Charming Boy - Guido Eckert - E-Book

Charming Boy E-Book

Guido Eckert

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Beschreibung

Sebastian Heiter, ein junger, charmanter Redakteur bei einer Berliner Tageszeitung, erwirbt sich schnell den Ruf, ein skrupelloser Hacker zu sein. Allerdings scheint er es nicht nur auf die nächste große Story, sondern auch auf die privaten Gedanken seiner Kollegen abgesehen zu haben - er hackt ihre Computer und Handys, handelt manipulativ und genießt die Macht. Dann beginnt er eine Affäre mit einer Kollegin, die nichts von alldem ahnt. Als sie ihm auf die Schliche kommt, beginnt ein lebensgefährliches Spiel …

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Guido Eckert

Charming Boy

Kriminalroman

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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2020

Lektorat: Claudia Senghaas

Herstellung: Julia Franze 7

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Terroa / istockphoto.com

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

Printed in Germany

ISBN 978-3-8392-6254-2

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

DIE SONNE

1

Anklopfen. Lächeln. Reden.

Die Reihenfolge einhalten. Unbedingt!

Er lächelt.

Es ist sein erster Arbeitstag. Und er will keinen Fehler machen, darf nicht. Er macht niemals Fehler.

Lächeln!

Er hat es heute morgen ausführlich geprobt, vor dem Spiegel, denn er will keinen falschen Eindruck hinterlassen. Aber er fühlt sich immer noch ein wenig matschig, wie an den Tagen, wenn er für eine Pressevorführung schon mittags ins Kino gehen muss und anschließend aus der Dunkelheit in gleißende Helligkeit tritt, in das grelle Lichtermeer einer Metropole, vermengt mit Hupen, Schreien, Hektik, während sich in vereinzelten Pfützen Neonschlieren kräuseln und Vögel zwitschern.

»Guten Morgen«, sagt er, »Sebastian Heiter, ich bin der neue Kollege. Redakteur im Ressort Deutschland. Investigative Recherche.«

Lächeln.

Zuhören.

Er hat auch das Zuhören heute Morgen vor dem Spiegel geübt. Es muss alles perfekt aussehen. Er hat lange daran gearbeitet.

»Wir werden bestimmt großartig zusammenarbeiten«, sagt er und schaut auf den Boden. »Ganz bestimmt.«

Sein Hemd ist durchgeschwitzt.

Der schwarze Anzug ist neu. Der Stoff schützt ihn, wie aus Eisenplatten zusammengehämmert. Das Hemd letzte Woche gekauft; nie getragen.

Er lächelt. Dafür hallt jeder seiner Schritte auf den glatten Fliesen. Immer noch nicht haben sich seine Augen an die kühle Dunkelheit gewöhnt. Zu seiner Linken öffnet sich ein Raum, dessen Wände voller angestaubter Bilder hängen. In der Schnelle entdeckt er keine Ordnung in der Hängung, außer dass es ungewöhnlich viele rote und purpurne Mantelwürfe vor gräulichen Gewitterwolken sind. Aber jegliche weiterführende Symbolik verschließt sich ihm in aquarelliertem Nebel und Schleierwolken.

Anklopfen.

Zu seiner Rechten dreht sich ein verstaubter Kronleuchter in glitzernden Facetten und taucht die dahinterliegenden Nebengänge in ein milchiges Licht. Zwei elektrische Kerzen dämmern in Brusthöhe unter einem rötlichen Glasschirm. Plötzlich hört er von weit her das Geräusch eines zur Seite gerückten Stuhls. Es ist alles zu viel.

Lächeln. Reden.

»Guten Morgen, Sebastian Heiter mein Name, ich bin der neue Kollege …«

»Na, det kann ja heiter werden!«

Er wird von Gelächter unterbrochen.

Melancholische Augen, die von zahlreichen Furchen umgeben sind, strahlen Heiter listig an. Es ist ein verlebtes, bräunlich-ledernes, irgendwie kleines Gesicht, das Heiter entfernt an eine Schildkröte erinnert. Passend dazu ist jede seiner Bewegungen unglaublich langsam.

»Moin«, sagt die Schildkröte.

