Die Meinungsmaschine - Petra Gerster - E-Book

Die Meinungsmaschine E-Book

Petra Gerster

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Beschreibung

Warum wir nicht mehr richtig informiert werden
Worüber wird berichtet? Was wird verschwiegen? Was ist wahr, worauf ist Verlass in einer Zeit, in der Propaganda und Information zu verschmelzen drohen?
Petra Gerster und Christian Nürnberger steigen in den Maschinenraum der Medien, legen die Innereien der Meinungsmaschine bloß, ergründen, wie sie funktioniert und wer sie steuert. Mit scharfem Blick beschreiben sie die Meinungsmacher von heute, analysieren, wer uns welche Informationen liefert und wem wir noch vertrauen können. Dabei stellen sie unbequeme Fragen: Wie unabhängig ist, wer unter der Aufsicht von Parteien, Kirchen, Gewerkschaften, Verbänden steht? Wer berichtet noch objektiv, wer will eher belehren, manipulieren oder erziehen? Bestimmen nur noch Auflage und Quote, was gedruckt und gesendet wird? Andererseits: Wer sich nur von Facebook und Twitter füttern lässt, braucht sich nicht wundern, wenn er mit Fake News abgespeist wird. – Kämpferisch und leidenschaftlich, Aufklärung im besten Sinne.

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Warum wir nicht mehr richtig inormiert werden

Petra Gerster und Christian Nürnberger steigen in den Maschinenraum der Medien, legen die Innereien der Meinungsmaschine bloß, ergründen, wie sie funktioniert und wer sie steuert. Mit scharfem Blick beschreiben sie die Meinungsmacher von heute, analysieren, wer uns welche Informationen liefert und wem wir noch vertrauen können. Dabei stellen sie unbequeme Fragen: Wie unabhängig ist, wer unter der Aufsicht von Parteien, Kirchen, Gewerkschaften, Verbänden steht? Wer berichtet noch objektiv, wer will eher belehren, manipulieren oder erziehen? Bestimmen nur noch Auflage und Quote, was gedruckt und gesendet wird? Andererseits: Wer sich nur von Facebook und Twitter füttern lässt, braucht sich nicht wundern, wenn er mit Fake News abgespeist wird. – Kämpferisch und leidenschaftlich, Aufklärung im besten Sinne.

Petra Gerster, Jahrgang 1955, arbeitet seit Ende der 1980er-Jahre beim ZDF, wo sie seit 1998 die »heute«-Sendung moderiert. Sie wurde mit dem Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis für Fernsehjournalismus und der Goldenen Kamera ausgezeichnet. Der Publizist Christian Nürnberger, geboren 1951, schreibt unter anderem für »Die Zeit« und »Süddeutsche Zeitung«. Gemeinsam haben sie u.a. die Bestseller »Der Erziehungsnotstand« und »Der rebellische Mönch …« verfasst. Sie leben mit ihrer Familie in Mainz.

PETRA GERSTER

CHRISTIAN NÜRNBERGER

DIE

MEINUNGS

MASCHINE

Wie Informationen gemacht werden –

und wem wir noch glauben können

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Copyright © 2017 by Ludwig Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Redaktion: Andrea Kunstmann Covergestaltung: Eisele Grafik Design, München, unter Verwendung eines Fotos von: © Random House/Kay Blaschke Satz: Leingärtner, Nabburg ISBN 978-3-641-09430-0V002
www.ludwig-verlag.de

INHALT

VORWORT

Vertrauen – die wichtigste Währung der Welt

Erster Teil

DIE SOGENANNTE INFORMATIONSGESELLSCHAFT

EINS

Die Medien sind unser Schicksal

ZWEI

Informationsgesellschaft oder Desinformationsgesellschaft?

DREI

Misstrauensvotum

VIER

Lügenpresse? Das war gestern!

FÜNF

Überraschung: Warum das berechtigte Misstrauen gegen »die da oben« ein Grund für das Vertrauen in die Medien ist

SECHS

Warum die Misstrauensforschung neuerdings ihrem eigenen Misstrauen misstraut

Zweiter Teil

DIE MEDIENMASCHINE

EINS

Die Medienmaschine – wie sie funktioniert

ZWEI

Wem die Maschine gehört

DREI

Zaren, Mogule, Tycoons

VIER

Zarendämmerung

FÜNF

Wer die Maschine bedient

SECHS

Nach welchen Regeln die Maschine bedient wird

SIEBEN

Wie sich die Regeln ändern können

ACHT

Warum berichten Journalisten immer nur das Negative?

NEUN

Was die Maschine antreibt

ZEHN

»Die Pressefreiheit endet stets da, wo der Selbstmord beginnt«

ELF

Zu Gefängnis verurteilt wegen: Journalismus

ZWÖLF

Das Neutralitätsgebot und seine Grenzen

Dritter Teil

MACHT UND OHNMACHT DER JOURNALISTEN

EINS

Das Objektivitätsgebot und seine Grenzen

ZWEI

Haben die deutschen Medien eine rot-grüne Schlagseite?

DREI

Die Wahrheit ist bunt

VIER

Kann ein Türke objektiv sein?

Vierter Teil

MACHT UND OHNMACHT DER MEDIEN

EINS

Fluch oder Segen?

ZWEI

Vom Segen der Macht

DREI

Vom Fluch der Macht

VIER

Vom Ruch der Macht

Fünfter Teil

DIE FÜNFTE GEWALT

EINS

Der virtuelle Stammtisch

ZWEI

Etwas Neues geschieht: die Beobachtung der Beobachter

DREI

Absturz der fünften Gewalt

VIER

Ein Schüler liest den Medien die Leviten

FÜNF

»Warum müsst ihr das zeigen? Wir wollen das nicht sehen«

SECHS

Der Silvesterknall von Köln

Sechster Teil

VERTRAUEN, ABER NICHT BLIND

EINS

Wem kann man denn nun noch trauen?

ZWEI

Liebeserklärung an die Zeitung – und: ein Lob der »Zwangsgebühren«

DREI

Die acht wichtigsten Regeln für Mediennutzer

ANMERKUNGEN

VORWORT

Vertrauen – die wichtigste Währung der Welt

Lügenpresse? Hört man kaum noch. Es ist still geworden um diese einst so lautstark skandierte Pegida-Kampfparole gegen die Presse, die Eliten, »die da oben«. Wenn hie und da Einzelne noch rufen »Haut die Presse in die Fresse«, interessiert das außer den Rufern und ihrer unmittelbaren Umgebung kaum noch jemanden.

Verläuft also die härteste Medienkritik, die es im Nachkriegsdeutschland je gegeben hat, gerade im Sande? Ist es den Medien etwa in Rekordzeit gelungen, verlorenes Vertrauen zurückzuerobern?

Das wäre schön für die Medien. Nur: So einfach ist es nicht. Der tägliche Blick in die Facebook-Foren lehrt, dass noch immer sehr viele Menschen tatsächlich glauben, Bundeskanzlerin Angela Merkel oder ihr Regierungssprecher Steffen Seibert riefen jeden Morgen bei den öffentlich-rechtlichen Sendern an, um den journalistischen Befehlsempfängern dort die Direktiven für die Berichterstattung des Tages zu übermitteln. Und noch immer sind zahlreiche Bundesbürger davon überzeugt, dass gekaufte Journalisten in der »Mainstream-Presse« ihre Berichte im Sinne ihrer Auftraggeber schreiben. Und wenn sie es nicht gegen Bezahlung tun, dann auf Befehl ihrer Chefs oder Verleger. Auch zahlreiche Anrufe, Mails und Briefe von Zuschauern, Hörern und Lesern künden von einem fortgesetzten Misstrauen gegen die »Mainstream-Presse«.

Die Lautstärkeminderung der Lügenpressefraktion kann also wohl kaum mit einem Rückgang des Misstrauens erklärt werden. Eher schon mit Ermüdungserscheinungen.

Oder mit Erfolg. Schließlich regiert in den USA ein Präsident, der es gegen den Widerstand fast der gesamten Presse des Landes ins Weiße Haus geschafft hat. Die Wähler Donald Trumps haben den Medienberichten über Trump einfach nicht geglaubt und ihn gewählt. Er lügt wie getwittert, lässt seine Lügen als »alternative Fakten« darstellen und hat Erfolg damit, zumindest bei seinen Wählern. Und die Parole »Haut die Presse in die Fresse« erübrigt sich, seit dieses »auf die Fresse hauen« der Mann im Weißen Haus verbal und symbolisch mit seinen Fäusten1 höchstselbst besorgt. Wenn das ZDF darüber und generell über Trump kritisch berichtet, rufen Zuschauer an oder schicken Mails, in denen sie sich über die einseitige Negativberichterstattung zu Trump beschweren.

