Charlotte Löwensköld - Selma Lagerlöf - E-Book

Charlotte Löwensköld E-Book

Selma Lagerlöf

0,0
19,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Exklusive Neuübersetzung der ersten Literaturnobelpreisträgerin

Die junge Charlotte Löwensköld ist glücklich. Seit fünf Jahren ist sie dem Hilfspfarrer Karl-Artur Ekenstedt versprochen, und nicht im Entferntesten würde sie daran denken, diese Verbindung zu lösen. Auch nicht, als der reiche Bergwerksdirektor Schagerström eines Tages um ihre Hand anhält. Charlotte lehnt den Heiratsantrag entschieden ab, doch der mittellose und asketisch lebende Karl-Artur steigert sich zunehmend in seine Eifersucht hinein. Während Charlotte versucht, sich mit ihm auszusöhnen, beginnt sie immer verzweifelter, um ihr eigenes Glück zu kämpfen …

Mit Charlotte Löwensköld schuf die Nobelpreisträgerin Selma Lagerlöf ein modernes Meisterwerk, das ein von der Kirche erschaffenes Frauenbild entlarvt, welches die bedingungslose Aufopferung gegenüber dem Mann verlangt.

In frischer Neuübersetzung von Paul Berf.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 432

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die junge Charlotte Löwensköld ist glücklich. Seit fünf Jahren ist sie dem Hilfspfarrer Karl-Artur Ekenstedt versprochen, und nicht im Entferntesten würde sie daran denken, diese Verbindung zu lösen. Auch nicht, als der reiche Bergwerksdirektor Schagerström eines Tages um ihre Hand anhält. Charlotte lehnt den Heiratsantrag entschieden ab, doch der mittellose und asketisch lebende Karl-Artur steigert sich zunehmend in seine Eifersucht hinein. Während Charlotte versucht, sich mit ihm auszusöhnen, beginnt sie immer verzweifelter, um ihr eigenes Glück zu kämpfen …

Mit Charlotte Löwensköld schuf die Nobelpreisträgerin Selma Lagerlöf ein modernes Meisterwerk, das ein von der Kirche erschaffenes Frauenbild entlarvt, welches die bedingungslose Aufopferung gegenüber dem Mann verlangt.

In frischer Neuübersetzung von Paul Berf.

Selma Lagerlöf

CHARLOTTE LÖWENSKÖLD

Aus dem Schwedischen von Paul Berf

Mit einem Nachwort von Mareike Fallwickl

MANESSE VERLAG

Die Oberstin

I.

Einst gab es in Karlstad eine Oberstin, die Beate Ekenstedt hieß.

Sie war eine Löwensköld vom Landgut Hedeby und somit eine geborene Freiherrin, und sie war so zart, und sie war so liebenswürdig, und sie war so gebildet, und sie konnte Verse schreiben, die so unterhaltsam waren wie die von Frau Lenngren1.

Sie war klein, hatte aber wie alle Löwenskölds eine aufrechte Körperhaltung und ein interessantes Gesicht. Sie sagte allen, denen sie begegnete, schöne und charmante Dinge. Sie hatte etwas Romantisches an sich, und wer sie einmal gesehen hatte, konnte sie nie mehr vergessen.

Sie kleidete sich exquisit und war immer sehr gut frisiert, und wohin sie auch kam, sie war stets die Frau mit der hübschesten Brosche und dem geschmackvollsten Armband und dem funkelndsten Brillantring. Außerdem hatte sie die kleinsten Füße, die ein Mensch nur haben kann, und unabhängig davon, ob sie nun gerade in Mode waren oder nicht, trug sie ausnahmslos kleine, hochhackige Schuhe, die mit Goldbrokat besetzt waren.

Sie wohnte im vornehmsten Haus Karlstads, und es lag nicht mitten im Häusergewirr in den engen Gassen, sondern am Ufer des Klarälven, sodass die Oberstin von ihrem kleinen Kabinett auf das Wasser des Flusses hinabblicken konnte. Sie erzählte des Öfteren, eines Nachts, als klarer Mondschein auf dem Fluss lag, habe sie direkt unter ihrem Fenster den Wassergeist Nix sitzen und auf seiner Goldharfe spielen gesehen. Und niemand bezweifelte, dass sie richtig gesehen hatte. Warum sollte der Nix Oberstin Ekenstedt kein Ständchen darbringen wollen wie so viele andere auch?

Jeder wohlgeborene Reisende, der nach Karlstad kam, begab sich zur Oberstin, um ihr seine Aufwartung zu machen. Alle waren sofort entzückt von ihr und fanden es hart, dass sie in einer Kleinstadt begraben war. Man erzählte sich, Bischof Tegnér2 habe ein Gedicht für sie geschrieben und der Kronprinz habe erklärt, sie besitze den Charme einer Französin. Selbst General von Essen und andere, die noch die Zeit König Gustavs III.3 erlebt hatten, mussten zugeben, Diners wie die, zu denen sie bei Oberstin Ekenstedt eingeladen wurden, hatten sie nirgendwo sonst erlebt, weder was das Essen, noch was die Bewirtung oder Konversation betraf.

Die Oberstin hatte zwei Töchter, Eva und Jaquette. Es waren anmutige und freundliche Mädchen, und wo immer sie auf der Welt gelebt hätten, wären sie bewundert worden und beliebt gewesen, aber in Karlstad würdigte sie niemand auch nur eines Blickes. Dort wurden sie von ihrer Mutter völlig in den Schatten gestellt. Wenn sie auf einen Ball kamen, wetteiferten die jungen Herren darum, mit der Oberstin tanzen zu dürfen, wohingegen Eva und Jaquette sitzen bleiben und ein Dasein als Mauerblümchen fristen mussten. Und wie gesagt, nicht nur der Nix brachte vor dem Haus der Ekenstedts ein Ständchen dar, doch nie sang jemand unter den Fenstern der Töchter, immer nur unter dem der Oberstin. Junge Poeten verfassten Verse für B. E., aber nicht einer dichtete ein paar Strophen für E. E. oder J. E. Böse Zungen behaupteten, als einmal ein Leutnant um die Hand der kleinen Eva Ekenstedt anhielt, habe er einen Korb bekommen, weil die Oberstin der Meinung gewesen sei, er habe einen schlechten Geschmack.

Die Oberstin hatte auch einen Oberst, einen prächtigen und guten Mann, dem man überall sonst mit Hochachtung begegnet wäre, nur in Karlstad nicht. In Karlstad verglich man den Oberst mit der Oberstin, und wenn man ihn neben seiner Gattin sah, die so brillant und ungewöhnlich und einfallsreich und spielerisch lebhaft war, fand man, dass er aussah wie ein Bauer. Die Leute, die in seinem Haus zu Gast waren, machten sich nicht die Mühe, zu hören, was er sagte, sie schienen ihn gar nicht zu sehen. Es war nicht etwa so, dass die Oberstin all denen, die sie umschwärmten, auch nur den kleinsten ungehörigen Annäherungsversuch gestattet hätte; an ihrem Lebenswandel war nichts auszusetzen, aber ihren Mann aus der Versenkung zu holen, daran dachte sie nie. Vermutlich fand sie, dass es am besten zu ihm passte, unbemerkt zu bleiben.

Doch diese charmante Oberstin, diese gefeierte Oberstin hatte nicht nur einen Mann und zwei Töchter, sondern auch einen Sohn. Und diesen Sohn liebte sie, ihn bewunderte sie, ihn zog sie bei jeder erdenklichen Gelegenheit ins Licht. Ihn zu vernachlässigen oder zu übersehen war für alle, die im Hause Ekenstedt zu Gast waren, unmöglich, sofern sie darauf hoffen wollten, ein weiteres Mal eingeladen zu werden. Allerdings soll auch nicht verschwiegen werden, dass die Oberstin allen Grund hatte, auf ihren Sohn stolz zu sein. Er war weder unverschämt noch aufdringlich wie andere verwöhnte Kinder. Er schwänzte nicht die Schule, und er spielte den Lehrern keine Streiche. Er war romantischer veranlagt als seine Schwestern. Noch ehe er acht war, konnte er richtig hübsche Verse schmieden. Manchmal lief er zu seiner Mutter und erzählte ihr, er habe den Nix spielen gehört und gesehen, wie die Elfen auf den Wiesen von Voxnäs tanzten. Er hatte feine Züge und große, dunkle Augen und war in jeder Hinsicht ganz das Kind seiner Mutter.

