen von Audrey, die vermutlich gerade zu Hause wild Gestaltwandler oder Genmutanten in die Suchmaschine tippte, in der Hoffnung, herauszufinden, was Drew, Oryon und Kim verf***t noch mal überhaupt sein könnten.)

»Gut siehst du aus, Conor McGregor«, sagt Destiny, als wir Andy auf einer Bank entdecken, offenbar ziemlich gedrückter Stimmung. »Ich glaube, du hast da was Überfahrenes im Gesicht.«

»Ist das deine Yubaba-Cosplay-Maske?« Ich erschaudere bei seinem Anblick.

»Leckt mich«, murmelt Andy, folgt uns zu Destinys Wagen und legt sich vorsichtig auf den Rücksitz.

»Willkommen im Fight Club.« Destiny dreht sich um, tätschelt Andy das Knie. Verächtlich schnaufend dreht er sich weg.

»Du solltest was gegen die Schmerzen nehmen und das kühlen, was von deinem Kopf noch übrig ist«, sage ich.

»Was Essbares würde ihn auch nicht umbringen«, witzelt Destiny, legt den Gang ein, schert aus und zieht an Jason vorbei, der gerade in den schwarzen Wagen seiner Eltern steigt, reckt ihre Hand durchs Fenster und streckt demonstrativ den Mittelfinger erhaben in seine Richtung.

»Wer ist der Typ überhaupt?«, jammert Andy vom Rücksitz aus.

»Der Albtraum einer jeden Frau«, sagt Destiny.

»Haargel in Menschenform«, sage ich.

»Wandelnde Werbung für Abstinenz.«

»Wochenalte Muschelsuppe im Hautanzug –«

»Okay, okay, schon kapiert«, unterbricht Andy.

»Kim hat ihn auch mal geschlagen«, sagt Destiny, und ich werfe ihr einen Blick zu, um ihr zu signalisieren, dass sie vielleicht etwas zu mitteilsam ist. Sie ignoriert mich. »Uuuund sie hat letztes Jahr mit seiner Schwester geschlafen.«

»Andy ist das alles vollkommen egal«, sage ich laut, um Destinys Plauderzug abzubremsen.

»Die Schwester des menschlichen Haargels ist lesbisch?«, fragt Andy und fühlt sich offenbar fit genug, um sich aufzusetzen.

Destiny fängt an zu kichern, präsentiert ihr megamäßiges, Ich-bin-zu-sexy-um-mir-sagen-zu-lassen-was-ich-zu-tun-oder-zu-lassen-habe-Lächeln und gibt meine gesamte dreijährige, erbärmliche Changers-Geschichte mit Audrey zum Besten, angefangen bei Drew, als verliebte BFFs, über Oryon und die Sexkapade, die unter einem schlechten Stern stand und mich in eine Getreuengefängniszelle brachte (»Das Licht am Ende des Tunnels: Dort haben wir uns kennengelernt!«, merkt Destiny an), bis hin zu Kim, dem queeren Theatergroupie, die »der schlimmste Albtraum von Audreys Familie ist! Fett, Femme und Asiatin!«

Destiny stimmt das Lied von Kim Chi an: »Every generation, Beyoncé, Madonna, got nothing on this triple threat, do the fat, fem and Asian«, das sich in hysterischem Lachen auflöst.

Andy schweigt, hängt an ihren Lippen und versucht, meinen Mehrfachlebensgeschichten mit seinem Changers-traumatisierten Konstantengehirn zu folgen.

»Und wer warst du als Erstes?«, fragt er.

»Drew«, antwortet Destiny an meiner Stelle.

»Nein. Ich meine davor.«

»Destiny, fahr rechts ran«, sage ich.