Und wenn es nicht Misstrauen ist, dann ist es Gleichgültigkeit oder Desinteresse, was den Medien entgegenschlägt, denn der seit vielen Jahren anhaltende Auflagenverlust zahlreicher Zeitungen und Zeitschriften ist noch immer ungebrochen und führt zu anhaltendem Bedeutungsverlust. Die Vertrauenskrise der Medien ist also noch nicht vorbei.

Die Zahl derer, die Verschwörungstheorien anhängen und wirklich glauben, dass alle Medien von irgendwelchen Mächten im Geheimen gesteuert werden, mag gering sein, aber verunsichert doch auch viele Normalbürger, die sich fragen: Was ist dran am Verdacht gegen die Medien? Wem kann man denn nun noch trauen? Wozu brauchen wir sie noch?

Von der Antwort darauf hängt viel ab für unsere Demokratie und unsere Zukunft. Demokratie ist zwar institutionalisiertes Misstrauen – deshalb gehört zu jeder Demokratie Gewaltenteilung. Legislative, Exekutive und Judikative sollen einander gegenseitig kontrollieren. Und alle drei stehen unter Beobachtung einer freien Presse, die deshalb gerne als »vierte Gewalt« tituliert wird.

Aber mehr noch als vom Misstrauen lebt jede Demokratie vom Grundvertrauen ihrer Bürger. Diese können sich nicht zu jeder Detailfrage eine eigene Meinung und ein sicheres Urteil bilden. Sie sind daher darauf angewiesen, den vielen Experten in der Regierung, im Parlament, in der Justiz, in den Medien, in der Wirtschaft und in der Kultur zu glauben, dass sie wissen, was sie tun, dass deren Tun sachlich gerechtfertigt ist und dem Gemeinwohl dient. Umgekehrt sind all diese Experten darauf angewiesen, dass die Mehrheit der Bürger ihnen vertraut. Erodiert dieses Vertrauen, erodiert die Demokratie.

Eben das passiert gerade. Die wichtigste Währung der Demokratie ist angegriffen: Vertrauen. Der Wert dieser Währung sinkt nicht erst seit gestern, und die Verluste beschränken sich nicht nur auf ein Geschäftsfeld, sondern erstrecken sich über weite Bereiche. Schon lange erodiert in einem Jahrzehnte währenden Prozess das Vertrauen in die Politiker. Später – vor allem während der Finanzkrise, aber auch schon davor – schwand das Vertrauen gegenüber Bankern und Managern. Seit dem Bekanntwerden der Missbrauchsskandale in der katholischen Kirche und den Extravaganzen des Limburger Bischofs Franz-Peter Tebartz-van Elst leidet das Vertrauen zur Kirche. Im Sommer 2017 traf es das Herz der deutschen Wirtschaft: die Automobilindustrie. Die Folgen des Betrugs bei der Abgasreinigung und die kartellartigen Absprachen unter konkurrierenden Autobauern sind noch nicht abzusehen.

Die Zweifel an der Vertrauenswürdigkeit von Journalisten wurden ab 2014 akut, als die Berichterstattung der sogenannten Mainstream-Medien über den Russland-Ukraine-Konflikt in die Kritik geriet. Die Zweifel verstärkten sich nach der Öffnung der Grenzen für Flüchtlinge. Da wurde den Medien vorgeworfen, die Probleme der »Flüchtlingsinvasion« schönzureden oder ganz zu verschweigen. Und nach der »Kölner Silvesternacht 2015« kannte die Kritik kein Halten mehr. Zwei weitere Ereignisse spielten eine wichtige Rolle bei diesem Vertrauensschwund: die mediale Hetzjagd gegen den Bundespräsidenten Christian Wulff 2011/2012 und die Berichterstattung über den Absturz der Germanwings-Maschine in den südfranzösischen Alpen im März 2015.

Die wichtigste Ursache für das plötzlich erwachende Misstrauen gegen die Medien liegt aber außerhalb ihrer selbst: in den sozialen Medien. Ohne deren Existenz wäre der Vertrauensverlust marginal geblieben. Durch die Tatsache aber, dass sich plötzlich Hunderttausende über die Berichterstattung der Medien zu bestimmten Themen austauschten und diese von Zehntausenden infrage gestellt wurde, gab es plötzlich so etwas wie eine massenhafte Beobachtung der Beobachter. Die anfangs vereinzelt vorgetragene Kritik von Laien an den journalistischen Profis führte durch die Präsenz dieser Kritik in den sozialen Medien und in bestimmten Foren zu einer so noch nicht dagewesenen Gegenöffentlichkeit. Die aber von den professionellen Herstellern der »Mainstream«-Öffentlichkeit zunächst nicht richtig ernstgenommen wurde, weil sie sich keiner Schuld bewusst waren. Der Mehrheit der Journalisten in den seriösen Medien erschien die Unterstellung, dass sie ihre Leser, Hörer, Zuschauer absichtlich täuschen, belügen oder manipulieren oder von irgendwelchen fremden Mächten gekauft sind, so absurd, dass sie sich weigerten, überhaupt darauf einzugehen.

Woraus ihre Kritiker ableiteten, dass sie recht hatten. Daher verstärkten sie ihre Kritik, die Kritik fand Widerhall, und der sich selbst verstärkende Effekt dieses Widerhalls führte dazu, dass Medienbashing sich zu einem neuen Volkssport entwickelte. Immer mehr Menschen ließen sich davon beeinflussen und fragten sich, ob »da was dran ist«. Auch den Medien Wohlgesinnte dachten nun: Wo viel Rauch ist, muss auch irgendwo ein Feuer sein. Was letztlich dazu geführt hat, dass noch mehr Rauch aufstieg, weil die Medien irgendwann nicht mehr daran vorbeikamen und über den Rauch berichten mussten.

Das war eine für sie neue Situation: Die Beobachter des Weltgeschehens sind plötzlich selbst Gegenstand der Beobachtung geworden. Hunderttausende von Amateurbeobachtern beobachten die Beobachter, weisen ihnen regelmäßig tatsächliche oder vermeintliche Fehler nach und tauschen sich darüber in Blogs, über Facebook und Twitter aus. Denen, deren Job es ist, den Mächtigen auf die Finger zu sehen, wird nun selbst auf die Finger gesehen. Es hat sich eine neue Medienkritik etabliert, an der sich ganz normale Bürger zu Hunderttausenden beteiligen. So etwas wie eine »fünfte Gewalt« ist entstanden.

Selbstverständlich mussten die Medien darüber berichten, also sich selbst zum Gegenstand der Berichterstattung machen. Sie sahen sich gezwungen, das Misstrauen zu reflektieren und sich selbstkritisch zu fragen, ob sie sich etwas vorzuwerfen haben, und wenn ja, was. Die nun einsetzende Dauerberichterstattung und Dauerreflexion über den eigenen Glaubwürdigkeitsverlust samt zugehöriger Selbstanklagen und eingestandener Fehler hat dann vermutlich mehr als alles andere zur Verunsicherung der Medienkonsumenten beigetragen.

Also eine paradoxe Ironie: Das sich in den neuen sozialen Medien selbst verstärkende Misstrauen gegenüber den alten Medien zwang diese, darüber zu berichten, wodurch der Effekt noch einmal verstärkt wurde. Die Geschichte vom Misstrauen erreichte nun auch den »analogen Rest« der Bevölkerung, der noch Twitter- und Facebook-abstinent lebt, und dieser Rest dachte nun auch: Wenn die schon darüber berichten, dann muss ja wohl was dran sein.

Damit soll die heftigste Medienkritik, die es je in Deutschland gegeben hat, keineswegs als reines Medienkonstrukt abgetan werden. Eine gewisse Erosion des Vertrauens war zuerst da, danach kam die Berichterstattung darüber und hat zu weiterer Erosion beigetragen, die aber möglicherweise noch stärker zugenommen hätte, wenn das Problem beschwiegen worden wäre.

Irgendetwas muss also passiert sein. Aber was? Warum erodiert so plötzlich das Vertrauen in die Glaubwürdigkeit der Medien? Und wem kann man denn nun noch trauen?

