Gegen das Zwielicht - Carolin Kippels - E-Book

Gegen das Zwielicht E-Book

Carolin Kippels

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Beschreibung

100 Jahre nach dem alles vernichtenden großen Krieg ist die Welt nicht mehr, wie sie einmal war. Die Städte liegen in Schutt und Asche, die Menschen kämpfen ums Überleben. Nur die sieben Bezirke stellen eine erste Zivilisation dar, die durch den Regenten und sein Heer Sicherheit und Schutz gegen die Waldvölker bietet. Doch dafür zwingt sie ihre Angehörigen in eine strenge Klassengesellschaft. Der junge Sichem gehört der untersten Schicht dieses Systems an. Er soll die Todesstrafe erhalten, weil er sich gegen Soldaten aus dem wohlhabenden ersten Bezirk verteidigt hat. Doch in letzter Sekunde rettet Klara, die Tochter des Regenten, sein Leben. Jahre später steigt Sichem unerkannt zum Leibwächter der Herrscherfamilie auf und eine zarte Freundschaft zwischen ihm und Klara entspinnt sich. Die Ereignisse überschlagen sich, als der erste Bezirk gestürzt werden soll. Sichem selbst gerät zwischen die Fronten, als er sich entscheiden muss: Kämpft er für eine Welt der sozialen Gerechtigkeit oder beschützt er Klara und ihre Familie?

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Die AutorinCarolin Kippels wurde 1995 in Gummersbach geboren. In ihrer Kindheit erkundete sie die Wälder des bergischen Landes und brachte mit klaren Strichen abenteuerliche Fantasiegebilde auf Papier. In der Schulzeit entwickelte sich ihr reges Interesse an zwischenmenschlichen Prozessen, über die sie Kurzgeschichten verfasste. Nach ihrem Abitur 2013 baute sie dieses Interesse aus und startete ein Psychologiestudium in Köln. Mit 18 Jahren veröffentlichte sie ihren ersten Thriller selbst unter Eigenregie. Sie ist ein Hundefreund und widmet sich in ihrer Freizeit leidenschaftlich ihren Lieblingsserien Game of Thrones, Sherlock und American Horror Story.

Das BuchZukunft bedeutet nicht immer Fortschritt   100 Jahre nach dem alles vernichtenden großen Krieg ist die Welt nicht mehr, wie sie einmal war. Die Städte liegen in Schutt und Asche, die Menschen kämpfen ums Überleben. Nur die sieben Bezirke stellen eine erste Zivilisation dar, die durch den Regenten und sein Heer Sicherheit und Schutz gegen die Waldvölker bietet. Doch dafür zwingt sie ihre Angehörigen in eine strenge Klassengesellschaft. Der junge Sichem gehört der untersten Schicht dieses Systems an. Er soll die Todesstrafe erhalten, weil er sich gegen Soldaten aus dem wohlhabenden ersten Bezirk verteidigt hat. Doch in letzter Sekunde rettet Klara, die Tochter des Regenten, sein Leben. Jahre später steigt Sichem unerkannt zum Leibwächter der Herrscherfamilie auf und eine zarte Freundschaft zwischen ihm und Klara entspinnt sich. Die Ereignisse überschlagen sich, als der erste Bezirk gestürzt werden soll. Sichem selbst gerät zwischen die Fronten, als er sich entscheiden muss: Kämpft er für eine Welt der sozialen Gerechtigkeit oder beschützt er Klara und ihre Familie?

Carolin Kippels

Gegen das Zwielicht

Roman

Forever by Ullsteinforever.ullstein.de

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.   Originalausgabe bei Forever. Forever ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Dezember 2015 (1) © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2015 Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München Titelabbildung: © FinePic® Autorenfoto: © Marvin Kupper  ISBN 978-3-95818-069-7  Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten.   Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Widergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

»Es ist nicht zu wenig Zeit, die wir haben, sondern es ist zu viel Zeit, die wir nicht nutzen« – Lucius Annaeus Seneca

Für meine ganze Familie, Marvin und Robin, die nun auch dazugehören. Hiermit bedanke ich mich für eure Unterstützung, euren Rat und eure Zeit.

Prolog

Trümmer, Asche, ein grauer Himmel und Verzweiflung: Das sind die Bausteine, aus denen sich die Bezirke erhoben.

Der letzte Krieg lag mehr als hundert Jahre zurück, aber war selbst den Jüngsten noch immer ein Begriff. Natürlich, sie hatten viele Erzählungen gehört, die in den letzten drei Generationen weitergetragen wurden. Viele davon stammten von dem Alten. Der Alte war ein Greis, der damals in den Krieg hineingeboren wurde und ihn selbst miterlebt hatte. Er war der älteste Mann sämtlicher Bezirke und sein hohes Alter kam einem Wunder gleich. Die Erinnerungen schienen ihn noch heute zu lähmen und er wagte es nicht mehr, auf andere, bessere Zeiten zu hoffen. Sein Verstand schien von der Zeit zerrüttet. Er traute sich nicht, daran zu denken, dass aus den grauen Bezirken eines Tages etwas Neues, Schönes entstehen könnte. Und vielleicht hatte er damit recht. Auch den Glauben an einen wirklich anhaltenden, endgültigen Frieden hatte er schon lange verloren. Schließlich hatte er mit eigenen Augen gesehen, zu was Menschen fähig waren.

Viele der Jungen ließen sich immer wieder von den Erzählungen des Alten fesseln. Zwar hatten sie selbst den Krieg nie erlebt, aber sie mussten mit seinen Folgen leben. Ihnen war schon immer klar, dass sie seinetwegen hart arbeiten mussten und deswegen weiterhin Ungerechtigkeit herrschte. Sie verfluchten den Regenten, doch niemand wagte es, die kalten, zwielichtigen Bezirke zu verlassen. Niemand, denn außerhalb dieser lieblosen Bezirke wartete das Nichts und die Ungewissheit. Dort draußen war man komplett auf sich gestellt. Noch schlimmer als das Nichts oder die Ungewissheit waren aber die Wilden. Die Wilden, von denen man sagte, dass sie wahllos töteten oder sogar Menschen fraßen. Eine mächtige Mauer, die das gesamte Gebiet der Bezirke umspannte, sorgte für Schutz vor den Wilden und all dem Bösen, was der Krieg übriggelassen hatte. Nur ein Tor, das von Soldaten Tag und Nacht bewacht wurde, konnte Zugang zu den Bezirken verschaffen.

Einige Kilometer weiter ragte schließlich der düstere Wald mit seinen kaputten, kranken Bäumen empor. Nicht nur die Menschen hatten unter dem letzten Gefecht gelitten, sondern auch die Natur. Für die Menschen aus der neuen Zeit war es unvorstellbar, dass es einmal so viele verschiedene Bäume, Blätter und Blumen gegeben hatte. Nun strahlte der Wald nur noch eines aus: Tod. Es rankten sich Tausende Legenden um dieses Fleckchen Erde. Einige erzählten, dass die Wilden dort öfters jagten. Andere behaupteten, dass der Wald verflucht sei und Menschen darin verschwanden. Aufgrund all dieser Gerüchte wagte sich nahezu niemand dort hinaus. So wurde das trostlose Leben in dem ungerechten System immer weiter geduldet. Doch selbst der Regent konnte zumindest den Jungen eines nicht nehmen: ihre Hoffnungen und ihre Träume.

Wie oft träumten die Jüngeren aus den unteren Klassen davon, auch einmal in dem ersten Bezirk, dem Bezirk der Reichen, zu leben, ohne jeden Abend Angst zu haben, dass sie morgen hungern mussten? Wie oft hatten sich die Mädchen gewünscht, dass ein Prinz des ersten Bezirks käme und sie mitnahm? Wie oft sehnten sie sich einfach nach ein bisschen Zuversicht? Viel zu oft.

-Ascher

Neun Uhr: Kopfschmerzen, schlechte Laune und langweiliger Geschichtsunterricht über die sieben Bezirke. Gab es etwas Schlimmeres? Ascher meinte nicht. In Gedanken hing er den Abenden nach, die er im teuersten und besten Club verbracht hatte. Das Sodom hatte durchgängig offen und Verschwiegenheit war garantiert. Es war die einzig lohnende Location, die man nach dem letzten großen Krieg wieder aufgebaut hatte. Und nach dem großartigen Abend gestern saß er nun in einem kleinen Raum mit langweiliger Tapete, ein paar hässlichen, modernen Möbeln und einer grauen Tafel.

Der Krieg war mittlerweile schon lange her, aber man sah noch immer die Spuren. Etwas vernichten ging schnell, der Wiederaufbau war um einiges schwieriger. Aschers Vater, der vierte Regent, hatte mit ihm und seinen zwei Schwestern erst vor Kurzem eine Reise in den siebten Bezirk unternommen. Dort lebten die einfachen Leute. Entweder verdienten sie den Mindestlohn oder gar nichts. Dieser Bezirk war ein Abschaum verglichen mit dem Domizil seiner Familie. Und er war froh, dass die Reise wegen eines Anschlags auf den Regenten schnell ein Ende gefunden hatte. Dank der Leibwache seines Vaters war nichts passiert, aber aus Sicherheitsgründen waren sie in den Herrschaftsbezirk zurückgekehrt.