Obwohl er allen Platz im Herzen der Oberstin einnahm, konnte man nicht unbedingt sagen, dass sie eine schwache Mutter war. Zumindest musste Karl-Artur Ekenstedt lernen, zu arbeiten. Er bedeutete ihr mehr als jedes andere von Gott erschaffene Wesen, aber gerade deshalb kam es überhaupt nicht infrage, dass er mit etwas anderem als den besten Noten, die man bekommen konnte, aus dem Gymnasium heimkam. Und allen fiel auf, solange Karl-Artur in eine bestimmte Klasse ging, lud die Oberstin keinen der Lehrer ein, die ihn unterrichteten. Nein, niemand sollte sagen können, dass Karl-Artur gute Noten bekam, weil er der Sohn von Oberstin Ekenstedt war, die so grandiose Diners gab. Ihr seht, die Oberstin hatte Stil.

In seinem Abgangszeugnis am Gymnasium von Karlstad wurde Karl-Artur mit der Bestnote Laudatur benotet, genau wie seinerzeit Erik Gustav Geijer4. Im Anschluss in der Universitätsstadt Uppsala das Abitur zu machen war für ihn genauso ein Kinderspiel wie für Geijer. Die Oberstin hatte den kleinen, dicken Professor Geijer natürlich viele Male gesehen und als Tischherren gehabt, und es stimmte, er war begabt und interessant, aber sie konnte sich den Gedanken nicht verkneifen, dass Karl-Artur ein ebenso schlauer Kopf war, der eines Tages mit Sicherheit auch ein berühmter Professor werden und es so weit bringen musste, dass Kronprinz Oskar und Provinzgouverneur Järta und Oberstin Silfverstolpe5 und all die anderen Berühmtheiten in Uppsala seine Vorlesungen besuchen und ihm lauschen würden.

Im Herbstsemester 1826 kam Karl-Artur nach Uppsala. Und das ganze Semester über und in all den Jahren, die er an der Universität verbrachte, schrieb er einmal in der Woche nach Hause. Kein einziger dieser Briefe wurde vernichtet, die Oberstin bewahrte sie alle auf. Sie las sie immer wieder, und bei den traditionellen Sonntagsessen, zu denen die ganze Familie zusammenkam, las sie den anderen stets den zuletzt eingetroffenen Brief vor. Das konnte sie ruhig tun, denn sie hatte allen Grund, stolz auf ihren Sohn zu sein.

Die Oberstin hegte den leisen Verdacht, dass ihre Verwandten erwarteten, Karl-Artur würde weniger vorbildlich sein, sobald er auf sich allein gestellt war. Deshalb war es für sie ein Sieg, ihnen vorlesen zu können, dass Karl-Artur billige möblierte Zimmer mietete und auf dem Markt Butter und Käse kaufte, um von seinen Essensvorräten leben zu können, und dass er jeden Morgen um fünf Uhr aufstand und täglich zwölf Stunden arbeitete. Hinzu kamen die vielen ehrerbietigen Worte, die er in seinen Briefen verwendete, und all die Ausdrücke von Bewunderung, die er seiner Mutter widmete! Die Oberstin ließ sich nicht dafür bezahlen, wenn sie Dompropst Sjöborg, der mit einer Ekenstedt verheiratet war, und Ratsherrn Ekenstedt, einem Onkel ihres Mannes, und den Cousins Stake, die in dem großen Eckhaus am Markt wohnten, vorlas, dass Karl-Artur, der sich nun in der Welt umsah, nach wie vor der Meinung war, seine Mutter hätte das Zeug zu einer Dichterin von Rang gehabt, wenn sie es nicht als ihre Pflicht betrachtet hätte, nur für ihren Mann und ihre Kinder zu leben. Nein, sie ließ sich dafür nicht bezahlen, das tat sie gern umsonst. Sosehr sie auch daran gewöhnt war, auf vielfältige Weise gefeiert zu werden, konnte sie seine Worte doch niemals vorlesen, ohne dass ihr Tränen in die Augen traten.

Der größte Triumph wurde der Oberstin jedoch kurz vor Weihnachten beschert, als Karl-Artur schrieb, er habe das Geld, das sein Vater ihm mitgegeben hatte, als er nach Uppsala aufbrach, nicht ausgegeben, sondern werde etwa die Hälfte davon wieder mit nach Hause bringen. Da waren sowohl der Dompropst als auch der Ratsherr einigermaßen verblüfft, und der größere der Cousins Stake schwor, so etwas sei noch nie vorgekommen und werde mit Sicherheit auch nie wieder vorkommen. Die ganze Familie war sich einig, dass Karl-Artur ein Wunder war.

Sicher, dadurch, dass Karl-Artur den größten Teil des Jahres die Universität besuchte, war für die Oberstin eine schmerzliche Lücke entstanden, aber sie hatte ja so viel Freude an seinen Briefen, dass sie sich im Grunde gar nicht wünschen konnte, es wäre anders. Wenn er eine Vorlesung des großen Dichters Atterbom6 besucht hatte, ließ er sich so unglaublich interessant über Philosophie und Dichtung aus. Und wenn ein solcher Brief eingetroffen war, träumte die Oberstin oft von all dem Großen, das Karl-Artur erreichen würde. Für sie stand fest, dass sein Ruhm den Professor Geijers übertreffen würde. Vielleicht würde er ja ein ebenso großer Mann werden wie Carl von Linné7. Warum sollte er nicht genauso weltberühmt werden können? Oder warum sollte er nicht ein großer Dichter werden? Warum sollte aus ihm kein zweiter Tegnér werden können? Ach, ach, keiner kann sich einer solchen Bewirtung erfreuen wie ein Mensch, der in Gedanken tafelt.

In den Weihnachts- und Sommerferien kehrte Karl-Artur stets nach Karlstad zurück, und jedes Mal wenn sie ihn wiedersah, schien er der Oberstin männlicher und schöner geworden zu sein. Ansonsten hatte er sich jedoch kein bisschen verändert. Er begegnete ihr mit der gleichen Verehrung, dem Vater mit der gleichen Ehrfurcht, den Schwestern genauso scherzhaft und verspielt wie immer.

Manchmal wurde die Oberstin ein wenig ungeduldig, weil er in Uppsala auf der Stelle trat und Jahr um Jahr studierte, ohne dass etwas passierte. Aber alle Menschen erklärten ihr, da Karl-Artur das große Magisterexamen ablegen wolle, erfordere es eben geraume Zeit, bis er fertig werde. Sie müsse bedenken, was es heiße, Prüfungen abzulegen und Noten in all den Fächern zu bekommen, die an der Universität gelehrt wurden, ob nun in Astronomie oder in Hebräisch und Geometrie. Mit weniger war es nicht getan. Die Oberstin fand, es sei ein grausames Examen, worin man ihr recht gab, aber andererseits konnte es natürlich nicht bloß für Karl-Artur geändert werden.

Im Spätherbst 1829, als Karl-Artur im siebten Semester in Uppsala studierte, schrieb er zur großen Freude der Oberstin, er habe sich zur schriftlichen Lateinprüfung angemeldet. Es sei keine sonderlich schwere Klausur, schrieb er, aber sie sei wichtig, da man Latein erst schriftlich bestanden haben müsse, bevor man das Examen ablegen dürfe.

Karl-Artur machte nicht viel Aufhebens von dieser Klausur. Er erklärte lediglich, es werde schön sein, sie hinter sich gebracht zu haben. Er habe mit Latein ja niemals auf Kriegsfuß gestanden wie eine ganze Reihe guter Leute, sodass er allen Grund habe, anzunehmen, dass alles gut gehen werde.

Im selben Brief erwähnte er, dass er seinen lieben Eltern zum letzten Mal in diesem Semester schreibe. Sobald er das Ergebnis der Klausur erfahren habe, beabsichtige er, sich auf den Heimweg zu machen. Und so glaube er fest daran, Eltern und Schwestern am letzten Tag im November in seine Arme schließen zu dürfen.

