Charakter - Petra Gerster - E-Book

Charakter E-Book

Petra Gerster

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Beschreibung

«Ein anregendes Buch!» (Die Welt) Was das Herz, den Kopf, die Seele prägt... Hängt das Wohl unserer Kinder davon ab, dass sie schon im Kindergarten Englisch oder Chinesisch lernen? Petra Gerster und Christian Nürnberger sagen entschieden: nein! Bildung heißt nicht, Kinder lediglich für den Arbeitsmarkt fit zu machen. Es geht darum, sie zu echten Persönlichkeiten zu erziehen. Dieses Buch zeigt, wie eine innere Haltung, Mut und Originalität entstehen. Und wie der Charakter reift – ein Leben lang.

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Seitenzahl: 336

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Petra Gerster Christian Nürnberger

Charakter

Worauf es bei Bildung wirklich ankommt

Inhalt

Vorwort: Charakter? Kein Thema

1. Warum es ohne Charakter nicht geht

2. Das neue Mantra: Bildung gleich Euro

3. Goethe schützt vor Goebbels nicht

4. Schicksal und Charakter

5. Zeitgeist und Charakter

6. Ein Wort, das den Geheimdienstmann hysterisch macht. Und ein Interview mit der Nobelpreisträgerin Herta Müller

7. Haydns Schädel und Sokrates’ Nase

8. Die Vermessung des Charakters

9. Was ist Charakter?

10. Kommt Charakter aus dem Chaos?

11. Soll Pofalla sich dafür entschuldigen, dass er nicht in Stalingrad war?

12. Der Patron und die eiserne Tulpe

13. Helden unserer Zeit – eine Charakterstudie

14. IchAllesSofort – der infantile Charakter

15. Wer ist ein gebildeter Mensch?

16. Charakterbildung – wie geht das?

17. Schaut auf eure Kinder – und ihr blickt in einen Spiegel

18. Der pädagogische Eros

19. Von dummen Knaben und feinen Köpfen

20. Von guten Lehrern

21. Gesucht: der erwachsene Charakter

Epilog

Anmerkungen

Impressum

Vorwort: Charakter? Kein Thema

Noch nie ist es so sehr auf jeden Einzelnen angekommen wie heute. Noch nie hing so viel davon ab, dass möglichst viele Einzelne nicht nur über Bildung, sondern auch über Herzensbildung, Haltung, Anstand und Charakter verfügen, denn noch nie waren die vielen Einzelnen dieser Welt – Arme wie Reiche, Mächtige wie Ohnmächtige – so eng miteinander verflochten und aufeinander angewiesen wie heute.

Man kann das Jahr, seit dem das so ist, sehr genau angeben: 1989. Seit 1989 leben wir in einer anderen Welt. Ohne die Mauer, ohne den Kommunismus, ohne nationale Grenzen zumindest für Kapital, Waren und Dienstleistungen, mit dem Internet, mit einer Milliarde Chinesen, plus eine Milliarde Inder, plus Lateinamerikaner, Russen, Osteuropäer – das macht knapp drei Milliarden neue Konkurrenten für die alten Industriegesellschaften der westlichen Demokratien.

Aber erst jetzt, zwei Jahrzehnte später, merken wir: Zu dieser neuen Welt, die da entstanden ist, wollen unsere alten Demokratien nicht mehr so richtig passen, und das ist kein Wunder, denn dafür wurden sie nicht gemacht. Demokratien sind vor Jahrhunderten für souveräne Nationalstaaten entworfen worden, nicht für die komplexen, global vernetzten Hightechökonomien, in denen wir heute leben.

Diese sind für den Einzelnen schwer durchschaubar und für nationale Regierungen nur noch schwer steuer- und kontrollierbar. Darum sind die weltweit miteinander verflochtenen Volkswirtschaften ausgerechnet auf jene Ressource besonders angewiesen, die gerade stark im Schwinden begriffen ist: Vertrauen.

Der Vertrauensschwund hat zwei Ursachen. Die erste liegt im Wandel der Gesellschaft. Die ehemals klarstrukturierten, überschaubaren Gesellschaften mit den intakten sozialen Milieus der Arbeiterschaft, des Bürgertums, des Katholizismus, des Protestantismus und der regionalen Landsmannschaften samt der jeweiligen sozialen Kontrolle existieren nicht mehr. An ihre Stelle sind multi-ethnische und multikulturelle Individualisten-Gesellschaften getreten, die keine starke gemeinsame Idee mehr zusammenhält.

Die Beziehungen der Einzelnen in solch vielfältig zerstreuten Teilgruppen und -grüppchen sind weitgehend anonymisiert und verrechtlicht. Das erzeugt Fremdheitsgefühle und nährt Misstrauen.

Die zweite Ursache des Vertrauensschwunds steckt in der soeben kollektiv gemachten Erfahrung, dass der Markt den Markttest nicht bestanden hat. Über zwei Jahrzehnte lang wurde in geradezu ideologischer Manier den Menschen eingehämmert: Der Markt, der Markt, der hat immer recht. Irgendwann glaubte man an dieses Dogma – trotz gegenteiliger Erfahrungen. Schon die Blamage um jene berühmte Portokasse, aus der Bundeskanzler Helmut Kohl und Finanzminister Theo Waigel die Kosten der deutschen Einheit zu bestreiten gedachten, hätte für alle eine Warnung sein und Zweifel wecken müssen an den vielfach beschworenen «Selbstheilungskräften des Marktes», der ganz von selbst «blühende Landschaften» hervorbringen sollte.

Doch die Markt-Ideologen zeigten sich davon unbeeindruckt und stürzten die Welt ins nächste Desaster: die New Economy, die Milliarden und Abermilliarden Dollar und Euro verbrannte für den infantilen Glauben, man könne über Nacht und ohne wirkliche Leistung ganz schnell an der Börse reich werden.

Aus Schaden wird man klug – nicht aber, wenn man zur Kaste der Macher und großen Wirtschaftsexperten gehört. Dann setzt man weiterhin unverdrossen auf sein Dogma und beschwört schließlich die Finanzkrise herauf, der die Griechenland- und die Eurokrise folgten.