»Spinnst du, Kim?«

»Mach schon.«

In einem parkenden Wagen, an dem andere Autos vorbeizischen, auf dem schmalen Standstreifen der I-75, das Dröhnen der Autobahn in den Ohren, erzähle ich Andy also, wer ich »als Erstes« war. Was bedeutet, dass ich ihm vor Destiny und einer nicht geringen Anzahl von Autofahrern, die düsen, wohin auch immer Autofahrer so düsen, sage, dass ich sein lange verloren geglaubter Freund Ethan bin, der Typ, der mit ihm in den gleichen Batman-Kostümen an Halloween von Tür zu Tür zog, der Typ, der mit ihm lernte, wie man einen Ollie macht, der Typ, mit dem er Furzwettbewerbe auf dem Ledersofa seiner Eltern veranstaltete, der Typ, auf den er sich immer verlassen konnte, sein Bruder im Geiste, der kurz vor der Highschool urplötzlich wegzog und ihn ab da vollkommen ignorierte.

Damit er mir wirklich glaubt, sage ich noch einmal klar und deutlich, dass ich Ethan war und nie vorhatte, ihn zu verletzen, doch dass es Regeln gab, die ich damals befolgt hatte, dass ich dies aber nicht mehr täte und dass ich hoffe, er könne mich verstehen, und selbst wenn nicht, dass ich hoffe, er könne mir verzeihen.

Andy sagt kein Wort, während ich endlos herumschwafele. Er meidet meinen Blick, während Destiny aus dem Fenster dampft und so tut, als würde sie nicht zuhören.

Von Andy kommt nichts als ohrenbetäubendes Schweigen, nachdem ich schließlich verstummt bin, nachdem ich zum Schluss noch das altbewährte »Du würdest es nicht verstehen« rausgekramt habe, was das Letzte ist, das man überhaupt jemals hören will.

Nach einer vollen Minute oder auch zwei (was sich nicht lang anhört, aber unerträglich lang ist, wenn man in einer Pfütze von Versagensbeichtschweiß am Rand einer viel befahrenen Autobahn mariniert): »Ich bin hergekommen, um nach dir zu suchen«, gibt Andy leise zu. »Na ja, nach Ethan.«

»Ich weiß«, sage ich.

Andy kaut auf seiner geschwollenen Lippe herum. Zuckt mit den Schultern. »Mission erfüllt, schätze ich.«

»Hurra?«, frotzele ich sarkastisch, wohl wissend, dass Kim nicht im Geringsten der Mensch ist, nach dem Andy gesucht hat. Ich auch nicht, Mann.

»Ethan ist immer noch da.«

»Ach ja, wo?«, schießt Andy zurück, nun noch erschöpfter als auf der Wache.

»Können wir los?«, mischt sich Destiny ein. »Ich werde langsam high von den Benzindämpfen, und zwar nicht auf gute Weise.«

Ich nicke. Dann fahren wir schweigend zum Hauptquartier der RaChas. Bevor Destiny den Motor ausmacht, will ich mich umdrehen und Andy erneut sagen, dass es mir leidtut, doch er hievt sich schon aus dem Auto und läuft den Gehweg entlang in Richtung Lagergebäude, ohne ein Wort oder einen Blick zurück.

»Furzwettbewerbe?«, fragt Destiny und zieht eine Augenbraue hoch. »Ich wette, du hast jedes Mal gewonnen.«

»Ist das eine Spielaufforderung?«, frage ich und beobachte Andy durch die Windschutzscheibe.

»Darling, du weißt, dass ich in dieser V nicht furze. Ich bin die reine Perfektion.«

»Du bist das reine Irgendwas.«

»Was machst du jetzt mit ihm?«, fragt sie ernst.

»Ich weiß es nicht«, sage ich, weil es stimmt.

»Er kriegt sich schon wieder ein. Vielleicht.«

»Und wenn nicht?«

»In ein paar Monaten bist du jemand anderes«, erinnert sie mich.

Da war es wieder – wie hatte ich das vergessen können? Der ganze Kram von wegen Wahrheit, Coming-out, Lern-mich-kennen-und-liebe-mich bedeutete nicht das Geringste, wenn ich nicht alles noch mal machte, sobald ich mich in meine letzte V verwandelt hatte.

Meine allerletzte V.