Nein, Karl-Artur hatte aus der Lateinklausur keine große Sache gemacht, worüber er im Nachhinein sicher froh war, denn es stellte sich leider heraus, dass er durchgefallen war. Die Professoren in Uppsala hatten sich erlaubt, ihn durchfallen zu lassen, obwohl er in allen Schulfächern mit Laudatur abgeschlossen hatte, als man ihn nach dem Gymnasium in Karlstad zur Universität geschickt hatte.

Er war eher verblüfft und überrascht als wirklich gedemütigt, da er nach wie vor der Ansicht war, dass seine Art, die lateinische Sprache zu behandeln, sich sehr wohl verteidigen ließ. Natürlich war es ärgerlich, als Besiegter heimzukehren, aber er dachte eigentlich, dass seine Eltern, oder zumindest seine Mutter, verstehen würde, dass es an irgendeiner Form von Bosheit gelegen haben musste. Vielleicht wollten ihm die Professoren in Uppsala ja zeigen, dass sie höhere Anforderungen stellten als die Lehrer in Karlstad, vielleicht waren sie auch der Meinung gewesen, dass es von etwas übertriebener Selbstsicherheit gezeugt hatte, dass er an keinem der vorbereitenden Seminare teilgenommen hatte.

Die Reise von Uppsala nach Karlstad dauerte mehrere Tage, und man könnte sagen, dass er das ganze Missgeschick vergessen hatte, als er in der Abenddämmerung des dreißigsten Novembers durch das östliche Stadttor fuhr. Er war zufrieden mit sich, weil er genau an dem Tag ankam, für den er sich brieflich angekündigt hatte. Er dachte daran, dass seine Mutter nun mit Sicherheit am Fenster des Salons stand und nach ihm Ausschau hielt, und dass seine Schwestern gewiss dabei waren, den Kaffeetisch zu decken.

Er fuhr durch die ganze Stadt und war in gleichbleibend guter Laune, bis er aus den engen und gewundenen Straßen hinauskam und das westliche Flussufer und das Haus der Ekenstedts direkt am Ufer erblickte. Was in aller Welt war da los? Das ganze Gebäude war hell erleuchtet, es strahlte wie eine Kirche an Weihnachten. Und Schlitten, die voller pelzgekleideter Menschen waren, fuhren an ihm vorbei und schienen alle zu seinem Elternhaus zu wollen.

«Anscheinend wird daheim ein großes Fest gefeiert», dachte er und fand dies ein wenig lästig. Schließlich war er müde von der Reise, und jetzt würde er sich nicht ausruhen dürfen, sondern sich umziehen und bis Mitternacht den Gästen Gesellschaft leisten müssen.

Doch plötzlich war er beunruhigt. «Hoffentlich hat Mutter nicht ein Fest organisiert, um meine Lateinklausur zu feiern!»

Er bat den Kutscher, ihn zum Kücheneingang zu fahren, und stieg dort aus, um den Gästen nicht begegnen zu müssen.

Zwei Minuten später wurde nach der Oberstin gerufen. Sie solle sich in das Zimmer der Haushälterin begeben, um mit Karl-Artur zu sprechen, der soeben nach Hause gekommen sei.

Die Oberstin hatte sich große Sorgen gemacht, dass Karl-Artur es nicht rechtzeitig zum Essen schaffen würde. Sie war überglücklich, als sie hörte, dass er angekommen war, und eilte zu ihm.

Doch Karl-Artur empfing sie mit strenger Miene. Er sah nicht, dass sie ihm die Arme entgegenstreckte. Ja, er machte keinerlei Anstalten, sie zu begrüßen. «Was hast du nur angestellt, Mutter?», sagte er. «Warum hast du ausgerechnet heute die ganze Stadt eingeladen?»

Diesmal war keine Rede von seinen lieben Eltern. Er zeigte nicht die geringste Freude darüber, sie zu sehen.

«Ich fand, dass wir es etwas festlich haben sollten», antwortete die Oberstin. «Jetzt, da du diese fürchterliche Klausur hinter dich gebracht hast.»

«Du hast natürlich nie in Betracht gezogen, Mutter, dass ich durchfallen könnte», sagte Karl-Artur. «Aber so ist es jedenfalls.»

Daraufhin war die Oberstin wie gelähmt.

Seht, der Gedanke, dass Karl-Artur durchfallen könnte, wäre ihr niemals in den Sinn gekommen.

«Nun, das spielt ja letztlich keine Rolle», erklärte Karl-Artur. «Aber jetzt wird es die ganze Stadt erfahren. Du hast all diese Menschen doch sicher eingeladen, Mutter, um meine Triumphe zu feiern.»

Noch immer war die Oberstin wie gelähmt.

Seht, sie wusste, wie die Bürger Karlstads waren. Sie fanden durchaus, dass Fleiß und Sparsamkeit hervorragende Eigenschaften für einen Studenten waren, aber das reichte ihnen bei Weitem nicht aus. Sie erwarteten von ihm Preisverleihungen in der Schwedischen Akademie und Disputationen, die so brillant waren, dass die ganze Riege alter Professoren unter ihren Bärten erblasste. Sie warteten auf genialische Improvisationen bei Studentenfesten und Einladungen in die literarischen Salons bei Professor Geijer oder Provinzgouverneur von Kræmers oder Oberstin Silfverstolpe.

Auf solche Dinge verstanden sie sich, aber in Karl-Arturs bisheriger Laufbahn hatte es nichts Brillantes und Herausragendes gegeben, was gezeigt hätte, dass er eine herausragende Begabung war. Die Oberstin wusste, dass es den Leuten fehlte, und da Karl-Artur nun endlich eine Wissensprüfung abgelegt hatte, war sie der Meinung gewesen, dass es nicht schaden könnte, dies an die große Glocke zu hängen.

Der Gedanke, dass Karl-Artur die Klausur nicht bestehen könnte, wäre ihr dagegen niemals in den Sinn gekommen. «Keiner weiß etwas Genaues», sagte sie nachdenklich, «keiner außer den Bediensteten. Die anderen haben nur gehört, dass es um eine kleine, freudige Überraschung geht.»

«Dann wirst du dir eben eine freudige Überraschung überlegen müssen, Mutter», sagte Karl-Artur. «Ich habe jedenfalls vor, in mein Zimmer hinaufzugehen, und werde zum Essen nicht herunterkommen. Nicht weil ich glaube, dass es die Leute in Karlstad sonderlich erschüttern wird, dass ich durchgerasselt bin, aber ich habe keine Lust, mich von ihnen bemitleiden zu lassen.»

«Was in aller Welt soll ich mir bloß einfallen lassen?», klagte die Oberstin.

«Das überlasse ich dir, Mutter», sagte Karl-Artur. «Ich gehe jetzt in mein Zimmer hinauf. Die Gäste müssen ja gar nicht erfahren, dass ich nach Hause gekommen bin.»

Doch das war viel zu schmerzhaft und unmöglich. Da sollte die Oberstin also bei Tisch sitzen und brillant sein, während sie immer nur daran denken würde, dass er traurig in seinem Zimmer umherging und ihr böse war. Ihre Augen würden sich nicht daran erfreuen dürfen, ihn zu sehen. Das war ein zu hartes Los für die Oberstin. «Lieber Karl-Artur, du musst zum Essen herunterkommen. Ich lasse mir etwas einfallen.»

«Und was lässt du dir einfallen, Mutter?»

«Das weiß ich noch nicht. Doch, jetzt weiß ich es! Du wirst vollkommen zufrieden sein. Kein Mensch wird begreifen, dass das Essen dir zuliebe geplant war. Versprich mir nur, dass du dich umziehst und herunterkommst!»

Es wurde eine wirklich geglückte Abendgesellschaft. Unter den vielen gelungenen und glänzenden Festen im Hause Ekenstedt war es eines der denkwürdigsten.

Beim Braten, als Champagner ausgeschenkt wurde, gab es dann tatsächlich eine Überraschung. Der Oberst erhob sich und bat die Anwesenden, mit ihm auf das Wohl seiner Tochter Eva und Leutnant Sten Arckers zu trinken, deren Verlobung er hiermit bekannt geben wolle.

Großer Jubel brauste auf.