Eine Sache im siebten Bezirk hatte ihn aber doch sehr angesprochen: Die Frauen dort waren noch leichter zu haben als in dem Club. Als Sohn des Regenten war er für diese armen, naiven Mädchen natürlich erste Wahl. Sie schmissen sich ihm an den Hals und hatten die romantische Vorstellung, dass er eine von ihnen mit sich nehmen würde. Aber glaubten sie ernsthaft, dass er sich an ein Mädchen aus Bezirk Sieben binden würde? Am nächsten Morgen waren sie meistens enttäuscht, oder wütend, was ihm nach zwei Tagen in diesem Bezirk auch auf die Nerven ging.

Irgendwann würde er sich binden müssen, aber dann würde es eine arrangierte, strategische Hochzeit geben. Früher hatte man wohl aus Liebe geheiratet, aber das war schon lange her. Ab und an hörte man von Leuten, die das noch immer taten, aber diese gehörten meist zu den freien Dörfern oder sogar zu den Wilden.

Ascher wusste, dass er selbst wahrscheinlich im Alter von zweiundzwanzig Jahren verheiratet werden würde, damit er das Amt des Regenten antreten durfte. Ihm selbst erschloss sich der Grund, weshalb der Regent verheiratet sein musste, nicht genau, aber er hatte es auch nie wirklich hinterfragt. Sein Urgroßvater Gregor van Cleve hatte damals mit dem Rat diese neuen Gesetze erlassen und die meisten davon fand Ascher ziemlich lächerlich.

Gregor und der Rat hatten diese Gesetze geschrieben, als die Welt noch in Schutt und Asche lag. Dabei beachteten sie alle möglichen Religionen und Verfassungen, die es früher einmal gegeben hatte, und pickten sich die ihrer Meinung nach wichtigsten Dinge heraus. Zumindest glaubte Ascher, dass es damals so gewesen war. Das Gute an diesen ganzen Ordnungen war: Es gab viele Feiertage. Das Schlechte: Es gab unheimlich viele ihm sinnlos erscheinende Regeln, die eingehalten werden mussten.

Ascher streckte sich, was dem Privatlehrer, den sein Vater engagiert hatte, nicht gefiel.

»Ascher. Vielleicht kannst du uns ja sagen, warum man den dritten Paragraphen in dem Gesetz zur Rat-Aufstellung hinzugefügt hat? Schließlich war dieses Gesetz ein wichtiger Wendepunkt.«

Oh, wie er es hasste, wenn Lehrer so etwas direkt fragten.

»Hm. Keine Ahnung. Vielleicht: Hey, wir haben bis jetzt nur zwei Paragraphen. Wie wäre es mit noch einem mehr? Aller gute Dinge sind schließlich drei.«

Seine Schwester Blaire kicherte leise, während die ältere einfach nur die Augen verdrehte.

»Sehr witzig, Ascher. Wenn ich dir manchmal so zuhöre, würde ich mir wünschen, dass du nur halb so klug wie deine Schwester Klara wärst.«

Ascher seufzte, ehe er antwortete: »Es ist nicht klug, die Bedeutung von irgendwelchen Gesetzen auswendig zu lernen. Es ist einfach nur langweilig.«

»Das sehen dein Vater und der Rat aber anders.«

»Schon gut«, sagte Ascher und seufzte. »Ich bin schon still. Machen Sie weiter.«

Er hatte keine Lust mehr auf Diskussionen und rechnete im Kopf aus, wie viele Stunden, Minuten und Sekunden es noch dauerte, bis er wieder frei war.

-Klara

»Ascher hat sich heute wieder unmöglich verhalten. Wirklich. Ich finde diese Gesetze auch nicht alle gut, aber deswegen kann man trotzdem nicht so respektlos sein«, schnaubte Klara und stapfte mit Blaire die Treppe hinunter.

»Er wird der neue Regent. Er kann so ziemlich alles machen, solange er den Rat nicht zu sehr verärgert. Das weißt du doch, und abgesehen davon glaube ich nicht, dass er es böse gemeint hat. Er war sicher nur etwas müde und gereizt.«

Blaire versuchte öfters das Verhalten ihres älteren Halbbruders in Schutz zu nehmen.

»Er ist für ein so hohes Amt nicht geeignet. Ascher besitzt weder Weisheit noch Disziplin. Das Einzige, was er hat, ist sein gutes Aussehen und etwas Charisma. Und die zwei Eigenschaften benutzt er fast jede Nacht, um sich mit Mädchen zu vergnügen. Du weißt, dass es in diesem Ausmaß eigentlich nicht geduldet wird. Was ist, wenn eine von ihnen schwanger wird?«, fragte Klara und war noch immer verärgert.

»Ich glaube, dass die anderen Regenten in ihrer Jugend auch etwas Spaß hatten. Wir wissen, dass der dritte Regent Thomas eine Freundin hatte, bevor er heiratete und das Amt annahm.«

»Das war eine Freundin für mehrere Jahre. Nicht eine pro Nacht oder wer weiß wie viele Ascher nachts abschleppt. Aber eigentlich will ich es auch nicht wissen.« Klara schüttelte den Kopf vor Abscheu, sodass ihre hellbraunen Haare kurz durch die Luft flogen.

»Es geht ja nicht darum, dass er einfach nur Spaß haben will. Erinnere dich an unsere Reise zu Bezirk Sieben. Er hat damit rumgeprotzt, dass er aus dem ersten Bezirk stammt, um ein paar mittellose, junge Frauen ins Bett zu kriegen.«

»Ich weiß, ich weiß. Aber ich will nicht so über Ascher sprechen. Er ist noch immer unser Bruder«, wandte Blaire ein. Sie war im Gegensatz zu Klara eher sanft und versuchte Konflikten aus dem Weg zu gehen.

»Unser Halbbruder«, korrigierte ihre ältere Schwester sie sofort. »Manchmal frage ich mich, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn Vaters erste Frau wenigstens einen gesunden Sohn zur Welt gebracht hätte, bevor sie verstarb.«

Blaire dachte über die Worte ihrer Schwester nach, ehe sie antwortete: »Wenn die erste Ehe unseres Vaters problemlos gelaufen wäre, hätte es vielleicht weder Ascher noch uns gegeben.«

»Das kann schon sein, aber ich denke, dass Ruths Sohn ein besserer Regent als Ascher gewesen wäre. Besser als Ascher zu sein ist auch wirklich nicht schwer.«

»Irgendwie haben die Frauen des Regenten nie Glück. Zumindest nicht bei unserem Vater«, bemerkte Blaire.

»Ruth war seine erste Frau und starb, als sie ihren Sohn zur Welt brachte. Aschers Mutter Dina litt unter Depressionen und brachte sich zwei Jahre nach seiner Geburt um. Unsere Mutter lebt zwar noch, ist mit der Ehe aber alles andere als glücklich, glaube ich.«

Blaire nickte. »Ich weiß. Ich habe einmal von einer Zeit gehört, in der es für Frauen leichter war, selbstständig zu sein. Bei uns gibt es zwar auch einige Frauen, die unabhängig und klug oder stark sind, aber diese haben entweder genug Unterstützung, um sich so zu entwickeln, oder sie sind sehr, sehr hartnäckig. Wie zum Beispiel die Rat-Älteste Leela Khanna. Unser Gesetz verbietet Frauen ja auch nicht, sich zu entwickeln und unabhängig zu sein. Es unterstützt sie nur nicht«, stellte Blaire nüchtern fest.

»Ich weiß«, murmelte Klara und warf dann einen Blick auf die Uhr. »Oh verdammt. Wir sind spät dran. Vater hat uns doch heute erlaubt, an einer seiner Sitzungen mit dem Rat teilzunehmen. Schnell, lass uns los!«

Die beiden Mädchen liefen die Treppe hinunter, durch den geräumigen, hellen Salon. Unter den Füßen der beiden befand sich ein großer, blauer Teppich, den man eigentlich nicht mit Schuhen betreten durfte. Er war wohl verdammt teuer gewesen. Aber gerade war niemand da, der die Mädchen dabei erwischen konnte. Die beiden mussten durch die Stadt zum Rathaus, das gleichzeitig das Regierungsgebäude war. Momentan war die politische Lage soweit sicher, dass sie das Haus ohne Leibwächter verlassen durften. Sie hetzten durch die Straßen, bis sie das Rathaus erreichten.