All das ist bald vorbei. Dann stehen meine Auswahlmöglichkeiten fest. Endlich kann ich wählen, wer ich für den Rest meines Lebens sein will. Die Erkenntnis ist gleichzeitig aufregend und lähmend. Wie bei dem Spiel, bei dem scherzhaft unmögliche Fragen gestellt werden: »Wenn du für den Rest deines Lebens nur eine Sache essen könntest, was würdest du nehmen?« Es gibt keine richtige Antwort. Selbst die köstlichste Mahlzeit deines Lebens schmeckt nach ein paar dutzend Mal fad. Man glaubt, man will Pizza, dann isst man zehnmal hintereinander Pizza und schon ist Pizza eine Foltermethode.

Was, wenn ich mich nun in jemand Schreckliches verwandele? Was, wenn mein letztes Jahr das schlimmste von allen wird und ich nicht will, dass Audrey erfährt, wer ich bin? Was, wenn der Rat mir für meine Sünden im nächsten Jahr eine Lektion erteilen will und mir eine »herausfordernde« V zuordnet? Was, wenn? Was, wenn? Was, wenn?

»Hey! Kopfjunkie, wir sind zu Hause«, sagt Destiny und schnippt mir leicht ans Ohr.

»Tut mir leid, ich …« War abwesend.

Destiny schaltet auf P, beugt sich herüber und umarmt mich fest. »Das wird schon«, flüstert sie und hebt ihre blau geschwollene Hand für eine Gettofaust. »Mann, ich hab einen Neonazi geschlagen. Ich bin eine schwarze Indiana Jones!« Dann: »Aufs Nazikloppen.«

»Aufs Nazikloppen«, antworte ich und meine Fingerknöchel stoßen gegen ihre.

»Aua«, jault sie auf.

»Ich hab dich lieb, Destiny.«

»Ich hab dich auch lieb, Versager. Jetzt schieb deinen widerwärtigen Arsch aus meinem verdammten Auto.«

KIM

CHANGE 3

TAG 203

»Was zur alttestamentarischen Hölle hast du dir dabei gedacht?«

Meine Advokatin Tracy braut sich wie gewöhnlich ein bitteres Substrat aus Panik und Urteil. »Demonstrieren? Dich outen? UNS outen? Hast du den Verstand verloren?«

Tracy geht in meinem Zimmer auf und ab. Dies ist ein Hausbesuch – eine Aufmerksamkeit von Alltagscoach Turner, der, kaum bekam er Wind von der Mobilisierung der RaChas, jeden verfügbaren Advokaten entsandte, um den ihm zugewiesenen Changer zurechtzuweisen, bevor sich aus einer einzigen Protestaktion ein Dutzend Mikrorebellionen formieren konnten, obwohl die ursprüngliche Aktion bisher kaum messbare Konsequenzen gehabt hatte, abgesehen von dem rasend schnell verbreiteten Video, in dem Destiny Jason k.o. schlägt.

»Hast du mal einen Gedanken daran verschwendet, was dies für uns bedeuten könnte?« Tracy flüstert, als würden wir in einer dunklen Tiefgarage Spionagegeheimnisse austauschen.

»Ja. Deshalb habe ich es getan«, sage ich. »Sich verstecken ist Schwachsinn.«

»Du klingst wie dieser nichtsnutzige Benedict Arnold«, faucht sie.

»Wenn du im Geheimen leben willst, okay, aber ich will das nicht.«

»Wir verstecken uns nicht. Wir treffen kalkulierte Entscheidungen«, entgegnet sie derart scharf, dass Snoopy von meinem Bett springt.

»Für wen?«, frage ich rotzig.

»Für alle. Für die Menschheit. Um Himmels willen, Kim. Hast du jetzt komplett den Faden verloren? Ich dachte, du wärst weiter.«

Schweigend beobachte ich, wie Snoopy mit seiner Schnauze den Türspalt weiter aufschiebt und hindurchschlüpft, während ich selbst die Anspannung genieße, die zwischen Tracy und mir durchs Zimmer wirbelt.