Leutnant Arcker war ein armer Bursche ohne sonderlich gute Aussichten auf Beförderungen. Man hatte natürlich gewusst, dass er schon lange für Eva Ekenstedt schwärmte, und da die Töchter der Ekenstedts nur selten Verehrer fanden, hatte sich die ganze Stadt für die Angelegenheit interessiert, aber man war immer davon ausgegangen, dass die Oberstin ihm einen Korb geben würde.

Mit der Zeit sickerte jedoch durch, was es mit der Bekanntgabe der Verlobung auf sich hatte. Die Bürger Karlstads erfuhren, dass die Oberstin die Verlobung von Eva und Arcker nur zugelassen hatte, damit keinem der Verdacht kam, dass mit der Überraschung, die sie für ihre Gäste ursprünglich vorgesehen hatte, etwas schiefgelaufen war.

Dennoch gab es mit Sicherheit niemanden, der die Oberstin deshalb weniger bewunderte als vorher. Im Gegenteil. Man sagte lediglich, dass niemand eine größere Fähigkeit besitze, sich in schwierigen und überraschenden Situationen aus der Affäre zu ziehen, als Oberstin Ekenstedt.

II.

Wenn sich jemand an Oberstin Beate Ekenstedt versündigt hatte, erwartete sie, dass der Betreffende zu ihr kam und sie um Entschuldigung bat. War diese Zeremonie erst einmal überstanden, verzieh sie alles von ganzem Herzen und zeigte sich genauso freundlich und vertrauensvoll wie vor der Auseinandersetzung.

Die ganze Weihnachtszeit über hoffte sie, dass Karl-Artur sie um Verzeihung bitten würde, weil er an dem Abend des Fests, als er aus Uppsala heimgekehrt war, so hartherzig mit ihr gesprochen hatte. Sie fand es durchaus verständlich, dass er sie im ersten Aufbrausen so behandelt hatte, konnte aber nicht verstehen, dass er schwieg und sich nicht weiter um sein Vergehen scherte, nachdem er Zeit zum Nachdenken bekommen hatte.

Doch Karl-Artur ließ die Weihnachtstage ohne ein Wort der Reue oder des Bedauerns verstreichen. Er amüsierte sich wie üblich bei Einladungen und Schlittenfahrten und war daheim aufmerksam und angenehm, sprach aber nie die wenigen Worte aus, auf die sie wartete. Gut möglich, dass außer ihr und ihm keiner etwas bemerkte, aber es erhob sich eine unsichtbare Mauer zwischen ihnen, sodass sie einander nicht wirklich nahekommen konnten. Es herrschte bei beiden kein Mangel an Liebe oder zärtlichen Phrasen, aber was sie trennte und voneinander fernhielt, wurde nicht ausgeräumt.

Als Karl-Artur wieder nach Uppsala kam, dachte er nur daran, die Scharte seiner Niederlage auszuwetzen. Sollte die Oberstin erwartet haben, dass er schriftlich Abbitte leisten würde, sah sie sich getäuscht. Er schrieb über nichts anderes als sein Lateinstudium. Diesmal belegte er Lateinseminare bei zwei Dozenten, ging jeden Tag zu lateinischen Vorlesungen und war außerdem Mitglied eines Vereins geworden, in dem man sich in lateinischen Disputationen übte und als Orator betätigte. Er tat alles, was er konnte, um die Klausur diesmal zu bestehen.

Nach Hause schrieb er die hoffnungsvollsten Briefe, und die Oberstin antwortete ihm im gleichen Geist. Trotzdem machte sie sich Sorgen um ihn. Er hatte seine Mutter unhöflich behandelt, ohne sie um Verzeihung zu bitten, und es war denkbar, dass er dafür bestraft werden würde.

Nicht dass sie eine Strafe für ihren Sohn verlangt hätte. Sie betete zu Gott, dass er dem kleinen Vergehen keine Beachtung schenken, sondern alles vergeben und vergessen möge. Sie versuchte dem Herrgott zu erklären, dass dies alles ihre Schuld gewesen sei. «Ich allein war eitel und dumm und wollte mich mit seinen Erfolgen schmücken», sagte sie. «Nicht er hat es verdient, bestraft zu werden, sondern ich.»

Dennoch suchte sie weiter in jedem Brief nach den Worten, die sie vermisste. Und als sie diese nicht sah, wurde sie immer besorgter. Sie hatte das Gefühl, dass Karl-Artur seine Klausur niemals würde bestehen können, wenn sie ihm nicht vorher vergeben hatte.

Eines schönen Tages, als das Semester sich dem Ende zuneigte, erklärte die Oberstin, sie wolle nach Uppsala fahren und ihre gute Freundin Malla Silfverstolpe besuchen. Sie seien sich im letzten Sommer bei den Gyllenhaals auf Gut Kavlås begegnet und so gute Freundinnen geworden, dass die liebe Malla sie gebeten habe, im Winter nach Uppsala zu kommen und die Bekanntschaft ihrer literarischen Freunde zu machen.

Ganz Karlstad wunderte sich, dass die Oberstin eine solche Reise mitten in der Schneeschmelze unternehmen wollte. Man fand, der Oberst hätte Nein sagen sollen, aber der Oberst sagte wie üblich Ja, und so brach die Oberstin auf. Unterwegs erging es ihr fürchterlich, ganz so, wie die Leute in Karlstad prophezeit hatten. Mehrmals blieb ihr Reisewagen im Morast stecken, sodass er mit Stangen herausgehoben werden musste. Eine der Federn ging zu Bruch, und ein anderes Mal brach die Wagendeichsel glatt durch. Doch die Oberstin kämpfte sich voran. Sie war zwar klein und schwach, aber auch tapfer und heiter, und die Gastwirte und Stallknechte, Schmiede und Bauern, denen sie entlang der Straße nach Uppsala begegnete, wären bereit gewesen, für sie in den Tod zu gehen. Als hätten sie gewusst, wie unerlässlich es war, dass die Oberstin in Uppsala ankam.

Frau Malla Silfverstolpe hatte sie natürlich von ihrer Ankunft unterrichtet, Karl-Artur dagegen nicht, und sie hatte auch Frau Silfverstolpe gebeten, ihm nichts zu sagen. Es werde so einen Spaß machen, ihn zu überraschen.

Als die Oberstin es schon bis Enköping geschafft hatte, wurde sie erneut aufgehalten. Es waren nur noch vierzig, fünfzig Kilometer bis Uppsala, aber ein Radkranz hatte sich gelöst, und bis er befestigt war, kam sie nicht weiter. Sie machte sich schreckliche Sorgen. Sie war schon so lange unterwegs, und die Lateinklausur konnte jederzeit stattfinden. Dabei fuhr sie doch nur nach Uppsala, damit Karl-Artur die Gelegenheit erhielt, sie vor seiner Prüfung um Entschuldigung zu bitten. Sie wusste, wenn das nicht geschah, würden ihm weder Seminare noch Vorlesungen helfen. Er würde auf jeden Fall durchfallen, wirklich auf jeden Fall.

Sie konnte nicht still in dem Zimmer bleiben, das man ihr in der Poststation überlassen hatte. Immer wieder stieg sie die Treppe hinunter und trat auf den Hof hinaus, um nachzusehen, ob das Wagenrad schon aus der Schmiede zurückgekommen war. Bei einer dieser Gelegenheiten sah sie einen Karren mit einem Studenten auf dem Sitz neben dem Kutscher auf den Hof biegen, und der Student, der von dem Karren sprang, das war ja – nein, sie traute ihren Augen nicht –, das war ja Karl-Artur!

Er kam zu ihr. Er schloss sie nicht in seine Arme, ergriff aber ihre Hand, drückte sie an seine Brust und sah mit seinen schönen, traumschweren Kinderaugen in die ihren.

«Mutter», sagte er, «vergib mir, dass ich mich im Winter so schlecht benommen habe, als du das Festessen gegeben hast, um meine Lateinklausur zu feiern!»

Es war fast ein zu großes Glück, um wahr zu sein.

Die Oberstin riss ihre Hand los, schlang die Arme um Karl-Artur und küsste ihn ein ums andere Mal. Sie verstand nichts, wusste aber, dass sie ihren Sohn zurückbekommen hatte, und sie hatte das Gefühl, dass dies der glücklichste Moment ihres Lebens war. Sie zog ihn ins Gasthaus und erhielt daraufhin die Erklärung.