Diesen Fragen wollen wir hier nachgehen. Wir schreiben das Buch für die Verunsicherten, die Fragen und Zweifel haben, aber noch empfänglich sind für Argumente und noch willens, selber zu denken. Und wir schreiben dieses Buch gern, denn es ist höchst erfreulich, für die Medien nützlich und die Demokratie gut, wenn Zuschauer, Hörer und Leser in so großer Zahl und so eindringlich nach der Wahrheit der Medien fragen.

Von der Antwort darauf hängt viel ab. Nicht erst seit heute.

Hinweis: Wir haben aus Gründen der Lesbarkeit darauf verzichtet, das Binnen-I (JournalistInnen) zu benutzen oder grundsätzlich die männliche und weibliche Form parallel zu nennen (Journalistinnen und Journalisten). Es ist uns aber wichtig, darauf hinzuweisen, dass wir immer Frauen und Männer meinen, wenn wir von Politikern, Korrespondenten, Redakteuren etc. sprechen.

Erster Teil

DIE SOGENANNTE INFORMATIONS-GESELLSCHAFT

EINS

Die Medien sind unser Schicksal

Was seit der Erfindung des Buchdrucks gedruckt und seit Erfindung des Rundfunks gesendet wurde, hat das Schicksal aller nachfolgenden Generationen, Völker, Nationen beeinflusst, gestaltet, verunstaltet. Daher sind Medienprodukte keine gewöhnliche Ware wie Schrauben, Autos oder Versicherungen, sondern ein bewusstseinsverändernder Stoff. Dieser Stoff dringt ein in Gehirne, dient ihnen als Futter und verändert sie. Die Änderungen wirken sich unmittelbar aus auf das weitere Schicksal von Einzelnen, Gruppen, ganzen Völkern und Nationen.

Wenn dieser Stoff verdorben oder vergiftet ist, dann kann er jene »-ismen« und Phobien produzieren, die in der Vergangenheit ganze Völker ins Elend gestürzt haben: Nationalismus, Rassismus, Militarismus, Faschismus, Stalinismus. Der Stoff kann kollektive Ängste und Neurosen hervorrufen, Homophobie, Islamophobie und Xenophobie. Er kann Frauenverachtung, Neid, Hass und Missgunst erzeugen, und er kann ganze Völker, Nationen und Gläubige so gegeneinander aufbringen, dass sie sich gegenseitig umbringen.

Ist der Stoff aber gut, dann kann er demokratisierend wirken und Menschen dazu bringen, friedlich miteinander zu leben und zu arbeiten zum Wohle aller. Jedem Einzelnen kann er helfen, sich in einer zunehmend komplexer werdenden Welt zurechtzufinden. Guter Stoff ist Kompass, Wegweiser und Trashfilter zugleich. Das Unwichtige rückt nach hinten oder bleibt ganz draußen, das Wichtige steht vorn. Guter Stoff liefert dem mündigen Bürger das Wissen, das er braucht, um sich selbst ein eigenständiges Urteil zu bilden.

Was einer im Lauf seines Lebens sieht, hört, liest, wirkt sich aus auf seine Entscheidungen als Wähler bei Bundestags-, Landtags- und Kommunalwahlen. Wie in seinem Kopf eine Meinung entsteht über Putin, Trump, Russland, Amerika, die Globalisierung, die Marktwirtschaft, Religionen, den Umgang mit Flüchtlingen, Minderheiten, Benachteiligten und Privilegierten, hängt von dem Stoff ab, der ihm über die Medien ins Haus geliefert wird.

Ob einer Zukunftsangst hat, in ständiger Furcht vor Mördern, Einbrechern und Dieben lebt oder angstfrei, fröhlich und optimistisch in die Zukunft blickt, kann mehr mit der Art seines Medienkonsums zusammenhängen als mit der tatsächlichen Lage, in der er und sein Land sich befinden. Wer sich hauptsächlich aus Medien informiert, die bevorzugt über kriminelle Delikte von Flüchtlingen und deren Verbrechen an Einheimischen berichten, wird schon nach kurzer Zeit ein komplett anderes Bild von der Realität haben als einer, der sich hauptsächlich aus Medien informiert, die auch über Angriffe von Einheimischen auf Migranten, Flüchtlinge und Flüchtlingsheime berichten.

Guter Stoff führt zu Bildung, Aufklärung, Kritik, Humanismus und wissenschaftlichem und gesellschaftlichem Fortschritt. Er stärkt und erhält den Rechts- und Sozialstaat, die Demokratie und die Meinungsfreiheit.

Und darum ist es tatsächlich eine lebenswichtige, ja schicksalsträchtige Frage, wie gut und verlässlich der Stoff ist, den die Medien produzieren. Schon Kinderhirne und Kinderseelen werden mit Bilderbüchern, Hörbüchern, Computerspielen, Songs, Videos und Fernsehsendungen gefüttert, von denen nicht immer sicher ist, ob sie der weiteren Entwicklung des jungen Menschen dienlich sind. Die Nahrung für den Leib unterliegt bei uns strengsten Vorschriften, wird penibel überwacht, und wenn diese Kontrollen einmal versagen und Spuren von Dioxin im Ei, Nitrat im Wasser und Pferd in der Rinderlasagne gefunden werden, ist der Teufel los. Die zahlreichen Lebensmittel- und Tierfutterskandale rufen jedenfalls exorbitant mehr allgemeine Empörung hervor als die Medienskandale, die es auch schon vor Erfindung der »Lügenpresse«-These gegeben hat.

Medien wirken mit an der Persönlichkeitsentwicklung und Charakterbildung jedes Einzelnen. Was aus einem Kind wird, hängt in hohem Maß davon ab, mit welchen Medien es von Eltern, Lehrern, Erziehern gefüttert wird. Und was diese Erwachsenen an Medien auswählen, welche Dosis sie verabreichen, ob und wie sie den Medienkonsum ihres Kindes kontrollieren, und ob und wie sie das Kind anleiten, von Medien einen kritischen Gebrauch zu machen, das ist selbst wieder ein Produkt jener Medien, deren sich die Erwachsenen im Lauf ihres Lebens bedient haben.

Medien helfen jedem Einzelnen, sich in einer immer komplexer werdenden Welt zu orientieren. Der Angestellte, der am Ende seines Berufslebens eine stattliche Summe von seiner Lebensversicherung ausbezahlt bekommt, steht vor der Frage: Wie anlegen? Immobilien? Aktien? Gold? Und ist dabei auf Medien angewiesen, die vor der US-Präsidentenwahl geschrieben hatten, wenn es Donald Trump wird, werden die Aktien in den Keller rauschen. Das Gegenteil passierte. Der Dow-Jones-Index erklomm ein neues historisches Hoch.2 Die nachgeschobene Erklärung lautete: »Selbst wenn ein Clown im Weißen Haus sitzt, ist er ein Clown, der deine Steuern senken wird.«3

Wie viel Verlass ist also noch auf Medien, die heute dies und morgen das Gegenteil behaupten? Ist Berichten zu trauen, die nachweisen, dass »bio« wirklich besser und gesünder ist als »nicht-bio«? Ist Homöopathie Humbug oder eine ernstzunehmende Alternative zur Schulmedizin? Stimmt es wirklich, dass die Armen immer ärmer und die Reichen immer reicher werden? Welches Auto soll ich mir zulegen, welches Smartphone? Kann ich es verantworten, meine Tochter in Beirut studieren zu lassen? Und was ist, wenn der Clown im Weißen Haus ein Horrorclown ist, der zwar die Steuern senkt, dafür aber auch Schulden macht, Chaos verursacht, den Wohlstand und den Frieden gefährdet, Angst und Schrecken verbreitet? Kurzfristig mag es an der Börse aufwärtsgehen, aber auch mittel- und längerfristig?

Was immer wir entscheiden müssen: In den meisten Fällen sind wir auf Informationen aus den Medien angewiesen. Sie sind geistige Lebensmittel, deren Sauberkeit mindestens so wichtig ist wie die Nahrungsmittelsicherheit.