Heiter stockt. Dieser Ablauf war nicht vorgesehen. Er ist 36 Jahre alt, wirkt aber jetzt wie ein Grundschüler, der nach einer Verwarnung in der Ecke stehen muss. Ihm laufen zwei Schweißperlen über die Stirn. Es ist alles zu laut, zu grell, zu chaotisch.

Aber Heiter lächelt.

»Das ist mein Name«, sagt er.

»Mach dich mal locker«, antwortet der fremde Kollege mit dem kleinen Kopf. »Ich bin Benny. Wir sind hier nicht so förmlich.«

Heiter lächelt.

Ich mach dich kalt!

»Ich bin ganz ruhig.«

2

Es ist ein moderner, also ein weitgehend leerer, weißer Raum, in dem streng genommen nichts knicken oder knacken könnte. Um ihn herum nur ein Bett, eine Kommode (jeweils links und rechts an einer Bettseite) und ein weißer Tisch, auf dem ein Fernseher steht. Aber er hört eine Art von weghuschendem Knacken. Mal schneller, mal langsamer; in der Wand, im Türrahmen, im Tisch. Leise. Der Fernseher flimmert ohne Ton. Heiter streicht mit beiden Händen einen braven Vierbeiner (und er liebt solche Sprachspielereien), meint: einen Sessel, auf dem er sitzt. Und starrt gegen die Wand.

Aus dem Fenster.

Dieser weiße Raum starrt ihn an, als wolle er ihn unverzüglich wieder ausspeien. Ich kann das spüren. Als sei die Stille ein Eindringling, ein Parasit, ein Virus, den er bekämpfen müsse. Mit Stille.

Ein weißes Schweigen.

Sie sitzt feist und fett in den Wänden, die Stille, denkt er und lauert auf eine Möglichkeit, ihn zu erledigen. Sie ist ihm hoffnungslos überlegen. Stille macht ihm Angst. Sie lässt ihn zittern. Ihm ist übel. Er ist Stille nicht mehr gewohnt, war zu lange umgeben von Menschen und Marotten, von klirrendem Geschirr und lautstarken Streitgelüsten, und jetzt spürt er, wie sie langsam in seinen Körper kriecht, osmotisch beinahe, und seine Blutbahnen, seine Zellen in Beschlag nimmt. In ihrem Gefolge steigt die Angst wieder stärker in ihm hoch.

Das Gelächter.

Und schon poltern ihm die Gedanken wie Spielzeugklötze durcheinander. Ich hätte es lieber, dass sie sich sauber aneinanderreihen, denkt er, die Erinnerungen, wie Einzelbilder in einem Film, und dass ich sie dann aneinanderkleben und zusammenrollen kann. Manchmal kommt es mir auch so vor, als ob sich diese Erinnerungsspur, dieser Faden, nach dem ich hektisch greife, mit dem Zupacken langsam um mein Handgelenk wickelt, fester, sich dann ausfasert und breitflächig um meinen ganzen Körper legt, bis ich in einen Kokon eingesponnen bin, der sich augenblicklich aushärtet.

Das Gelächter.

Plötzlich klingelt sein Festnetztelefon. Schrill. Ein Anruf ohne sichtbare Nummer. Heiter meldet sich mit einem fragenden »Ja?«.

»Angriff«, antwortet eine künstliche Stimme, ohne weitere Begrüßungsformel. Offensichtlich überträgt ein Computerprogramm eine verschriftete Vorlage in hörbare Silben. »Sie haben alle Befugnisse. Destabilisierung des Systems als zentrale Aufgabe. Ohne Rücksicht. Angriff.«

Das fremde Gegenüber legt auf.

Das Gelächter.

Immer noch liegt der verschlossene Koffer auf dem Bett. Die Heizung in seinem Zimmer sondert einen extrem hohen Ton ab, obwohl sie abgestellt ist. Hirnzerfetzend. Heiter zwingt sich zu atmen, saugt und pustet also Luft, zieht sich ein frisches Hemd an; lächelt.

»Das wird ein guter Tag«, sagt er vor dem Spiegel.