Nein, er hatte die Prüfung noch nicht absolviert. Die Klausur sollte am nächsten Tag geschrieben werden. Dessen ungeachtet war er jedoch auf dem Weg nach Karlstad gewesen, um sie zu treffen.

«Du bist verrückt», sagte sie. «Hast du etwa vorgehabt, innerhalb eines Tages hin und zurück zu reisen?»

«Nein», antwortete er, «ich habe alles verloren gegeben, aber ich wusste, dass es getan werden musste. Es hätte keinen Sinn gehabt, es zu versuchen. Ohne deine Vergebung hätte ich die Klausur niemals bestanden.»

«Aber, mein Junge, ein einziges, kleines Wort in einem deiner Briefe hätte mir völlig gereicht.»

«Die Sache hat das ganze Semester dunkel und unklar auf mir gelastet», erwiderte er. «Ich bin ängstlich, ohne Zuversicht gewesen, habe aber nicht gewusst, warum. Erst letzte Nacht ist es mir klar geworden. Ich habe das Herz verletzt, das mit so großer Zärtlichkeit für mich schlägt. Ich habe gespürt, dass ich nicht erfolgreich arbeiten können würde, bis ich bei meiner Mutter Abbitte geleistet habe.»

Die Oberstin saß am Tisch. Sie legte eine Hand auf ihre Augen, die voller Tränen waren, und streckte die andere ihrem Sohn entgegen. «Das ist wunderbar, Karl-Artur», sagte sie. «Sprich weiter!»

«Nun», begann er, «im selben Treppenaufgang wie ich wohnt ein anderer Värmländer namens Pontus Friman. Er ist Pietist, er hat keinen Kontakt zu anderen Studenten, und auch ich bin mit ihm bislang kaum in Berührung gekommen. Aber heute bin ich frühmorgens zu seinem Zimmer gegangen und habe ihm erzählt, wie es um mich steht. ‹Ich habe die zärtlichste Mutter, die man sich nur wünschen kann›, habe ich gesagt. ‹Aber ich habe sie verletzt und nicht um Verzeihung gebeten. Was soll ich tun?›»

«Und er hat geantwortet?»

«Er hat nur das geantwortet: ‹Fahr sofort zu ihr!› Ich habe ihm erklärt, dass das mein größter Wunsch sei, ich aber am nächsten Tag pro exercitio8 schreiben müsse. Meinen Eltern werde es mit Sicherheit missfallen, wenn ich die Klausur verpasste. Aber Friman wollte davon nichts hören. ‹Fahr sofort!›, hat er gesagt. ‹Denk nur an das eine, dich mit deiner Mutter zu versöhnen! Gott wird dir beistehen.›»

«Und du bist gefahren?»

«Ja, Mutter, ich bin gefahren, um mich dir zu Füßen zu werfen. Aber kaum saß ich in dem Karren, als ich mich auch schon unverzeihlich dämlich fand. Ich hatte größte Lust, umzukehren. Schließlich wusste ich, selbst wenn ich noch zwei Tage länger in Uppsala bliebe, würde deine Liebe mir alles verzeihen, aber ich bin trotzdem weitergefahren. Und Gott hat mir beigestanden. Ich habe dich gefunden. Ich weiß nicht, wie du hierhergekommen bist, aber es muss auf seine Veranlassung hin geschehen sein.»

Tränen liefen über die Gesichter von Mutter und Sohn. War ihnen zuliebe nicht ein Wunder vollbracht worden?

Sie spürten, dass die gütige Vorsehung sie behütete. Auch spürten sie deutlicher denn je die Kraft der Liebe, die sie vereinte.

Eine Stunde saßen sie in der Poststation zusammen. Dann schickte die Oberstin Karl-Artur nach Uppsala zurück und bat ihn, der lieben Malla Silfverstolpe auszurichten, seine Mutter werde sie diesmal doch nicht besuchen kommen.

Seht, die Oberstin hatte überhaupt kein Interesse daran, nach Uppsala zu fahren. Das Ziel ihrer Reise war schon erreicht worden. Jetzt wusste sie, dass Karl-Artur die Prüfung bestehen würde. Sie konnte beruhigt in ihr Haus zurückkehren.

III.

Ganz Karlstad wusste, dass die Oberstin religiös war. Sie besuchte ebenso untrüglich jeden Gottesdienst in der Kirche wie der Pfarrer, und wochentags hielt sie morgens und abends eine kleine Andacht mit all ihren Bediensteten ab.

Sie bedachte die Armen, an die sie sich nicht nur zu Weihnachten, sondern das ganze Jahr über mit Geschenken erinnerte. Sie versorgte mehrere bedürftige Schüler mit Mittagessen, und die alten Frauen im Armenhaus besuchte sie jedes Jahr an ihrem Namenstag und bewirtete sie mit einer großen Kaffeetafel.

Aber keinem Menschen in Karlstad, und erst recht nicht der Oberstin, wäre jemals in den Sinn gekommen, dass es Gott nicht genehm sein könnte, wenn sie, der Dompropst, der Ratsherr und der ältere Cousin Stake nach dem sonntäglichen Familienessen eine friedliche Partie Boston9 spielten. Und genauso wenig wäre es jemandem auch nur im Traum eingefallen, dass es eine Sünde sein sollte, wenn die jungen Damen und Herren, die beim Oberst vorbeizuschauen pflegten, an den Sonntagabenden im großen Salon das Tanzbein schwingen durften.

Weder die Oberstin noch die anderen Einwohner Karlstads hatten jemals gehört, dass es verwerflich sein sollte, zu einem festlichen Essen ein Glas guten Weins auszuschenken oder ein oftmals von der Gastgeberin selbst verfasstes Trinklied anzustimmen, ehe das Glas geleert wurde. Ebenso wenig war ihnen bekannt, dass unser Herrgott weder das Lesen von Romanen noch Theaterbesuche duldete. Die Oberstin liebte es, Gesellschaftsspektakel zu veranstalten und persönlich aufzutreten. Auf dieses Vergnügen zu verzichten wäre für sie ein großes Opfer gewesen. Sie war wie geschaffen für die Bühne, und die Leute in Karlstad sagten oft, wenn Frau Torsslow10 nur halb so gut Theater spiele wie Oberstin Ekenstedt, wundere es einen nicht, dass die Stockholmer so vernarrt in sie seien.

Aber Karl-Artur Ekenstedt war noch einen ganzen Monat in Uppsala geblieben, nachdem er die mühselige Lateinklausur glücklich überstanden hatte, und war in dieser Zeit häufig mit Pontus Friman zusammen gewesen. Und Friman war ein eifriger und strenger und eloquenter Anhänger der pietistischen Glaubensströmung, wodurch es nicht ausblieb, dass Karl-Artur sich von ihm beeinflussen ließ.

Es war sicher keine entscheidende Erweckung oder Bekehrung, reichte aber doch so tief, dass Karl-Artur sich wegen der weltlichen Vergnügungen und Zerstreuungen, die in seinem Elternhaus stattfanden, Sorgen machte.

Man kann sich vorstellen, dass zu jener Zeit ein unbeschreiblich inniges und vertrauensvolles Verhältnis zwischen Mutter und Sohn herrschte, und so sprach Karl-Artur mit der Oberstin ganz freimütig über die Dinge, die er als anstößig empfand. Und seine Mutter kam ihm in vielem entgegen. Weil es ihn betrübte, dass sie Karten spielte, gab sie beim nächsten Familienessen vor, Kopfschmerzen zu haben, und ließ den Oberst ihren Platz am Bostontisch einnehmen. Denn dass der Dompropst und der Ratsherr nicht wie gewohnt ihre Partie spielen durften, war natürlich völlig undenkbar.

Und weil es Karl-Artur missfiel, dass sie tanzte, verzichtete sie auch darauf. Als die üblichen jungen Leute am Sonntagabend vorbeischauten, erklärte sie ihnen, sie sei fünfzig und fühle sich alt und wolle nicht mehr am Tanz teilnehmen. Als sie ihre enttäuschten Mienen sah, war sie jedoch gerührt, setzte sich an den Flügel und spielte bis Mitternacht Tanzmusik für die jungen Leute.

Karl-Artur wollte gern, dass sie bestimmte Bücher las, die er ihr gab, und sie nahm sie dankbar an und fand sie auch recht hübsch und erbaulich.

