Chaostheorie der Liebe - Carolin Kippels - E-Book

Chaostheorie der Liebe E-Book

Carolin Kippels

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Beschreibung

Alina und Gabriel könnten unterschiedlicher nicht sein: Sie kommt aus schwierigen Verhältnissen und muss sich jeden Cent hart erarbeiten. Trotzdem hat sie ein großes Herz. Er ist ein Draufgänger, ein arroganter Bad Boy mit viel Kohle, schnellen Autos und einer Vorliebe für wilde Partys. Alina hilft ehrenamtlich auf der Kinderstation des Krankenhauses aus, wo sie die schwer kranke Mia betreut. Hier trifft sie auf Gabriel, der nach einer Schlägerei Sozialstunden ableisten muss. Sofort geraten die beiden aneinander. Doch als sie Mia einen Herzenswunsch, eine Reise in die USA, ermöglichen wollen, gehen die beiden einen ungewöhnlichen Deal ein. Gabriel organisiert die Spendengelder, dafür muss Alina sich auf der Betriebsfeier als seine Freundin ausgeben. Alina erkennt, dass auch Gabriel eine weiche Seite hat. Die beiden kommen sich langsam näher und merken, dass sie vielleicht gar nicht so verschieden sind …

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Die AutorinCarolin Kippels wurde 1995 in Gummersbach geboren. In ihrer Kindheit erkundete sie die Wälder des bergischen Landes und brachte mit klaren Strichen abenteuerliche Fantasiegebilde auf Papier. In der Schulzeit entwickelte sich ihr reges Interesse an zwischenmenschlichen Prozessen, über die sie Kurzgeschichten verfasste. Nach ihrem Abitur 2013 baute sie dieses Interesse aus und startete ein Psychologiestudium in Köln. Mit 18 Jahren veröffentlichte sie ihren ersten Thriller selbst unter Eigenregie. Sie ist ein Hundefreund und widmet sich in ihrer Freizeit leidenschaftlich ihren Lieblingsserien Game of Thrones, Sherlock und American Horror Story.

Das BuchAlina und Gabriel könnten unterschiedlicher nicht sein: Sie kommt aus schwierigen Verhältnissen und muss sich jeden Cent hart erarbeiten. Trotzdem hat sie ein großes Herz. Er ist ein Draufgänger, ein arroganter Bad Boy mit viel Kohle, schnellen Autos und einer Vorliebe für wilde Partys. Alina hilft ehrenamtlich auf der Kinderstation des Krankenhauses aus, wo sie die schwer kranke Mia betreut. Hier trifft sie auf Gabriel, der nach einer Schlägerei Sozialstunden ableisten muss. Sofort geraten die beiden aneinander. Doch als sie Mia einen Herzenswunsch, eine Reise in die USA, ermöglichen wollen, gehen die beiden einen ungewöhnlichen Deal ein. Gabriel organisiert die Spendengelder, dafür muss Alina sich auf der Betriebsfeier als seine Freundin ausgeben. Alina erkennt, dass auch Gabriel eine weiche Seite hat. Die beiden kommen sich langsam näher und merken, dass sie vielleicht gar nicht so verschieden sind … 

Carolin Kippels

Chaostheorie der Liebe

Roman

Forever by Ullsteinforever.ullstein.de

Originalausgabe bei Forever Forever ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Juni 2016 (1) © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2016 Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München Titellabbildung: © Finepic® Autorenfoto: © Marvin Kupper  ISBN 978-3 -958-18-089-5  Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

1 Das Problem

Das war sie also. Seine erste entsetzliche Selbsthilfegruppe. Gabriel schaute sich vorsichtig um. Die Wand war in einem hässlichen Gelb gestrichen und diese typischen Motivationsposter sollten sie anscheinend verzieren. Das war eindeutig danebengegangen. »Nein zu Drogen« oder »Erlangen Sie wieder Kontrolle über Ihr Leben – Wir helfen« las er und verzog leicht das Gesicht. Gut, das war eine soziale Einrichtung hier, aber trotzdem hätte man an dem Werbespruch seiner Meinung nach noch etwas feilen können. Die Plakate sollten die Teilnehmer motivieren durchzuhalten, doch Gabriel fand, dass sie einem eher ein schlechtes Gewissen machten. Immerhin standen ein paar Kekse neben einer Billig-Cola auf dem Tisch. Davon nahm er sich aber nichts. Er setzte sich einfach auf einen der Stühle und starrte genervt an die Decke. Sein Blick ging erst später zu den anderen Teilnehmern dieser Gruppe. Der Großteil von ihnen wirkte normal. So schnell hätte Gabriel ihnen kein Drogenproblem zugeschrieben. Es war nur eine Person anwesend, die wirklich heruntergekommen aussah. Eine Frau, die im Alter von Gabriels Mutter war. Ihre Haare waren fettig, ihre Haut hatte einen merkwürdigen Ausschlag und ihre Zähne hätten bestimmt auch mal wieder einen Zahnarztbesuch nötig. Das konnte er erkennen, als sie kurz lachte. Die restlichen Teilnehmer fielen nicht weiter auf.

Gabriels Blick wanderte zu seiner Armbanduhr. Der Gruppenleiter war bereits zehn Minuten zu spät. Gabriel hasste Unpünktlichkeit – er war ein eher ungeduldiger Typ. Deswegen trommelte er mit den Fingern ein wenig auf der Lehne des Stuhles herum. Ein erleichtertes Seufzen entfuhr ihm, als der Gruppenleiter schließlich eintrat. Insgesamt war er nun fünfzehn Minuten zu spät. Typisch Psychologen oder Sozialarbeiter oder was auch immer.

Er musterte den Leiter. Er sah aus, als hätte er selbst eine Stunde hier nötig. Ein nach Gabriels Geschmack viel zu langer Bart und eine hässliche Nickelbrille zierten sein Gesicht. Vielleicht war das auch nicht hässlich, sondern ging für einige Menschen mittlerweile als ›alternativ‹ oder ›retro‹ durch. Der Kerl sah ein bisschen aus wie ein alter John Lennon. Das war jedenfalls die erste Assoziation, die Gabriel hatte. Der von den Toten auferstandene John Lennon schaute in die Runde und stellte sich vor: »Guten Abend, allerseits! Für die, die mich noch nicht kennen: Ich bin Torben und leite wie jeden Donnerstagabend diese Gruppe. Ich freue mich, euch hier zu treffen. Wie ich sehe, haben wir heute ein neues Gesicht hier.«

Seine Augen fixierten Gabriel durch die Hornbrille.

»Erzähl doch etwas von dir und warum du hier bist. Wenn du dich noch nicht traust, ist das nicht schlimm. Dann nächstes Mal. Und keine Sorge, es bleibt hier alles unter uns«, meinte Torben.

Für Gabriel wurde gerade das schlimmste Selbsthilfe-Klischee wahr. Na gut, ganz wie dieser Typ wollte. Er erhob sich von seinem Stuhl und schaute in die Menge. »Einen schönen Guten Abend«, fing er an.