Was daraus zu lernen ist, hat der Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaft, Joseph E. Stiglitz, beschrieben: «Im Jahr 2009 wird uns wieder einmal klar, warum Adam Smiths unsichtbare Hand oft unsichtbar bleibt: weil es sie gar nicht gibt. Das eigennützige Streben der Banker führte eben nicht zum Wohl der Gemeinschaft, es war nicht einmal für Aktionäre von Nutzen. Ganz sicher nichts davon hatten die Hausbesitzer, die ihr Heim verloren; Arbeitnehmer, die ihre Jobs einbüßten; Rentner, die zusehen mussten, wie sich ihre Altersvorsorge in Luft auflöste, oder die Steuerzahler, die Hunderte Milliarden Dollar zur Rettung der Banken zahlen mussten.»1

Die «Mittel der Armen und Durchschnittsverdiener» seien «zu den Reichen dirigiert» worden. Arme und Durchschnittsverdiener «mussten genau jenen Institutionen Geld zukommen lassen, von denen sie vorher jahrelang abgezockt wurden – durch räuberische Kreditvergabe, Wucherzinsen bei Kreditkarten und undurchsichtige Gebühren. Und dann mussten die Steuerzahler auch noch zusehen, wie ihr Geld benutzt wurde, exorbitante Boni und Dividenden auszuzahlen».2

Fazit: Auch ein auf das Eigeninteresse des Einzelnen gegründetes System ist darauf angewiesen, dass jeder an seinem Platz so etwas wie ein Berufsethos zu verwirklichen bestrebt ist, die Folgen seines Tuns bedenkt und das eine oder andere Geschäft einfach einmal nicht macht. Wenn das nicht mehr geschieht, wird jene eigentliche Währung zerstört, die jeder monetären Währung erst ihren Wert verleiht: Vertrauen.

Das ist nun weg. Und das ist eine richtige Tragödie, denn gerade in einer Welt, die immer komplizierter und unübersichtlicher wird, muss der Einzelne darauf vertrauen können, dass der andere nichts Böses im Schilde führt, es gut mit ihm meint. Mehr als jede frühere Gesellschaft ist die unsrige darauf angewiesen, dass diese komplizierte Welt überwiegend von Menschen mit anständigem Charakter bevölkert wird.

Charakter sollte daher also eigentlich ein großes Thema unserer Gegenwart sein. Aber bei unseren Recherchen für dieses Buch stießen wir auf ein erstaunliches Faktum. Wir wollten wissen, was andere zu unserem Thema schon geschrieben hatten, und suchten daher im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek nach Veröffentlichungen zur «Charakterbildung». Das Ergebnis: Charakterbildung war in Deutschland zwischen 1970 und heute so gut wie überhaupt kein Thema – und in der Zeit davor war es zumindest kein gewichtiges.

Nur sechsundneunzig Titel lieferte der Katalog der zentralen deutschen Archivbibliothek, die seit 1913 alles sammelt, was in deutscher Sprache veröffentlicht wurde und die Ende 2008 über einen Bestand aus 24,7 Millionen Titeln verfügte. Zum Vergleich: Wer nach «Bildung» sucht, erhält mehr als 46 000 Treffer, und zum Stichwort «Erziehung» liefert der Katalog rund 44 000 Titel.

Scheinbar etwas besser ist man bedient, wenn man nur nach «Charakter» sucht. Da listet der Katalog immerhin 3140 Treffer auf. Jedoch: Titel wie «Teddybären mit Charakter», «Der sprachhafte Charakter der Musik», «Was uns Pferde sagen» oder «Charakter- und Gesundheitsastrologie» machen einem schnell klar, dass die Suche zu unspezifisch ist und zahlreiche Blindgänger liefert.

Aber auch bei den sechsundneunzig Nennungen zum genaueren Stichwort «Charakterbildung» findet man unter den zehn jüngsten kaum etwas von Belang: eine Ankündigung über die Schule in Salem, mehrere Liederbücher, einige Titel asiatischer Autoren esoterischer oder buddhistischer Provenienz.

Die Reihe der nächsten zehn Titel wurde zu unserer Überraschung mit einem unserer eigenen Bücher eröffnet, «Stark für das Leben» von 2003. An dreizehnter Stelle folgte ein amerikanisches Buch aus dem Jahr 2002. Platz vierzehn verzeichnete wieder ein esoterisches Werk von 2000, Platz fünfzehn etwas über den Islam (1999), Platz sechzehn etwas Ungarisches (1991), Platz siebzehn etwas Medizinisch-Esoterisches (1990), und davor erschien zwanzig Jahre lang gar nichts. Hinter Platz zwanzig – eine Veröffentlichung der österreichischen Turn- und Sportunion über «Sport und Charakter» von 1960 – sind alle weiteren Titel älter als fünfzig Jahre.

Charakterbildung ist also in unserem Land kein Thema, offenbar kaum je eines gewesen, und das ist erstaunlich, denn Charakter ist schließlich nicht nur ein individuelles, sondern ein öffentliches Gut. Ein sehr knapp gewordenes öffentliches Gut, dessen Mangel menschliches Leid, aber auch große volkswirtschaftliche Schäden verursacht. Über die Folgen von inneren Haltungsschäden und Charaktermangel lesen wir täglich in der Zeitung. Aber nur selten erfährt man, wo eigentlich der vielbeschworene «mündige Bürger» steckt, jener demokratische Typus, der Wissen, Bildung und Verantwortungsbewusstsein mit Haltung und Charakter verbindet.

Er scheint nur in den Sonntagsreden unserer Politiker zu existieren. Werktags lassen diese sich unausgesprochen von der Ansicht leiten, der Mensch sei sowieso unverbesserlich, unerziehbar, unbelehrbar, unreif, infantil und mit einem kurzen Gedächtnis gesegnet. Die Erfahrung scheint diesen Pessimisten recht zu geben. Daher vertrauen Politiker wie Manager und eigentlich so gut wie alle, die etwas zu entscheiden haben, lieber auf den Markt, auf Gesetze, Kontrollen, Polizei und Gerichte. Die Eliten unseres Landes und der meisten anderen Länder bemühen sich, Gesellschaften so zu konstruieren, dass sie unabhängig vom Charakter ihrer Mitglieder funktionieren.

Das ist in der Vergangenheit auch einigermaßen gut gelungen, jedoch um den Preis ausufernder Bürokratien. Sie verursachen hohe Kosten und rauben dem Einzelnen durch Kontrollen Zeit und Nerven. In letzter Zeit funktionieren Gesellschaften, die unabhängig vom Verantwortungsbewusstsein des Einzelnen auszukommen versuchen, jedoch nur noch unzureichend. Sollten sie weiterhin auf Charakterbildung keinen besonderen Wert legen, sind sie bald nicht mehr lebensfähig, denn staatliche Kontrollmechanismen sind der Komplexität globalisierter Hightechökonomien nicht mehr gewachsen. Es geht nicht mehr ohne Charakter – diese These erläutern wir im ersten Kapitel.

Dass es natürlich auch ohne Bildung und Erziehung nicht geht, gehört in unserer ressourcenarmen, exportorientierten, einem gnadenlosen Wettbewerb ausgesetzten Wirtschaftsnation inzwischen zum Allgemeingut. Das Problem aber ist das ungebildete Verständnis von Bildung, das zahlreiche Angehörige unserer Eliten propagieren. Damit setzen wir uns in Kapitel zwei auseinander.

Bildung allein garantiert noch nicht Herzensbildung, Gutsein, Charakter. Was geschehen kann, wenn all das, wovon unsere Eliten heute träumen – Wissen, Wettbewerbsfähigkeit, Kompetenz, Exzellenz, Brain, Nobelpreise –, vorhanden ist, es aber kollektiv an Charakter mangelt, beschreiben wir im dritten Kapitel.