Aber die Oberstin konnte sich nicht damit zufriedengeben, in Zukunft nichts anderes zu lesen als diese weihevollen pietistischen Bücher. Sie war eine gebildete Dame und las die neueste Weltliteratur, und so kam es, dass Karl-Artur sie eines Tages dabei ertappte, dass unter dem Andachtsbuch, in dem sie gerade las, Byrons Don Juan lag. Er hatte sich wortlos abgewandt, und es hatte sie sehr gerührt, dass er ihr keine Vorwürfe machte. Am nächsten Tag packte sie all ihre Bücher in eine Kiste, die sie auf den Dachboden stellte.

Es lässt sich nicht leugnen, dass die Oberstin versuchte, so entgegenkommend zu sein, wie sie nur konnte. Sie war ja klug und begabt und wusste, dass dies alles nur eine vorübergehende Schwärmerei Karl-Arturs war. Zum Glück war Sommer. Fast alle vermögenden Familien Karlstads waren verreist, sodass keine großen Abendgesellschaften stattfanden. Man amüsierte sich mit unschuldigen Spaziergängen in der Natur, mit langen Ruderpartien auf dem schönen Klarälven, mit Beerenpflücken und Laufspielen.

Gegen Ende des Sommers sollte Eva Ekenstedt allerdings ihren Leutnant heiraten, und die Oberstin machte sich wirklich Sorgen, wie das ablaufen würde. Sie fühlte sich mehr oder weniger gezwungen, eine große, prachtvolle Hochzeit zu organisieren. Wenn sie zuließe, dass Eva ohne Prunk und Pomp heiratete, würden die Leute in Karlstad wieder einmal sagen, sie habe kein Herz für ihre Töchter.

Zum Glück schien ihre Gefügigkeit bereits eine beruhigende Wirkung auf Karl-Artur zu haben. Er widersetzte sich weder den zwölf Gängen des Festessens noch dem Baumkuchen oder dem Konfekt, ja er protestierte nicht einmal gegen den Wein und die anderen Getränke, die aus Göteborg geholt wurden. Er hatte auch nichts gegen eine Trauung im Dom einzuwenden oder gegen Girlanden an den Straßen, die der Hochzeitszug nehmen würde, und genauso wenig gegen Festlichter und Pechtonnen und Feuerwerk am Flussufer. Im Gegenteil, er beteiligte sich an den Vorbereitungen und arbeitete im Schweiße seines Angesichts wie alle anderen daran, Kränze zu binden und Flaggen aufzuhängen.

Er bestand nur auf einem: dass es auf der Hochzeit keinen Tanz geben dürfe. Und das hatte seine Mutter ihm versprochen. Sie fand es eine reine Freude, ihm in diesem Punkt entgegenzukommen, nachdem er sich so geduldig mit allen anderen Plänen abgefunden hatte.

Der Oberst und die Töchter hatten durchaus versucht, sanft zu protestieren. Sie hatten gefragt, was man mit all den jungen Leutnants und all den jungen Frauen aus Karlstad anstellen solle, die eingeladen waren und natürlich davon ausgingen, dass sie die ganze Nacht tanzen würden. Aber die Oberstin hatte ihnen geantwortet, mit dem Beistand Gottes werde es ein schöner Abend sein, und die Leutnants und die jungen Frauen würden in den Garten gehen und Regimentsmusik hören und anschließend sehen, wie die Raketen in den Himmel aufstiegen und die Festlichter sich im Flusswasser spiegelten. Sie glaubte, dies alles würde so schön sein, dass niemand sich ein anderes Vergnügen wünschte. Mit Sicherheit würde es eine würdigere und feierlichere Einweihung der neuen Ehe sein, als auf einem Tanzboden umherzuhopsen.

Der Oberst und die Töchter gaben wie üblich nach, und die Eintracht im Haus blieb ungetrübt.

Als der Hochzeitstag kam, war alles vorbereitet und geregelt. Nichts ging schief. Man hatte Glück mit dem Wetter, und die kirchliche Trauung und die vielen Reden und Trinksprüche verliefen gut. Die Oberstin hatte ein schönes Hochzeitsgedicht geschrieben, das bei Tisch gesungen wurde, und das Musikkorps des Värmlandregiments stand im Servierzimmer und spielte zu jedem neuen Gang, der den Gästen vorgesetzt wurde, einen Marsch. Die Gäste fanden, dass alles freigiebig und großzügig ablief und waren in ausgelassenster und festlichster Stimmung, solange das Essen andauerte.

Als die Tafel aufgehoben wurde und sie Kaffee getrunken hatten, wurden sie jedoch von einer eigentümlichen und unwiderstehlichen Sehnsucht übermannt, tanzen zu dürfen.

Dazu muss man wissen, dass das Essen um vier Uhr begonnen hatte, und so gut, wie alles mit den Obern und Kellnerinnen organisiert gewesen war, hatte es nur bis sieben Uhr gedauert. Es war schon merkwürdig, dass die zwölf Gänge und die vielen Reden und die Fanfaren und die Tischlieder nicht mehr Zeit beansprucht hatten als drei Stunden. Die Oberstin hatte gehofft, die Gäste würden bis acht bei Tisch sitzen, aber ihre Hoffnung hatte sich nicht erfüllt.

Es war also erst sieben, und vor Mitternacht auseinanderzugehen kam nicht infrage. Den Gästen graute es, als sie an die vielen leeren Stunden dachten, die vor ihnen lagen.

«Wenn wir doch nur tanzen dürften!», seufzten sie innerlich, denn die Oberstin war so vorsichtig gewesen, allen Gästen im Voraus mitzuteilen, dass es auf dieser Hochzeit keinen Tanz geben werde. «Womit sollen wir uns amüsieren? Es wird schrecklich sein, Stunde um Stunde nur herumzusitzen und Konversation zu machen, ohne sich bewegen zu dürfen.»

Die jungen Frauen blickten auf ihre dünnen, hellen Kleider und weißen Seidenschuhe herab. Die einen wie die anderen waren für den Tanz gedacht. Und war man erst einmal so gekleidet, stellte die Tanzlust sich von selbst ein. Man konnte an nichts anderes mehr denken.

Die jungen Leutnants des Värmlandregiments waren als Tanzpartner doch so begehrt. Im Winter wurden sie zu so vielen Bällen eingeladen, dass sie der Sache beinahe überdrüssig waren und es schwerfiel, sie zum Tanzen zu bewegen. Während der Sommermonate hatten sie jedoch an keinen großen Tanzveranstaltungen teilgenommen. Sie waren ausgeruht und standen bereit, wenn nötig rund um die Uhr zu tanzen, und sagten, sie hätten selten so viele schöne Frauen an einem Ort gesehen. Aber was war das hier nur für eine Veranstaltung? Junge Leutnants und junge Schönheiten einzuladen und sie dann nicht miteinander tanzen zu lassen!

Doch damit, dass die Jungen sich verzehrten, nicht genug. Auch die alten Damen und Herren fanden es schade, dass die Jugend sich nicht bewegen durfte, sodass man etwas zum Anschauen gehabt hätte. Immerhin gab es hier die beste Musik zu hören, die in ganz Värmland zu kriegen war, und es gab hier den hervorragendsten Tanzsaal. Warum in aller Welt sollte man da nicht das Tanzbein schwingen dürfen?

Diese Beate Ekenstedt war bei all ihrer Liebenswürdigkeit doch immer schon ein wenig eigennützig gewesen. Offenbar war sie der Meinung, dass sie selbst sich nicht mehr am Tanz beteiligen konnte, seit sie die fünfzig überschritten hatte, und deswegen mussten ihre jungen Gäste nun herumsitzen und Mauerblümchen spielen.

Die Oberstin sah und hörte und spürte und begriff, dass alle Menschen unzufrieden waren, und für eine ausgezeichnete Gastgeberin wie sie, seit jeher gewohnt, dass es auf ihren Gesellschaften fröhlich und lustig zuging, war das unsäglich belastend und bitter.

Sie wusste, dass am nächsten Tag und noch viele, viele Tage danach die Leute über die Hochzeit im Hause Ekenstedt reden und sie als ein Beispiel für die größte Langeweile anführen würden, die sie jemals erlebt hatten.