»Mein Name ist Gabriel. Ich bin 25 Jahre alt. Mein Vater hat mich hierher geschickt, weil er meint, dass ich ein Drogenproblem habe. Ich habe nämlich an einem Abend im Club vielleicht…« Er zögerte kurz und zuckte dann mit den Schultern. »Vielleicht habe ich ein bisschen zu viel Koks geschnupft. Darauf habe ich einem Kerl, der mir blöd gekommen ist, die Nase eingeschlagen. Das Gericht hat mich wegen der Schlägerei zu Sozialstunden verurteilt, weil der Typ Anzeige erstattet hat.«

Zum Glück hatte die Polizei ihn nur mit der Anzeige wegen Körperverletzung drangekriegt, das mit dem Drogenkonsum war nicht aufgefallen. Dafür hatte sein Vater es mitbekommen und ihn hier hingeschickt.

»Dankeschön, Gabriel. Du kannst dich wieder setzen. Du wirst schon noch sehen, dass du hier genau an der richtigen Stelle bist.«

Gabriel zog die Augenbrauen hoch, aber sagte vorerst nichts dazu.

»Wir haben heute noch ein weiteres neues Gesicht hier. Für mich ist es eigentlich kein neues Gesicht, aber für einige von euch bestimmt schon«, erklärte Torben. Dann gab er das Wort weiter an eine junge, attraktive Frau in Gabriels Alter.

»Hi, ich bin Alina. Eigentlich bin ich kein Mitglied in Torbens Gruppe, sondern eher eine Art Gehilfin. Ich spreche heute hier zu euch, weil ich von meinen eigenen Erfahrungen mit Kokain berichten möchte. Ich war zwar nie selbst Konsument, aber ich habe gesehen, was diese Droge aus Menschen machen kann.«

Gabriel seufzte kurz. Erwartete sie jetzt Applaus dafür? Anscheinend schon. Zumindest klatschten einige der Anwesenden begeistert in die Hände. Gabriel jedoch nicht. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und hörte erst einmal weiter zu. Dabei schaute er diese Alina kritisch an. Sie hatte dunkelbraunes Haar, einen gesunden Teint und einen guten Geschmack, was Mode betraf. Besser als das, was die meisten hier trugen. Wenn man aber genau hinschaute, bemerkte man, dass ihre Jeans leicht abgetragen war.

»Ich will euch nicht viel sagen, sondern nur etwas motivieren: Jeder von euch kann es schaffen, von dem Zeug runterzukommen und davon wegzubleiben.«

Sie sollte wohl eine Art Coach sein und ihr Beitrag dabei helfen, standhaft zu bleiben. Doch Gabriel hatte momentan nicht vor, auf Kokain ganz zu verzichten. Dank seinem Freund Robert kam er immer mal wieder daran. Er war nicht der Meinung, dass er ein Problem hatte. Er würde den Konsum ein wenig einschränken, aber nicht komplett einstellen. In nächster Zeit durfte er nur nicht noch einmal unangenehm auffallen.

»Es hat eine ganze Zeit gedauert, bis ich realisiert habe, was der Konsum dieser Droge wirklich bedeutet. Ich habe es selbst nur einmal probiert und hatte Glück, dass die Wirkung mich abgeschreckt hat. Mein Körper hat sich angefühlt, als stünde er unter Strom, und ich habe gespürt, wie hektisch ich auf einmal war. Hektisch und viel zu energiegeladen. Es war eindeutig nichts für mich, deswegen konnte ich davon fernbleiben. Aber ich gebe zu, dass meine Gedanken immer wieder zu der Droge wanderten, wenn ich mich schwach, nutzlos oder lustlos fühlte. Ich hatte Glück, dass meine Angst mich vor dem erneuten Konsum abhielt. Mich ja, aber leider nicht meinen Bruder. Mein Bruder David und ich stammen aus einfachen Verhältnissen. Er hat nach der Schule in einer Werkstatt gearbeitet und mir eine Menge gezeigt – nicht nur von der Werkstatt. Er nahm mich auf Partys mit, als ich noch zur Schule ging. Dort probierte ich das erste Mal Gras, bis seine Freunde zu Kokain übergingen. Doch ich distanzierte mich gleich davon. Die Wirkung war für mich zu intensiv. Ich bemerkte oft, dass mein Bruder sich nach dem Konsum nicht nur aufgedreht, sondern auch aggressiv verhielt, was mir Angst machte. Wenn man in der Schule immer wieder Ärger hat, der eigene Vater abgehauen ist und man nicht zu den coolen Kids gehört, tut es gut, sich einfach mal stark… und besser zu fühlen. Ich konnte verstehen, warum David die Droge weiterhin konsumierte. Ich habe es einfach akzeptiert und mehr oder weniger zugesehen.« Alina machte eine kurze Pause und schaute in die Menge, ehe sie weitererzählte: »Und dann wurde es immer mehr und für David zu einer Art Gewohnheit. Es ist schließlich ein einfacher und fließender Übergang zwischen ›ein paar Mal was nehmen‹ und der Sucht.«

Alle Beteiligten hörten Alina aufmerksam zu, bis sich Torben meldete und eine Frage stellte: »Wann glaubst du, kam es so weit, dass du bei deinem Bruder von Kokainsucht sprechen würdest?«

Alina dachte einen Augenblick nach.

»Wie gesagt, es ist ein fließender Übergang. Aber ich glaube, es fing damit an, dass mein Bruder den Stoff nicht mehr nur auf Partys konsumieren wollte. Er wollte mehr. Auf Partys stritt er sich manchmal mit anderen nur darum, wer die letzte Line ziehen durfte.«

Sie zögerte einen Augenblick, doch schaute die Gruppe weiterhin fest an.

»Wenn er wütend war, hat er manchmal sein Zimmer demoliert. Einmal hat er mir auch eine verpasst. Das war, als ich ihm gesagt habe, dass ich mir Sorgen um ihn machen würde. Und obwohl ich verdammt sauer darüber war, wusste ich trotzdem, warum er mir eine Backpfeife gegeben hatte. Es klingt seltsam, aber trotz meiner Wut erkannte ich, dass das Kokain ihm ein Gefühl der Macht und der Sicherheit zu geben schien, die er sich nicht nehmen lassen wollte. Auch nicht von mir. Er befürchtete wohl, dass ich ihm das nehmen könnte. Ich weiß nicht, ob ihr bereits ähnliche Erfahrungen in euren Familien gemacht habt. Bestimmt kam es auch bei euch schon zu Streit, und gerade deswegen spreche ich heute zu euch.«

Sie atmete tief durch. Anscheinend kam nun der Höhepunkt ihrer Geschichte.

»Ich verurteile euch nicht. Ich habe bei meinem Bruder gesehen, wie schnell die Droge die Persönlichkeit verändern kann. Aber ich will euch mit seiner Geschichte zeigen, wie schnell alles vorbei sein kann und dass man dann vielleicht im Streit auseinandergehen muss. Und das wünsche ich niemandem hier. Eines Abends waren wir bei Freunden aus der Werkstatt eingeladen. Mein Bruder war nicht der Einzige, der dort etwas mit Drogen zu tun hatte. Es war ein Abend wie jeder andere, wenn sie feierten. Obwohl David von mir genervt war, kam ich mit. Ich hatte ein ungutes Gefühl und wollte ihn nicht wieder alleine gehen lassen. David war an jenem Abend, nachdem er gekokst hatte, noch eine Spur unruhiger und wirkte sehr misstrauisch. Am Ende des Abends war er so nervös, dass er sich eine Zeit lang alleine im Bad einschloss. Als einer der Freunde das Bad aufbrach, lag er einfach nur da. Wir waren alle panisch und versuchten ihn anzusprechen, aber er reagierte nicht. Ich wollte den Krankenwagen rufen, aber ich war so durcheinander, dass ich mein Handy nicht gleich fand. Und die anderen wollten natürlich nicht, dass der Notarzt in die Wohnung kam. Also haben sie mich mit David einfach vor die Tür gesetzt. Ich musste alleine in der Kälte auf den Notarzt warten und versprechen, die anderen da rauszuhalten.«

Alina biss sich nun auf die Lippe und machte eine Pause.