76 547 neue Buchtitel haben deutsche Buchverlage 2015 in den Markt geworfen.4 324 Tageszeitungen verkauften im Jahr 2016 täglich 15,3 Millionen Exemplare.5 450 Zeitschriftenverlage mit 9 000 Journalisten produzieren rund 6 000 Magazine, deren Inhalten übrigens rund 85 Prozent aller Menschen vertrauen.6 Jeder Deutsche hört im Durchschnitt täglich rund drei Stunden Radioprogramm, das von über 400 Sendern7 ausgestrahlt wird. Durchschnittlich 74 TV-Sender kann ein bundesdeutscher Haushalt empfangen. Das Fernsehen erreicht rund 80 Prozent aller Deutschen, das Radio 65 Prozent, das Internet 63 Prozent. Eine Zeitung lesen knapp 44 Prozent aller Deutschen, Bücher 27 Prozent. Mehr als 220 Minuten pro Tag verbringt der Durchschnittsdeutsche vor dem Fernsehgerät, eine andere Studie spricht gar von 270 Minuten, und diese Differenz beweist schon, dass jede dieser Zahlen mit Vorsicht zu genießen ist. Ergebnisse von Umfragen hängen davon ab, wer wann wen wie fragt und wie viele Personen überhaupt gefragt wurden. Und dann kommt es außerdem auch noch darauf an, wie gut der Journalist das statistische Material, das er für sein Publikum aufbereitet, dieses gedanklich durchdrungen hat und wie gut er mit Zahlen und Statistiken umzugehen versteht.

Alle Zahlen zusammen bestätigen aber: Der Verbrauch an Hirnveränderungsstoff in Deutschland ist hoch, und darum ist die Frage nach dessen Qualität, Nützlichkeit und Bekömmlichkeit essenziell.

Müsste dann nicht längst die Lebensmittelpolizei einschreiten bei Facebook und Twitter, zwei Medien, die täglich eine Überdosis Gift aus Lügen, Gerüchten, Verschwörungstheorien, Aberglauben und Fake News verspritzen? Wenn Facebook vorgibt, seine Nutzer von diesem Giftmüll nicht verschonen zu können, muss dann vielleicht doch am Ende der Staat eingreifen, weil er nicht zulassen kann, dass Demokratie an Desinformation zugrunde geht? So, wie er die Pflicht hat, seine Bürger vor Umweltgiften zu schützen, sollte er doch auch die Pflicht haben, seine Bürger vor Hirnvergiftung zu schützen.

Aber wenn er es täte, würde er damit nicht die Pressefreiheit verletzen? Geriete er nicht in Gefahr, in der guten Absicht, die Bürger zu schützen, sich zu einem Zensor zu entwickeln? Sollte man das Problem also weiterhin von jener Kraft lösen lassen, der man bisher vertraut hatte: dem Markt? Aber was ist, wenn sich auf diesem Markt gigantische Weltkonzerne wie Amazon, Apple, Facebook und Google als Monopolisten etablieren und mit demokratisch gewählten Regierungen Katz und Maus spielen?

Das sind schwierige Fragen. Wir werden versuchen, in diesem Buch Antworten zu skizzieren.

ZWEI

Informationsgesellschaft oder Desinformationsgesellschaft?

Vieles, was als »Information« daherkommt, ist Werbung, PR, Propaganda, Irrelevantes, das sich als wichtig und bedeutsam aufplustert. Den Umgang damit haben die meisten von uns gelernt. Des Lesens und Schreibens Kundige waren bisher in der Lage, Werbung, PR und Propaganda von Information zu unterscheiden.

Aber das ändert sich gerade, denn wir befinden uns mitten in einer grundlegend neuen Entwicklung: der Digitalisierung der Welt. Und diese bedeutet den Austritt unserer Zivilisation aus der »Gutenberg-Galaxis« (Marshall McLuhan), einer Epoche, die vom Buch als Leitmedium geprägt war. Ihr Beginn fällt zusammen mit jener Kulturrevolution, die als »Reformation« bezeichnet wird, im Jahr 2017 ihr 500-jähriges Jubiläum hatte und ohne Gutenbergs epochemachende Erfindung des Buchdrucks gar nicht möglich gewesen wäre.

Just zum Zeitpunkt der Reformationsfeierlichkeiten verlassen wir diese Galaxis und treten ein in etwas Neues, für das wir noch keinen richtigen Namen haben und von dem wir nicht wissen, wohin es die Welt in den nächsten 500 Jahren führen wird. Wir wissen nur: Das, was wir derzeit noch mit dem unzureichenden technischen Begriff der »Digitalisierung« bezeichnen, bedeutet nicht nur eine weitere technische Änderung in einigen Betriebsabläufen der Welt, sondern deren komplettes Ende und den Beginn neuer Abläufe.

Daher spricht man auch von Disruption, was so viel heißt wie: Auf vielen Gebieten ändern sich die Dinge sehr schnell und sehr grundsätzlich, etwas reißt ab, evolutionäre Entwicklungen kommen an ihr Ende, und etwas grundsätzlich Neues beginnt, das sich nun auch evolutionär weiter entwickeln wird, aber mit dem Bisherigen nur noch lose oder gar nicht mehr verbunden ist. Beschrieben hat diese Veränderung Marshall McLuhan schon im Jahr 1962. Umschrieben worden ist sie auch mit Begriffen wie »Siliziumzeit« – nach Stein-, Bronze- und Eisenzeit. Oder »Wissensgesellschaft« und »Informationsgesellschaft« – weil Wirtschaft und Gesellschaft nicht mehr von Material-, sondern von Wissens- und Informationsverarbeitung angetrieben werden. Zu den bisherigen drei Grundgrößen Raum, Zeit und Materie kommt jetzt als vierte die Information hinzu.

Sie ist es, die mit ihren gewaltigen Datenmengen, die täglich neu produziert, registriert und ausgewertet werden, bestehende Wirtschaftszweige umkrempeln und ganz neue Produkte und Dienstleistungen entstehen lassen wird. Das wird die Welt von Grund auf verändern. Begonnen hat diese Entwicklung mit der Erfindung des Internets Mitte der 1990er-Jahre. Aber erst jetzt beginnt sie sich auf alle Bereiche der Politik, der Wirtschaft, des Militärs, der Gesellschaft, der Wissenschaft und der Kultur auszuwirken – spürbar für jeden Einzelnen bis hinein in sein privates Leben und Verhalten.

Plötzlich, fast über Nacht, entstehen neue Unternehmen, die den alten, angestammten das Leben schwer machen, und zwar weltweit. Uber konkurriert mit dem alten Taxigewerbe, Airbnb erschwert den Hotels das Geschäft, Amazon bedrängt Buchhändler und Einzelhändler. Banken und Versicherungen fühlen sich von sogenannten FinTechs bedrängt, jungen Software-Schmieden, die daran arbeiten, das alte Bank- und Versicherungsgeschäft fast komplett von Algorithmen erledigen zu lassen. Selbstfahrende Autos und ferngesteuerte Drohnen werden die Autoindustrie, den Verkehr und die Logistik radikal verändern, zahlreiche Arbeitsplätze zerstören und neue schaffen.

Und mittendrin das gedruckte und gesendete Wort und Bild. Die Drucker und Schriftsetzer waren die Ersten, die vom Strudel des Neuen erfasst wurden. Ihre Berufe gibt es nicht mehr. Danach erfasste der Strudel die Musik- und Filmindustrie. Deren Geschäftsmodell, Filme, Musik, Hörspiele auf materiellen Tonträgern wie Schallplatten, Tonbändern, CDs zu verkaufen, funktioniert nicht mehr. Die ganze Industrie geriet in eine Krise, in der sie noch immer steckt und neue Überlebensmodelle erprobt.

Seit ungefähr der Jahrtausendwende werden auch Buch-, Zeitungs- und Zeitschriftenverlage von der Digitalisierungswelle gebeutelt. Werbeerlöse sind dramatisch eingebrochen, und die Zahl der Abonnenten ist drastisch gesunken. Neue Player wie Google und Facebook haben sich fast des gesamten Werbekuchens bemächtigt, der früher die privaten Zeitungen, Zeitschriften und Rundfunksender finanzierte. Verlage suchen nun nach einer Antwort, wie sie Journalismus noch bezahlen und dessen Qualität sichern können, und haben begonnen, unterschiedlichste Wege zu erproben.

Dazu kamen drei weitere einschneidende Änderungen: der Rückkanal, die Cloud und die sogenannten sozialen Medien wie Facebook, Twitter, Instagram, Snapchat und dergleichen.