Der Saal war der größte Raum des Rathauses. Die Wände waren vollkommen weiß und bildeten so einen starken Kontrast zu dem Parkett aus schwarzem Ebenholz. Die Fenster waren hoch und schmal. Da die Vorhänge aufgezogen waren, fiel Licht herein. Allerdings war es kein freundliches, warmes Licht, da sich Regen ankündigte. Ihr Vater nickte den zwei Mädchen zu, als sie in den Saal eintraten, und wies sie an, etwas abseits des Rats Platz zu nehmen. Der Rat bestand aus fünfundzwanzig Mitgliedern, also mussten sich Klara und Blaire recht weit nach außen setzen. Erst als die Mädchen Platz genommen hatten, erhob sich die Rat-Älteste, Leela Khanna zur Begrüßung.

»Der Rat und Frederic van Cleve, der Regent der sieben Bezirke, erklären die Sitzung hiermit für eröffnet. Wir hoffen durch gerechte Abstimmung zu klugen Urteilen zu gelangen.«

Sie machte eine kurze Pause und kam dann zu den aktuellen Themen.

»Eigentlich sollten wir heute über den Bezirk Zwei sprechen, da unsere Forscher um eine neue Finanzierung für ihr aktuelles Projekt gebeten haben, doch durch einen skandalösen Zwischenfall wird dieses Thema vertagt.«

Die Stimme der Ältesten war brüchig und müde. Klara fragte sich, ob Leela Khanna ihr Amt noch lange durchhalten würde. Trotz ihres Alters hatte sie aber noch immer einen gewissen Charme.

Leela räusperte sich kurz, ehe sie weitersprach: »Im siebten Bezirk gab es einen Zwischenfall, bei dem zwei unserer Wachen getötet wurden. Der Name des Mörders ist Sichem. Wie wir in Erfahrung bringen konnten, besitzt er keinen Nachnamen. Er ist neunzehn Jahre alt und schon öfters auffällig geworden durch Diebstahl und Schlägereien. Er spricht heute ohne Verteidigung zu uns.«

»Nun gut. Lasst ihn herein.« Ein schneller Wink ihres Vaters und die Wachen schleiften den jungen Mann herbei.

Klara musterte den Gefangenen. Auch wenn der Rat ihn soeben als Mörder beschrieben hatte, fand sie nicht, dass er bedrohlich wirkte. Nein, er sah wie ein einfacher, armer Junge aus. Sein Haar war blond und ein wenig verdreckt. Seine Haut hatte einen leichten Braunton. Anscheinend musste er draußen in der Sonne hart arbeiten, um zu überleben, denn er war muskulös. Seine grünblauen Augen huschten in dem Raum hin und her wie die eines aufgeschreckten Tieres.

»Ich entschuldige mich, Herr Regent«, sagte er dann.

»Wofür genau?«, fragte ihr Vater und musterte den Jungen.

»Für meine Verbrechen.«

»Na, also. Er gesteht. Dann ist der Fall wohl klar«, kommentierte Ruven Morer und setzte sich auf. Ruven war mit seinen dreiundzwanzig Jahren das jüngste Mitglied im Rat. Klara hatte schon einige Male gehört, dass er Menschen gerne zu den höchsten Strafen verurteilte und dann dabei zusah, wenn die Urteile vollstreckt wurden.

»Lass ihn erst einmal ausreden, Ruven«, ermahnte ihn Leela Khanna.

Morer hob kurz abwehrend die Arme und es war eine Weile still, bis der Junge weitersprach.

»Ich gebe zu, dass ich in mehrere Schlägereien verwickelt war, und ja, ich habe auch gestohlen, aber ich hatte nicht die Absicht, die Wachen zu töten.«

»Welche Absicht dann?«, fragte ein anderer Ratsangehöriger.

»Ich hatte gerade den Lohn für meine Arbeit bekommen. Ich helfe beim Bau einer Schule. Da griff mich die Wache an und wollte mir den Lohn … streitig machen. Wahrscheinlich glauben mir alle Beteiligten hier nicht, aber so etwas geschieht häufiger im siebten Bezirk. Die Wachen versuchen öfters, ihr Gehalt aufzubessern. Als die Wache bemerkte, dass ich ihm meinen Besitz nicht so einfach überlassen würde, gingen er und sein Kollege auf mich los.«

»Schickt die Mädchen und den Jungen einen Augenblick lang hinaus. Wir werden uns beraten«, befahl Frederic van Cleve. An diesem Teil der Besprechung durften sie nicht teilnehmen. So saßen Klara und Blaire eine ganze Weile draußen und sprachen über den Fall.

»Ich glaube nicht, dass er lügt«, sagte Klara und schaute fragend zu ihrer Schwester. »Was meinst du?«

»Ich weiß nicht. Nach dem Sicherheitsgesetz für Wachen gibt es Überprüfungen für diese Berufsgruppe. Egal, in welchem Bezirk sie stationiert sind. Wenn sich Wachen nicht angemessen verhalten, werden sie bestraft oder verlieren sogar ihren Job.«

»Du weißt aber genauso wenig wie ich, wie gründlich diese Überprüfungen sind«, gab Klara nachdenklich zurück. Nach einer Weile öffneten sich die Türen des Saales und sie wurden wieder hereingebeten.

Klara fiel sofort auf, dass Ruven Morer lächelte, und sie wusste, dass das für den Jungen nichts Gutes zu bedeuten hatte. Ruven erhob sich und sprach das Urteil.

»Der Rat und der Regent haben entschieden und verurteilen den Verdächtigen Sichem hiermit. Zwar sagte dieser, dass er angegriffen wurde, aber dafür existieren keine Beweise. Die Anschuldigung des Verdächtigen erscheint nicht glaubwürdig, da die Wachen nach dem Sicherheitsgesetz regelmäßig überprüft werden. Des Weiteren ist Sichem, dessen Nachname unbekannt ist, schon mehr als einmal straftätig geworden, weswegen die Gültigkeit seiner Anschuldigungen gegenüber der Wache angezweifelt wird. Somit verurteilen wir Sichem dazu, für das Leben der Wächter mit seinem eigenen zu …«

»Nein«, rief Klara und stand auf.

Eine Weile lang war es totenstill.

Doch dann erhob sich Geflüster. Ihr Vater schaute sie wütend an, während Blaire die Hand ihrer Schwester griff. Anscheinend wollte Blaire, dass sie sich wieder setzte, aber Klara löste ihren Griff leicht und sprach weiter.

»Wir wissen, dass die Leute in dem siebten Bezirk fast jeden Tag ums Überleben kämpfen, aber warum sollte einer von ihnen einen Wächter angreifen? Das wäre sein sicherer Tod. Das würde ein Bewohner des Bezirks nur machen, wenn er angegriffen wurde.«

»Für einen Angriff der Wächter gibt es keine Beweise«, fiel ihr Ruven sofort ins Wort.

»Das gilt auch umgekehrt. Abgesehen davon: Dieser junge Mann ist gerade einmal neunzehn und soll es geschafft haben, zwei unserer Wächter zu töten.« Sie machte eine Pause. »Zwei unserer gut ausgebildeten Wächter. Ich denke, dass er Talent hat, selbst ein Top-Leibwächter zu werden. Ich finde es falsch, jemanden, der Potenzial besitzt und möglicherweise unschuldig ist, zum Tode zu verurteilen.«

Auf Leelas faltiges, altes Gesicht legte sich ein Lächeln. Anscheinend war sie ebenfalls gegen eine Verurteilung zum Tode. Nun ergriff sie das Wort.

»Sehr geehrter Regent. Ich finde, dass Eure Tochter recht hat. Wir sollten die Verurteilung noch einmal überdenken. Mein Vorschlag wäre es, den Jungen aus dem siebten Bezirk in den vierten Bezirk zwangsversetzen zu lassen. Er bekommt dann die Chance, einen besseren Weg einzuschlagen und sein Potenzial unter Beweis zu stellen. Arbeitet er mit und die Ausbilder erachten ihn als nützlich, würde ich vorschlagen, dass er die zweijährige Ausbildung durchläuft.«

Ihr Vater zögerte, doch nickte dann.

»Mir gefällt dieser Vorschlag gut. Allerdings ist meine Stimme alleine nicht ausschlaggebend für das Urteil. Die Entscheidung wird erst gültig, wenn 75 Prozent des Rates zustimmen. Also müssen mir noch achtzehn Mitglieder des Rates zustimmen, damit für den Beschuldigten das neu angesetzte Strafmaß gilt.«

Blaire zupfte ihre Schwester am Ärmel.

»Das verstehe ich nicht. Wieso noch achtzehn?«, flüsterte Blaire und schaute ihre große Schwester fragend an.

Klara lächelte leicht und erklärte ihrer Schwester die Abstimmung. Schließlich war Blaire erst vierzehn.