»Der Notarzt kam, aber konnte nur noch den Tod meines Bruders feststellen. Der Grund: Störungen im Herzen und in den Blutgefäßen. Durch die Überdosis Kokain war es zu unregelmäßigen Herzfunktionen gekommen und dann… zum Stillstand. Außerdem war sein Blutdruck viel zu hoch gewesen und hatte zu Gehirnblutungen geführt.«

Sie schaute noch einmal in die Menge, was Gabriel doch ein wenig bewundernswert fand. Obwohl sie von ihrem verkorksten Leben erzählte, schaffte sie es, die Menschen hier offen anzuschauen.

»Ich konnte es gar nicht glauben. Ich war panisch und schrie den Notarzt an, dass er etwas tun sollte. Als ich irgendwann begriff, dass man nichts mehr tun konnte, war ich schrecklich wütend und aggressiv. Deswegen ließ man mich nicht nach Hause, sondern steckte mich ins Krankenhaus. Kein Wunder. Ich stand kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Meine Mutter kam mich nicht besuchen, sie war zu sehr damit beschäftigt, Davids Tod zu verarbeiten. In Behandlung fing ich an, die Dinge zu reflektieren, und beschloss, dass ich nichts mehr mit Drogen zu tun haben wollte. Die Freunde meines Bruders, die mir früher auch am Herzen gelegen hatten, waren für mich Geschichte. Ich war an einem Punkt angekommen, der mir deutlich machte, dass der Konsum offensichtlich mehr nahm, als er geben konnte. Das klingt nach einer banalen Erkenntnis, aber ich hatte das alles immer gut verdrängt. Schließlich konnte ich verstehen, warum mein Bruder nicht damit aufhören wollte. Als ich aus der Klinik entlassen wurde, wollte ich etwas tun und wurde auf diese Selbsthilfegruppe aufmerksam. Zu viele lassen sich ihr Leben durch Kokain zerstören, und das wollte ich nach dem Tod meines Bruders nicht mehr akzeptieren. Ich denke immer wieder an ihn und es tut mir weh, dass er ohne Aussprache einfach so von uns gegangen ist. Das will ich euch ersparen. Ihr hört hier oft die Sicht der anderen Konsumenten oder auch Ex-Konsumenten, aber Torben und ich dachten, dass es auch hilfreich sein könnte, einen Beitrag von Familie oder Freunden zu hören. Es wird euer Problem nicht lösen, aber vielleicht hilft es euch, einen Tag länger durchzuhalten. Wenn das der Fall ist, bin ich froh, dass ich Davids und meine Geschichte mit euch geteilt habe.«

Sie lächelte und strahlte eine gewisse Tapferkeit aus, als sie zu Ende erzählt hatte. Nun empfing sie ein noch größerer Applaus und sogar Gabriel klatschte in die Hände. Ganz kalt hatte ihn die Geschichte nicht gelassen. Auch wenn es aus seiner Sicht die typischen Stories der Unterschicht waren.

»Danke, dass du deinen Weg mit uns geteilt hast, Alina. Ich denke, dass dies ein schöner Einstieg war, der uns nun dazu motivieren kann, an uns zu arbeiten. Ich will euch heute eine Strategie beibringen, die euch helfen kann, sich in stressigen Situationen ruhiger zu verhalten«, verkündete Torben und fing mit dem eigentlichen Stoff dieser Sitzung an.

Gabriels Blick wanderte durch die Gesichter der Gruppe und blieb einen Augenblick lang an Alina hängen, ehe er wieder zu Torben schaute und ihm zuhörte.

2 Sexy Schwesterntracht

Es war ein unglaublich stressiger Morgen gewesen. Die Straßenbahn hatte Verspätung gehabt und Alina kam abgehetzt auf der Krankenstation an.

»Hi, Lili«, begrüßte sie die Oberschwester.

»Schön, dass du da bist«, erwiderte Lili und lächelte sie freundlich an. »Du bekommst heute Verstärkung.«

Alina war ein wenig verwirrt. Soweit sie wusste, war sie die einzige ehrenamtliche Besucherin hier. Sie folgte Lili zu dem Schwesterndienstplatz. Vor dessen Tür lehnte ein junger Mann mit dunkelblondem Haar und einem Coffee-to-Go in der Hand. Er kam ihr bekannt vor, aber sie wusste nicht, woher. Also schaute sie ihn verwundert an, ehe der Fremde ihr seine freie Hand reichte.

»Gabriel Ehrenhover«, stellte er sich knapp vor.

»Freut mich. Ich bin Alina Kirst und weise Sie heute ein.«

Stimmt, jetzt erinnerte sie sich wieder an alles. Lili hatte schon erzählt, dass sie bald einen Neuen auf der Station haben würden. Er sollte die Kinder ebenfalls besuchen und unterhalten, um auf diese Weise seine Sozialstunden abzuleisten. Wie es sich jetzt herausstellte, war es sogar jemand aus Torbens Gruppe. Als dieser Gabriel ihr nämlich die Hand gegeben hatte, hatte es bei Alina Klick gemacht. Sie wusste nicht genau, ob sie ansprechen sollte, dass sie wusste, wieso er hier war. Die Gruppe war anonym, also ließ sie es vorerst einfach. Vielleicht hatte er sie auch nicht wiedererkannt.

»Und? Sind Sie… auch Schwester hier?«, fragte er.

»Es heißt mittlerweile Kranken- oder Gesundheitspfleger.« Sie verbesserte ihn automatisch.

»Oh, Pardon«, erwiderte er, aber es klang nicht, als würde er es ernst meinen.

»Aber nein, ich bin keine Pflegerin.«

Gabriel zog überrascht die Augenbrauen hoch. »Und was tun Sie dann hier?«

»Ich besuche die Kinder freiwillig, wenn ich neben der Arbeit Zeit habe. Das Krankenhaus leistet gute Arbeit und ich will etwas dazu beitragen. Wenn man ein bisschen Erfahrung mit Kindern hat, macht es großen Spaß«, erklärte Alina und ging mit ihm in Richtung Spielzimmer.

»So, so. Eine Heilige also. Und… was tun Sie hauptberuflich neben der Beschäftigung als Heilige in diesem Krankenhaus?«

»Ich wüsste nicht, was Sie das angeht«, erwiderte Alina knapp und hatte jetzt schon keine Lust mehr auf dieses Gespräch.

»Es ist Ihnen also unangenehm«, stellte Gabriel fest.

»Das habe ich nicht gesagt.«

Gabriel gestattete sich ein unverschämtes Grinsen. »Es klingt aber so.«

»Ich leiste momentan immerhin keine Sozialstunden ab. Ich habe mein Leben nämlich im Griff. Und wenn Sie hier Ihre Sozialstunden machen wollen, sollten Sie sich etwas mehr benehmen«, erwiderte sie verärgert. Damit war nun klar, dass sie sich kannten, und spätestens jetzt war wohl auch bei ihrem Gegenüber der Groschen gefallen.