Anschließend tastet er seine Sakkotaschen ab. Es ist ein Ritual. Schlüssel, Geldbörse, Handy, alles muss am richtigen Platz sein, sich durch Gewicht melden. Dann erst kann er losgehen.

Den Weg zur Arbeit hat er schon vor Wochen in allen Einzelheiten durchexerziert. Er kennt die Abfahrtszeiten der U-Bahn auswendig, alle Gassen und Schleichwege zur Redaktion.Seine enge schwarze Hose ist neu. Die Schuhe hat er noch nie vorher getragen. Er bemüht sich um einen ernsten, fast schon strengen Gesichtsausdruck, der allerdings sein Kinn nach unten zieht und ihn wirken lässt, als balanciere er einen Korken im Mund.

Als er aus der U-Bahn-Station nach oben steigt, sieht er Benny und einen weiteren Kollegen. Die beiden tragen knitterige Anzüge, sind unrasiert, und Heiter fasziniert, dass sie ihre Laptop-Taschen an Trageriemen über die Schulter hängen lassen, die ihre Sakkos und Jacken derart nach unten ziehen, dass sie wie vom Schicksal geschlagen wirken.

Lächeln.

Heiter will auch eine solche Laptop-Tasche kaufen. Er ist schnell zu beeindrucken.

»Heute ist ein guter Tag«, sagt er. Über das Knattern und Murren des morgendlichen Berufsverkehrs legt sich von irgendwoher Gelächter, vermutlich aus einem der anliegenden Häuser, zudem Geklimper von einem verstimmten Klavier. Erstaunlicherweise glaubt Heiter sogar eine quietschende Kinderschaukel zu hören, was eigentlich nicht möglich sein kann, hier in der Stadt. Inmitten des Lärms.

»Was ist denn mit dir los?«, fragt der Kollege. Es ist die Schildkröte.

»Sebastian Heiter.«

»Weiß ich. Du warst doch gestern bei uns.«

Das Gelächter.

»Ich bin einfach nur gut gelaunt«, erwidert Heiter.

An Bennys Kinn kleben zwei weiße Toilettenpapierschnipsel, die leicht rötlich eingefärbt sind. Sofort muss Heiter an seinen Vater denken, den er morgens, nach dem Rasieren, genauso blutig angetroffen hat. Schweigend, selbstverständlich, immer nur schweigend. Heiter erinnert sich an seinen Vater vor allem im Badezimmer, entweder bei der Rasur oder mit einem Handtuch auf dem Kopf, weil er sich alle möglichen Tinkturen in den Kopf einmassierte, um den Haarausfall zu stoppen.

»Nervös?« Schildkröte hört gar nicht mehr auf, Heiter zu mustern. Und zu nicken.

»Nein. Sollte ich?«

»Du warst so abwesend.«

»Entschuldigung, das war nicht so gemeint«, antwortet Heiter.

»Kein Problem«, sagt die Schildkröte fröhlich.

Es ist Frühling, endlich, und für diese Jahreszeit ist die Luft schon ungewöhnlich warm. Die verhangene Sonne vergießt ihre Wohltaten wie ein Karnevalsprinz über den Berufsverkehr.

»Entschuldigen Sie, wie ist Ihr Name?« Heiter atmet demonstrativ einige Atemwolken in den kühleren Schatten.

»Benny Weiher, ick bin mir ja ziemlich sicher, det wir uns jestern jedutzt haben. Wir duzen uns alle in der Redaktion. Haben wir uns wirklich noch nicht vorgestellt?«

»Sebastian.«

Ein müder Händedruck.

Sie durchqueren gemeinsam die Eingangshalle mit weiteren Angestellten, grüßend, ohne einander in die Augen zu sehen, und stellen sich, eng aneinandergedrückt, in einen Aufzug, der derart langsam aufwärtsruckelt, dass Heiter an eine Zeitmaschine denken muss, die mehrere Jahrzehnte durchquert. Er beobachtet. Weiher diskutiert mit dem anderen Kollegen eine obskure Abseitsstellung in einem Fußballspiel, das Heiter nicht gesehen hat. Er schaut fast nie fern.