Es leuchtet ein, dass die Bildung eines Menschen großen Einfluss auf dessen Lebensweg hat und dass der Charakter das individuelle Schicksal mitbestimmt. Man darf aber nicht vergessen, dass aus der Summe der individuellen Charaktere auch zeittypische, kollektive Charaktertypen erwachsen, die das Schicksal von Nationen bestimmen können. Der autoritäre Charakter, der Untertan, der Nationalist, der Rassist und der Militarist waren während des wilhelminischen Kaiserreichs jene typischen deutschen Charaktere, die im Nationalsozialisten kulminierten und zu den katastrophalen Folgen führten, die wir alle kennen. Daher weiten wir in den Kapiteln vier und fünf den Blick auf den Zusammenhang zwischen Bildung, Schicksal und Charakter ganzer Nationen.

In Diktaturen werden Charakter und Gewissen pervertiert. Da braucht es Menschen, die sich dem mit aller Kraft und ihrer ganzen Existenz entgegenstellen und dadurch zu Helden und Märtyrern werden. Das große Rätsel ist, wie von drei Menschen, die ungefähr zur gleichen Zeit unter annähernd gleichen Bedingungen aufwachsen, der eine ein perverser Ideologe werden kann, ein Zweiter ein opportunistischer Mitläufer und ein Dritter ein Märtyrer. Darüber reflektiert das Kapitel sechs. Darin erzählen wir von der Literatur-Nobelpreisträgerin Herta Müller, die in Rumänien ihr Leben riskierte, weil sie sich weigerte, mit dem rumänischen Geheimdienst zusammenzuarbeiten. Wir fragten sie: Woher nahm sie diesen Mut? Wie konnte die junge Frau, die sie damals war, schon so viel Charakterstärke zeigen? Wie muss man Kinder erziehen, damit sie so aufrecht durchs Leben gehen wie sie?

Diese Fragen werden uns aber auch – unter anderen Aspekten – in etlichen weiteren Kapiteln (zehn, elf, dreizehn und siebzehn) noch beschäftigen. Um die charakterprägende Kraft sozialer Milieus geht es in Kapitel zehn. Vor allem am Beispiel der Person Willy Brandts wollen wir zeigen, dass bestimmte soziale Milieus – Arbeiter, Katholiken, Protestanten – ihren Mitgliedern zwar oft enge Grenzen setzen, dabei aber für Kinder und Jugendliche Biotope darstellen, in denen sie gedeihen, einen Halt finden, eine Identität ausbilden und erleben, was Heimat ist.

Konrad Adenauer, Willy Brandt oder Theodor Heuss zählen zu den «großen Toten» der Bundesrepublik Deutschland. Helmut Schmidt oder Richard von Weizsäcker werden als die «letzten großen alten Männer» unserer Gegenwart verehrt. Danach scheint es nur noch Mittelmaß zu geben, und die Ursache soll angeblich in dem Umstand zu finden sein, dass die «großen Alten» den Krieg erlebt haben, der abenteuerliche Biographien und starke Charaktere hervorbringe. Warum das nicht stimmt, sagen wir in Kapitel elf. Und in Kapitel zwölf zeigen wir am Beispiel Fußball, dass es auch unter der Nachkriegsgeneration starke Figuren geben kann. Zwei davon porträtieren wir: Uli Hoeneß und Louis van Gaal.

Wenn man sieht, welche Macht bestimmte geistige Strömungen auf Einzelne ausüben und wie sich daraus gefährliche kollektive Typen entwickeln können, muss man auch heute die Gegenwart kritisch betrachten und sich fragen, welche zeitgeistgeprägten Charaktertypen unsere Gesellschaft hervorbringt. Es sind der ökonomistische Ideologe, der Profi, der infantile Konsument und der Geiz-Charakter. In den Kapiteln dreizehn und vierzehn widmen wir uns diesen heutigen Problemtypen.

Eingeschoben haben wir dazwischen aber die notwendige Klärung des Begriffs Charakter. Sie kommt nicht ohne einen historischen Rückblick auf die Charakterologie, deren Entwicklung und Aufgehen in der Persönlichkeitspsychologie aus. Dieser historische Teil erstreckt sich über die Kapitel sieben, acht und neun.

In Kapitel fünfzehn versuchen wir eine Antwort auf die Frage: Was ist Bildung? Die wir in Kapitel sechzehn auf die Frage zuspitzen, wie sich ein Charakter bildet. Ist er angeboren oder anerzogen? Oder beides? Wir sind optimistisch und sagen: Ein guter Charakter ist nicht das Ergebnis guter Gene, sondern einer guten Erziehung. Die Ursache eines freundlichen Wesens ist nicht ein Freundlichkeitsgen, sondern eine freundliche Umwelt. Daher können wir vieles tun, um über die Charakterbildung jedes Einzelnen unser kollektives Schicksal günstig zu beeinflussen.

Aber was? Und wie? Was muss in Familien, Schulen und in der Gesellschaft passieren, dass sich Kinder und Jugendliche zu Menschen mit gutem Charakter entwickeln, und auf welche Charaktereigenschaften kommt es dabei an? Wir versuchen eine Antwort in den Kapiteln siebzehn bis zwanzig.

In Kapitel achtzehn wagen wir uns an eine Ehrenrettung des Begriffs «pädagogischer Eros». Dieser ist nicht zuletzt wegen des sexuellen Missbrauchs an der reformpädagogisch orientierten Odenwaldschule in Verruf geraten. Zu Unrecht. Für eine gute Erziehung können wir auf das, was mit dem Begriff eigentlich gemeint ist, nicht verzichten.

Wie Kinder durch Mangel an Liebe, Gedankenlosigkeit, Unfähigkeit bis hin zur Böswilligkeit fürs Leben gezeichnet und stigmatisiert werden können, haben Karl Philipp Moritz und Hermann Hesse auf zwei verschiedene Weisen mit zwei sehr verschiedenen Helden in den Romanen «Anton Reiser» und «Unterm Rad» erzählt. Anhand dieser Beispiele machen wir im Kapitel neunzehn auf die Macht aufmerksam, die Erzieher und Lehrer über Kinder haben. Es ist eine Macht, die jedem Kind das Leben verpfuschen – oder zu einem gelingenden Leben verhelfen kann. Diese andere, positive Seite der Macht und Verantwortung des Lehrers kommt in Kapitel zwanzig zur Sprache, wo wir mit Hilfe einer Filmfigur zeigen, was ein Lehrer vermag: John Keating, der Held im Film «Der Club der toten Dichter», begeistert seine Schüler, indem er sie mit unkonventionellen Methoden an die Literatur heranführt und sie lehrt, die Werte, die an ihrem Internat seit Jahrhunderten hochgehalten werden, mit Leben zu füllen. Und wir erzählen von einem modernen Keating in der Realität.