»Kein Grund, gleich so verletzend und aggressiv zu werden«, erwiderte er knapp und hob abwehrend die Hände.

Alina sagte darauf nichts mehr, denn sie waren jetzt vor dem Spielzimmer der Kinder angekommen. Die Kinder sollten nichts von alledem mitbekommen. Tatsächlich schauten einige aufgeregt zu der Tür, als sie eintraten, und manche liefen stürmisch auf Alina zu. Das taten sie immer, wenn Besuch kam. Kinder waren eben ein wenig ungestüm. So kam es, dass einer der Jungs ein bisschen zu flink war und gegen Gabriel stieß. Dieser verschüttete einen Teil seines Kaffees, der prompt auf seiner Lederjacke landete. Das entlockte Gabriel einen nicht gerade für Kinder geeigneten Fluch.

Gabriel schaute den Jungen wütend an, weswegen Alina schnell sagte: »Entschuldigt uns noch einen kleinen Augenblick.«

Sie schloss die Tür zu dem Spielzimmer und schaute ihn genervt an. »Was machst du da? Die Kinder haben deinen bösen Blick bemerkt. Garantiert.« Weil sie so in Rage war, duzte sie ihn nun.

»Tut mir leid, aber wie erfreut würdest du aussehen, wenn eines der Kinder deine beste Jacke ruiniert?«

»Du hast bestimmt noch tausend andere teure Lederjacken wie diese in deinem Schrank hängen. Deswegen brauchst du nicht…«

Er unterbrach sie. »Ich habe zufälligerweise nicht zehntausend gleiche Lederjacken in meinem Schrank hängen. Das ist ein Sonderstück der Cyrus-Kollektion des letzten Sommers, okay?«

Anscheinend hatte er mehr mit Mode am Hut als sie selbst.

»Jonas hat das jedenfalls nicht absichtlich gemacht«, verteidigte Alina den kleinen Jungen.

»Schon, aber ersetzen wird er mir die Jacke wohl nicht, oder?«

»Wenn du jetzt unbedingt etwas Neues zum Anziehen brauchst, um deine Stunden abzuleisten, solltest du zum Personalamt gehen und dich dort melden. Dann bekommst du Dienstkleidung, falls du dich weiterhin um deine Klamotten fürchtest.«

»Damit ich in sexy Schwesterntracht herumlaufen kann?«, fragte Gabriel belustigt.

»Es sind nach wie vor Kranken- oder Gesundheitspfleger.«

»Natürlich. Wobei ich wahrscheinlich schon einmal besser aussehen würde als Miss Piggy da drüben.« Gabriel nickte mit dem Kopf in Richtung des Gangs.

Alina brauchte einen Moment, bis ihr auffiel, wen er mit ›Miss Piggy‹ meinte. Wahrscheinlich die blonde, etwas fülligere Petra. Nun stieg in ihr starke und beinahe unbändige Wut auf.

»Hör mal«, fing sie an und schaute Gabriel wütend in die Augen. »Du kannst über mich sagen, was du willst, aber lass die Pfleger in Frieden. Die haben einen anstrengenden Job und arbeiten hart. Dass du das nicht verstehst, ist mir klar, aber trotzdem könnte man etwas mehr Respekt zeigen.«

Alinas Freund Tim arbeitete auch auf dieser Station. Sie würde so einen arroganten Schnösel nicht abfällig über seine Kollegen und Kolleginnen herziehen lassen.

Ihr Gegenüber seufzte nur. »Klar, weil ich natürlich noch nie in meinem Leben unter Stress gearbeitet habe. Aber ist schon gut. Beginnen wir mit der eigentlichen Arbeit. Ich werde eben nur kurz versuchen meine Jacke zumindest etwas zu retten.«

Mit der Antwort musste sie sich wohl oder übel zufriedengeben. Alina raufte sich das dunkle Haar und atmete tief durch, als Gabriel sich endlich umgedreht hatte. Sie ging schon einmal zu den Kindern. Gabriel konnte nachkommen, wenn er seine ach so teure Jacke halbwegs sauber bekommen hatte. Tatsächlich stand er ein paar Minuten später hilflos neben ihr. Also erbarmte sich Alina und stellte ihn vor.

»Das hier ist Gabriel. Er kommt euch demnächst auch öfters besuchen«, erklärte Alina, worauf die Kinder kurz jubelten.

»Und was genau tun wir jetzt?«, fragte Gabriel Alina leise.

»Du kannst mit ihnen zusammen etwas zeichnen. Vielleicht will ein Kind auch deine Hilfe. Ich werde ihnen etwas vorlesen.«

Dann hätte Alina wenigstens erst einmal ihre Ruhe vor diesem Typen. Dafür war sie ganz dankbar. Sie ließ die Kinder ein Buch aussuchen und fing an, vorzulesen. Gabriel setzte sich tatsächlich zu den anderen Kindern an den Tisch und schaute ihnen erst einmal zu. Zumindest so lange, bis ein Mädchen ihn ansprach und seine Hilfe einforderte, um ein Einhorn zu malen. Von dem, was sie sah, musste sie zugeben, dass er sich gar nicht so schlecht anstellte: Er sprach ruhig mit dem Mädchen, nahm einen Stift und half ihr. Das Kind schien am Ende ganz zufrieden mit dem Ergebnis zu sein. Das schaffte Gabriel auch mit einigen anderen Kindern. Er half einem Jungen dabei, das Krankenhaus zu zeichnen. Sie beobachtete den Neuen und verrutschte deswegen ein paar Mal in der Zeile. Es war ihr wohl gestattet, ein wenig misstrauisch zu sein. Dennoch hatte er genau wie sie eine zweite Chance verdient. Sie besuchte die Kinder jeden Samstag eine Stunde lang. Später sah sie heimlich auf dem Dienstplan nach. Anscheinend hatte Gabriel eine ähnliche Zuteilung erhalten.

Als die Stunde vorbei war, verabschiedete er sich von den Kindern und ging seines Weges. Ihr hatte er auch ein schönes Wochenende gewünscht, aber das hatte er wahrscheinlich nur aus Förmlichkeit getan.

Alina hatte noch lange nicht Wochenende. Heute Abend würde sie wieder arbeiten müssen und für den Sonntagabend war sie ebenfalls eingeplant. Sie arbeitete in einer Tankstelle und hatte dort mit den verschiedensten Menschen zu tun. Dazu kam, dass sie momentan auf die Straßenbahn angewiesen war.

Ihr Auto, das sie sich damals mit ihrem Bruder geteilt hatte, war kaputt und die Reparatur hatte sie bisher nicht bezahlen können. Sie hätte ihre Mutter um Geld fragen können, aber die besaß selbst nicht viel. Seit Davids Beerdigung war ihr Verhältnis angespannt. Viel sprachen sie nicht mehr miteinander und jedes Gespräch mit ihrer Mutter war anstrengend. Es wunderte sie nicht. Sie vermutete, dass ihre Mutter ihr noch immer Mitschuld an Davids Tod gab. Schließlich war Alina dabei gewesen, hatte aber nichts getan. Wie auch? David hatte sich eingeschlossen.