Früher, in der analogen Welt, gab es nur einen Kanal von wenigen Sendern zu vielen Empfängern. Die Zeitung, das Radio, das Fernsehen teilte dem Publikum mit, was die Journalisten für mitteilenswert hielten. Der einzelne Empfänger konnte das zur Kenntnis nehmen, und wenn er sich über einen Bericht oder Kommentar ärgerte oder ihn für fehlerhaft hielt, musste er sich hinsetzen und einen Leserbrief tippen, eintüten, frankieren und zum nächsten Briefkasten bringen. Wurde der Brief von der Redaktion für würdig befunden, gedruckt zu werden, konnte der Leser ein paar Tage später eine stark gekürzte Fassung seines Briefs in der Zeitung lesen. Die anderen Leserbriefschreiber bekamen eine kurze Antwort des Redakteurs und fertig. Die Umständlichkeit dieses Verfahrens und die langen Kommunikationswege bremsten den Willen der Empfänger, mit dem Sender in Kontakt zu treten – eine angenehme Situation für die Sender, eine unbefriedigende für die Empfänger.

Damit ist es vorbei, seit es das Internet und damit einen Rückkanal vom Empfänger zum Sender gibt. Auf diesem Kanal konnte man zunächst nur per Mail Stellung nehmen zu einem Artikel oder einer Sendung, aber schon das war eine Erleichterung, weil es per Mail schneller und einfacher ging. Seit aber die Sender den Empfängern die Möglichkeit eröffneten, direkt und sofort mit eigenen Kommentaren auf einen Artikel oder eine Sendung zu reagieren, und alle anderen diese Kommentare mitlesen und ebenfalls darauf reagieren können, ist das Verhältnis zwischen Sender und Empfänger grundlegend anders.

Früher saß der Redakteur fast unangreifbar auf hohem Ross. Durch die Existenz des Rückkanals wurde er gezwungen, von seinem Ross herabzusteigen und sich auf Augenhöhe zu begeben mit Lesern, Hörern, Zuschauern. Der Leitartikler oder Star-Kolumnist kann jetzt für alle sichtbar unflätig beschimpft oder sachlich und fachkundig korrigiert werden. Und er muss zur Kenntnis nehmen, dass andere gelegentlich auf dem gleichen Niveau ebenso fundierte Gegenleitartikel und Gegenkolumnen zu schreiben imstande sind wie er. Außerdem erhält jeder Chefredakteur genaue Angaben darüber, wie oft ein Artikel gelesen und über die sozialen Medien weiterverbreitet wurde, und so mancher Redakteur lernt staunend, dass die »Netzgemeinde« ganz andere Artikel für interessant und wichtig hält als die Redaktion.

Auch die sogenannte Cloud, jene »Wolke«, die in Wahrheit aus Millionen von Speichermedien in fest auf der Erde ruhenden Gebäuden besteht, hat den einzelnen Empfänger gegenüber seinem Sender gestärkt. Hat früher der eigentliche Feierabend in der Familie damit begonnen, dass diese sich um 19.00 Uhr vor heute oder um 20.00 Uhr vor der Tagesschau versammelte, so bestimmt nun jeder Einzelne selbst, wann er sich die Nachrichten ansieht, die in der Cloud gespeichert sind und jederzeit von jedem Ort der Welt aus abgerufen werden können. Auch die Versammlung der Familie am Samstagabend vor der großen TV-Unterhaltungsshow gibt es nicht mehr. Zu weit haben sich die Interessen der individualistischen Familienmitglieder auseinanderentwickelt, als dass es noch möglich wäre, diese zur selben Zeit am selben Ort fürs selbe Programm zu interessieren. Jeder ist heute sein eigener Programmdirektor und entscheidet selbst, wann er was guckt, hört oder liest, und ob er dies auf Papier, mit dem iPad, Smartphone, Computer oder dem guten alten TV-Gerät tut, das bald ebenso aus der Welt verschwinden wird, wie schon Plattenspieler, Tonbandgerät, CD-Player und Radiogerät verschwunden sind.

Was bleiben wird, ist die immer flacher werdende Scheibe in der Hand, die einst ein mobiles Telefon war, Handy genannt wurde und sich inzwischen unter der Bezeichnung Smartphone zu einer Art Zauberstab weiterentwickelt hat. In ihm stecken all die Geräte von früher und noch mehr: das Telefon und der elektronische Briefkasten, das Navi und die Bank, die Zeitung und das Fernsehen, die amerikanische TV-Serie und die Blockbuster von Amazon, Apple, Netflix oder der Telekom, Videos und Musik von Youtube oder Spotify, neue Apps und deren Updates, Bücher und Hörbücher. Mit dieser Scheibe in der Hand bezahlt man seine Einkäufe, bucht Reisen und kommuniziert mit der Familie, den Freunden und dem Arbeitgeber.

Die vielleicht einschneidendste Änderung sind die sozialen Medien, die den Unterschied zwischen Sender und Empfänger vollends egalisieren und in Konkurrenz treten zu den etablierten Medien. Jeder kann heute Sender und Empfänger zugleich sein. Jeder kann Empfehlungen, Meinungen, Berichte, Reportagen, Fotos, Videos »ins Netz stellen« und sie für jeden anderen auf dieser Welt zum Lesen, Hören, Sehen, Teilen und Kommentieren verfügbar machen. Jeder kann ein Buch rezensieren, das er gelesen hat, Film-, Theater- und Konzertkritiken veröffentlichen, eine Hotel- oder Restaurantkritik schreiben. Jeder kann über seine Erfahrungen mit Händlern, Dienstleistungen, gekauften Produkten berichten. Jeder kann Verleger, Kritiker, Leitartikler, Reporter sein. Künstler, Sänger, Bands, Autoren können an den etablierten Industrien vorbei Geld verdienen, berühmt werden oder einfach nur ihr Ding machen, ohne dass ihnen Dutzende Besserwisser dreinreden.

Alles zusammen verändert die gesamte Medienproduktion und zugleich die Art, wie wir uns informieren und wie wir miteinander kommunizieren, von Grund auf und stellt uns vor die Frage, wie seriöser Qualitätsjournalismus weiterhin garantiert werden kann, wenn sein bisheriges Finanzierungsmodell nicht mehr funktioniert. Und vor die noch grundlegendere Frage: Wie kann unter den neuen Bedingungen der Hirnfutterproduktion deren Sauberkeit, Zuverlässigkeit und Qualität gewährleistet werden?

Facebook und Twitter sind heute voll von Fake Accounts, Fake News, Meinungsrobotern, Propagandaschleudern, Hoaxes und Trollen. Das meiste dessen, was im Netz veröffentlicht wird, ist leeres Stroh und Geschwätz, produziert von Pseudokritikern, Pseudojournalisten, Amateurautoren und der Sprache nicht mächtigen Trägern von »Geheimwissen«, die mit profunder Ignoranz, Unprofessionalität und trüben Quellen mehr Verwirrung als Aufklärung produzieren. Dazu kommt dann noch ein wachsender Ausstoß an Werbung, PR, Propaganda und Betrug. Es lässt sich derzeit kaum ermitteln, was größer ist: die Summe an kursierender Information oder die Summe an kursierender Desinformation. Und selbst wenn sich belegen ließe, dass die Summe an Information die Summe an Desinformation übertrifft, könnte es sein, dass der Desinformation mehr Aufmerksamkeit geschenkt und eher geglaubt wird und vor allem jene sozial Benachteiligten darauf hereinfallen, die gute seriöse Information besonders nötig hätten.

Was also sind wir? Eine Informationsgesellschaft oder eine Desinformationsgesellschaft? Eine Wissensgesellschaft oder ein Konglomerat von Verschwörungsgemeinschaften? Das Fragen danach fängt gerade erst an, der Umgang mit dem Neuen muss erst noch erlernt werden, und die Frage, wem man denn inmitten dieses Informationschaos noch trauen kann, bekommt eine geradezu existenzielle Bedeutung für das Leben jedes Einzelnen wie für die Entwicklung ganzer Gesellschaften, Nationen und der Demokratie.

Daher ist es tatsächlich gerade jetzt, inmitten dieses revolutionären Umbruchs, überlebensnotwendig zu fragen, wie gut denn die alten und neuen Medien informieren. Woher sollen Leser, Hörer, Zuschauer die Gewissheit nehmen, dass sie von den Medien nicht getäuscht und nicht belogen werden? Woher soll man wissen, ob die Menschen, die in den Medien arbeiten, nicht von irgendwelchen Mächten dafür bezahlt, gezwungen oder zumindest gegängelt werden? Wie ist auszuschließen, dass Journalisten nicht einfach nur dazu benutzt werden, etwas zu verkaufen, mit billiger Unterhaltung vom Wichtigen abzulenken oder die Massen zu manipulieren?