Der künftig am dringendsten benötigte Charakter scheint uns jener mündige, demokratische Weltbürger zu sein, der in Sonntagsreden massenhaft vorkommt, werktags aber kaum zu sehen ist. Weil es ihn nicht gibt? Nein, weil er meist unspektakulär im Stillen wirkt und die Medien ihm wenig Beachtung schenken. Häufig findet man ihn im Verein, im Ehrenamt, in der Kirche, in Parteien und Gewerkschaften, im sozialen Engagement, selten jedoch handelt es sich dabei um einen Menschen im sogenannten besten Alter. Diese Gruppe ist von ihren Berufs- und Familienpflichten so absorbiert, dass sie für anderes einfach keine Zeit mehr hat. Am Arbeitsplatz aber ist es den meisten nicht erlaubt – oder es ist nicht vorgesehen –, mündig zu sein. Und ebendas ist das Fatale. Auch und gerade am Arbeitsplatz brauchen wir künftig Menschen, die dort aktiv werden und Verantwortung übernehmen, wo der Arm des Staates nicht mehr hinreicht. Davon handelt das Kapitel einundzwanzig.

Wir betrachten es nicht als unsere Aufgabe, ein politisches Programm zur Charakterbildung vorzulegen. Vielmehr wären wir schon zufrieden, wenn es uns mit diesem Buch gelänge, ein neues Thema zu setzen: Charakter. Das halten wir für notwendig, denn nicht nur Bildung ist unser Schicksal, sondern auch, und eher noch mehr, Charakter.

Statt mit einem Programm lassen wir das Buch ausklingen mit drei Geschichten aus der Literatur, von denen jede auf ihre Weise dieselben Fragen stellt: Wie wollen wir leben, worauf kommt es uns an, wofür stehen wir, woran glauben wir? Die vier Fragen stellen jeden Einzelnen vor die Entscheidung: Was wollen wir sein, eine Wertegemeinschaft oder eine Wertpapiergesellschaft?

Mainz, im Juni 2010

1. Warum es ohne Charakter nicht geht

Im Sommer 2008 wurde die Kaste der Manager von der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung gegen öffentliche Kritik verteidigt.3 Der Anlass: Die Siemens-Spitze zahlte Schmiergelder, bei der Telekom gab es einen Schnüffelskandal, der Ex-Post-Chef Klaus Zumwinkel wurde vor Fernsehkameras von einer Staatsanwältin abgeführt und wegen Steuerhinterziehung in Millionenhöhe angeklagt – und die Öffentlichkeit begann, über die «Moral der Manager» zu diskutieren.

Politiker, Bischöfe, Autoren von Leitartikeln, sogar Wirtschaftsjournalisten und mittelständische Unternehmer gaben kritische Statements zum bunten Treiben der Manager ab und fragten nach deren charakterlicher Eignung für Führungspositionen. Und da schrieb die FAS: Bitte aufhören mit dem Moralisieren, Manager brauchen keine Moral.

Begründung: «Die Marktwirtschaft schafft Wohlstand und erweitert durch Innovation und Wachstum die menschlichen Freiheitsoptionen unabhängig von der Frage, ob die handelnden Akteure einen guten oder schlechten Charakter haben. Eine Gesellschaft muss nicht erst moralisch gebessert werden, um wirtschaftlich zu funktionieren.»4

Dann kam der 15. September 2008, der Tag, an dem in New York die Investment Bank Lehman Brothers zusammenbrach. Seitdem passieren Dinge, die unter dem etwas harmlosen Begriff «Finanzkrise» subsumiert wurden und uns noch lange beschäftigen werden. Zu diesen Dingen gehört auch die Griechenland- und die Eurokrise, und während wir dieses Buch im Sommer 2010 zu Ende bringen, beginnt in Deutschland und Europa das Sparen bei denen, die an dieser Krise vollkommen unschuldig sind, und es sind Schulden gemacht worden, die noch unsere Enkel abtragen werden.

Heute würde vermutlich keine Zeitung mehr zu schreiben wagen, der Charakter von Managern brauche uns nicht zu interessieren. Denn was sich in den letzten Jahren an den Weltbörsen zugetragen hat, war etwas weit Gravierenderes als nur deren Verwandlung in ein globales Spielkasino. Im Spielkasino riskieren die Spieler ihr eigenes Geld. An den Börsen haben die Zocker Geld verspielt, das ihnen nicht gehörte. Im Spielkasino verliert man Geld, sonst nichts. Durch die Machenschaften an den Börsen verlieren Menschen ihre Arbeitsplätze, mittelständische Unternehmer ihre Unternehmen, Arbeitnehmer ihre soziale Sicherheit, Regierungen Gestaltungsmöglichkeiten, und verschuldete Städte und Gemeinden büßen an Lebensqualität ein. Allein schon aufgrund dieser Erfahrung haben wir uns für die Moral und den Charakter der Manager zu interessieren.

Es kommen aber noch ein paar weitere Vorfälle hinzu, die sich zeitgleich ereigneten, die Öffentlichkeit erregten und einen indirekten, aber sehr intimen Bezug zur Finanzkrise haben: In Konstanz wurde eine 58-jährige Altenpflegerin fristlos gekündigt, weil sie sechs für den Müll bestimmte Maultaschen mitgenommen hatte. Beim Baugewerbeverband in Dortmund sollten zwei Sekretärinnen gehen, weil sie insgesamt vier Brötchenhälften und eine Frikadelle von einem Büfett genommen hatten. Eine Metallfirma in Oberhausen feuerte einen Mitarbeiter, weil er sein Handy am Arbeitsplatz aufgeladen hatte. In Remscheid musste eine Supermarktverkäuferin gehen, weil sie Damenbinden im Wert von 59 Cent aus dem Regal nahm. Und in Hannover entließ die Caritas eine schwerbehinderte Pflegehelferin, weil sie eine Portion Teewurst aus der Heimküche gegessen hatte.5 Am berühmtesten wurde der Fall der Supermarktkassiererin Emmely, der wegen der Unterschlagung von zwei Leergut-Bons im Wert von 1,30 Euro gekündigt worden war.

In allen Fällen argumentierten die Arbeitgeber mit dem «Vertrauensverhältnis», das durch die Vorfälle «zerrüttet» worden sei. Verständnis für diese Sichtweise bekundete auch die Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts (BAG), Ingrid Schmidt. «Es gibt keine Bagatellen», sagte sie im Interview mit der «Süddeutschen Zeitung». Arbeitnehmer, die ihrem Arbeitgeber etwas entwenden, zeigten ein Verhalten, das «mit fehlendem Anstand» zu tun habe.

Wenn also kleine Angestellte Pfandbons oder Maultaschen an sich nehmen, nennt man das Betrug und schweren Vertrauensbruch und bestraft es mit Entzug der Existenzgrundlage. Wenn schwerreiche Investmentbanker das Geld anderer Leute verzocken, Milliardenschäden anrichten und ganze Bankhäuser in den Orkus schicken, dann bezeichnet man das als «Systemfehler», für den jene, die ihr hohes Gehalt mit ihrer hohen Verantwortung rechtfertigen, persönlich nicht verantwortlich sind.