Trotzdem dachte ihre Mutter wahrscheinlich, dass sie David hätte aufhalten können. Sie sagte es nicht direkt, aber Alina hatte den enttäuschten und strafenden Ausdruck in ihren Augen schon oft gesehen. Ihre Mutter konnte und wollte nicht verstehen, dass Alina ihn nicht hätte retten können. Sie hätte ihren Bruder nie dazu bringen können, mit dem Kokain aufzuhören. Nicht zu diesem Zeitpunkt. Schließlich hatte sie damals noch versucht, ihn zu verstehen und anderweitig zu unterstützen. So hatte sie ihn aber nicht erreichen können. Diese Art von Unterstützung brachte bei einem ernsthaft süchtigen Menschen nichts. Das wusste sie heute. Außerdem war es noch immer Davids Entscheidung gewesen, die Drogen zu nehmen. Und jetzt, wo er tot war, suchte Alinas Mutter die Schuld bei ihr. Wahrscheinlich hätte ihre Mutter David genauso angesehen, wenn es sie erwischt hätte und nicht ihn.

Das waren die Gedanken, die ihr durch den Kopf gingen, als sie aus dem Fenster der Straßenbahn schaute und sah, wie die Häuser und all die Menschen einfach an ihr vorbeizogen.

3 »Club 69«

Die erste Sozialstunde hatte er hinter sich gebracht. Folgten nur noch 39 weitere. Gabriel ließ sich auf das Sofa fallen und blieb erst einmal eine Weile dort liegen. Er wusste, dass er ein paar Unterlagen für seine Arbeit bei der Kosmetikfirma Bela überprüfen sollte, aber er hatte noch keine Lust. Als er sich schließlich dazu überwunden hatte, die Unterlagen durchzuschauen, blieb er immer wieder bei dem Risikomanagement hängen, was ihn ganz schön frustrierte. Deswegen schob er das Ganze beiseite und überprüfte erst einmal die Nachrichten auf seinem Handy.

Anscheinend stieg heute noch eine Feier im »Club 69«. Das meldete ihm seine Kollegin Janine. Vielleicht musste er einfach nur den Kopf freikriegen. Morgen hätte er sicher noch genug Zeit, diese Analyse fertigzustellen.

Gabriel machte sich frisch und zog sich um. Natürlich, er suchte Zerstreuung, aber er durfte diesen Abend nicht auf dumme Gedanken kommen. Auch dann nicht, wenn Robert, Janines Freund und sein Kollege bei Bela, etwas Stoff dabei haben sollte. Falls es ihm angeboten würde, musste er hart bleiben. Aber das würde er schon schaffen. Er hatte ja kein Problem wie die ganzen anderen Menschen, die sich in Torbens Selbsthilfegruppe befanden. Ein Blick in seinen Spiegel zeigte ihm, dass er passabel aussah. Dunkle Jeans, helles Hemd und graues, modisches Sakko. Nicht zu dick aufgetragen, aber auch nicht zu schlicht.

Kurz noch einmal die Haare etwas zurechtgemacht und dann ging es auch schon los. Die Nacht war jung und so war es auch Gabriel. Im »69« traf er gleich Janine und Robert.

»Hey, da kommt ja unser kleiner Sträfling!«, rief Rob aus und klopfte ihm auf die Schulter, als er sich zu ihnen setzte.

»Das ist nicht witzig. Du weißt, dass ich einfach etwas Pech hatte. Hätten sie dich mit dem erwischt, was du an dem Abend dabei hattest, hätte es nicht nur Sozialstunden gegeben«, erwiderte Gabriel trocken. Sie zogen ihn damit auf, dass er Sozialstunden leisten musste, und das störte ihn. Aber er wollte es nicht zeigen.

»Sie haben mich nicht erwischt, weil ich mich unter Kontrolle hatte. Ganz im Gegensatz zu dir, Gabriel«, erwiderte Robert, was Gabriel ärgerte.

»Oder du hattest die Male, die du dich nicht im Griff hattest, einfach Glück, Rob.«

Sie ließen das Thema fallen und dafür war Gabriel dankbar. Stattdessen wollten Janine und Robert wissen, wie es im Kinderkrankenhaus lief. Gabriel zuckte mit den Schultern: »Es ist ein Krankenhaus. Darin wohnen kranke Menschen, bis sie wieder gesund sind. Und der einzige Unterschied der Kinderstation ist, dass die Menschen deutlich kleiner sind.« Darauf lachten kurz alle.

Es war ein geselliger und netter Abend. Er trank ein paar Bier, doch er übertrieb es nicht. Das war für seine Akte wohl auch gut so. Um 4 Uhr fiel er zu Hause in sein Bett und bemerkte wieder einmal, wie sachte ein Abend ohne Kokain verlaufen konnte. ›Sachte‹ war aber auch eine nette Beschreibung für ›langweiliger‹. Klar, es musste nicht immer Ausschweifungen geben wie an dem Abend, für den er seine Strafe kassiert hatte, aber er bemerkte doch, dass ihm etwas fehlte. Es ärgerte ihn, dass er so früh gegangen war.

Rob hatte bestimmt etwas dabei gehabt. Er teilte seinen Stoff aber nur, wenn die Gäste auf der Party anfingen, müde zu werden. Und als er die Feier verlassen hatte, war das noch nicht der Fall gewesen. Aber so waren die Folgen für den nächsten Tag immerhin nicht ganz so ausgeprägt: Er hatte nur einen leichten Kater und musste nicht mit der ständigen Niedergeschlagenheit und Erschöpfung kämpfen, die man sonst nach einer Nacht mit Kokain spürte. Am nächsten Morgen – oder besser gesagt, am nächsten Mittag – reichte ihm eine kleine Kopfschmerztablette und er war in der Lage, die Arbeit fertigzustellen.

4 Das Blut des Piraten

Die Schicht war ruhig verlaufen. Es waren nur wenige Kunden in die Tankstelle gekommen und der Großteil war umgänglich gewesen. Alina war mit dem Abend zufrieden. Am nächsten Tag, einem Sonntag, hatte sie frei. Ihr Freund Tim wollte sie besuchen. Deswegen stand sie schon früh auf. Jana, ihre Freundin und Mitbewohnerin, erwartete sie schon am Frühstückstisch.

»Schönen guten Morgen, Beauty. War’s stressig gestern?«

Alina zuckte nur leicht mit den Schultern. »Es ging. Hab schon schlimmere Nächte erlebt.«

»Ich muss ehrlich sagen, dass ich dich um diese späten Schichten wirklich nicht beneide«, meinte Jana mit einem mitleidigen Blick.

»Es gibt Schlimmeres. Zum Beispiel alte Omis im Supermarkt, die sich beschweren, weil ihre Lieblingsmarke nicht mehr verkauft wird.«

»Haha, danke schön! Erinnere mich bitte nicht auch noch am Wochenende an die Arbeit«, erwiderte Jana, die im Supermarkt als Verkäuferin arbeitete. Gespielt verärgert warf Jana ihr blondgefärbtes, etwas wildes Haar zurück.

»Du hast angefangen«, gab Alina zurück.

»Da hast du Recht. Was planst du heute noch so? Wollen wir mal wieder zusammen einen Mädelsabend machen?«

Alina schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen, Jana, aber ich bekomme heute Besuch.«

»Uuuuh, du brauchst wohl etwas Privatsphäre mit Tim?«, fragte Jana breit grinsend.