»Der Stimme eines Ratsmitgliedes werden 3,5 Prozent zugeteilt. Die Stimme des Regenten zählt 12,5 Prozent. Allerdings wollte unser Vorfahr Gregor van Cleve, dass es möglich ist, den Regenten zu überstimmen. Deswegen können bereits zweiundzwanzig Mitglieder des Rates gegen den Regenten entscheiden, weil sie dann 75 Prozent erreichen. Vater benötigt jetzt noch achtzehn Stimmen des Rates damit die Entscheidung gültig ist und über den 75 Prozent liegt. Verstehst du?«

Blaire nickte kurz und die beiden beobachteten, was weiter vor sich ging. Tatsächlich bekam ihr Vater sogar neunzehn Stimmen und somit stand fest, dass der Junge leben sollte. Kurz bevor er abgeführt wurde, schaute er noch einmal über die Schulter und blickte Klara an.

-Blaire

Die Sitzung des Rates hatte lange gedauert. Vielleicht wäre es für Blaire weniger langweilig, wenn sie mehr von dem Rechtssystem verstünde, aber sie hatte sich damit noch nicht so intensiv beschäftigt wie Klara. Sie verstand nicht, wie Klara es immer schaffte, diese langen Texte durchzuarbeiten und sie dann auch noch im Kopf zu behalten. Klara und Blaire wollten gerade zurück in den Sitz des Hauptgebäudes gehen, als jemand Klaras Namen rief. Es war Leela Khanna. Sie eilte mit schnellen Schritten auf Klara zu. Für ihr Alter war Leela noch gut zu Fuß. Allerdings war sie jetzt doch etwas außer Atem.

»Wartet«, sagte sie und atmete einmal tief durch, als sie neben den Mädchen stehen blieb.

»Ich muss schon sagen, Klara. Dein Auftritt gerade hat dem Jungen das Leben gerettet. Das war wirklich mutig. Nicht jeder traut sich, bei einem Urteilsspruch dazwischenzurufen.«

»Ich weiß nicht. Als ich gerufen habe, habe ich nicht nachgedacht. Es war eher instinktiv, weil ich die Verhandlung unfair fand.«

»Leider sind viele von diesen Verhandlungen so, mein Kind. Als ich jung war, konnte ich mehr Einfluss auf das ganze Geschehen nehmen.«

»Wieso jetzt nicht mehr?«, fragte Blaire. Sie wollte auch etwas zu dem Gespräch beitragen und nicht nur schweigsam danebenstehen.

»Einige im Rat wollen, dass man in diesen Zeiten hart durchgreift und jeden, der auch nur einmal schuldig geworden ist, zu Höchststrafen verurteilt. Aber so ein Urteilsspruch ist ungerecht und willkürlich. Vor allem dann, wenn wir die Lage der Menschen im siebten Bezirks bedenken.« Leela schüttelte den Kopf. »Wenn Menschen immer härter bestraft werden, heißt das nicht, dass es anschließend keine Verbrechen mehr gibt.«

Klara schaute die ältere Frau fragend an.

»Richten sich nicht die meisten im Rat nach der Meinung der Ältesten?«

»Nach mir?« Leela lachte. »Oh nein, nein. So funktioniert das nicht. Es wäre schön, wenn sich die Mitglieder des Rates nach der Person mit der größten Lebenserfahrung richten würden, aber sie denken, ich gehöre zum alten Eisen. Ihr beide seid noch jung und habt noch Zeit, euch genügend mit dem System zu beschäftigen. Ich wollte eigentlich nur eines sagen. Klara, du hast dich heute in der Versammlung gut geschlagen. Ich weiß, dass die wohlhabenden Menschen aus dem ersten Bezirk meistens untereinander verheiratet werden, um politische Beziehungen zu knüpfen. Aber wenn ihr wie die meisten Mädchen mit ungefähr zwanzig heiratet, dann gibt es kaum eine Chance für euch, Einfluss auf das Geschehen zu nehmen. Und die Welt ist gerade erst dabei, wieder aufgebaut zu werden. Ich fände es schön, wenn ihr zwei an dem Aufbau und der Verbesserung unseres Systems mithelft.«

Blaire wusste nicht genau, was sie davon halten sollte. Es war bekannt, dass Leela eine hohe Position erreicht hatte, besonders für eine Frau, aber dafür war sie unverheiratet. Und Blaire wollte später schon einmal heiraten und sich nicht nur mit irgendwelchen Gesetzen herumschlagen. Trotzdem bedankte sie sich mit Klara zusammen für das Gespräch.

»Warum hat sie so viel mit uns gesprochen?«, fragte Blaire, als Klara und sie schon fast wieder zu Hause waren.

»Ich denke, dass sie einfach nicht so viele Menschen hat, mit denen sie sonst spricht. Außerdem ist sie schon alt … Und ich glaube, dass man mehr redet, wenn man alt ist.«

»Kann schon sein. Du, sag mal, Klara, würdest du einen ähnlichen Weg einschlagen wie sie?«, fragte Blaire und strich sich durch ihr dunkelbraunes Haar.

»Ich weiß nicht. Ich würde es in Betracht ziehen. Irgendwie glaube ich, dass man immer etwas falsch machen kann. Wenn du gleich heiratest, dann hast du kaum Möglichkeiten, dich weiterzubilden und auf eigenen Beinen zu stehen. Wenn du Karriere machen möchtest, musst du dich erst einige Jahre weiterbilden und dann arbeiten. Dann ist es nicht mehr so leicht, Kinder zu bekommen, und viele Männer aus dem ersten Bezirk wollen Frauen nur heiraten, wenn sie ihnen gefallen und die richtigen politischen Beziehungen mit sich bringen – oder ihnen helfen, ein Amt zu erreichen. So oder so … Es ist nicht leicht.«

»Du hast recht«, meinte Blaire und nickte.

»Es steht heute nichts mehr an. Wollen wir vielleicht irgendwohin essen gehen?«

»Super Idee. Wir könnten in das Bezirksinnere fahren und uns dort etwas suchen.«

Während ihre Schwester den Wagen lenkte, schaute Blaire aus dem Fenster.

Auch in ihrem Bezirk gab es noch immer eine Menge Baustellen. Sie selbst hatte den Krieg nie erlebt, aber viel davon gehört. Man hatte ihr nicht nur von dem Krieg erzählt, sondern auch von der Zeit davor. Momentan ging man von fünfzig Millionen Menschen auf der Erde aus. Die Menschheit hatte sich schon vermehrt, aber für Blaire war es unvorstellbar, dass auf der Erde einmal sieben Milliarden Menschen gelebt haben sollten. Damals war natürlich mehr Platz gewesen, weil nicht so viele Gebiete zerstört und verstrahlt gewesen waren, aber trotzdem kam ihr diese Zahl illusorisch vor.

In dem Restaurant gab es so viele Leckereien, dass Blaire die Probleme und den Hunger der anderen Menschen vergaß. Sie hatten sich Kuchen bestellt. Der war natürlich teuer, da viele Zutaten dafür benötigt wurden. Nach dem Essen schlenderten sie durch das Bezirksinnere, bis sie sich schließlich zurück auf den Heimweg machten.

Die Fahrt dauerte nur ein paar Minuten. Also waren sie schon kurz darauf in dem Salon ihres Wohnhauses.

»Cassandra?«, fragte Klara, als sie die Schlüssel des Wagens zur Seite gelegt hatte. Klara nannte ihre gemeinsame Mutter immer beim Vornamen.

»Ascher?«, rief nun auch Blaire.

»Hm. Keiner zu Hause. Dass Vater nicht da ist, war ja klar. Na ja, auch gut, dann haben wir immerhin unsere Ruhe«, meinte Klara und lächelte.

Blaire wusste, dass es ein Scherz war, denn eigentlich war außer ihnen so gut wie nie jemand zu Hause. Also zog sich jede in ihr Zimmer zurück. Sie hatten sich zwar sehr gerne, aber wenn man von sieben Uhr morgens bis sieben Uhr abends miteinander Zeit verbrachte, war es manchmal auch schön, für sich zu sein. Also zog Blaire sich mit ihrem Lieblingsbuch auf ihr Bett zurück. Es war ein berühmtes Buch, das noch aus der Zeit vor dem Krieg stammte. Nur wenige waren von dieser Zeit erhalten. Ihr Vater hatte es ihr zum Geburtstag geschenkt.

Es war ein Buch über zwei Teenager und natürlich handelte es von Liebe. Interessanterweise waren viele Dinge, die in diesem Buch beschrieben wurden, viel fortschrittlicher als die Gegenstände, die sie kannte. Es wirkte so, als würde dieses Buch die Zukunft beschreiben. Es gab Dinge wie einen MP3-Player, mit dem man Musik hören konnte. Sicherlich konnten die Ingenieure und Techniker in dem zweiten Bezirk auch so etwas entwerfen, aber sie konzentrierten sich hauptsächlich auf Waffen, Technik und die medizinische Forschung.