Wir teilen durchaus die strenge Sicht der BAG-Präsidentin Ingrid Schmidt. Man sollte von jedem erwarten, dass er sich auch bei Kleinigkeiten korrekt verhält. Dafür sollte man dann aber auch erwarten dürfen, dass sich Banker und Manager ebenso korrekt verhalten, wie es die Bundesrichterin von der Supermarktkassiererin verlangt.

Dass dem nicht so ist, hängt mit der im Vorwort gemachten Feststellung zusammen, dass unsere nationalstaatlich verfassten Demokratien nicht mehr so ganz auf die Wirklichkeit passen. Das Volk, der Souverän in allen demokratischen Verfassungen, ist in Zeiten der Globalisierung nicht mehr so souverän, wie es sein sollte. Daher beschleicht immer mehr Bürger das Gefühl, dass nicht mehr sie es sind, die in freien Wahlen darüber bestimmen, wie sie leben und arbeiten wollen, sondern der Markt. Dem kann es egal sein, wer unter ihm als Kanzler oder Präsident die sogenannten Sachzwänge vollstreckt und deren Opfer nachsorgend betreut. Die Märkte haben die eigentliche Gestaltungsmacht, aber leider keinen Plan von der Zukunft, sondern nur kurzfristige Gewinninteressen, die uns langfristig in eine Zukunft führen, die niemand gewollt haben wird.

Demokratisch gewählte nationale Regierungen sind der Komplexität weltweit vernetzter, voneinander abhängiger und sich gegenseitig beeinflussender Volkswirtschaften nicht mehr gewachsen. Alan Greenspan hat die Europäer nicht gefragt, ob sie seine Politik des billigen Geldes gutheißen. Der deutsche Steuerzahler ist nicht schuld an der amerikanischen Immobilienblase und dem Zusammenbruch von Lehman Brothers, er kann nichts dafür, dass Typen mit Harvard-Abschluss und MBA die Börse zu einem Kasino umfunktionierten und das Geld verzockten, das bei ihm jetzt eingesammelt wird. Man hat bis vor kurzem nicht gewusst, wie stark deutsche Landesbanken in diese üblen Geschäfte verstrickt waren. Wir werden für die Schuldenpolitik aller griechischen Regierungen in die Pflicht genommen, und der Alleinerziehenden wird nun gesagt, dass sie auf den versprochenen Kita-Platz warten muss. Nicht nur für Kitas fehlt das Geld. An allen Ecken und Enden, im Bund, in den Ländern und in den Gemeinden muss gespart werden wie noch nie, und zugleich steigen Gebühren, Sozialabgaben und sehr wahrscheinlich auch wieder die Steuern.

Wir sind nicht mehr Herr im eigenen Haus. Daher fällt es Politikern zunehmend schwerer, steuernd und gestaltend in das Weltgeschehen einzugreifen. Die viel zu vielen Kameras, die sich auf die Präsidenten, Kanzler, Minister und Ministerpräsidenten richten, zeigen hochverschuldete Könige ohne Macht, abhängig von Medien, Stimmungen, Lobbyisten, Parteifunktionären, Koalitionspartnern, Provinzfürsten, anderen Regierungen und Investitionsentscheidungen.

Wenn Europas Regierungen am Monatsende alle Beamtengehälter und -pensionen bezahlt haben, wenn Sozialtransfers, Zinsen, Tilgung und alle weiteren Fixkosten überwiesen wurden, dann bleibt kein Euro mehr übrig für die Gestaltung der Zukunft. Dafür müssen sie neue Schulden machen.

Aber selbst wenn sie keine Schulden hätten, wären die meisten Staaten nur noch eingeschränkt fähig, die Zukunft zu gestalten, denn siebenundzwanzig europäische Nationen haben sich zu einem Staatenbund namens EU zusammengeschlossen und damit Teile ihrer Souveränität nach Brüssel abgetreten. Dort, und nicht mehr in Berlin, Paris, London und den übrigen Hauptstädten der teilsouveränen Staaten, werden jetzt, für den EU-Bürger schwer kontrollierbar, Entscheidungen mit weitreichenden Folgen getroffen. Dort müssten eigentlich die vielen Fernsehteams ihre Kameras auf die EU-Kommissare, EU-Bürokraten und vor allem die zehntausend Lobbyisten um sie herum richten – jene unbekannten Gesichter, welche die Zukunft stärker bestimmen als die bekannten Politiker in den nationalen Hauptstädten.

Daher stehen wir heute vor einer Jahrhundertaufgabe: der Rückeroberung der Gestaltungsmacht durch den in den Verfassungen eigentlichen Souverän, das Volk. Ob und wie das unter den Bedingungen der Globalisierung gelingen kann, wissen wir noch nicht, aber versucht werden muss es. Erfolge, wenn es sie je geben sollte, werden jedoch Jahrzehnte auf sich warten lassen.

Bis dahin müssen aber weiterhin Probleme gelöst, Gefahren gebannt, Regeln eingehalten werden, und genau deshalb kommt es ab sofort auf jeden Einzelnen an. Nationale Regierungen sind jetzt auf unser aller Hilfe angewiesen. Nicht nur auf die Mächtigen und Reichen dieser Welt kommt es an, sondern auch auf uns Normalbürger, die vielen kleinen Lohnsteuerzahler, Sozialversicherten, Konsumenten, Sparer und Kleinanleger. Von unserem Anstand und Charakter wird abhängen, ob wir die Probleme in den Griff bekommen.

So gut wie jede banale Konsumentscheidung – für oder gegen das Ei vom Huhn aus Käfighaltung, für oder gegen Himbeeren im Winter, für billigen Atom- oder teuren Ökostrom, für Billigware aus China oder teure Qualität aus regionaler Produktion, für oder gegen Rindfleisch aus Argentinien – hat Folgen für die Welt und kommt daher einem politischen Akt gleich.

Ob wir die explodierenden Gesundheitskosten in den Griff kriegen, hängt nicht nur vom jeweiligen Gesundheitsminister ab, sondern auch davon, ob jeder Einzelne sich gesund ernährt, sich ausreichend bewegt und die Gesundheitsdienste nur dann beansprucht, wenn er sie wirklich braucht. Es hängt davon ab, ob jeder einzelne Arzt korrekt abrechnet und sich bei der Verschreibung von Medikamenten und Therapien nicht von den Bestechungsgeschenken der Pharmalobby leiten lässt, sondern vom medizinisch Gebotenen. Es hängt davon ab, ob es gelingt, jeden Einzelnen so gut auszubilden, dass er seinen eigenen Lebensunterhalt verdienen und in die Sozialkassen einzahlen kann, statt diese zu belasten. Es hängt davon ab, ob es gelingt, Menschen so zu erziehen, dass sie bestrebt sind, durch Eigeninitiative möglichst schnell auf eigenen Beinen zu stehen. Dazu gehört dann aber auch die Bereitschaft der Arbeitgeber, anständige Löhne zu zahlen.