»Ja, da liegst du richtig. Er hat ausnahmsweise mal das Wochenende frei und da wollten wir wieder etwas Zeit miteinander verbringen. Du weißt, dass sein Job anstrengend ist.«

Jana nickte kurz und trank einen Schluck Kaffee. »Sieht wohl so aus, als würde ich den Abend alleine verbringen müssen. Ich gönne es euch. Habt Spaß, aber bleibt sauber.« Jana zwinkerte ihr zu. Sie war eine sehr direkte Person, aber das hatte Alina nie wirklich gestört.

Kaum hatte Alina fertig gefrühstückt, klingelte es auch schon. Das musste Tim sein. Er war immer ein wenig zu früh. Sie seufzte und öffnete ihm per Knopfdruck die Tür. Sie hörte ihn bereits im Treppenhaus und bat ihn herein.

»Hey.« Er gab ihr einen kurzen Kuss und trat ein.

»Was gibt es Neues?«, fragte sie ihn, worauf er kurz zögerte, aber dann erwiderte: »Nicht viel. Die Schicht habe ich ganz gut hinter mich gebracht. Mias Zustand hat sich wieder etwas verschlechtert.«

Alina blickte Tim traurig an. Das klang nicht gut. Alina wusste, dass Tim immer wieder einige Fälle auf der Station gedanklich mit nach Hause nahm. Er war generell der Typ Mensch, der sich viele Gedanken um andere machte. Das tat er auch auf der Station, was nicht immer gut für ihn war. Eigentlich hatte er Alina damals auf die Idee gebracht, die Kinder zu besuchen. Tim hatte ihr erzählt, dass man als Pfleger nie genug Zeit hatte, um sich wirklich mit den Kindern zu beschäftigen. Viele auf der Station langweilten sich. Durch die Erzählungen von Tim hatte sie sich dieser Aufgabe zumindest einmal in der Woche angenommen. Ihr Samstagmittag war meistens frei, da sie oft auch nachts arbeitete.

»Das tut mir leid, Tim. Ich habe sie am Samstag auch gar nicht gesehen. Anscheinend ist sie nicht aus ihrem Zimmer gekommen. Wundert mich nicht, wenn es ihr schlechter geht. Und als Teenager hat man nicht oft Lust darauf, mit jüngeren Kindern zu spielen.«

Mia war ein Mädchen von 14 Jahren, das in ihrem jungen Alter mit schwerer Mukoviszidose zu kämpfen hatte. Sie war das beste Beispiel dafür, wie unfair das Leben manchmal sein konnte.

»Bei Mukoviszidose gibt es nie wirklich ein Happy End, aber da sich ihr Zustand nun noch einmal geändert hat, wird sie wohl auf keinen Fall das Höchstalter, das man bei guter Behandlung erwarten kann, erreichen. Wenn es so weitergeht, wird sie sehr viel früher sterben«, erklärte Tim.

»Das ist einfach nur schrecklich.« Alina umarmte ihren Freund und wollte ihm so ein wenig Kraft spenden.

»Lass uns nicht weiter darüber reden. Das Thema macht mich noch ganz depressiv.« Tim seufzte. »Hör mal, wie ist der Neue denn so?«

»Ach? Der Kerl, der Sozialstunden ableisten muss? Ich dachte, dass er irgend so ein Kleinkrimineller sei, aber anscheinend habe ich mich getäuscht. Er ist ein arroganter Kerl mit zu viel Geld und lässt einen das auch spüren«, antwortete Alina ehrlich.

»Das klingt ja sehr sympathisch. Solche Leute gibt es immer wieder. Willst du deinen Besuchstermin ändern? Du machst das immerhin freiwillig. Da musst du dich nicht noch mit so einem Typen herumschlagen.«

Sie zuckte mit den Schultern. »Ich war vor ihm da und ich lasse mich von ihm doch nicht einfach vertreiben, Tim. So gut müsstest du mich eigentlich kennen.«

Er nickte und stimmte ihr zu: »Auch wieder wahr.«

»Nein, ich behalte meinen Termin bei, wie er ist. Das wäre doch wohl das Letzte, dass ich mich von so einem Schnösel mit seiner Designer-Jacke vertreiben lasse.«

Tim drückte sie zufrieden an sich und nickte: »So kenne und liebe ich dich.«

»Außerdem will ich die Kinder und Jugendlichen nicht mit ihm alleine lassen.«

»Ist er so ein Arschloch?«

»Und was für eins! Aber lass uns nicht weiter über ihn reden«, meinte Alina und gab Tim einen liebevollen Kuss.

Alina wusste, dass dieser Gabriel nicht ewig bleiben würde. Er würde seine Sozialstunden ableisten und dann auf Nimmerwiedersehen von der Station und aus ihrem Leben verschwinden.

Alina war heute alleine mit den Kindern. Anscheinend hatte dieser Gabriel die Lust an seiner Aufgabe verloren. Sie spielte gerade mit den Kindern eine Runde Mensch ärgere dich nicht, als die Tür zu dem Spielzimmer aufging und Gabriel ziemlich außer Atem vor ihnen stand.

»Hey, Gabriel. Hatte die Straßenbahn etwa Verspätung?«, fragte Alina, denn sie wusste ja, dass dieser Typ eindeutig nicht auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen war. Und dass er demnach, wenn er zu spät kam, selbst schuld war.

»Tut mir leid«, sagte er, doch er schaute verärgert zu Alina. »Ich bin nur fünfzehn Minuten zu spät.«

Alina konnte ihm deutlich ansehen, dass ihm das gar nicht passte.

»Ich habe eine … anstrengende Nacht hinter mir«, erklärte er.

Oh, das konnte sie sich bei diesem Typ auch vorstellen.

»Das ist kein Grund, um zu spät zu kommen. Ich lass dir das aber mal durchgehen.«

»Oh, zu gütig von dir.« Er verdrehte die Augen. »Okay, wie sieht es aus? Kann ich noch bei einer Partie Mensch ärgere dich nicht einsteigen?«

Alina schüttelte den Kopf. »Tut mir leid. Alle Figuren sind belegt. Aber du kannst wieder mit den Jüngeren etwas malen.«

Gabriel nickte wortlos und begrüßte die jüngeren Kinder, zu denen er sich setzte. Immerhin diskutierte er nicht mit ihr. Das war schon einmal etwas.

Es war eine ganze Weile lang ruhig. Gabriel malte mit den Kindern, während sie sich ärgerte, dass sie keine Sechs würfelte. Sie schaute erst wieder zu Gabriel herüber, als eines der Kinder ein lautes »Iiih« ausstieß. Sofort drehte sie sich um und sah, dass Gabriel Nasenbluten bekommen hatte. Ein paar Blutstropfen waren auf dem Bild eines Jungen gelandet, der gerade einen Piraten gemalt hatte. Gabriel hielt sich sofort die Hand vor die Nase.

»Wo ist die Toilette?«, fragte er Alina schnell, die im ersten Moment ein wenig überrumpelt war, doch ihm dann gleich eine kurze Wegbeschreibung gab. Er stürmte aus dem Spielzimmer und lief in Richtung Bad. Sie gab ihm ein paar Minuten alleine im Badezimmer, dann klopfte sie an die Tür des Gäste-WCs. Er öffnete die Tür, ein Taschentuch gegen die Nase gedrückt.

»Es hat so gut wie aufgehört. Wir können also weitermachen«, sagte Gabriel und wollte aus der Toilette wieder zu dem Spielzimmer gehen. Aber Alina stellte sich ihm in den Weg.