Das fand Blaire natürlich schade, aber sie verstand es auch. Sie stellte es sich schön vor Musik, die man mochte, immer abspielen zu können. Vielleicht sollte sie sich von ihrem Vater zum Geburtstag wünschen, dass man an so etwas arbeitete. Ein weiterer Punkt, der sie erstaunte, war, dass fast jede der Figuren ein Auto hatte. Das war hier sehr unüblich. Nur ein paar Leute in ihrem Bezirk hatten Autos und diese waren keineswegs vergleichbar mit den Wagen, die in der Geschichte beschrieben wurden. Anscheinend hatte man früher tief in die Erde gebohrt, um überhaupt Treibstoff zu gewinnen. Heutzutage fuhren die Autos dagegen mit einem Treibstoff namens Methanol. Vor ungefähr fünfzehn Jahren war es Forschern gelungen, größere Mengen Treibstoff zu produzieren. Ganz genau wusste Blaire nicht, wie das funktionierte, aber sie wusste, dass es etwas mit Kohlenstoffmonoxid zu tun hatte. Die Federung war aber hart und das Bremsen erforderte ein gewisses Feingefühl, weil die Räder sonst schnell blockierten. Die Autos im Buch waren dagegen sehr viel sicherer. Diese hatten einen Airbag und Blaire hatte keine Ahnung, worum es sich dabei handelte. Abgesehen davon gab es in der Geschichte ein Navigationssystem, das dem Fahrer einfach berichtete, wo er langfahren musste, um zum Ziel zu kommen. Das hörte sich alles sehr praktisch an.

»Vielleicht wäre es doch ganz schön gewesen in dieser Zeit zu leben«, dachte sich Blaire, als sie las, wie der männliche Protagonist seine Freundin auf eine Spritztour zum See mitnahm. Aber nicht nur die Technik beeindruckte sie, sondern auch die Beziehung der beiden Hauptpersonen.

Der Vater des Jungen war ein reicher Geschäftsführer, während der Vater seiner Freundin abgehauen und ihre Mutter eine einfache Köchin war. Trotzdem gingen sie zur gleichen Schule und niemand verbot den beiden, sich zu treffen. Was für ein Theater würde hier stattfinden, wenn Blaire sich in einen Jungen aus den unteren Bezirken verliebte! Außerdem fand sie es schön, dass sich das Mädchen vollkommen frei für einen Jungen entscheiden durfte.

-Louis

Louis erinnerte sich noch gut an die Nacht, in der das Feuerkind geboren wurde. Viel zu lange war es dunkel gewesen. Als Sonnenallergiker war im Grunde sein ganzes Leben finster gewesen. Damit war aber nicht die Trostlosigkeit der unteren Bezirke gemeint. Im Gegensatz zu den Kindern der Unterschicht hatte er eine angenehme Kindheit gehabt. Schließlich waren seine Eltern mit ihm in die Nähe des toten Waldes gezogen. Dank ihrer wichtigen Position in den Bezirken hatten sie sich unter Schutz hierhin absetzen können. Als Grund hatten sie Forschungsprojekte angegeben, obwohl der eigentliche Grund Louis’ Sonnenallergie war. Die Regierung durfte davon nichts erfahren und erst recht nicht das Perfugium, die religiöse Institution der Bezirke. Im Perfugium selbst wurden Hochzeiten und andere Riten abgehalten. Jeder Bezirk hatte sein eigenes Perfugium.

Mit etwas Pech hätten sie Louis für eine Ausgeburt des Bösen gehalten und eliminieren wollen. Manche Gläubige der Bezirke waren Fanatiker und da war Anderssein nicht erwünscht. Allerdings lag das nicht nur an den Gläubigen. Doch diese trugen dazu bei, dass sich das System halten konnte. Zwar hatte Louis nie andere Kinder gekannt, die mit ihm spielten, aber dafür brachten ihm seine Eltern schon in jungen Jahren eine ganze Menge bei. So lernte Louis viel über das Militär, Waffen, Chemie und Biologie.

Nun ergab alles einen Sinn. Seine Eltern hatten ihm das Nötige beigebracht, bevor sie in einem Waffentest mit Brandbomben umkamen. Die Zündung des Napalm-Brandsatzes hatte fehlerhaft gewirkt, weswegen sie näher an ihr Forschungsprojekt herangetreten waren. Louis’ Eltern hatten daraufhin versucht, die Brandbombe mittels einer weiteren Bombe kontrolliert zu zünden. Doch bei deren Platzierung ging die erste ungeplant los und tötete beide in einem Flammenmeer. So sah der sechzehnjährige Louis dabei zu, wie seine Eltern vor ihm verbrannten. Sie hatten die Waffentests öfters nachts durchgeführt. Schließlich wollten sie ihrem Sohn auch die praktische Seite ihrer Forschung zeigen. Diese Nacht war für ihn wahrhaftig alles andere als dunkel gewesen. Sie stand ihm grell in Erinnerung und hatte für ihn auch heute noch die Bedeutung einer Art Sternstunde. Als seine Eltern verbrannten, schienen die Flammen Louis zu rufen, ihm ein Geheimnis zu verraten. Sie gaben Louis einen neuen Namen und tauften ihn ›das Feuerkind der Nacht‹. Er hatte den Sinn hinter diesem Namen gleich verstanden. Schließlich war Louis bisher immer in der Dunkelheit der Nacht gefangen gewesen. Wobei gefangen das falsche Wort dafür war. Es störte Louis nicht. Im Gegenteil, er ging ganz darin auf.

Das Feuerkind der Nacht war auserwählt, das Feuer zu bändigen und aus ihm Neues zu erschaffen. Doch seine Eltern hatten ihn mit ihren ständigen Vorsichtsmaßnahmen davon abgehalten und mussten deswegen sterben. Und als Louis das hörte, erinnerte er sich. Wie oft hatte seine Mutter ihm die Streichhölzer weggenommen, weil damit zu spielen zu gefährlich war? Und das nur, weil er sich ein paar kleine Brandwunden zugezogen hatte. Mehr war nie passiert und mehr würde auch nie passieren. Das Feuer liebte ihn und er liebte das Feuer. Es würde ihm nie etwas zustoßen.

Er begann, mit Feuerstein einige Waffen herzustellen und diese weiterzuentwickeln. Das tat er so lange, bis er schließlich Waffen entwarf, die so gut waren, dass er sie an das Militär verkaufen konnte. Seine Ideen entwickelten sich weiter und weiter, bis er bald als Waffenhändler bekannt war. Und das nicht nur in den Bezirken. Doch obwohl er seine Arbeit liebte, fühlte er sich einsam. Er hatte noch immer die Sicherheitsmänner seiner Eltern bei sich, die er weiterhin bezahlte, aber ihm fehlte etwas. Louis wusste nur nicht genau was, also setzte er sich in das Wohnzimmer des alten Hauses und zündete den Kamin an.

Die Flammen loderten kurz auf, ehe er vor ihnen Platz nahm und hineinstarrte.

Dann sprach er: »Ich fühle mich heute nicht gut, Esch.«

Esch, das war der Name des Feuers. Das Feuer hatte ihn Feuerkind getauft, aber ihm auch seinen eigenen Namen verraten.

»Ich weiß, dass du mir meine Eltern genommen hast, damit es mit uns beiden funktioniert. Du hast sie sterben lassen, damit ich ihre Ideen weiterentwickeln kann. Aber kannst du mir nicht jemanden bringen, der mich nicht von der Arbeit abhält? Jemanden, der meine Arbeit akzeptiert? Ich bin seit einigen Jahren nun schon dein Diener und will es bleiben, aber bitte … hilf mir, dass ich mich nicht so einsam fühle.«

Die Flammen schienen erneut aufzulodern. Louis hörte das Feuer knistern und flüstern. Das Feuer, das so vielseitig war: mal die Wärme, mal die Zerstörung. Aber als er Esch heute Abend sprechen hörte, war er sich sicher, dass Esch sanft war und ihm helfen würde.

Er blickte in die Flammen und ein Bild schien sich ihm darzubieten. Esch versprach ihm eine junge Frau, die genau wie er vom Feuer gekennzeichnet sein würde. Louis blickte gespannt in die Flammen und konnte ein brennendes Dorf erkennen. Aus dem brennenden Dorf formte sich das Gesicht eines Mädchens. Louis starrte weiter wie gebannt in das Feuer und hatte dabei nur einen Gedanken: Sie war wunderschön.

-Blaire

Es war mittlerweile spät geworden und draußen war es schon lange Zeit dunkel. Da sie nicht so viel Strom verbrauchen wollte, entschied sie sich, das Licht auszumachen. Schließlich wusste sie, dass Strom Luxus war. Gerade als sie das Licht gelöscht hatte und ins Bett gehen wollte, hörte sie Gepolter im Flur. Leise öffnete sie die Tür und ging barfuß zur Treppe. Vorsichtig sah sie hinunter. Es war hell im Salon. So erkannte sie gleich ihren Bruder, der auf dem Boden kniete, da er Probleme hatte, das Gleichgewicht zu halten. Die Tür hatte er offengelassen. Eigentlich war es ein Wunder, dass er in diesem Zustand überhaupt in der Lage war, die Tür zu öffnen. Sie eilte die Treppe zu ihm hinab. Wenn Klara ihn so sehen würde, würde es nur Ärger geben, und darauf hatte Blaire keine Lust.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte sie ihn, als sie unten angekommen war. Doofe Frage. Jeder Blinde konnte erkennen, dass Ascher gerade ziemlich am Ende war.