Der soziale Frieden in jedem Gemeinwesen hängt davon ab, dass der erarbeitete Wohlstand ebenso wie die Lasten und Pflichten einigermaßen gerecht verteilt sind. Auf Gesellschaften, in denen Löhnen und Gehältern weder nach oben noch nach unten Grenzen gesetzt sind, ruht kein Segen.

Wir brauchen mündige Bürger, die einsehen, dass es nicht reicht, alle vier Jahre ein Kreuz zu machen und sich dann zurückzulehnen. Es ist zu bequem, sich über unfähige Politiker zu beklagen, ohne selbst aktiv zu werden. Man muss auch selber Verantwortung übernehmen für sich, für andere, fürs Ganze.

2. Das neue Mantra: Bildung gleich Euro

Es ist wahrscheinlich nur wenigen bewusst, daher sei es hier ausgesprochen: Wir, die Nachkriegsgeborenen von Westeuropa, sind die Glückskinder der Weltgeschichte. Wenn wir auf unser Leben zurückblicken, können wir sagen, nie etwas anderes kennengelernt zu haben als Frieden und Freiheit bei wachsendem Wohlstand.

Wie anders war das bei der Generation unserer Eltern und Großeltern. Zwei Weltkriege, zwei Inflationen, Hunger, Not, zerbombte Städte, Vermisste, im Krieg gefallene Väter, Ehemänner und Brüder, an Leib und Seele Versehrte Kriegsheimkehrer. Wer als Kind Flucht und Vertreibung oder die Bombennächte in den Luftschutzbunkern überlebt hat, ist oft noch heute traumatisiert davon. Überall in Europa hatte diese Generation Ähnliches erlebt und erlitten. Und wer jüdischen Glaubens war, dessen Leben endete mit hoher Wahrscheinlichkeit in einer von Deutschen betriebenen Gaskammer.

Von dem schönen Leben, das wir seit Jahrzehnten führen dürfen, hatten diese Vorkriegsgeborenen nie zu träumen gewagt. Und für drei Viertel der heutigen Weltbevölkerung bleibt unsere Lebensweise ein unerfüllbarer Traum. Was uns als selbstverständlich erscheint, ist vor historischem Hintergrund und angesichts der globalen Gegenwart ein extrem unwahrscheinlicher Ausnahmezustand. Wir sind Bewohner einer Oase inmitten einer großen Wüste. Sicher, auch hier geht es nicht allen gleichermaßen gut, aber allen geht es besser als früheren Generationen und als denen, die anderswo ihr Leben fristen.

Drei Wunder haben sich zwischen 1945 und heute in Europa ereignet. Das erste: Wir haben die viele Jahrtausende alte Institution des Krieges überwunden, zumindest innerhalb der EU. Dass Deutsche und Franzosen jemals wieder aufeinander schießen, ist nach heutigem Ermessen ausgeschlossen. Wer das vor hundert Jahren prophezeit hätte, der hätte sich als Utopist lächerlich gemacht. Heute erscheint uns diese Leistung als so selbstverständlich, dass unser Verdruss über die Brüsseler Eurokratie größer ist als die Freude über den Frieden in Europa. Seit 1989, als die Grenze zwischen zwei waffenstarrenden Blöcken ohne Blutvergießen fiel, gehören auch große Teile Osteuropas dazu.

Das zweite Wunder ist auf dem Weg seiner Verwirklichung: die volle Gleichberechtigung der Frau. Die ehemalige Verfassungsrichterin Jutta Limbach hat das vor Jahren auf folgenden Nenner gebracht: Im Gegensatz zu ihren Urgroßmüttern dürfen Frauen von heute politische Versammlungen besuchen, wählen und gewählt werden, Universitäten besuchen, Ärztinnen, Richterinnen, Professorinnen werden. Im Gegensatz zu ihren Großmüttern haben Frauen von heute bei ihrer Heirat das Recht, ihren Mädchennamen zu behalten. Im Gegensatz zu ihren Müttern werden Frauen von heute so gefördert, dass sie gleichberechtigt am öffentlichen Leben teilnehmen können. Dieser Prozess ist natürlich noch nicht vollendet. Noch immer stellen sich Frauen Hürden in den Weg, aber genügend Frauen kämpfen dagegen an, und wie weit sie es dabei gebracht haben, lehrt ein Vergleich mit arabischen oder asiatischen Ländern.

Das dritte Wunder erscheint uns als so selbstverständlich, dass uns sein einstmals utopischer Charakter gar nicht mehr bewusst ist: die volle Teilhabe der Arbeitnehmer an politischen Entscheidungsprozessen, an Kultur und Bildung, und die möglichst gerechte Verteilung des durch Arbeit erwirtschafteten Wohlstands. So gut wie alles, was die ersten Arbeitervereine zur Zeit des Dreiklassenwahlrechts als Ziele in ihre Programme hineingeschrieben haben, ist heute verwirklicht.

Hartz-IV-Empfängern wird diese Beschreibung unserer Realität möglicherweise als Schönfärberei erscheinen – aber circa eine Milliarde Menschen auf dieser Welt würden sofort mit ihnen tauschen. Dieser Milliarde fehlt es an sauberem Trinkwasser und Nahrung, an menschenwürdigen Behausungen, an einem funktionierenden Gesundheitssystem, sozialem Frieden, einer rechtsstaatlichen Justiz und einer freien Presse, es fehlt ihr an Schulen, Straßen und einem öffentlichen Nahverkehr, es fehlt ihr an Strom, Licht, Parks, Erholungsräumen und an Schutz vor kriminellen Banden, Ausbeutern und Betrügern. Es fehlt ihr an allem, was hierzulande auch für Hartz-IV-Empfänger selbstverständlich ist.

Es ist also gewiss keine Übertreibung: Wir, die Nachkriegsgeborenen der westlichen Hemisphäre, haben den weltgeschichtlich günstigsten Zeitpunkt und Ort erwischt, den man sich zum Leben nur denken kann. Keine Generation vor uns hatte größeres Glück als wir. Freiheit, Gleichheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und soziale Sicherheit sind ganz junge, schwererkämpfte Ausnahmeerscheinungen in der Weltgeschichte, und wir gehören zu den ersten Nutznießern.

Wenn wir trotzdem nicht täglich in Jubel über diese erstaunliche Tatsache ausbrechen, dann nicht nur, weil uns das alles als zu selbstverständlich und nicht genug erscheint, sondern weil bei unserem Vergleich mit der Vergangenheit und der Gegenwart noch ein entscheidender Aspekt fehlt: die Zukunft unserer Kinder.