»Scheint wirklich eine anstrengende Nacht gewesen zu sein«, erwiderte sie, worauf er seufzte.

»Ja, war es. Ich wüsste aber nicht, was dich das angeht.«

»Es geht mich auch nichts an, aber ich kenne das Problem mit dem Nasenbluten auch, Gabriel. Du hast dir deine Nasenschleimhäute und deine Nebenhöhlen wohl ziemlich geschädigt.«

»Danke, Frau Doktor. Das sehe ich auch«, gab er zurück, worauf sie die Arme vor der Brust verschränkte und ihm den Weg versperrte.

»Und du hast die Kinder gerade ziemlich erschreckt.«

Gabriel stieß ein genervtes Stöhnen aus. »Sie sind im Krankenhaus. Ich denke, dass sie schon genug Blut gesehen haben. Außerdem hat der Junge einen Piraten gemalt. Das Blut auf dem Papier macht die Zeichnung nur authentischer. Können wir jetzt weitermachen?«

»Bist du etwa noch immer high?«, fragte sie ihn.

»Du weißt selbst, wie man drauf ist, wenn man Kokain geschnupft hat, also stell bitte nicht so eine blöde Frage.«

»Das stimmt. Du leidest gerade eher unter den Nebenwirkungen: Du fühlst dich ausgelaugt, bist schlecht drauf und extrem reizbar.« Sie schaute ihn triumphierend an.

»Ja, und weil ich reizbar bin, will ich, dass dieses unnötige Gespräch jetzt ein Ende hat.«

Sie nickte. »Das hat es auch gleich. Ich will aber, dass du dich im Griff hast, wenn wir zu den Kindern zurückgehen.«

Er atmete tatsächlich einmal tief durch. »Das werde ich. Okay?«

In diesem Augenblick erinnerte Gabriel sie sehr an David, deswegen wollte sie ihn nicht einfach nach Hause schicken. Also nickte sie und gemeinsam brachten sie die Stunde hinter sich.

Nach der Arbeit wollte Alina schnell gehen, doch Gabriel erwischte sie, kurz bevor sie den Ausgang erreicht hatte. »Du erzählst niemandem etwas, oder?«

Sie antwortete auf seine Frage nicht, sondern stellte eine Gegenfrage. »Gehst du noch zu Torbens Selbsthilfegruppe?«

»Ab und an«, erwiderte Gabriel.

»Wenn du wirklich jede Woche hingehst, werde ich niemandem etwas sagen.«

Gabriel lachte. »Und wie willst du das überprüfen?«

»Torben und ich sind befreundet. Ich bekomme es also mit, wenn du nicht hingehst.«

»Er hat Schweigepflicht. Das weißt du schon, oder?« Gabriel hob eine Augenbraue.

Es stimmte zwar, dass Torben Schweigepflicht hatte, aber Alina versuchte, hart zu bleiben. »Willst du es darauf ankommen lassen?«

Er gab sich geschlagen und hob abwehrend die Hände. »Na gut, wenn es dich glücklich macht. Bis nächste Woche«, erwiderte er, und Alina verließ schnell das Krankenhaus.

Vor dem Ausgang wartete Jana auf sie. Sie hatte Gabriel wohl gesehen, bevor er aus der Tür getreten war, denn sie schaute Alina interessiert an.

»Hi, Alina. Wer war denn dieser Typ, mit dem du gerade geredet hast?«

Jana hatte sich heute ihrer erbarmt und zugestimmt, Alina abzuholen, damit diese nicht wieder mit der Straßenbahn fahren musste. Dafür war Alina ihrer Freundin mehr als dankbar. Also antwortete sie auf die Frage, obwohl sie keine Lust hatte, weiter über Gabriel zu sprechen: »Ist nicht wirklich wichtig. Ein arroganter Kerl mit vielen Problemen und dafür umso unvernünftigerem Verhalten. Ich denke, dass ihn das am besten beschreibt.«

»Klingt nicht sympathisch, aber immerhin interessant«, meinte Jana, während sie beide Richtung Parkplatz gingen. Auf Janas Worte schaute Alina noch einmal herüber zu Gabriel, der sein Auto etwas weiter entfernt geparkt hatte. Natürlich fuhr er einen teuren Sportwagen. Ja, das passte zu ihm.

Auf Alinas Lippen bildete sich ein ironisches Lächeln. »Es gibt nichts Uninteressanteres als Menschen, die einem kompletten Klischee entsprechen.«

Jana folgte ihrem Blick zu Gabriel, der nun in den Wagen einstieg. »Sei nicht so hart zu ihm. Immerhin ist das Klischee stimmig. Und wenn du ihn schon nicht leiden kannst, dann erinnere ich dich mal an das, was man über Männer mit teuren, krassen Autos sagt: Nämlich, dass sie mit der Größe des Autos etwas kompensieren müssen, weil an einer anderen Stelle etwas fehlt.« Deutlicher musste Jana wohl nicht werden, denn Alina wusste, was sie meinte. Deswegen lachte sie und stieg zu Jana in ihren alten Volvo.

5 Der Bahnhof

Gabriel war tatsächlich wieder zu der Selbsthilfegruppe gegangen, weil er kein Risiko eingehen wollte. Alina mochte zwar bluffen, aber falls sie es nicht tat, hätte er ein Problem. Schließlich hatte er seinem Vater versprochen, zu dieser Gruppe zu gehen und die Finger vom Kokain zu lassen. Und da er seinem Vater viel zu verdanken hatte – er hatte ihm unter anderem den Anwalt für den Prozess wegen der Körperverletzung bezahlt –, sollte er lieber vorsichtig sein.

Torben freute sich, ihn zu sehen, da er sich in den letzten zwei Wochen nicht hatte blicken lassen. Gabriel redete sich damit heraus, dass er krank gewesen sei. Torben stellte keine weiteren Fragen, sondern fing mit der Sitzung an. Sie erzählten, wie es ihnen in den letzten Wochen ergangen war. Gabriel berichtete von der Fertigstellung seines Projektes und den Sozialstunden.

»Scheint so, als läge eine erfolgreiche Woche hinter dir«, stellte Torben fest.

»Na ja, was muss, das muss eben.« Gabriel zuckte mit den Schultern.

»Trotzdem hast du ein Projekt fertiggestellt und solltest dich dafür belohnen, Gabriel.«

Gabriel schaute ihn irritiert an. »Aha. Und wie?« Er klang nicht begeistert.

»Du solltest etwas tun, für das du schon lange keine Zeit mehr gefunden hast. Fällt dir da irgendetwas ein?«

Das Ganze wurde ihm ein wenig zu psychologisch. Also zuckte er nur mit den Schultern. »Nicht wirklich.«

»Aber es gibt bestimmt eine Sache, die du früher gerne gemacht hast und für die du heute keine Zeit mehr findest. Denk mal ein wenig an deine Schulzeit, oder vielleicht an die Zeit während des Studiums.« Anscheinend hatte Torben sich nun auf ihn fixiert. Da kam er nicht mehr so schnell heraus.

»Ich habe ganz gerne gelesen. So Krimis und alles Mögliche.«

»Dann tu das doch einmal wieder. Nimm dir am Wochenende Zeit, dir einen neuen Krimi zu beschaffen und ihn zu lesen.«

Es war eine banale Idee, aber irgendwie fand Gabriel doch ein wenig Gefallen daran. Es war wirklich ewig her, dass er ein Buch einfach so zum Vergnügen gelesen hatte. Schon im Studium hatte er fast nur noch Fachliteratur gelesen.