»Das hat das ganze Spiel entschieden«, regt sich Benny auf.

»Es war eindeutig abseits«, bestätigt Heiter.

»Jeder hat das gesehen!«, brüllt Weiher geradezu. »Jeder – nur nicht der Schiedsrichter!«

»Es gibt Gerüchte, dass die bestochen sind«, sagt Heiter.

»Glaub ich nicht …«

Widersprich mir nicht.

»Ich werde das mal recherchieren«, ergänzt Heiter.

Der Aufzug ruckelt einmal und steht plötzlich. Als sich die Tür öffnet, nach der langen Zeitreise, sieht irgendwie alles genauso aus wie im Erdgeschoss. Flure, Türen, Gänge.

Ich werde dich töten.

Gegen Abend erhält er einen Anruf.

»Kommst du kurz in mein Büro?« Es ist Karl Berger, der Ressortleiter.

Heiter nickt.

Mit einer altmodisch devoten Geste, die geradezu tänzelnd anmutet in ihrer beschwingten Luftkreiselei, deutet Berger auf einen Stuhl. Heiter soll sich setzen.

»Das ist nicht ungefährlich«, sagt der Ressortleiter.

»Ich habe keine Angst«, antwortet Heiter. Dabei bleibt er huldvoll unbeweglich, angespannt auf seinem Stuhl sitzen, während gleichzeitig eine Schläfenader anschwillt und abfließt.

»Ich meine jetzt weniger dich, sondern das Projekt, das du vorgeschlagen hast. Für die Zeitung als Ganzes. Wenn das nach hinten losgeht, haben wir ein Problem.« Berger öffnet in einer theatralischen Geste beide Arme, sodass sich sein Sakko über den Handgelenken nach hinten schiebt. Die Adern seiner freigelegten Unterarme pulsieren wie Kabel unter der Haut.

»Es gibt kein Problem«, sagt Heiter.

Berger ordnet die Bücher in seinem Büro nach Farben und Höhe. Das ist ungewöhnlich. Alphabetisiert oder nach Themen getrennt, das ist normal, aber diese Anordnung erscheint Heiter irgendwie neurotisch. 20 Zentimeter Gelb, daneben 30 Zentimeter Schwarz.

»Ich habe alles genau durchgeplant«, ergänzt Heiter. »Keine Sorge, ich mache das teilweise während meines Urlaubs. Alles, was ich brauche, ist eine Tarnidentität und eine Briefkastenadresse. Alles schon erledigt. Dann besuche ich verschiedene Verlagshäuser und recherchiere, ob im Austausch für Anzeigenaufträge Einfluss auf redaktionelle Inhalte genommen werden kann.«

»Versteh mich nicht falsch, das ist spannend. Aber du hast gerade erst angefangen.«

»Ja, und?«

Sie besprechen sich in einer schmucklosen Sitzgruppe in der vorderen Raumecke. Harte Stühle, ohne Polster, ein verschmierter Arbeitstisch. Berger schiebt einige Skizzenblätter zusammen. »Ich möchte nicht, dass du das alleine machst. Am besten mit Lisa. Sie ist zwar auch noch nicht so lange hier, kennt aber die Gepflogenheiten der Branche.«

Heiter starrt zum Fenster hinaus. Bisher hat er immer alleine gearbeitet. Er legt den Kopf zur Seite und wirkt wie ein Vertreter, der an einer neuen Tür geklingelt hat, unschlüssig herumsteht und darauf wartet, dass ihm geöffnet wird.

»Wenn sich das nicht verhindern lässt …«, stößt er zischend hervor.

Berger schaut auf die Tischplatte.

»Dann bin ich einverstanden.«

Irgendwie passt es, denkt Heiter, dass in diesem Moment, durch den schwülen Lufthauch bewegt, eine Gardine nach innen geweht wird. Alles durcheinanderwehen, denkt er, mein ganzes kaputtes Leben, rausfliegen, wegheben, aus dem Fenster in die Atmosphäre hinein, bis in den Weltraum.

Lächeln.