Selbst wenn sie sich ehrlich mühen, als Beobachter des Weltgeschehens so wahrhaftig und objektiv wie möglich ein getreues Abbild dessen zu liefern, was sie sehen und hören – wie kann man ausschließen, dass diese Beobachter nicht schwerhörig, kurzsichtig, weitsichtig, farbenblind sind? Oder schlecht platziert? Oder sie werden am Beobachten gehindert oder blicken aus Gewohnheit immer in dieselbe Richtung. Was lässt uns glauben, dass das, was die Medien berichten, im Großen und Ganzen schon stimmen wird? Wann kann man sich nach den Nachrichten richten? Und wann sollte man das eher nicht tun? Lässt sich lernen, welchen Nachrichten und Medien man in welchem Maß trauen kann und welchen eher nicht?

Wir behaupten: Ja. Das kann man lernen, indem man lernt, wie die Medien funktionieren, welchen Mechanismen sie gehorchen und welchen Zwängen sie unterliegen. Wer das lernt, entwickelt ein kritisches Bewusstsein dafür, welche Quelle seriös ist und welche eher nicht. Wer weiß, wie die Medien funktionieren, kann besser nachvollziehen, wie eine Meinung im Kopf entsteht und worauf dieser Kopf achten muss, um sich unabhängig und frei ein eigenes kritisches Urteil bilden zu können. Das ist der Zweck dieses Buches.

Wir werden daher die Gesamtheit der Medien als eine Maschine beschreiben und zeigen, nach welchen Regeln sie funktioniert. Wir werden sagen, wem sie gehört, was sie antreibt, wer sie bedient, was das für Menschen sind, von welchen Interessen sie sich leiten lassen, wo ihre Macht aufhört und ihre Ohnmacht beginnt. Wir beschreiben aus eigenem Erleben und mithilfe der Aussagen und Erfahrungen von Kollegen, wo, wann und unter welchen Bedingungen diese Maschine verlässlich arbeitet und wie sie ins Schlingern kommt. Wir schildern die Qualitätskontrollen, die Fehlerquellen und die Fehlerkorrekturen, aber auch die Zwänge, denen alle Bediener der Maschine unterworfen, die Versuchungen, denen sie ausgesetzt, und die unlösbaren Probleme, mit denen sie konfrontiert sind. Und wir benennen die wahrheitsfördernden Mechanismen, auf die man sich als Medienkonsument auch dann verlassen kann, wenn man uns und den Produkten dieser Maschine, ihren Besitzern und Bedienern zutiefst misstraut.

Wir werden begründen, warum eine nicht zu beseitigende Kluft besteht zwischen der wirklichen Welt da draußen und dem medial konstruierten Abbild von dieser Welt. Wir wollen versuchen, die Frage, wem man warum trauen kann, nach bestem Wissen und Gewissen so zu beantworten, dass die Antworten auch dann noch überzeugen, wenn man uns, den beiden Autoren, keinen Meter über den Weg traute. Wir hoffen natürlich, dass es uns gelingt, das Vertrauen unserer Leser zu gewinnen, bemühen uns aber zuvörderst, die Tatsachen selbst so sprechen zu lassen, dass die Leser daraus für sich die richtigen Schlüsse ziehen können.

Wir wollen den Dschungel lichten, gangbare Wege in ihn hauen und Wegweiser errichten für all jene, die für Tatsachen und Argumente noch empfänglich sind, wissend, dass wir die anderen nicht mehr erreichen werden, die den Medien und überhaupt allen »denen da oben« das Vertrauen entzogen haben, um sie zu bestrafen. Wer sich entschlossen hat, »die da oben« zu bestrafen, will davon durch Argumente nicht mehr abgebracht werden. Daher sind auch nicht die Scharfrichter unsere Zielgruppe, sondern die Fragenden, denen Tatsachen, Fakten, Logik, Argumente und Vernunft noch etwas bedeuten.

Wohin die neue Daten-Galaxis treiben wird, ob das Leben in ihr lebenswerter, besser, sicherer, freier sein wird als in der Gutenberg-Galaxis, oder schlechter, unfreier, gefährlicher, wird in erheblichem Maße davon abhängen, wie wahrhaftig, umfassend und gut die Menschen auf diesem Globus informiert werden und ob sie gebildet genug sein werden, um von sich aus nach Wahrheit, Information und unabhängigem Qualitätsjournalismus zu verlangen.

Darum irrt, wer denkt, das Schicksal der Medien und der Medienschaffenden könne ihm gleichgültig sein. Das Schicksal der Demokratie und das Schicksal jedes Einzelnen hängt direkt vom Schicksal der Medien ab.

DREI

Misstrauensvotum

»Donald Trump wird zwar niemals amerikanischer Präsident, aber er leistet wertvolle therapeutische Dienste in einem zutiefst neurotischen Land«, schrieb ungefähr ein Jahr vor der US-Präsidentenwahl Markus Günther in der FAS (02.08.2015). Diesem Satz ließ Günther eine sehr genaue Personenbeschreibung des heutigen Präsidenten folgen, die mit sehr einleuchtenden Begründungen, warum Trump die Wahl nicht gewinnen könne, endete: »Trump hat weder in der eigenen Partei noch in der amerikanischen Öffentlichkeit eine halbwegs relevante Unterstützung. (…) Welcher Kandidat wird am meisten gehasst? Donald Trump. Und welcher Kandidat liegt in den wichtigen Vorwahlstaaten am weitesten zurück? Donald Trump. Gegen welchen Republikaner würde Hillary Clinton mit dem größten Vorsprung gewinnen? Donald Trump. Seine Kandidatur ist ein Skandal und eine Gaudi, eine Art Wirtshausschlägerei im Politikbetrieb. Aber sie wird bedeutungslos bleiben.«

Dann wurde Donald Trump zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt.

Was David Letterman und andere Komiker regelmäßig aus ihrer Witzkiste gezogen hatten, wenn sie einen sicheren Lacher brauchten – Trump wird Präsident –, war plötzlich Realität. Auch die Macher der Zeichentrickserie Die Simpsons waren schon vor vielen Jahren auf die Idee gekommen, mal durchzuspielen, was passierte, wenn Trump Präsident würde. Es endete mit dem Staatsbankrott.

Immerhin hatte sich der FAS-Journalist mehr als ein ganzes Jahr vor der Wahl geirrt. Fast alle anderen Experten hatten noch bis kurz vor Schließung des letzten Wahllokals Hillary Clinton vorn gesehen. In Deutschland ging man also zu Bett mit dem Gedanken: Es wird wohl auf Clinton hinauslaufen. Aufgewacht ist man mit jenem Donald Trump, der sich schon mal darüber freute, dass man als Promi mit Frauen machen kann, was man will, sie zum Beispiel auch einfach »an der Pussy« packen.

Und so eröffnete Seth Meyers seine Late-Night-Show am Abend nach der Wahl mit den Worten: »So, das war jetzt ein echter Griff an die Pussy. Wir haben 18 Monate lang über Trump geredet, und ich lag jedes Mal falsch. Ich habe gesagt, er würde nie kandidieren, niemals die Kandidatur der Republikaner gewinnen und definitiv niemals Präsident werden. Die gute Nachricht: Basierend auf meinen Vorhersagen könnte es sein, dass er ein verdammt guter Präsident wird. Lasst uns einfach hoffen.«

Das selbstironische Eingeständnis seines Irrtums dürfte Meyers nicht sonderlich schwer gefallen sein, befand er sich doch in bester Gesellschaft fast aller Experten, Demoskopen und Journalisten. »Trump hatte nicht nur Hillary Clinton besiegt, sondern praktisch alle Meinungsforscher. Elf von zwölf Instituten hatten die Demokratin in ihren letzten Prognosen vorne gesehen, die meisten mit drei oder vier Punkten, einige mit fünf oder sechs.«8 Und so gut wie alle Medien beteten kritiklos nach, was die Umfrageexperten sicher zu wissen glaubten.