Sie drängt weiter: »Wir existieren doch bloß, um Empathie und Toleranz zu verbreiten, um ständig besser zu werden, um Vorbilder zu sein, um unsere Konstante zu finden und mehr Changers zu zeugen, damit es am Ende niemanden mehr gibt, vor dem man Angst haben muss. Wir Changers vereinen alle Seelen miteinander, erhalten und würdigen ihre Unterschiede. Wir sind hier, um das Konzept der Angst vor dem Anderssein auszulöschen.«

»Liebe und Licht, stimmt’s?«, blaffe ich mit sarkastischem Unterton.

»Mach unsere Mission nicht schlecht. Dafür bist du zu klug.«

»Trace? Glaubst du echt, dass man nur dann etwas ändern kann, wenn man unterm Radar fliegt? Mitläuft, um voranzukommen? Die Leute mit Tricks dazu bringt, ihr gütiges Wesen zu entdecken? Ich weiß nicht, ob du dich in letzter Zeit mal umgeschaut hast, aber die Welt ist nicht unbedingt randvoll von menschlicher Güte. Die Getreuen sind auf dem Vormarsch, und zwar gewalttätiger und dreister als je zuvor. Sie vernetzen sich, wuchern wie Krebsgeschwüre.«

»Kim, wer die Macht hat, gibt sie nicht so leichtfertig ab. Zu unserer eigenen Sicherheit müssen wir uns an den Plan halten. Zusammenbleiben. Aus vielen wird eins.«

»Das Werkzeug des Meisters kann niemals dessen Haus einreißen.«

Bei diesen Worten schließt Tracy die Augen, so als würde sie sich an einen Ort meditieren, an dem sie glücklich ist, auch bekannt als die Welt, in der ich nicht existiere. »Du meine Güte«, sagt sie nach einer Sekunde und reißt die Augen wieder auf.

Sie tut mir leid. Sie ist doch nur hier, um ihrer Aufgabe nachzukommen, um zu tun, woran sie fest glaubt. Tracy ist ein guter Soldat, auf jeden Fall, aber sie ist auch ein guter Mensch. Und wieder einmal mache ich ihr das Leben besonders zur Hölle.

»Ich weiß, dass du nur mein Bestes willst«, setze ich an, doch sie unterbricht mich.

»Drei fast unendliche Jahre lang habe ich alles in meiner Macht Stehende für dich getan. Habe versucht, dir den Wert anderer Menschen zu zeigen, den Wert deiner Aufgabe. Unserer gemeinsamen Aufgabe. Und doch hast du dich jedes Mal für dich und deine Bedürfnisse entschieden –«

»Moment mal, jetzt wirst du unfair.«

»Ich hätte nie gedacht, dass ich das einmal sagen würde, aber Chase hatte recht, was dich angeht.«

»Lass Chase aus dem Spiel!«, schreie ich, überrascht über die Zerbrechlichkeit in meiner Stimme.

»Du interessierst dich doch für nichts anderes als für deine eigenen Wünsche«, fährt sie fort.

»Es reicht.«

»Du hast recht, Kim. Es reicht. Ich habe versagt. Wenn du der Welt von uns erzählen, jeden und alles, wofür wir eintreten, in Gefahr bringen willst, dann geht das auf deine Kappe. Ich werde da nicht mitmachen.«

Und damit marschiert Tracy aus dem Zimmer, das Kinn gereckt, der Rücken peitschengerade. Ich kann ihre Empörung praktisch riechen, als sie an mir vorbeigeht.

Ich sollte mich mehr einbringen, aber – und das scheint gerade das Motto meines Lebens zu sein – ich tue es nicht. Ich habe doch um nichts davon gebeten. Wieso ist es meine Aufgabe, irgendwelchen Idioten beizubringen, dass sie sich um andere Menschen bemühen sollen? Eilmeldung: Deppen wie Jason werden sich niemals nie um Freaks wie mich scheren. Manche Leute werden immer »die Homos« und »die Schwarzen« und »die Juden« und »die Moslems« und »die Ausländer« und »die Feministinnen« und »die Armen« und »die Behinderten« und jede andere Gruppe hassen, die eine Bedrohung für ihr einsturzgefährdetes Privilegien-Kartenhaus darstellt.