»Ich habe noch einmal deine erste große Geschichte gelesen«, sagt der Ressortleiter, »damals noch in Düren. Der Text ist gut, wirklich gut. Aber mir fehlt ein wenig die Emotion, verstehst du? Als ob dich die Auswirkungen auf die Menschen gar nichts angehen …«

Berger schaut hoch und wartet auf eine Verteidigung.

Aber Heiter reagiert nicht.

Er fühlt sich gerade wie in einem Theaterstück, von Scheinwerferlicht geblendet, ohne Souffleuse, während er vor dem gebannten Publikum von Texthänger zu Texthänger stolpert. Mit jeder Sekunde verzerrt sich dabei die Wirklichkeit in ein grelles Leuchten.

»Recherche braucht keine Emotionen.«

3

An der Zimmerdecke dreht ein weißer Plastikventilator einsam seine Runden, und an der gegenüberliegenden Wand hängen inzwischen schon fünf aufeinanderfolgende Jahreskalender aus einem benachbarten China-Restaurant. Heiter blickt von der Tastatur auf. Zwischen Computer und Fernseher trennt ein schwarzer Metallparavent das Apartment, zusammengesetzt aus einer Vielzahl handgeschnittener Reiter, Kamele und Schraffierungen. Das ist im Grunde seine Einrichtung.

Und es war nicht so geplant, denkt er.

Weinerlich, ein wenig, rückblickend, melancholisch, in Bilder und Klänge seiner Vergangenheit versunken, wobei die Bilder eigentümlich überbelichtet und die Klänge übersteuert wirken. Er erinnert seinen Vater bei einem Kindergeburtstag, wie er die Torte anschneidet, indem er den massigen Kuchenschieber greift und mit der Spitze nach unten in den Tortenboden rammt. »Herzstich«, sagte der Vater mit einem ernsten Gesichtsausdruck. Wie ein Jäger, der eine Beute erlegt. Heiter vernimmt diese Klänge aus der Vergangenheit eher flach und dumpf, als sei der Resonanzboden entfernt worden. Er denkt an seine Mutter zurück, an ihre distanzierte Kälte. Ich habe gelispelt, erinnert er sich, und sie hat mir gedroht. Anscheinend ist deine Zunge zu lang, sagte sie, also muss die Spitze vorne weggeschnitten werden, gleich morgen gehen wir zum Doktor. Gleich morgen fahren wir ins Krankenhaus. Da wirst du operiert werden, sagte sie. Aufgeschnitten. Ohne mit der Wimper zu zucken. Kalt und sachlich. Also habe ich nicht mehr gelispelt, erinnert er sich. Über Nacht. Und später habe ich mir die Nase an meinen Hemden abgeputzt, nie Taschentücher benutzt, immer nur den Schnodder hochgezogen. Bis meine Mutter sich vor mir aufbaute und eine weitere Operation ankündigte. Gleich morgen fahren wir ins Krankenhaus. Da wirst du operiert werden, sagte sie. Die Ärzte werden deinen Kopf auftrennen, mit einer elektrischen Säge, und dann werden sie den Nasenschleim heraussaugen. Vollständig.

Diese Bilder winden sich in seiner Erinnerung wie ein verletzter Käfer in einer Tasse, wie ein brummendes, zappelndes Insekt in einem fugenlosen Porzellanteil, unfähig zu fliegen, pausenlos umtriebig, bis zur Erschöpfung, verzweifelt vorwärts, flügellos – bis ein Außenstehender das Tier mit einem Wasserstrahl ersäuft.

»Sebastian, ist alles in Ordnung?« Es ist seine WG-Genossin Valeria, eine madrilenische Studentin, die sich durch den Sprachunterricht ein wenig Geld verdient (während ihr eifersüchtiger Freund im Nebenzimmer sitzt, mit einem Ohr an der Wand, und bei jedem belustigten Kichern von Valeria etwas zu Boden wirft).

»Natürlich. Es ist ein guter Tag.« Sein Bett besteht aus einem Gewirr aus unterschiedlichen Decken.

»Ich meine nur, weil du dich den ganzen Tag nicht aus dem Zimmer bewegt hast.«

Seit einigen Tagen bietet sie ihm selbstgebackene Kekse an. Er nimmt ihr Angebot immer wieder an, obwohl er sich um diese Zeit schon die Zähne geputzt hat.