Sie gab ihr Bestes bei den Alten. Sie war so liebenswert, wie sie nur konnte. Sie erzählte ihre besten Anekdoten, sie präsentierte ihre geistreichsten Einfälle, aber sie fanden keinen Anklang. Man machte sich kaum die Mühe, ihr zuzuhören. Es war keine noch so alte und langweilige Frau auf dieser Hochzeit, die nicht dasaß und insgeheim dachte, wenn sie eines Tages so glücklich sein würde, ihre Tochter zu verheiraten, dann würden die jungen Leute auf jeden Fall tanzen dürfen, und die alten auch.

Die Oberstin gab ihr Bestes bei den Jungen. Sie schlug ihnen vor, im Garten Laufspiele zu veranstalten, aber man starrte sie nur an. Laufspiele auf einer Hochzeit! Wenn sie nicht die Frau gewesen wäre, die sie war, hätten sie ihr ins Gesicht gelacht.

Als man das Feuerwerk aufsteigen lassen wollte, boten die Herren den Damen den Arm an, um am Flussufer entlangzuflanieren, aber die jungen Paare schleppten sich nur dahin. Sie brachten es kaum über sich, den Blick so weit zu heben, dass sie die Flugbahn der Raketen verfolgen konnten. Sie weigerten sich, für das Vergnügen, nach dem sie sich sehnten, einen Ersatz zu akzeptieren.

Der Vollmond ging auf, um das glanzvolle Schauspiel gleichsam zu überhöhen. Er war an diesem Abend nicht wie eine Scheibe, sondern rollte rund wie ein Ball den Himmel hinauf, und ein besonders Gewitzter behauptete, der Mond wäre angeschwollen aus lauter Verwunderung darüber, so viele stattliche Leutnants und so viele schöne junge Frauen so düster in das Flusswasser starren zu sehen, als trügen sie sich mit Selbstmordgedanken.

Halb Karlstad stand am Gartenzaun, um das Spektakel zu beobachten. Sie sahen die jungen Leute hinter dem Zaun schlaff und teilnahmslos umhertreiben und sagten, das sei die tristeste Hochzeit, die sie jemals gesehen hätten.

Das Musikkorps des Värmlandregiments gab sein Bestes. Aber weil die Oberstin verboten hatte, Tanzmusik zu spielen, da sie andernfalls nicht glaubte, die Jugend unter Kontrolle halten zu können, gab es nicht sonderlich viele Nummern in ihrem Repertoire, und sie mussten immer und immer wieder dieselben Stücke spielen.

Es wäre falsch, zu sagen, dass die Stunden sich dahinschleppten. Nein, die Zeit stand still. Die Minutenzeiger auf allen Uhren bewegten sich im gleichen langsamen Takt wie die Stundenzeiger.

Auf dem Fluss vor dem Haus der Ekenstedts lagen zwei große Klarälv-Lastkähne, und auf einem dieser Kähne saß ein Musik liebender Seemann und spielte auf einer quietschigen, selbst gebauten Geige eine Polka.

Daraufhin horchten all die armen Menschen auf, die im Ekenstedtschen Garten umherspazierten und sich quälten, denn das war wenigstens Tanzmusik, und so schlichen sie sich rasch zum Gartentor hinaus, und im nächsten Moment sah man, wie sie sich auf dem teerigen Deck eines Klarälv-Kahns im Tanz drehten.

Die Oberstin hatte die Flucht und den Tanz schnell bemerkt und wusste natürlich, dass die vornehmsten jungen Damen von Karlstad nicht auf einem schmutzigen Lastkahn tanzen konnten. Sie ließ den jungen Leuten unverzüglich ausrichten, dass sie zurückkommen sollten. Aber da konnte sie noch so sehr eine Oberstin sein, selbst der jüngste Unteroffizier machte keine Anstalten, ihrem Befehl Folge zu leisten.

Da gab die Oberstin sich geschlagen. Jetzt hatte sie so viel getan, um Karl-Artur entgegenzukommen, wie man nur von ihr verlangen konnte. Jetzt musste sie den guten Ruf des Hauses Ekenstedt retten. Sie ließ das Musikkorps in den großen Salon kommandieren und zu einer Anglaise11 aufspielen.

Kurz darauf hörte sie, wie die Tanzbegierigen die Treppen hinaufstürmten, und dann wurde getanzt. Es wurde ein Ball, wie man ihn selten erlebt hat. All jene, die gewartet und sich verzehrt hatten, versuchten nun, die verlorene Zeit wettzumachen. Sie drehten sich und schwebten und stampften auf und pirouettierten. Es gab keine Müden oder Lustlosen. Keine Frau erschien so hässlich oder langweilig, dass sie nicht aufgefordert wurde und deshalb sitzen bleiben musste.

Auch die Alten konnten nicht stillhalten, und das Schlimmste war, dass die Oberstin selbst – ja stellt euch vor, die Oberstin, die doch aufgehört hatte, zu tanzen und Karten zu spielen, und sämtliche weltlichen Bücher auf den Dachboden getragen hatte –, dass auch sie nicht stillsitzen konnte. Leicht und schwindelnd schwebte sie im Tanz dahin und sah genauso jung, nein, jünger aus als die Tochter, die an diesem Tag vor dem Traualtar gestanden hatte. Die Menschen in Karlstad waren wirklich glücklich, dass sie ihre fröhliche, ihre charmante, ihre geliebte Oberstin zurückhatten.

Es herrschte ausgelassene Freude, und die Nacht war lieblich und wunderbar, und der Fluss glitzerte im Mondschein, und alles war so, wie es sein sollte.

Der beste Beweis dafür, wie intensiv die Freude in den Räumen grassierte, war wohl, dass selbst Karl-Artur sich mitreißen ließ. Auf einmal konnte er überhaupt nicht verstehen, dass etwas Böses und Sündiges daran sein sollte, sich gemeinsam mit anderen jungen und sorglosen Menschen im Takt der Musik zu bewegen. Es erschien ihm ganz natürlich, dass Jugend, Gesundheit und Glück auf diese Art zum Ausdruck gebracht wurden. Hätte er es wie sonst als eine Sünde empfunden, dann hätte er nicht getanzt, aber an diesem Abend erschien ihm das alles so kindlich lustig und unschuldig.

Als Karl-Artur gerade an einer Anglaise teilnahm, warf er jedoch einen Blick zur offenen Tür des Salons und sah dort ein blasses Gesicht, umgeben von schwarzem Haar und einem Bart, mit zwei großen, sanften Augen, die ihn in schmerzlicher Verwunderung anstarrten.

Er hielt mitten im Tanz inne. Im ersten Moment glaubte er, sich getäuscht zu haben, aber dann erkannte er seinen Freund Pontus Friman, der versprochen hatte, ihn zu besuchen, wenn er durch Karlstad kam, und zufällig ausgerechnet an diesem Abend eingetroffen war.

Karl-Artur machte keinen einzigen Tanzschritt mehr, sondern eilte zu dem Neuankömmling, der ihn wortlos die Treppe hinunter und aus dem Haus zog.

Der Heiratsantrag

Schagerström hat einen Heiratsantrag gemacht! Der reiche Schagerström auf Stora Sjötorp.

Nein, ist das wirklich wahr, dass Schagerström einen Heiratsantrag gemacht hat?

Nun ja, es ist ganz sicher, dass Schagerström einen Antrag gemacht hat.

Aber wie in aller Welt ist es dazu gekommen, dass Schagerström jemandem einen Heiratsantrag gemacht hat?

Nun ja, es war so, dass es in der Propstei in Korskyrka eine junge Frau gab, die Charlotte Löwensköld hieß. Sie war eine entfernte Verwandte des Propstes, diente der Pröpstin als Gesellschafterin und war mit dem Hilfspfarrer verlobt.

Aber was hat sie denn mit Schagerström zu tun?

Nun ja, Charlotte Löwensköld war flink und heiter und offenherzig, und als sie den Fuß über die Türschwelle der Propstei setzte, wehte im selben Moment ein frischer Wind durch das ganze Haus. Der Propst und die Pröpstin waren alt und hatten dort als Schatten ihrer selbst gelebt, aber sie hauchte den beiden neues Leben ein. Und der Hilfspfarrer war gertenschlank und so fromm, dass er weder zu essen noch zu trinken wagte. Er war den lieben langen Tag mit Amtsgeschäften beschäftigt und lag nachts vor seinem Bett auf den Knien und beweinte seine Sünden. Er war kurz davor, sich ganz zu verlieren, aber Charlotte Löwensköld hinderte ihn daran, sich völlig zugrunde zu richten.