Jason und seine treuen Getreuentrottel werden nicht eines Tages aufwachen und feststellen, dass sie ihr ganzes Leben lang unterentwickelte Fanatiker waren, und auf einmal anfangen, Essen auf Rädern auszuliefern oder Schichten bei der Selbstmord-Hotline für LGBTQ zu schieben.

Wenn mir mein Jahr als Kim eines gezeigt hat, dann, dass der Appetit auf Grausamkeit unter den Menschen nie gestillt sein wird. Die Oberbitch Chloe kam nie über mein Aussehen hinweg. Allein meine Kleidergröße reichte aus, um mich in eine Schublade zu stecken und sie zu vernageln. Klar, Kim zu sein, hat mir geholfen. Ich bin gewachsen. (Haha, und wie!) Und jetzt? War ich davor denn so ein Arsch? Wenn es nach Tracy geht, bin ich jetzt ein viel größerer Arsch. Heißt das dann nicht, dass diese ganze Changers-Sache eine einzige überholte Scheißidee ist, ganz besonders in Zeiten wie diesen? Und wenn das so ist, weshalb soll ich mich dann ans Protokoll halten?

Es ist mir egal, ob der Rat das hier überwacht. Ich schmeiße die Scheiße. Punkt. Und das Beste daran ist, dass ich mich mit Audrey treffen und ihr den ganzen Mist Stück für Stück erklären kann, und ich bin mir sicher – ich bin mir sicher –, dass sie dann endlich erkennen wird, dass sie zu mir gehört.

Was sonst sollte passieren?

KIM

CHANGE 3

TAG 205

Von dem Feuer habe ich durch Andy erfahren. Er stand plötzlich vor der Haustür, eine Reisetasche in der Hand, und tat so, als wäre er immer noch sauer auf mich, war dabei aber so verängstigt und verloren, dass er sein Motzgesicht nicht lange wahren konnte.

»Es ist weg«, sagte er.

»Was?«

»Das ganze Gebäude, das Hauptquartier der RaChas. Abgefackelt. Fast apokalyptisch.«

»Was? Wie?«

»Getreue, vermutlich. Vielleicht hat ihnen jemand nach der Coming-out-Demo einen Hinweis gegeben«, sagte er.

»Oh Gott. Ist jemand verletzt?«, fragte ich und dachte sofort an ein paar meiner RaChas-Zimmergenossen, mit denen ich während meiner Depression im Hauptquartier gewohnt hatte.

»Nein. Benedict hat so ziemlich alle weggeschickt, um seine ›gesunden Grenzen zu ziehen‹ und sein ›Regime der Selbstfürsorge wieder zu etablieren‹.«

Natürlich.

»Die meisten RaChas sind bei Freunden untergekommen oder in Notunterkünften, außer mir, Zeke und Layla. Layla hat geschlafen, als das Feuer ausbrach. Sie wollte noch was retten, aber so schnell, wie es ging, hat sie es gerade so selbst da raus geschafft.«

»Wo warst du denn, als es passiert ist?«

»Ich habe Benedict geholfen, das Auto zu beladen, für seine, wie er es nannte, ›Reise zu sich selbst‹.«

»Klingt wie ein Buch, das meine Mutter ihren alleinerziehenden Klientinnen empfehlen würde«, sagte ich.

»Wir waren gerade unterwegs, um den Reifendruck zu prüfen, als wir die Sirenen hörten. Bei unserer Rückkehr stand das gesamte Gebäude schon in Flammen.«

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. »Komm rein. Uns fällt schon was ein.«

Ich hatte keine Ahnung, wie ich das meinen Eltern beibringen sollte.

Einen Konstanten aus dem Leben vor der ersten V nach Hause zu bringen, widersprach sicher dem Changers-Protokoll. Ich wusste, dass mein Vater sich in die Hose machen würde, besonders mit seiner zunehmend wichtigen Rolle in der Zentrale. Aber es ging um Andy. Meinen ersten echten Freund.

Ich ging davon aus, dass ich auf Mom zählen konnte, wenn es darum ging, an den Regeln vorbei den Menschen zu sehen. Andy war jemand, der einen Zufluchtsort brauchte. Er konnte sonst nirgendwohin. Und die Sache mit den Changers hatte er schließlich ganz allein rausgekriegt, also mehr oder weniger. Aber er hatte alles von Benedict erfahren. Nicht von mir. Ich würde NIEMALS Regel Nummer eins brechen.