Unsere Eltern hatten zu uns immer gesagt: Ihr sollt es einmal besser haben als wir. Und tatsächlich haben wir es besser, als sie es je hatten. Aber unseren Kindern müssten wir, wenn wir ehrlich wären, sagen: Ihr werdet es sehr wahrscheinlich einmal schlechter haben als wir.

Während die Älteren zielstrebig auf ihren Vorruhestand hinarbeiten und ein Rentnerleben auf Mallorca planen, machen Zehnjährige unter heftiger Anteilnahme ihrer Eltern «Grundschulabitur», hetzen durch das G8-Gymnasium, erwerben zügig ihren Bachelor und satteln den Master obendrauf, auf dass sie flexibel und mobil jederzeit allen wechselnden Anforderungen einer globalisierten Wirtschaft gerecht werden und die Sicherheit unserer Renten garantieren können. Auch die Kosten all der Krankheiten, von denen immer mehr und immer ältere Menschen geplagt werden, die neunzig bis hundert Jahre leben, müssen von einer relativ kleinen Gruppe der Jüngeren bezahlt werden, nicht zu vergessen die Schuldenberge, die wir künftigen Generationen hinterlassen.

Gleichzeitig legen wir gutversorgten Älteren den Jüngeren immer mehr Eigenverantwortung nahe. Die Jungen sollen für ihr eigenes Alter lieber selber vorsorgen und sich gut gegen Krankheit und Arbeitslosigkeit versichern, denn auf den Staat werden sie sich kaum noch verlassen können. Wobei wir dem Hauptschüler die Antwort schuldig bleiben auf die Frage, wie er für sich selber sorgen soll, wenn er noch nicht mal eine Lehrstelle bekommt. Und dem hochqualifizierten Uni-Absolventen, der sich von Praktikum zu Praktikum hangelt, sich vom Einjahresvertrag zum Zwei- und Dreijahresvertrag vorarbeitet, während er fragt, wie er all das schaffen soll, was wir ihm aufbürden, sagen wir: Das ist dein Problem, und vergiss bitte nicht, Kinder in die Welt zu setzen, damit die Renten und das Wirtschaftswachstum gesichert sind.

Wir Älteren übergeben den Jüngeren eine übervölkerte, waffenstarrende, vom Klimawandel bedrohte und von Wasser- und Rohstoffknappheit geschüttelte Welt voller Konflikte zwischen Ethnien, Religionen und Kulturen. Wir setzen sie einem Wettbewerb aus, der viele überfordert, krank und labil macht und auch Eltern verunsichert.

Wir müssen unser Bild also korrigieren. Die Welt, die wir unseren Kindern übergeben, ist an ihren Grenzen und teilweise auch schon im Innern von Verwahrlosung bedroht, mit Schulden überfrachtet und auch mit Schuld beladen – Schuld gegenüber den Ausgeschlossenen, Schuld gegenüber der Natur, auf deren Ausbeutung ein Großteil unseres Wohlstands beruht, Schuld gegenüber künftigen Generationen, deren Ressourcen wir verbraucht haben, Schuld wegen unserer imperialistischen und kolonialistischen Vergangenheit, die ebenfalls zu unserem heutigen Wohlstand beigetragen und die Erben der ehemaligen Kolonien von ihm ausgeschlossen hat.

Es wäre schöner, wenn unsere Oase, die wir den nächsten Generationen vererben, intakt, auf Expansion programmiert und auf Frieden mit der Natur gegründet wäre. Das haben wir nicht geschafft.

Wie können wir diese Oase dennoch erhalten? Die Eliten in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft meinen, das Rezept gefunden zu haben, ein Rezept, das geradezu als Wundermittel gehandelt wird: Bildung. Mehr Bildung, bessere Bildung werde jungen Menschen helfen, von unserer Oase so viel wie möglich in die Zukunft zu retten. Auch die ganz großen politischen Vorschläge setzen also beim Einzelnen an. Bei den jungen Menschen, bei unseren Kindern und Enkelkindern.

Das sehen wir grundsätzlich auch so. Nur sehen wir nicht, wo nach der Finanz- und Eurokrise noch das dafür nötige Geld herkommen soll. Aber vor allem sehen wir nicht, wie das, was seit rund einem Jahrzehnt von der Mehrheit unserer Eliten in Deutschland, Europa, den USA bis hin zur OECD als «mehr Bildung» oder gar als «bessere Bildung» verkauft wird, unsere Oase retten soll: Denn es handelt sich um verzweckte Bildung, Bildung als Magd der Wirtschaft, als Set von Kompetenzen, als Anpassung an den Weltmarkt, als die Fähigkeit, sich ökonomisch gegen Inder und Chinesen zu behaupten.

Innovationen durch Bildung, internationale Wettbewerbsfähigkeit durch Bildung, Wohlstand und Zukunftssicherung durch Bildung – so lauten die neuen Hoffnungswerte, und sogar die Grünen hatten im Bundestagswahlkampf 2009 die Parole «Wachstum durch Bildung» plakatiert. Da herrscht eine erstaunliche Einigkeit von links bis rechts und von der Politik bis zur Wirtschaft und zur Wissenschaft. Kaum hatte die im September 2009 neugewählte Regierung ihre Amtsgeschäfte übernommen, forderte deren Sachverständigenrat eine «Bildungsoffensive»,6 um höheres Wachstum zu erreichen. Klaus Kleinfeld, Chef des US-Aluminiumkonzerns Alcoa und früher Vorstandsvorsitzender bei Siemens, nennt «Bildung den entscheidenden Wohlstandsbringer», denn die Konkurrenz hervorragend ausgebildeter ausländischer Spitzenkräfte wachse, und da müssten wir mithalten.7 Und wenn sich das Münchner ifo-Institut um Deutschlands Zukunft sorgt, weil laut einer Studie jeder fünfte Schüler im Alter von fünfzehn Jahren beim Rechnen und Lesen über das Grundschulniveau nicht hinauskommt, und der hohe Anteil leistungsschwacher Schüler eine Bremse für das deutsche Wirtschaftswachstum darstellt8, so darf sich das Institut der breiten Zustimmung sicher sein.

Immerzu und allerorten kann man hören: Wir sind ein rohstoffarmes Land, darum müssen wir auf den Rohstoff setzen, den man selber machen kann: «Brain». Für dessen Produktion sind Schulen und Universitäten zuständig, überdies auch Familien, Kindertagesstätten und Kindergärten. Also lasst uns hier investieren, dann werden sich die meisten Probleme von selbst lösen, heißt es. Bildung ist hier ein reines Zukunftsbewältigungsinstrument. Kinder gelten als Investitionsobjekte.

Diesem Aberglauben widersprechen wir. In der gegenwärtig herrschenden Bildungsideologie sehen wir das Problem, dessen Lösung zu sein sie vorgibt. Der Notwendigkeit, sich im Wettbewerb gegen Inder und Chinesen zu behaupten, widersprechen wir gar nicht, und wir werden in diesem Buch einiges sagen über den Weg zu diesem Ziel. Am ökonomischen Erfolg unseres Landes sind wir genauso interessiert wie Politiker, Manager und Unternehmer. Aber diesen Erfolg sehen wir gerade durch die beinahe schon zwangsneurotische Fixierung aufs Wirtschaftswachstum gefährdet. Gerade weil ökonomische Ziele oberste Priorität genießen, werden wir sie und eine gute Zukunft für unsere Kinder verfehlen.