Diese Woche kam er jedoch nicht dazu, seinen Plan in die Tat umzusetzen. Nach der Arbeit hatte er keine Lust mehr, noch in eine Buchhandlung zu gehen oder das Internet nach brauchbaren E-books zu durchstöbern. So blieb erst einmal nur das Fernsehprogramm. Bis zu der Betriebsfeier wollte er es sowieso ein wenig ruhiger angehen lassen. Die war schon in ein paar Wochen. Außerdem wollte Gabriel nicht wieder zu spät ins Krankenhaus kommen.

Am nächsten Samstag war er pünktlich auf der Kinderkrankenstation und begrüßte Alina. Sie erwiderte den Gruß und musterte ihn kurz.

»Hab ich etwas im Gesicht?«, fragte er sie, worauf sie den Kopf schüttelte.

»Nein, zum Glück nicht. Nicht so wie letztes Mal.« Sie spielte natürlich auf das Nasenbluten an, worauf er seufzte. Gabriel strich sich durch das dunkelblonde Haar und erwiderte ihren Blick. »Ich kenne es nur zu gut. Warst du bei der Selbsthilfegruppe?«

Gabriel nickte kurz. »Ja, ich war da. Darf ich dich etwas fragen?«

Sie zögerte, aber gab dann ebenfalls ein Nicken von sich.

»Wieso interessiert dich das so? Einfach nur, weil du selbst damit Erfahrungen gemacht hast, oder vielleicht aus einem anderen Grund?«

»Der da wäre?«, fragte Alina und schien eine Art Theorie von ihm hören zu wollen.

Gabriel zuckte mit den Schultern. »Na ja, ich weiß von der Geschichte mit deinem Bruder. Kann es sein, dass du mich retten möchtest, weil du es bei David nicht geschafft hast? So eine Art Kompensation?«

Sie schnaubte. Anscheinend hatte er einen Nerv getroffen.

»Nein, es liegt nicht an David. David war anders als du. Er hat zu Kokain gegriffen, weil er ernsthafte Probleme hatte und nicht einfach nur Party machen wollte, so wie du. Und er hat tiefer in der ganzen Sache dringesteckt. Ich kann nicht verstehen, warum jemand wie du, der wirklich fast alles hat, sein Leben wegwerfen möchte.«

Ihre Worte ärgerten ihn, also verschränkte er die Arme vor der Brust. »Oh, ich verstehe. Weil ich nicht aus der sozialen Unterschicht stamme, habe ich keine Probleme, oder kein Recht, zu Drogen zu greifen? Aber dein Bruder und du … Ihr habt das Recht, euch das Leben zu versauen?«, zischte er, worauf sie ihn ermahnend anschaute.

»Lass uns nicht jetzt und hier darüber reden, okay? Meinetwegen, wenn wir den Besuchstermin hinter uns gebracht haben.«

Gabriel zuckte erneut mit den Schultern. »Meinetwegen.«

Sie schritten den sterilen, weißen Krankenhausgang entlang bis zu dem Spielzimmer. Es war komisch, dass es hier überhaupt ein Spielzimmer gab. Ja, sie waren auf der Kinderkrankenstation, aber trotzdem fand Gabriel es merkwürdig, weil die restliche Umgebung einen so starken Kontrast bildete. In diesem Haus starben täglich Menschen, Leute entkamen knapp dem Tod und gleichzeitig erblickte neues Leben die Welt. Fast wie eine Art Bahnhof: Leute kamen an, Leute fuhren ab – und einige hofften vielleicht, dass der Zug, der sie hier wegbringen sollte, sich noch ein wenig verzögerte.

Seine Gedanken rissen ab, als sie das Spielzimmer erreichten. Er war nun schon einige Male hier gewesen, doch heute fiel ihm ein Teenagermädchen auf, das er bisher noch nie gesehen hatte. Sie saß abseits von den anderen in einem Sessel und las. Sie war sehr blass und ihr dunkles, fast schwarzes Haar unterstrich ihre Blässe nur noch. Gabriel stupste Alina kurz an.

»Wer ist das?«

»Sie heißt Mia. Es wundert mich eigentlich, dass sie hier ist.«

Gabriel schaute Alina fragend an. »Wieso?«

»Sie hat Mukoviszidose und auch echt Pech, weil es bei ihr zu spät erkannt wurde. Sie wird davon niemals wirklich befreit werden. Deswegen ist sie immer mal wieder hier für Behandlungen und redet mit fast niemandem«, antwortete Alina leise.

»Kann ich verstehen, würde ich wahrscheinlich auch nicht tun. Aber was hat es damit auf sich? Also mit dieser Krankheit?«

Alina bemühte sich, es ihm kurz und leise zu erklären. Sie wollte wohl nicht zu viel Aufsehen erregen.

»Ich bin kein Arzt, aber ich weiß zumindest ein wenig darüber. Mukoviszidose ist eine angeborene Stoffwechselerkrankung, wenn ich das richtig im Kopf habe. Bei den Patienten sind einige Gene verändert, die für die Produktion von Körpersekreten wichtig sind. Aber frag mich jetzt bitte nicht genau, welche. Durch diese Veränderung unterscheidet sich die Zusammensetzung der Körperflüssigkeiten bei Mukoviszidose-Kranken von der anderer Menschen. Die Flüssigkeiten sind deutlich zäher und dadurch kommt es immer wieder zu Atemproblemen und Verdauungsstörungen. Mit einer konsequenten Therapie kann man den Krankheitsverlauf verlangsamen, aber die Lebenserwartung ist bei erkrankten Menschen deutlich kürzer.«

Mia hatte sie anscheinend doch gehört, denn sie schaute auf und sah sowohl Alina als auch Gabriel skeptisch an. Dann verließ sie einfach das Zimmer.

»Sie möchte mit mir nicht sprechen. Vielleicht versuchst du mal dein Glück«, meinte Alina, worauf Gabriel lachte.

»Ich? Du weißt schon, dass ich nicht gerade der emotionalste Typ bin? Und sie hat uns beide angeschaut, als wäre sie ziemlich genervt.«

»Schon gut. Es war nur ein Vorschlag. Wenn du keine Lust darauf hast, musst du es nicht machen.«

Gabriel seufzte kurz. Er wollte nicht so wirken, als sei ihm das Ganze egal oder als wolle er sich drücken, also verließ er das Zimmer und ging dem Mädchen hinterher.

»Hey, warte mal!«, rief er, worauf sie stehenblieb und sich genervt umsah.

»Was?«

Ja, das war eine gute Frage. Was wollte er überhaupt von ihr?

»Ich wollte mal fragen, was du da gelesen hast?«, sagte er vorsichtig. Das war das Erste, was ihm einfiel. Schließlich hatte er sich wirklich ein Buch suchen wollen. Und so konnte er sie wenigstens irgendwie in ein Gespräch verwickeln.

Das Mädchen verdrehte die Augen. »Etwas Besseres ist dir nicht eingefallen?«

Er schaute sie irritiert an.

»Ich bemerke diese ständigen mitleidigen Blicke. Von dir und auch von allen anderen, und ich hasse sie!«, rief das Mädchen. An ihrer Stimme konnte man hören, dass sich eine ganze Menge Wut und Frustration in ihr angestaut hatten.