»Weiß n-nicht«, nuschelte Ascher und starrte auf den Fußboden. Hoffentlich übergab er sich nicht auf den teuren Teppich.

»Na komm. Du kannst nicht die ganze Nacht hier unten bleiben. Du erkältest dich und gehörst ins Bett.«

Sie schloss als Erstes die schwere Eingangstür und versuchte dann, Ascher hochzuhieven, was gar nicht so leicht war. Er stützte sich auf sie, während sie ihn so gut es ging die Treppe hoch in sein Zimmer zerrte. Dabei hielt sich Ascher an dem weißen Geländer fest. In seinem Zimmer angekommen löste er sich von ihr und stürzte etwas holprig ins Badezimmer, aus dem Blaire ein paar sehr unappetitliche Geräusche hörte. Als Regentensohn hatte Ascher natürlich sein eigenes Bad, das gleich neben seinem luxuriösen Zimmer lag. Die Wände in Aschers Zimmer waren dunkelrot gestrichen. An ihnen hingen einige Gemälde der vorherigen Regenten. Dafür, dass Ascher einmal Regent werden würde, türmten sich auf seinem Schreibtisch aber nur so die Schularbeiten. Blaire setzte sich auf sein großes Himmelbett und wartete.

Eine Weile lang hörte sie aus dem Badezimmer nichts mehr. Das bereitete ihr Sorgen. Was, wenn Ascher an seinem Erbrochenen erstickt war? Bestimmt würde Vater ihr die Verantwortung dafür geben. Dann wäre es ihre Schuld, dass der neue Regent erstickt war.

»Ascher?«, fragte sie etwas panisch und öffnete die Badezimmertür.

Ihr Bruder lag alle Viere von sich gestreckt neben der Toilette. Sie beugte sich zu ihm hinunter und schüttelte ihn, worauf er mit einem Stöhnen reagierte. Immerhin war er nicht erstickt.

»Komm bitte wieder zu dir, okay?«, sagte sie und zog ihn auf die Füße. Sie war nicht gerade die Stärkste. Deswegen brauchte das Ganze drei Anläufe. Sie entledigte ihn seines Hemds und schubste ihn unter die Dusche. Vielleicht würde ihn das kalte Wasser wieder zu Verstand bringen.

Tatsächlich wirkte er danach ein wenig wacher. Als sie es geschafft hatte, ihn ins Bett zu bringen, stellte sie ihm einen Eimer ans Kopfende.

»Du musst das wirklich lassen. Sonst muss ich Klara und Vater davon erzählen, dass du heute schon wieder vollkommen betrunken warst«, sagte sie dann ernst.

»Ich weiß«, murmelte Ascher und setzte sich vorsichtig auf, um Blaire noch einmal zu sich aufs Bett zu ziehen und sie zu umarmen.

»Du bissscht ’ne tolle Schwester. Ich liebe dich.«

Es war das typische übertriebene Gelaber, das Betrunkene so von sich gaben. Er strich ihr durchs Haar und gab ihr einen kleinen Kuss auf die Wange.

»Kommt nischhht wieder vor. Versprochen«, nuschelte er dann und ließ sich zurück ins Bett sinken.

Blaire stand auf, löschte das Licht und verließ das Zimmer. Irgendwie tat Ascher ihr leid, aber gleichzeitig wusste sie, dass er sich als zukünftiger Regenten nicht richtig verhielt. Sie hoffte nur, dass er das Feiern und den Alkohol in den Griff bekam. Vielleicht hielt er sich ja wirklich an das Versprechen, das er ihr soeben gegeben hatte. Trotzdem nahm sie sich vor, mit ihrem Vater zu reden, wenn so etwas noch einmal geschah.

Ascher war am nächsten Tag übermäßig freundlich zu ihr, als er sie beim Frühstücken erwischte.

»Na? Gut geschlafen?«, fragte er und lächelte sie an.

Es war zu erkennen, dass er ein verdammt schlechtes Gewissen hatte, als er sich zu ihr an den großen, hölzernen Tisch setzte.

»Was willst du, Ascher?« Blaire schaute von ihrem Frühstück zu ihm hoch.

Er trommelte ein wenig nervös auf dem Tisch herum.

»Ist es verboten seine Lieblingsschwester zu fragen, ob sie gut geschlafen hat?«

»Nein. Ist es nicht. Aber ich habe irgendwie nicht das Gefühl, dass das das Einzige ist, über das du sprechen möchtest«, antwortete Blaire, worauf Ascher nun breit grinste.

»Du bist verdammt klug, Blaire. Manchmal möchte ich meinen, dass du sogar noch klüger als Klara bist.«

Das war nun wirklich ein bisschen zu aufgesetzt, also seufzte Blaire nur und wich dem Blick ihres Bruders aus. Ihr Blick wanderte zu einem Gemälde an der Wand, das einen ihrer Ahnen zeigte. In dem Speisesaal hingen auch Bilder der Frauen der Regentenfamilie. Aschers Gesicht ähnelte den feinen Zügen seiner Mutter. Außerdem wollte sie ihn ein wenig zappeln lassen, bis sie schließlich fragte: »Sag ehrlich, Ascher, was willst du?«

»Okay, ich gebe ja zu, ich bin nicht nur hier, weil du eine tolle Schwester bist«, erwiderte er. Dann druckste er ein wenig herum, ehe er fortfuhr: »Du sag mal. Das wegen gestern … Also, du weißt schon, dass ich einen zu viel getrunken habe …«

»Einen?«, fragte Blaire zurück, worauf Ascher sich nervös am Kopf kratzte.

»Gut, vielleicht auch zwei. Hast du das unserem Vater gesagt?«

Blaire schüttelte den Kopf.

»Nein, habe ich nicht. Ich habe dir doch gestern schon gesagt, dass ich nichts sagen werde.«

»Was ist mit Klara?«

Blaire schüttelte erneut den Kopf, worauf Aschers Grinsen wieder zurückkehrte.

»Danke! Ich verspreche dir, dass es nicht wieder vorkommt.«

»Okay«, antwortete Blaire knapp.

»Wie sieht es denn aus? Hast du heute Abend Zeit?«, fragte er sie dann.

»Ich muss noch etwas Hausaufgaben machen für Politik.«

Ascher verdrehte die Augen. Es war aber zu sehen, dass er leicht amüsiert war.

»Ach, komm schon, Blaire. Die Probleme der Bezirke laufen dir nicht weg. Da sind so oder so genug da. Also hast du Zeit?«

Blaire zuckte leicht mit den Schultern.

»Wahrscheinlich schon.«

»Gut, dann werden wir heute Abend ausgehen. Es ist ja klar, dass du nicht verstehen kannst, warum ich immer so spät nach Hause komme, aber wenn du mal eine Nacht mit mir zusammen im Sodom verbracht hast, garantiere ich dir, dass es dir gefällt«, sagte Ascher und klang dabei, als wolle er Werbung für diesen Club machen.

»Dir ist schon klar, dass ich minderjährig bin?«, fragte Blaire sofort zurück.

»Das sind doch nicht deine Worte, Blaire. Da spricht eindeutig Klara aus dir. Glaubst du, dass man hinterfragt, wer du bist, wenn du gemeinsam mit mir die Location betrittst?« Ascher schaute sie fragend an, worauf Blaire mit den Schultern zuckte.

»Wahrscheinlich nicht.«

»Siehst du. Und ich finde, dass es in Ordnung ist, wenn wir uns mal gemeinsam vergnügen. Klara muss ja nichts davon wissen. Sie ist eine Spaßbremse.«

Er zwinkerte leicht.

»Also zieh dir heute Abend etwas Schickes an und ich nehme dich mit.«

Blaire war sich nicht so sicher, ob das eine gute Idee war. Aber Ascher hatte anscheinend einfach festgelegt, dass sie mitkam, also wusste sie nicht, was sie noch dagegen sagen sollte. Sie fing früh mit ihren Hausaufgaben an, doch brach sie dann ab, um sich ein figurbetontes Kleid auszusuchen. Gleichzeitig betete sie zu allen Heiligen, dass Klara nichts von alledem mitbekam.

-Sichem

Es war für Sichem noch immer ein Wunder, dass er den Saal lebend verlassen hatte. Zwar waren die letzten Tage im Lager nicht einfach gewesen, aber er war am Leben und hatte beschlossen, die Chance, die man ihm gegeben hatte, nicht zu vermasseln. Schließlich hatte er schon immer um sein Überleben kämpfen müssen. Sein Ausbilder, Herr Yuen, war ein unfairer Kerl, der ihn ständig im Visier hatte. Kein Wunder, er war der Einzige hier, der aus dem siebten Bezirk stammte. Die letzten Tage hatten ihm klargemacht, dass sein Urteilsspruch eine Ausnahme gewesen war und er Glück gehabt hatte. Aber dadurch, dass Herr Yuen auf ihn und seine Herkunft herabschaute, neigte er dazu, Sichem zu unterschätzen.