Als dann der Fall eingetreten war, von dem bis zur letzten Minute behauptet wurde, er werde niemals eintreten, konnten dieselben Experten in der nächsten Minute genau erklären, warum dieser Fall zwangsläufig eintreten musste, was Hillary Clinton alles falsch gemacht hatte und warum die Wähler der prüden, politisch korrekten Vereinigten Staaten von Amerika sich mehrheitlich, wenn auch knapp, für einen Mann entschieden hatten, der seinen Wahlkampf mit rassistischen, sexistischen, islamophoben Sprüchen, Lügen, Selbstwidersprüchen, Beleidigungen und üblen Beschimpfungen bestritten hatte.9

Und die Welt hatte ein Déjà-vu-Erlebnis: War nicht erst ein paar Monate zuvor die Abstimmung über den Brexit ebenfalls ganz anders ausgegangen als von den meinungsführenden Eliten vorhergesagt? Und sind wir hinterher nicht ebenfalls mit Erklärungen überschwemmt worden für das Abstimmungsverhalten der Briten?

Der Brexit und die Trump-Wahl waren weiteres Wasser auf die Mühlen derer, die sich schon seit einiger Zeit sehr sicher sind, dass sie von »denen da oben« – Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Medien werden da gerne in einen Topf geworfen – immer nur belogen und betrogen werden.

Spätestens nach dieser US-Präsidentenwahl konnten sechs deutsche Journalisten eine »noble Aufgabe« abhaken, die sie sich ein paar Jahrzehnte zuvor selbst gestellt hatten. Im Jahr 1984 hatten diese sechs – fünf Journalistenschüler und ihr Lehrer Wolf Schneider – forsch in ein Buch hineingeschrieben: »70 Prozent der Bundesbürger trauen dem, was sie im Rundfunk hören! Das sollten wir ihnen abgewöhnen. Misstrauen zu hegen und auszubreiten ist für Journalisten eine noble Aufgabe.«10

Längst kann man ihnen zurufen: Aufhören! Plansoll übererfüllt.

Das Misstrauen ist kaum mehr zu bändigen, und Hans-Josef Susenburger, Herrscher über das Archiv der FAZ, ist unser Zeuge. Befragt, was es denn so für Bücher zum Thema »Lüge« gebe, präsentierte er dem Redakteur Jan Grossarth im Handumdrehen eine keineswegs vollständige Liste aus mehr als zwei Dutzend Buchtiteln der letzten Jahre, und zwar: Inflationslüge, Pensionslüge, Schöpfungslüge, Vorsorgelüge, Weiterbildungslüge, Joghurtlüge, Reformlüge, Soziallüge, Glückslüge, Geschlechterlüge, ADHS-Lüge, Supermarktlüge, Cholesterinlüge, CIA-Lüge, Methusalemlüge, All-inclusive-Lüge, Burn-out-Lüge, Reformlüge, Patchworklüge, Talentlüge, Mondlüge, Atomlüge, Ökolüge, Tetanuslüge, Pharmalüge und die Virenlüge. Und da war das Standardwerk der neuen Aufklärung noch gar nicht dabei: So lügen Journalisten vom Journalisten Udo Ulfkotte.11

Danach nannte Grossarth ein paar Neuerscheinungen des Jahres 2015: die Alles-ist-möglich-Lüge, Milchlüge, Mutterglück-Lüge, Fleiß-Lüge. Auch diese Aufzählung ist nicht vollständig, und es wäre eigentlich höchste Zeit für ein Buch mit dem Titel »Die Lügenlüge«.

Aber das lässt wohl noch ein wenig auf sich warten, denn im Jahr 2016 drehte sich das Karussell weiter mit anscheinend ganz neuen misstrauensbildenden Phänomenen wie Fake News, Social Bots, Hate Speech, Microtargeting und Meinungsrobotern. »Das Netz«, das bisher immer die Beweise für die Lügen der »Mainstreammedien« geliefert hat, ist im Herbst des Jahres 2016 selbst als größte Lügen- und Desinformationsschleuder in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Dann kam Donald Trump und gewann mithilfe dreister Lügen die Präsidentenwahl in den USA, wie schon zuvor die Befürworter des Brexit in Großbritannien die Abstimmung mithilfe von Lügen gewonnen hatten.

So entließ das Jahr 2016 die Bundesbürger mit der Frage »Wem kann man denn überhaupt noch trauen?« ins Jahr 2017. Und es war nun nur noch eine Frage der Zeit, bis der erste Alphajournalist einen Epochenwechsel ausrufen würde. Spannend blieb allein die Frage, ob der Ausrufer Gabor Steingart, Henryk M. Broder, Hans-Ulrich Jörges, Sascha Lobo, Jürgen Todenhöfer oder Jakob Augstein heißen würde. Der Preis ging dann an Augstein, der erkannt hatte: »Wir stehen am Anfang eines neuen Zeitalters. Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht.«12

Zu den Berufskrankheiten der Journalisten gehört – neben dem Zynismus – der Hang zur Übertreibung. Daher rufen sie gerne alle paar Tage den Epochenwechsel, ein neues Zeitalter, das Weltbeben, die Götterdämmerung, den Methusalemkomplex, die Selbstabschaffung Deutschlands, des Abendlands, der Welt oder deren Untergang aus.

Und darum folgt jetzt eine der wichtigsten Regeln für Medienkonsumenten: Wenn ein Journalist mit einer ganz großen Sache kommt, dann vermuten Sie, dass er übertreibt. Wenn also einer ein neues Zeitalter ausruft, in dem die Lüge »zur Weltordnung gemacht wird«, dann könnte es sein, dass es ganz so schlimm vielleicht doch nicht ist. Möglicherweise ist es nur so, dass neuerdings etwas mehr gelogen wird als sonst. Vielleicht ist es aber auch nur so, dass jetzt plötzlich alle über die Lüge schreiben, weil alle darüber schreiben, und wenn alle darüber schreiben, bekommt man nur dann noch die höchste Aufmerksamkeit, wenn man am stärksten reinknallt.

Daher empfiehlt es sich für den um Aufmerksamkeit ringenden Journalisten, eine neue Epoche auszurufen. Und für den an Wahrheit interessierten Leser empfiehlt es sich aus demselben Grund, gelassen zu bleiben, die Ausrufung einer neuen Epoche zu den übrigen Epochenwechselausrufungen zu legen, aber wachsam zu bleiben für wirkliche Epochenwechsel.

Es hilft, seinen eigenen Verstand einzuschalten und von seinem eigenen Welt- und Alltagswissen Gebrauch zu machen. Und das sagt einem sofort: Dreist gelogen wurde schon immer, in jeder Epoche. Um das Jahr 800 etwa präsentierte beispielsweise die Kirche der staunenden Welt eine Urkunde, die »bewies«, dass der römische Kaiser Konstantin (gestorben im Jahr 337) die Kirche mit Reichtümern geradezu überschüttet habe. Aus Dankbarkeit für seine Heilung von der Lepra soll er zum Christentum konvertiert sein und Papst Silvester I. (314–335) die Herrschaft über Rom, Italien, die gesamte Westhälfte des Römischen Reichs, aber auch das gesamte Erdenrund mittels Schenkung übertragen haben. Auf dieses Dokument gründete die Kirche ihre Machtstellung und territorialen Ansprüche, bis es im 15. Jahrhundert als Fälschung entlarvt wurde – was die Kirche nicht daran hinderte, ein paar weitere Jahrhunderte lang ihre Ansprüche zu behaupten mit dem Argument, auch wenn das Papier gefälscht sei, so habe es dennoch die Schenkung gegeben.13 Erst im 19. Jahrhundert erkannte der Vatikan offiziell an, dass der Anspruch auf weltliche Macht nicht durch ein Geschenk des römischen Kaisers gerechtfertigt war. Und erst 2006 verzichtete Papst Benedikt XVI. auf den Titel »Patriarch des Abendlandes« und ließ aus seinem Wappen die Tiara, das Zeichen der weltlichen Gewalt, entfernen.14

Seien wir also ehrlich: Das »Zeitalter der Lüge« hatte begonnen, als Adam seiner Eva die Schuld gab für den verbotenen Genuss der Frucht vom Baum der Erkenntnis. Seitdem hat das Lügen nicht mehr aufgehört, und wenigstens in unserem Kurzzeitgedächtnis sollten noch Reste jener beruhigenden Geschichten vorhanden sein, die uns von Politikern erzählt wurden über die Sicherheit der Renten, die Rettung Griechenlands, die Kosten der Elbphilharmonie, die Fertigstellung des Berliner Flughafens, das Ende der NSA-Schnüffelei in Deutschland, die Massenvernichtungswaffen im Irak oder die zeitlich limitierte Erhebung des Solidaritätszuschlags für die ehemals neuen Bundesländer. Oder die Geschichten des Bischofs Tebartz-van Elst, der mit ein paar kleineren Baumaßnahmen seinen Limburger Bischofssitz für gerade mal 5,5 Millionen Euro verschönern wollte und am Ende eine Rechnung über mehr als 31 Millionen Euro präsentierte.15