So verkaufte ich es zumindest Mom, deren Hirn, ohne Scheiß, Funken aus den Augenhöhlen schoss, als Andy hereinkam und seine Tasche auf dem Teppich abstellte.

Sie riss sich bestmöglich zusammen, ging zu ihm, erdrückte ihn mit einer ordentlichen Mütter-Umarmung und überschüttete ihn derweil mit tausend Fragen. Wo war er gewesen, wie hatte er uns gefunden, wann war seine Stimme so tief geworden und natürlich ob er einen Hühnchen-Chili-Käse-Burrito wollte.

Andy wirkte dankbar, wenngleich ein wenig peinlich berührt. Nach ein paar Minuten ging er ins Bad und im selben Moment drehte sich Mom zu mir um und verzog das Gesicht zu dem Emoji mit zusammengebissenen Zähnen.

»Dein Vater wird ausflippen«, sagt sie tonlos, als Andy außer Hörweite ist.

»Tut mir leid, ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte«, antworte ich. »Sein Dad hat ihn rausgeschmissen.«

»Ich übernehme das«, flüstert sie.

Beinahe springe ich ihr in die Arme. »Danke, Mom. Ich schwöre, ich hab das nicht geplant – er ist einfach im Hauptquartier der RaChas aufgetaucht.«

»Darüber sprechen wir noch. Aber wir können ihn ja schlecht auf die Straße setzen. Ich vermute, dein Vater und ich werden uns einig sein, Andys Eltern mitteilen zu wollen, dass er noch lebt.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob sie das interessiert«, sage ich.

»Natürlich tut es das.«

Für den Augenblick beende ich die Diskussion. Das Wichtigste ist, dass Andy ein vorübergehendes Zuhause hat. Und ich eine Chance, mich mit ihm zu versöhnen.

»Ich kann nicht glauben, dass sie das Hauptquartier in Brand gesteckt haben. Was, wenn du da noch wohnen würdest?«, fragt Mom dann und ihre Schultern zucken kaum merklich.

»Auf dieser Welt gibt es immer noch ein paar ziemlich kaputte Leute, Mom. Leute, die uns lieber tot sehen würden. Leute, die uns lieber bei lebendigem Leib verbrennen würden, als etwas Fremdem ihre Herzen zu öffnen.«

»Das weiß ich, mein Schatz. Die Geschichtsbücher sind voll von Grausamkeiten.«

Sie sieht aus, als würde sie gleich weinen. Ich ahne, dass ein Teil von ihr genauso wenig daran glaubt wie ich, dass die Changers-Mission die Fehler der Vergangenheit wiedergutmachen kann. Wenn jemand die Grenzen menschlichen Wachstumspotenzials kennt, dann Therapeuten.

»Veränderung passiert nie so schnell, wie wir es gern hätten«, räumt sie ein. »Doch der Fortschritt strebt immer zum Licht.«

»Okay, Alltagscoach Turner.«

»Ich meine es ernst«, beharrt sie, meine Frechheit ignorierend. »Und je heller das Licht wird, umso stärker versuchen die dunklen Mächte es auszulöschen. Der Aufstieg der Getreuen, das Ausarten ihrer Gewalttätigkeit, beweist dass die Changers den Krieg gewinnen. Die Getreuen haben Angst. Sie spüren ihre Bedeutungslosigkeit nahen wie einen starken, reinigenden Regen.«

»Du klingst wie der Trailer zu einem Endzeitfilm«, witzele ich und übernehme den stets gleichen, tiefen Bariton des Erzählers aus dem Off: »In einer Welt voller Schmerz und Hass taucht plötzlich ein unerwarteter Held auf …«

»… ein Held wie kein zweiter, einer, mit dem die Mächte des Bösen nicht gerechnet haben«, fällt Mom mit derselben schnulzig-tiefen Stimme ein.