Yuen hatte man gleich nach der Schule zum Militär geschickt, so wie die meisten hier. Sie hatten nie an einem Straßenkampf auf Leben und Tod teilgenommen. Sie kannten ihr Kampftraining und bekamen eine solide Ausbildung, aber sie kannten Sichems Leben nicht. Deswegen ließen ihn die täglichen Erniedrigungen kalt. Er vermutete, dass die wenigen militärischen Einheiten, die überhaupt im siebten Bezirk postiert waren, nur überlebten, weil sie bessere Waffen besaßen.

Mittlerweile hatte er aber verstanden, was Herrn Yuen so ärgerte. Sichem hatte durch seinen Prozess nicht nur das Leben geschenkt bekommen, sondern die Möglichkeit auf eine anerkannte Ausbildung, für die es sonst besondere Zulassungsvoraussetzungen gab. Er sollte nicht nur die Grundausbildung durchlaufen, sondern sogar die Weiterbildung anstreben, wenn er sich nicht allzu dumm anstellte. Und wenn man Sichem als Leibwächter auswählte, würde er automatisch Menschen aus dem ersten oder zweiten Bezirk schützen. Das war der Einstieg in etwas vollkommen Neues: Dieser Job brachte wichtige Kontakte und die Chance auf ein besseres Leben.

Und dafür war er bereit, Yuens Erniedrigungen zu ertragen. Yuen ließ Sichem öfters nicht am Mittagessen teilnehmen oder ihn im Training gegen Kämpfer aus höheren Jahrgängen antreten. Gegen diese hatte Sichem meistens keine Chance. Durch seinen freien Kampfstil konnte er dem Gegner eine Zeit lang standhalten und fügte ihm Schmerzen zu, aber es reichte noch nicht, um den Kampf zu gewinnen. Dafür war er noch zu jung. Mit seinen neunzehn Jahren konnte nur schwerlich gegen einen Zwanzigjährigen gewinnen, der kurz vorm Ende der Ausbildung stand.

Das Training war mittlerweile vorüber und er hatte wieder viele blaue Flecken kassiert. Nun war er froh, die verschwitzte Kleidung ablegen zu können, aber dazu kam es noch nicht. Herr Yuen rief ihn zu sich.

»Du hast noch immer keinen Nachnamen angegeben, Sichem.«

»Das stimmt. Ich bin ohne Eltern aufgewachsen. Eine Straßenbande hat mich aufgenommen und nannte mich Sichem.«

Herr Yuen schaute ihn mit einem bohrenden Blick an.

»Willst du jetzt Mitleid? Du solltest wissen, dass ich nicht geglaubt habe, dass du hierbleiben würdest. Deswegen habe ich die Formalitäten übersprungen und hingenommen, dass du keinen Nachnamen hast. So konnte ich dich allerdings nie auf die Liste der Angenommenen schreiben. Die letzten Tage wurdest du getestet und anscheinend ist man gewillt, dich aufzunehmen und die Weiterbildung zum Leibwächter durchlaufen zu lassen. Ich würde sagen, dass du ziemlich viel Glück gehabt hast«, sagte Yuen.

In Sichem stieg Wut auf. Er hatte die letzten Tage hart gearbeitet und sich zurückgehalten, aber diese Formulierung brachte ihn zur Weißglut.

»Glück? Wann hatte ich Glück?«, fragte Sichem und ließ Yuen nicht auf die Frage antworten. »Hatte ich Glück, als ich in den siebten Bezirk hineingeboren wurde? Hatte ich Glück, als meine Eltern mich zurückließen? Hatte ich Glück, als ich festgenommen wurde, weil ich mein Hab und Gut gegen zwei von euren Soldaten verteidigt habe? Ich hatte zweimal in meinem Leben Glück: Das erste Mal, als ich mich gegen die Soldaten verteidigt habe. Das zweite Mal, als dieses Mädchen in dem Gerichtssaal für mich gesprochen hat. Der Rest meines Lebens ist harte Arbeit gewesen – und mein Wille, nicht aufzugeben. Also sagen Sie mir bitte nicht noch einmal, dass ich Glück hatte.«

»Sei froh, dass du zweimal in deinem Leben Glück hattest. Es gibt Leute, die auch das nicht hatten. Du solltest dich freuen, dass die Tochter des Regenten anscheinend eine soziale Ader für arme Schlucker wie dich hat. Weißt du, was du bist? Ein kleiner, halbstarker Bursche, der nicht erkennen kann, dass er weitaus mehr Glück hatte, als die ganze unbedeutende Brut im siebten Bezirk zusammen.«

In Sichem zuckte es und er hatte das Bedürfnis, Yuen zu schlagen, aber er atmete angespannt durch, bis er schließlich sagte: »Calneev.«

Yuen sah ihn verständnislos an.

»Calneev. Das wird mein Nachname sein.«

Dann machte er auf dem Absatz kehrt und ließ Yuen zurück. Er würde sich nicht provozieren lassen. Das hier war seine Chance. Womöglich die Einzige, die er jemals bekommen würde, und das wollte er sich nicht von Yuen kaputtmachen lassen. Immerhin wusste er mittlerweile, wer das Mädchen gewesen war, das für ihn eingestanden hatte. Die Tochter des Regenten, Klara van Cleve. Ehrlich gesagt hatte er bis dahin keine Ahnung gehabt, wie die Töchter oder der Regent selbst überhaupt aussahen. Wenn man die ganze Zeit um seine Existenz kämpfte, gab es keine Gelegenheit, sich mit hohen Leuten und deren Politik zu beschäftigen.

Bis jetzt hatte er gewusst, dass es den Regenten gab, wie er hieß und dass er im ersten Bezirk lebte. Dazu wusste er noch, dass der Regent wichtige Entscheidungen traf und diese irgendwie abstimmte. Mehr nicht. Mehr hatte er bisher auch nie gebraucht. Den Regenten konnte er daher nicht einschätzen, aber er nahm sich vor, nie zu vergessen, was seine Tochter für ihn getan hatte, und wählte den Nachnamen der Regentenfamilie als seinen eigenen. Allerdings hatte er die Buchstauben vertauscht. Die Ehre, den gleichen Nachnamen zu tragen, würde er schließlich nie ernten können.

-Ascher

Ascher war heilfroh, dass auf Blaire Verlass gewesen war. Noch einmal unangenehm bei seinem Vater aufzufallen konnte er sich nicht leisten. Er hatte ihm bereits mit Strafe gedroht. Wenn sich Ascher noch einen Fehltritt leistete, würde er zu einer sozialen Arbeit verdonnert werden. Ihm war klar, dass das für das Image der Regentenfamilie wichtig war, aber bisher hatte der Regent ihn noch nicht dazu gezwungen. Das sollte so bleiben. Er wusste nicht, was er den Leuten aus den unteren Bezirken sagen sollte, falls er wirklich einen öffentlichen Auftritt dort haben sollte. Sein Vater schaffte es, in den Herzen dieser verzweifelten Arbeiter und Arbeitslosen Hoffnung zu schüren. Oder zumindest dafür zu sorgen, dass sie keine Probleme bereiteten. Aber Ascher konnte nicht verstehen wie. Vielleicht, weil er noch kein Regent war?

Er ekelte sich vor den Leute aus den unteren Bezirken. Sie waren ungepflegt und von schwerer Arbeit gezeichnet. Da konnte er sich nicht vorstellen, auch nur einem von ihnen die Hände zu schütteln. Hin und wieder war er zwar mit seinem Vater dort gewesen, aber da hatte dieser die Gespräche geführt und die Hände geschüttelt. Nicht er. Er hatte lächelnd danebengestanden und manchmal sogar zugehört.

Diese Gedanken schob er aber vorerst beiseite, da er sich darum nun weniger Sorgen machen musste. Schließlich hatte Blaire dichtgehalten und verdiente eine Belohnung.

Er klopfte an ihre Zimmertür, ehe er eintrat. Blaire hatte sich eines ihrer neuen Kleider herausgesucht und kämpfte mit dem Reißverschluss.

»Lass mich das machen«, sagte Ascher und half ihr.

»Gut, siehst du aus. Wir gehen aber nicht gleich los. Ich muss dir vorher noch ein paar Sachen erklären.«

Er setzte sich auf einen Stuhl, während sie auf dem Bett Platz nahm.

»Also, wenn dich jemand fragt, bist du achtzehn. Deine Eltern sind Forscher im zweiten Bezirk und arbeiten meinetwegen in der Technologie-Abteilung. Ich denke, dass wir ohne Probleme reinkommen, aber es kann gut sein, dass meine Freunde dort dich ein bisschen ausquetschen. Du bist also eine gute Freundin, die ich irgendwie über unseren Privatlehrer kennengelernt habe. Details überlasse ich dir. Es ist nur wichtig, dass wir bei der Story bleiben. Wenn nämlich rauskommt, dass du vierzehn bist, haben wir ein Problem.«

Blaire nickte bereitwillig.