»Überhaupt sagten bis soeben noch alle die Wahrheit: die Eheleute einander, die Bürger dem Finanzamt, die Eltern den Kindern, die Chefs den Beschäftigten und diese ihnen, die Kirche den Gläubigen und die Sportler den Dopingkommissionen. Darum konnten auch die Massenmedien, allein schon um nicht negativ aufzufallen, gar nicht anders, als ihrerseits stets bei den Tatsachen zu bleiben. Bis vor Kurzem gab es beispielsweise gar keine Bild-Zeitung. Lange war sie eine Erfindung von Günter Wallraff. Der hat – wahrscheinlich, wir wollen ja nichts Falsches behaupten – im neunzehnten Jahrhundert auch das Wort ›Ente‹ erfunden«, spottete kürzlich der FAZ-Mitherausgeber Jürgen Kaube16 Und die Existenz von Bielefeld ist ja auch nur ein Gerücht.

Schon lange gibt es anerkannte Fake-News-Produzenten, die als »Werbeagenturen« zu bezeichnen wir uns angewöhnt haben. Auch schon ziemlich lange leben wir mit Dampfplauderer-Programmen und Ratgeber-Journalismus auf allen Kanälen, mit der Mode-, Fitness- und Wunderheilerpresse, dem Wachtturm und den Esoterik-, Horoskop- und Hokuspokus-Blättern, von denen die allermeisten in der Regel höhere Werte kennen als die nachprüfbare Wahrheit.

Und schließlich ist da noch die gute alte Regenbogenpresse, die gar nicht existieren könnte ohne Lüge, die geradezu deren Geschäftsgrundlage ist. Es soll zwar noch Menschen geben, die das nicht wissen, aber die Mehrheit greift beim Friseur oder in der Arztpraxis doch eher nur deshalb zu dem einen oder anderen Blatt dieses Genres, um zu sehen, welche Lüge sie sich diesmal wieder ausgedacht haben.

Wer es genauer wissen will, dem sei die Kolumne von Jörg Thomann in der FAS empfohlen. Woche für Woche trennt er dort auf höchst vergnügliche Weise die Spreu von der Spreu bei der Adels- und Königshaus-Berichterstattung und nimmt Anteil an den Dramen, die sich in den Adelsresidenzen abspielen, deren Türen für die »High-Society«-Reporter aber genauso versperrt sind wie für jeden Normalsterblichen. Also sind die Reporter auf ihre Fantasie angewiesen, und diese Fantasien nimmt Thomann einfühlsam beim Wort.

Wenn etwa die Neue Post dem Prinzen Harry eine Sängerin namens Joss Stone andichtet und eine »Blitz-Hochzeit noch in diesem Jahr« erwartet, während das Goldene Blatt von einer Chelsy weiß und mit »Hochzeit & ein Baby« auftrumpft, sorgt sich Thomann: »Ist Harry Bigamist? Ziehen sie zu dritt dort [in die kürzlich gekaufte Water Hall Farm in der Grafschaft Norfolk] ein? Oder setzt er darauf, dass sich in einem Anwesen mit so vielen Zimmern Joss und Chelsy womöglich nie über den Weg laufen werden?«17

Die Blätter, die mit Fiktionen handeln, sind bei Thomann in besten Händen, aber während dieser die Yellow-Press-Erfindungen mit abgeklärtem Humor zerpflückt, recherchieren zwei junge Newcomer, Mats Schönauer und Moritz Tschermak, den Schocknachrichten und Familiendramen von »Herzogin Kate & William«, »Maxima & Alexander« und »Kronprinzessin Victoria« mit aufklärerischem Furor hinterher. In ihrem eigens dafür gegründeten Watchblog Topfvollgold.de berichten sie ihren Lesern, was wirklich geschah: Das Drama bei Maxima bestand darin, dass sie abgenommen hat. Ein anderes Mal taten ihr die Knie weh. Victoria konnte ihre Patenkinder nur selten besuchen. Und in der Nähe des Landsitzes von Kate steht ein giftiger Strauch.

Längst haben wir gelernt, mit der Lüge zu leben.

Und doch ist spätestens seit Trump und auch Erdoğan etwas neu, zumindest in den demokratischen Ländern: Wahrheit als Norm hat – vorübergehend, wie wir glauben und später noch begründen werden – ihre Gültigkeit verloren. In der Demokratie stehen Politiker stets unter dem Generalverdacht, dass sie lügen, daher verwendeten sie bis vor Kurzem viel Energie darauf, als ehrlich, aufrichtig, wahrhaftig zu erscheinen. Die größten Lügner und Heuchler unter ihnen erkannten also immerhin die Norm der Wahrhaftigkeit als gültig an und sahen sich mit Rücktrittsforderungen konfrontiert, wenn sie beim Lügen ertappt wurden.

Das ist seit Trumps Wahlerfolg nicht mehr so. Trump hat bewiesen, dass man es mit offensichtlichen, dreisten Lügen bis ins Weiße Haus schaffen kann, wo er nun unbekümmert weiterlügt, ja die Lüge zur Staatskunst erhebt – in der nicht ganz vergeblichen Erwartung, dass man etwas nur oft genug behaupten müsse, damit es irgendwann von vielen geglaubt wird. Zumindest seine Anhänger verübeln ihm das Lügen nicht und sagen sich: Die anderen haben doch schon immer genauso gelogen, also lassen wir uns lieber von einem der Unseren belügen als von den anderen.

Dieses Novum in Demokratien führt zu einer bestürzenden Gefahr: Eine Gesellschaft, die den Erfolg vergötzt, neigt dazu, den Verstoß gegen die Norm hinzunehmen, wenn er zum Erfolg führt. Schon lange gilt das »taktische Foul« im Fußball nicht mehr als unsportlich, sondern als professionell. In der Politik scheint das jetzt auch einzureißen. Deshalb sehen wir nun überall in der Welt kleine Trumps nachwachsen, die bewusst Foul spielen. Putin spielt schon immer so, Erdoğan versucht gerade, ihn darin zu übertreffen, und die Wilders, Kaczyńskis, Le Pens, Farages und Johnsons eifern ihm alle nach.

Als wäre das alles nicht schon deprimierend genug, taucht immer häufiger der Verdacht auf, dass auch die Medien mitspielen. Wenn er sich als wahr erwiese, wäre das noch katastrophaler für unsere Demokratie als lügende Politiker, die ungeschoren davonkommen.

VIER

Lügenpresse? Das war gestern!

Längst haben wir gelernt, mit der Lüge zu leben. Als im Januar 2014 herauskam, dass der ADAC bei der Vergabe des Autopreises »Gelber Engel« das Ranking über Jahre hinweg gewohnheitsmäßig manipuliert hatte, und als dann nebenbei auch publik wurde, wie das ADAC-Führungspersonal den milliardenschweren gemeinnützigen Verein als Selbstbedienungsladen missbrauchte, fragwürdige Geschäfte betrieb und seine Pannenhelfer anwies, Autofahrern überteuerte Batterien zu verkaufen, war die Empörung groß, aber nicht von Dauer. Nur 320 000 der rund 20 Millionen ADAC-Mitglieder kündigten ihre Mitgliedschaft. Gleichzeitig traten aber 370 000 Autofahrer neu ein,18 vermutlich mit dem pragmatischen Gedanken: Sollen sie ruhig lügen, Hauptsache, sie kommen, wenn ich mit meinem Auto eine Panne habe.

Auf solch einen abgeklärten Pragmatismus hofft die gebeutelte »Lügenpresse« vergeblich. Hier kennen viele kein Pardon. Aber warum? Warum diese Wut in den sozialen Medien gegen die »gleichgeschalteten Mainstream-Medien«, die »Systempresse« und die »Zwangsgebührensender«? Warum der laute Ruf nach Wahrheitskommissionen, dem Staat, der Polizei, die den Fake News den Kampf ansagen sollen?