»Ein Mädchen! In XL! Das auf Mädchen steht! Kannst du das fassen, Scheiße noch mal?«, intoniere ich, den letzten Teil in meiner besten Interpretation von Aziz Ansari.

Wir brechen in schallendes Gelächter aus. Mom gibt mir einen Kuss auf die Wange und sagt mit ihrer Filmstimme, ich solle nach Andy sehen, »bevor es zu spät ist«.

Ich sitze auf meinem Bett und denke über das nach, was sie gesagt hat. Ich möchte darauf vertrauen, dass die Welt sich zur Toleranz hin entwickelt, zu einer breiteren Definition dessen, was ein Mensch sein kann, mit allen Formen und Ausprägungen. Ich möchte sicher sein, dass Jugendliche wie ich, Kris und Michelle Hu, und sogar Audrey, wenn wir schon dabei sind, nicht mit der Angst aufwachsen müssen, dass wir in einem beklemmenden Albtraum à la »Report der Magd« landen werden, doch nach allem, was ich in meinen bisherigen Leben so mitbekommen habe, klingt das wie Fantasy. Die Jasons dieser Welt machen keinen ängstlichen Eindruck auf mich. Sie leiden nicht. Sie müssen sich nicht umschauen, wenn sie die Straße entlanggehen. Sie wirken dreister und selbstsicherer in ihren Überzeugungen als je zuvor.

Andy klopft an die Tür und unterbricht meine trostlose Gedankenspirale.

»Kann ich reinkommen?«

»Logo, Blödmann.«

Also tritt er langsam ein und tastet mit seinen Blicken blitzschnell den Raum ab, als suche er nach etwas Bestimmtem. Beweise für Ethans Existenz, nehme ich an.

»Cooles Zimmer«, sagt er.

»Danke«, sage ich.

»Das hier ist so peinlich, wie im Flugzeug zu furzen.« Er verzieht das Gesicht zu einer Grimasse.

»Yepp. Dabei muss es das gar nicht.« Ich versuche, Kim aus seiner Perspektive zu sehen. Frage mich, was er von ihr hält. Was er von ihr hielte, wenn er nicht wüsste, dass ich es bin.

»Nein?«, fragt er.

»Wär es dir lieber, ich wäre Destiny?« Ich mache einen auf verführerisch und schüttle den Oberkörper.

»Mann. Lass das.«

»Findest du mich nicht sexxxxy? I’m too sexy for my cat, too sexy for my blouse, too sexy for my car«, singe ich los.

»Alter, das ist nicht der richtige Text.«

»Too sexy for my sandwich, too sexy for my jeans –«

»Ich flehe dich an, hör auf!« Andy stöhnt verzweifelt. Es fühlt sich ein bisschen an wie früher, wenn er und ich uns zum Affen gemacht haben.

Ich stehe auf und tanze den Robotertanz. »I’m too sexy for my external hard drive, for my animatronic limbs.«

Andy springt auf, tanzt nun auch, und zusammen bringen wir die wohl traurigste Pop-and-lock-Performance aller Zeiten.

»Too sexy for my empty, cavernous soul, too sexy for Sylvia Plath, too sexy for Kid Rock, I mean Robert Ritchie«, singe ich und Andy lacht sich kaputt, bis wir beide völlig erschöpft und keuchend nebeneinander auf dem Bett zusammenbrechen.

Ich drehe den Kopf und schaue ihm direkt in die Augen. Mir kommt ein Gedanke, aber ich behalte ihn für mich – denn Andy wird ihn komisch finden. Doch dann kann ich mich nicht beherrschen und es sprudelt aus mir raus: »Ich hab dich vermisst, irgendwie. Es war schwer, alles allein durchzustehen, schließlich kennt mich niemand so gut wie du.«

Andy streckt sein Kinn Richtung Zimmerdecke und unterbricht damit den Blickkontakt, aber ich rede weiter: »Ich weiß, wie bekloppt das ist. Aber ich hab mir das nicht ausgesucht. Ich wollte dich auch nie im Stich lassen. Ich hab dich gebraucht.«

»Klar hast du das«, presst Andy hervor und dreht seinen Kopf noch weiter von mir weg.