Darum möchten wir in diesem Buch die Blickrichtung umdrehen und die Köpfe der Eliten für einen ganz einfachen, ganz selbstverständlichen Gedanken gewinnen: Sorgt euch zuerst um das Wohl der Kinder. Kümmert euch um deren Leib, Geist, Seele und Charakter! Das wird auch der Wirtschaft zugutekommen.

Sie braucht keine angepassten Ja-Sager, sondern starke, widerständige Menschen mit eigenen Ansichten, Werten und Visionen. Sie braucht kreative, originelle Charakterköpfe. Die kann man nicht züchten. Aber man kann die Grundlagen dafür bereitstellen.

Dies muss die Politik tun, dies kann in jeder Familie geschehen. In den letzten zwanzig Jahren war dies häufig fast nur noch mit Hilfe des Bundesverfassungsgerichts, gegen den Staat und die Wirtschaft, durchsetzbar. Das höchste Gericht im Staat musste diesen in der Vergangenheit immer wieder zwingen, Kindern und Familien wenigstens finanziell das Minimum dessen zu gewähren, was Familien zum Überleben brauchen. Andere Lebensnotwendigkeiten, wie etwa Liebe, Zuwendung, Zeit, Geborgenheit, Spiel, Sport, Musik, echte Bildung oder ein Fernsehen, das die Hirne von Kindern und Jugendlichen nicht vergiftet, sind leider vor keinem Gericht einklagbar und für viele Kinder nicht mehr selbstverständlich.

Je mehr wir aus lauter Sorge um die Wettbewerbsfähigkeit unsere Kinder vernachlässigen, desto mehr Sorgenkinder werden wir bekommen, desto größer werden unsere wirtschaftlichen Probleme sein. Es gilt aber auch: Je mehr wir aus lauter Sorge um die Wettbewerbsfähigkeit unsere Kinder pushen, schon im Kindergarten dem Wettbewerb aussetzen, sie nicht mehr Kind sein lassen, desto schwerer werden sie es haben, sich normal und gesund zu entwickeln.

Wer Kinder und Jugendliche «zukunftssicher» machen will, indem er versucht, sie wettbewerbsfähig zu machen, wird nicht einmal das erreichen, denn wer sich nur ökonomisch behaupten kann, wird unfähig sein, jene anderen Herausforderungen zu bestehen, von denen das Leben voll ist – und manche davon haben ein ganz anderes, persönlicheres Kaliber als der Kampf um Marktanteile.

Auf ökonomischen Erfolg programmierte Eliten werden den Wert unserer Oase mit deren Geldwert verwechseln und daher die wirklichen Innovationen, die nötig sind, um unsere Oase zu erhalten und auszubauen, nicht ersinnen und dem Vordringen der Wüste nichts entgegenzusetzen haben.

Die Gleichung «Bildung gleich Euro» ist nicht nur primitiv und dumm, sie ist auch zutiefst inhuman. Ihre Inhumanität zeigt sich in der scheinbar berechtigten Sorge des ifo-Instituts um die lese- und rechenschwachen Kinder. Denn in Wirklichkeit bereitet dem Institut ja nicht etwa die bedrückende, aussichtslose Situation dieser Kinder Anlass zur Sorge, sondern die Tatsache, dass diese Kinder «Wachstumsbremsen» sind. Es geht nicht um die Probleme der Kinder, sondern um die Probleme der Wirtschaft.

In anderen Zusammenhängen werden Kinder als künftige Rentenzahler, Produzenten und Konsumenten beschrieben, als Kostenfaktoren, als Problemgruppe, als Bildungsprodukte, die der ständigen «Qualitätssicherung» und «Evaluation» bedürfen. Nur um die kindliche Seele, um persönliches Glück und Chancen geht es nie. Staat, Wirtschaft und Gesellschaft entwickeln zu ihrem Nachwuchs ein Verhältnis, das dem Verhältnis des Bauern zu seinem Vieh gleicht. Wir bekommen es, überspitzt gesagt, mit einer ökonomischen Form von Kindesmissbrauch zu tun.

Das ganze von diesem Verwertungsinteresse gesteuerte Denken entlarvt sich schon an seinem Vokabular: Input, Output, Prozessmanagement, Benchmarking, Qualitätssicherung, Standardisierung, Soft Skills, Kompetenzen, Exzellenzcluster, Effizienz. Solches Geschwurbel tropft aus den Mündern unserer tonangebenden Bildungsmanager in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft. Wer so spricht, mag kompetent sein für die Produktion von Schrauben, Autos und Computern, in unserem Zusammenhang aber beweisen die Benutzer dieses aus dem zeitgenössischen Wörterbuch des ökonomischen Unmenschen stammenden Vokabulars vor allem ihre Inkompetenz für kindliche Seelen, für Erziehung und Bildung.

Um die Jahrtausendwende hatten wir gegen die Vorstellung von der Schule als Fabrik gekämpft. Wir wollten kein Bildungssystem, in das man vorne ein Kind hineinschiebt und hinten einen Ingenieur oder Betriebswirt herauszieht.10 Diesen Kampf scheinen wir verloren zu haben. Die Verfechter der Bildungsfabrik, die heutigen Bildungsforscher oder Pädagogen sind nicht mehr automatisch Anwälte und Beschützer unserer Kinder.

Im Gegenteil. Erziehungswissenschaftler wie etwa Jürgen Oelkers, Professor an der Universität Zürich und Experte für Schulreformen, formulieren forsch, worum es «bei Schule» geht: «in erster Linie darum, Abschlüsse zu erwerben und Absolventen für den Arbeitsmarkt zu produzieren. Wir brauchen ein System, das elastisch genug ist, einerseits zum Abitur zu führen, andererseits den Lehrstellenmarkt zu bedienen.»11 Der Geist, der aus solchen Worten spricht, das Bildungsverständnis, das ihnen zugrunde liegt, das ist derzeit die eigentliche Gefahr für die Zukunft unserer Kinder.

Die tüchtigen Nützlichkeitsautomaten, die unsere Bildungsfabriken ausstoßen sollen, werden den Wert und die geistigen Grundlagen unserer Oase gar nicht erkennen und daher weder willens noch fähig sein, sie zu erhalten. Geschweige denn, sie auszubauen und für die Ausgeschlossenen zu öffnen. Denn dafür bedarf es neben Wissen, Tüchtigkeit, Fleiß und Disziplin auch Verantwortungsgefühl, Haltung, Charakter, Empathie, Herzensbildung, Leidenschaft und ein Gespür für die Rangfolge unterschiedlicher Werte.