Aber was hat das alles …

Ihr müsst wissen, fünf Jahre zuvor, als der Hilfspfarrer zum ersten Mal in die Propstei von Korskyrka kam, war er gerade zum Priester geweiht worden und hatte keine Ahnung von den vielen Dingen, die zu seinem Beruf gehörten, und Charlotte Löwensköld half ihm, sich zurechtzufinden. Sie hatte schon so lange im Pfarrhaus gelebt, dass sie sich mit allem auskannte, was dazugehört, und nun brachte sie ihm bei, wie er Kinder taufen und in der Gemeindeversammlung das Wort ergreifen sollte. In dieser Zeit verliebten die beiden sich ineinander und sind ganze fünf Jahre verlobt gewesen.

Aber auf die Art kommen wir ja ganz weg von Schagerström …

Charlotte Löwenskölds hervorstechendste Eigenschaft war ihre ungewöhnliche Fähigkeit, Dinge für andere zu regeln und zu organisieren. Und kaum war sie mit dem Hilfspfarrer verlobt, fand sie auch schon heraus, dass seine Eltern gar nicht glücklich über seine Berufswahl waren. Sie hatten sich gewünscht, dass er den Titel eines Magisters erwerben würde, um anschließend als Dozent und Professor an der Universität zu lehren. Mit diesem Ziel hatte er dann auch fünf Jahre lang in Uppsala studiert und hätte im sechsten Jahr das Studium abschließen sollen, aber ausgerechnet da hatte er umgesattelt und stattdessen das theologische Examen abgelegt. Seine Eltern waren vermögend und ein bisschen ehrgeizig. Es gefiel ihnen nicht, dass ihr Sohn eine so anspruchslose Laufbahn einschlug. Auch nachdem er Pfarrer geworden war, hatten sie gebettelt und gefleht, er solle in Uppsala weiterstudieren, aber er hatte sich geweigert. Charlotte Löwensköld erkannte nun, dass seine Aussichten auf eine Beförderung mit einem höheren Examen steigen würden, und schickte ihn deshalb nach Uppsala zurück. Und da er der schlimmste Streber war, den man sich nur vorstellen konnte, hatte sie ihn vier Jahre später so weit. Da hatte er das Examen abgelegt und war zum Magister promoviert worden.

Aber was in aller Welt hat Schagerström …

Seht, Charlotte Löwensköld hatte sich überlegt, dass ihr Verlobter sich, wenn er erst einmal promoviert war, auf die Stelle eines Lehrers an einem Gymnasium bewerben konnte und daraufhin so viel verdienen würde, dass ihrer Heirat nichts mehr im Wege stünde. Wenn er unbedingt Pfarrer werden wollte, konnte er ein paar Jahre später die Beförderung zu einem großen Pastorat erhalten, wie es üblich war. Diesen Weg war, wie viele andere vor ihm auch, der Propst in Korskyrka gegangen. Aber was das betraf, kam es nicht so, wie sie es geplant hatte, denn ihr Verlobter wollte unbedingt Pfarrer werden und eine normale Priesterlaufbahn einschlagen. Und so ergab es sich, dass er erneut als Hilfspfarrer nach Korskyrka zurückkehrte. Und obwohl er Doktor der Philosophie war, verdiente er weniger als ein Stallknecht.

Ja, aber Schagerström …

Ihr werdet verstehen, dass Charlotte Löwensköld, die bereits fünf Jahre gewartet hatte, sich damit einfach nicht abfinden konnte. Immerhin war sie froh, dass man ihren Verlobten nach Korskyrka geschickt hatte. Er wohnte in der Propstei, sodass sie ihn jeden Tag sah, und sie nahm an, dass sie ihn behutsam dahin bringen würde, Lehrer zu werden, so wie sie ihm schon zum Magister verholfen hatte.

Aber wir hören ja gar nichts über Schagerström!

Ja, seht, weder Charlotte Löwensköld noch ihr Verlobter hatten das Geringste mit Schagerström zu tun. Er stammte aus ganz anderen Kreisen. Er war der Sohn eines hohen Beamten in Stockholm, war selbst vermögend und hatte die Tochter eines Bergwerksbesitzers aus Värmland geheiratet, die Erbin so vieler Hüttenwerke und Grubenfelder war, dass man mit einer Mitgift von bis zu zwei Millionen rechnen konnte.12 Zuerst hatte Schagerström sich in Stockholm niedergelassen und sich nur in den Sommermonaten in einem der Bergwerksorte in Värmland aufgehalten, aber als seine Frau zwei Jahre später im Kindbett starb, war er auf das Gut Stora Sjötorp in Korskyrka gezogen. Er trauerte um sie und vermisste sie und konnte es nicht ertragen, irgendwo zu leben, wo seine Frau gelebt hatte. Schagerström erschien so gut wie nie bei Abendgesellschaften, aber um sich die Zeit zu vertreiben, übernahm er es, die Verwaltung der vielen Werke zu überwachen, und Stora Sjötorp baute er um und verschönerte er, sodass es das prächtigste Anwesen in Korskyrka wurde. In seiner Einsamkeit umgab er sich mit vielen Bediensteten und lebte wie ein Grandseigneur. Und Charlotte Löwensköld wusste genau, es war so wahrscheinlich, dass sie das Siebengestirn vom Himmel holen und in ihre Brautkrone einsetzen würde, wie dass sie Schagerström heiraten würde.

Seht, Charlotte Löwensköld gehörte zu den Menschen, die immer sagen, was ihnen in den Sinn kommt. Und als in der Propstei einmal eine Abendgesellschaft stattfand und eine Menge Gäste versammelt waren, wollte es der Zufall, dass Schagerström in seinem großen, offenen Landauer13 mit dem prächtigen, schwarzen Vierspänner und dem betressten Diener auf dem Bock neben dem Kutscher vorbeifuhr. Und natürlich eilten alle zu den Fenstern und schauten Schagerström hinterher, solange man noch einen Zipfel von ihm sehen konnte. Als er dann schließlich außer Sichtweite war, drehte sich Charlotte Löwensköld zu ihrem Verlobten um, der weiter hinten im Raum stand, und rief so laut, dass alle es hörten: «Das sage ich dir, Karl-Artur, ich habe dich wirklich gern, aber wenn Schagerström um meine Hand anhält, dann nehme ich ihn.»

Alle Gäste wussten natürlich, dass sie Schagerström niemals bekommen konnte, sodass sie in schallendes Gelächter ausbrachen. Und der Verlobte lachte mit, denn er begriff ja, dass sie das nur gesagt hatte, damit die Gäste sich amüsierten. Sie selbst schien äußerst bestürzt darüber zu sein, was ihr herausgerutscht war, und im Grunde blieb ein bisschen unklar, ob bei ihren Worten nicht doch ein Hintergedanke mitschwang. Vielleicht hatte sie dem lieben Karl-Artur ja einen kleinen Schrecken einjagen und ihn so dazu bringen wollen, sich Gedanken über die Lehrerstelle zu machen.

Nun, Schagerström war nach wie vor in tiefer Trauer und verschwendete keinen Gedanken an eine Heirat. Aber als er ins Geschäftsleben eintrat, fand er Freunde und Bekannte, die ihn schon bald ermahnten, erneut zu heiraten. Er entschuldigte sich mit den Worten, er sei so melancholisch und langweilig, dass keine Frau ihn haben wolle, und gab nichts auf die Versicherungen der anderen, das Gegenteil sei der Fall. Einmal kam das Thema jedoch bei einem großen Geschäftsessen zur Sprache, an dem Schagerström teilnehmen musste, und als er seine übliche Antwort gab, erzählte einer seiner Nachbarn aus Korskyrka von der jungen Frau, die erklärt hatte, sie werde ihrem Verlobten den Laufpass geben, falls Schagerström ihr einen Antrag machen sollte. Es war ein sehr fröhliches Essen, und man lachte herzhaft über die Geschichte und betrachtete sie genau wie in der Propstei als lustigen Scherz.