»Ansonsten zahlst du am besten immer bar und lässt dir kein Geld wechseln. Es gibt ein paar Windhunde dort, die dir Falschgeld andrehen wollen. Du sprichst am besten nur mit meinen Freunden. Auf die ist Verlass. Manchmal treiben sich dort nämlich auch ein paar Gestalten herum, mit denen man nichts zu tun haben möchte.«

Nun wurde Blaire doch ein wenig aufgeregt und spielte mit ihren Händen. Das konnte er aber verstehen. Sie war noch nie dort gewesen und musste sich viele Informationen einprägen. Im Club wollte er nicht mit ihr auffallen. Nun nickte sie zaghaft.

»Das wird schon, Blaire. Das wichtigste ist erst einmal, dass du heute Nacht Spaß hast.«

Sie machten sie sich zum Wagen auf. Dabei versuchten sie, möglichst leise zu sein, um sich keinen Ärger mit Klara einzuhandeln. Für die nächtlichen Trips nahm Ascher immer einen Chauffeur und einen Sicherheitsmann mit. Der Sicherheitsmann durfte Ascher dank seines Titels als Regentensohn in den Club begleiten. Die Fahrt dauerte eine Weile, weil der Club schon knapp vor dem zweiten Bezirk lag.

Als Ascher und Blaire die Lichter des Festivals erblickten und die Musik wummern hörten, bemerkte er, dass ihre Augen aufblitzten. Der Club war schwer zu übersehen. Er war das einzige Gebäude, das in einem fröhlichen Orange gestrichen war. Über dem Eingang prangte eine riesige Leuchtreklame, deren Lettern »Sodom« verhießen. Die Reklame leuchtete in allen erdenklichen Farben, und durch die wenigen Fenster, die der Club besaß, konnte man bunte Lichter tanzen sehen. Das Gebäude wurde von zwei Lichtstrahlern angeleuchtet und schien die beiden Halbgeschwister nur so einzuladen. Es wirkte wie der einzige bunte Farbklecks in den sonst so tristen Bezirken.

»Na? Zu viel versprochen?«, fragte Ascher Blaire und suchte ihren Blick. Die schüttelte nur den Kopf.

»Ganz und gar nicht!«, rief sie aufgeregt aus.

Gemeinsam konnten die beiden einfach an der Schlange vorbeigehen. Die Leute standen bis zur Straße an. Doch Ascher marschierte einfach schnurstracks zum Eingang und stellte sich vor den Türsteher, der ihn gleich erkannte.

»Oh, Ascher van Cleve, Sie sind es. Wie ich sehe in Begleitung … schick«, sprach der Türsteher aus und war bereit, beide einfach durchzulassen, doch Aschers Blick ging noch einmal zur Warteschlange.

»Warte einen Augenblick«, sagte Ascher zu dem Türsteher und schritt an der Schlange vorbei, ehe er eine Blondine herauszog.

»Wenn du mich begleitest, kannst du jetzt schon rein«, sagte er zu ihr und zwinkerte. Natürlich ließ sich das Mädchen das nicht zweimal sagen. Begeistert folgte sie Ascher. Anscheinend hatte sie keine Lust, sich länger die Beine in den Bauch zu stehen. Aber wer wartete schon gerne draußen vor dem Club, wenn man gleich eintreten und auch noch Zeit mit dem zukünftigen Regenten verbringen konnte?

So gingen sie zu dritt, gefolgt von dem Leibwächter, hinein. Ascher gab Blaires und seine Sachen an der Garderobe ab, bevor er sich mit ihr und dem anderen Mädchen zu seinem Stammplatz begab. Die Stimmung war wie immer ausgelassen. Es gab die Tanzfläche, auf der sich jedermann einfach die Seele aus dem Leib tanzen konnte und es gab die exklusiveren Plätze auf den Emporen, die eher abgelegen waren. Von dort aus konnte man das Treiben jedoch hervorragend beobachten. Wie immer war es rappelvoll. Kein Wunder, dass die Schlange so lang gewesen war. Ja, es lohnte sich ab und an doch, der Sohn des Regenten zu sein, auch wenn man dafür langweiligen Geschichtsunterricht ertragen musste. Aber bei dem Lebensstandard, den die Position mit sich brachte, war selbst Ascher bereit, ein paar Abstriche zu machen.

-Sichem

Die ersten Monate in dem Militärbezirk waren hart und ihm wurde nichts geschenkt. Doch seitdem Sichem endgültig auf der Liste stand, hatten die anderen zumindest aufgehört ihn »Siebenstinker« zu nennen. Allmählich schienen sie zu vergessen, dass er aus dem siebten Bezirk stammte. Schließlich hatte er sich bisher gut geschlagen und war weit gekommen. Sein Kampfstil stand dem der anderen um nichts mehr nach. Er hatte die Zeit genutzt, um alles nachzuholen. In der heutigen Trainingseinheit hatten sie das erste Mal richtige Schusswaffen benutzen dürfen.

Es gab noch einige alte Modelle, die von dem letzten großen Krieg übriggeblieben waren. Aber die gab man den Auszubildenden natürlich nicht in die Hand. Sichem hatte die älteren Schusswaffen schon einmal aus der Nähe bei dem Ausbilder Mirjkosch betrachten können. Die älteren Waffen waren viel kleiner als die, die heute hergestellt wurden. Sie schienen auch praktischer zu sein. Mirjkosch hatte ihm gesagt, dass es sich bei seiner Schusswaffe um eine Selbstladepistole handelte. Die Pistole verfügte über eine hohe Schussfrequenz und war nach dem Schuss bereits gespannt. So entfiel das notwendige Spannen des Hahns. Außerdem konnte diese Pistole viel schneller nachgeladen werden. Mirjkosch fand sie äußerst modern. Wie paradox, da sie eigentlich ein weitaus älteres Modell war als die neu produzierten Schusswaffen. Es gab einige Modelle, die den alten nachempfunden waren, aber sich noch lange nicht auf ihrem Niveau befanden.

»Eines Tages hältst du vielleicht auch einmal so etwas in der Hand«, sagte Mirjkosch zu Sichem. »Dafür musst du allerdings noch ein wenig durchhalten, um so ein Gerät wie meine Charlene berühren zu dürfen.«

»Sie haben Ihrer Pistole ernsthaft einen Namen gegeben?« Sichem war verblüfft.

»Natürlich, sie ist die treuste Begleiterin, die eine Wache überhaupt haben kann. Abgesehen davon ist der Umgang mit einer Knarre weitaus einfacher als der mit einer Frau. Wenn du einmal gelernt hast, mit meiner Charlene umzugehen, dann kannst du dich voll und ganz auf sie verlassen. Das ist bei Frauen nicht der Fall. Die haben schließlich so ihre Macken.« Mirjkosch grinste und klatschte Sichem aufmunternd auf den Rücken.

Kurze Zeit später ging es auf zu seiner ersten Schussstunde. Natürlich bekam er nicht Mirjkoschs Charlene in die Hand, sondern ein größeres, unhandlicheres Modell. Es handelte sich hierbei um ein Repetiergewehr. Diese Gewehre wurden für den Einzelschuss benutzt. Sie besaßen einen starken Rückstoßimpuls und der Umgang mit ihnen musste erst geübt werden. Geschossen wurde mit Schwarzpulver, weswegen man in dem engen Raum zwischendurch immer wieder eine Pause machen musste, damit man die Zielscheibe nach einigen Durchläufen überhaupt noch erkennen konnte.

Als er die Waffe in der Hand hielt, stellte er fest, dass sie um einiges klobiger war als Charlene. Und schwer. Er hatte sich das leichter vorgestellt. Die Auszubildenden stellten sich im Übungsraum auf, um das Schießen auf eine Zielscheibe zu lernen. Sichem war schon als zweiter an der Reihe und spürte, dass seine Hände vor Nervosität schwitzten. Das machte das Zielen mit der Waffe nun wirklich nicht leichter.

»Bist du bereit?«, fragte Mirjkosch.

Sichem nickte angespannt.

»Na los, dann. Worauf wartest du noch?«

Mirjkosch hatte leicht reden. Er hatte die Ausbildung schon durchlaufen und ihm guckten nicht mehr zwanzig andere dabei zu, wenn er schoss. Trotzdem nickte Sichem nur und drückte dann den Abzug. Ein Schuss erklang und ein Einschuss war auf der Zielscheibe zu sehen. Er hatte nicht gleich in die Mitte getroffen, aber immerhin war der Einschuss noch auf der Zielscheibe zu sehen.

»Immerhin, aber das geht bestimmt noch besser. Der Nächste«, tat Mirjkosch sein Urteil kund.