»Wozu?«

Heiter befehligt die Kamera in Valerias Laptop, gleichzeitig liest er ihre E-Mails: »Ich war gestern im Blue Ocean, mit Ben.«

Wer? Er versucht sich daran zu erinnern, in welchem Zusammenhang dieser Namen schon einmal aufgetaucht sein könnte. Ben? Ganz weit entfernt scheint etwas zu klingeln, so wie der Name eines ehemaligen Fußballprofis oder wie ein Kinderspielzeug, das man längst vergessen hat und das erst dann wieder auffällt, wenn man bei einem Umzug in Kellerkisten wühlt.

Heiter mag ihn nicht, diesen Ben. Überhaupt nicht.

Er denkt an Valerias abendliche Kekse, ihr gemeinsames kleines Geheimnis, und klackert im Stakkatorhythmus mit einem Kugelschreiber herum. Dabei entdeckt er, dass sich an seinen Fingerspitzen Krümel gesammelt haben. Er zupft sie in aller Seelenruhe ab und legt sie in ein Taschentuch, welches er dann wiederum in eine Plastiktüte schnipst.

»Die Sonne scheint«, sagt Valeria durch die geschlossene Tür, »und du hast Wochenende.«

Letztes Jahr hat er sich dermaßen vor Dreck und Krümeln geekelt, dass er sämtliche Konsolen, Tastaturen, Fernbedienungen und Schalter mit dieser durchsichtigen Folie umwickelte, in der man normalerweise Butterbrote einpackt. Schön dicht umschlungen.

»Ich hasse Sonntage«, sagt Heiter.

»Ich lass dich dann mal in Ruhe …«

»Ben ist nicht gut für dich«, flüstert er und löscht die letzte Mail von Ben an Valeria.

Dann legt er sich schlafen. Er löscht das Licht und in seinen Gedanken seziert er den weißlichen Fleck, diese detailgetreue Stanzform, die die Nachttischlampe hinter seinen Lidern brennen lässt.

Früh am Morgen nimmt er die U-Bahn. Seitdem er keine Uhr mehr trägt, ist er pünktlich. Sagt er zumindest. Mit einer Uhr am Handgelenk sei er pausenlos gestresst gewesen, habe er unentwegt Zeitfenster gesehen, in denen noch dieses oder jenes zu erledigen war. Ohne Uhr gehe ich los, denkt er, zu einem Termin oder zu einer Verabredung, und lasse mich von nichts mehr ablenken. Von niemandem.

Er fährt auch einfach zum Bahnhof, ohne sich vorher über die Abfahrtszeiten einzelner Züge zu informieren. Und erreicht seitdem immer die passende Verbindung. Sagt er zumindest.

»Schönes Wetter heute!«

Im Redaktionsgebäude grüßt er die Dame am Empfang besonders freundlich. Das gehört zu seinen Strategien. Er nickt jedem zu, der ihm entgegenkommt.

»Da lässt es sich gleich viel besser arbeiten.«

Er zwingt sich zu lächeln.

In einer Stunde wird er die ihm zugeteilte Kollegin einweihen. Es geht um eine wichtige Enthüllungsstory. Alles hängt davon ab, denkt er, damit werde ich alles auffliegen lassen, diese ganze verlogene Branche.

»Wir werden uns eine falsche Identität zulegen«, sagt Heiter.

Lisa Bohnke schmunzelt. Sie ist etwa fünf Jahre jünger, arbeitet im gleichen Ressort und sitzt normalerweise im Nebenbüro. Sie ist eine schlanke, dunkel gekleidete, dunkel geschminkte, elegante, gleichzeitig irgendwie schludrige Erscheinung mit einem hintergründigen Anflug von Verachtung. Sie trägt an jedem Finger einen anderen Ring aus Silber.

»Außerdem eine Briefkastenadresse«, sagt er.

Einem ihrer Schneidezähne fehlt seitlich eine Ecke, bemerkt er, was ihr etwas Verwegenes, gleichzeitig Verwirrtes, Instabiles gibt. Etwas Unbeherrschtes, denkt er.

Natürlich hat er Erkundigungen über Lisa eingeholt: Sie war eine der Besten in ihrem Studienfach Betriebswirtschaft, Masterprüfung mit 1,0, anschließend Junior-Beraterin bei einer internationalen Unternehmensberatung, parallel dazu Leichtathletin, Leistungssportlerin, eine vorbildliche Karriere also, bis sie – plötzlich, wie über Nacht, aus Gründen, die nicht zu ermitteln waren – beschloss, »ihr Leben zu ändern«. Um sich bei dieser alternativen Tageszeitung um ein Volontariat zu bewerben. Für einen Bruchteil ihres bisherigen Salärs. (Um natürlich auch am Ende der journalistischen Ausbildungsphase als Jahrgangsbeste zu brillieren.)

»Wir arbeiten mit versteckten Kameras und Mikrofonen«, sagt er und schließt seine Hände hinter dem Rücken zusammen. Heiter stellt sich an eines der Bürofenster und betrachtet die Fußgänger. Wie mickrig ihre Füßchen von hier oben aussehen, denkt er, wenn sie unter ihren mickrigen Körperchen hervorstechen. »Ich bring die Sachen morgen mit.«

»Ist das eigentlich legal?«, fragt sie und dreht eine einzelne Locke um ihren Zeigefinger. Es gibt insgesamt nur zwei davon, jeweils an den Schläfen, gewissermaßen eine Hipster-Variation der jüdischen Peot.

»Ist die Frage ernst gemeint?«

Heiter schaut ihr tief in die Augen. Erfolglos. Sie ist wie ein matter Spiegel, eine reflektierende Oberfläche, die immer nur zurückwirft und nichts über die Beschaffenheit des Materials verrät.

»Wir arbeiten auch nicht anders als Günter Wallraff. Heutzutage geht es nicht mehr anders als mit versteckten Kameras und Mikrofonen.«

Dabei fixiert er Lisa mit einem amüsierten Augenaufschlag, als huste er von einem eleganten Balkon auf die französische Riviera oder auf irgendeinen anderen klassizistischen, mondänen Ort voller Boote, Sonne, Menschen, und er müsse wegen einer blöden Grippe im Hotelzimmer sitzen bleiben. Fünf Sterne, versteht sich.

»Okay …«, antwortet sie gedehnt. »Ich hab verstanden.« Sie bleibt lässig. Unbeeindruckt.

»Die Filme stellen wir später online.«

»Das ist dann aber mit Sicherheit nicht mehr legal«, sagt sie zynisch.

Er stöhnt auf.

»Wie ist deine Telefonnummer? Ich schick dir gleich mal einen Anhang.«

Als sie nach ihrem Handy greift, steckt er hinter seinem Rücken unbemerkt einen schwarzen Stick in die Außenseite ihres Computers.

DIE SCHUHE

1

Lisa Bohnke sitzt an ihrem Schreibtisch und lauscht den Anmerkungen ihres neuen Kollegen Sebastian Heiter. Bei einigen hat er sich schon nach wenigen Tagen unbeliebt gemacht, weiß sie, aber sie mag den rotzigen, kraftvollen Ton seiner Stimme.

»Wir arbeiten mit versteckten Kameras und Mikrofonen«, sagt er.

Sebastian ist groß, das ist ihr sofort aufgefallen. Und seine Augen strahlen in einem Blau, das beinahe künstlich scheint. Sein Gesicht wirkt eher kindlich, rund, mit großen Augen (blau!) und diesen vollen Lippen, die gleichzeitig zart wirken.

»Ist das eigentlich legal?«, fragt sie.

Manchmal überkommt sie die Befürchtung, dass sie ihre Stirn zu stark runzelt, wenn sie etwas anmerkt, und dass sich diese Runzeln in den nächsten Jahren nicht mehr glätten lassen.

»Wir arbeiten mit versteckten Kameras und Mikrofonen.«

Sein Parfum riecht kühl, gleichzeitig nach Meer, nach Strand. Es ist ein aufdringlicher, fast schon angeberischer Geruch. Und normalerweise hasst sie dieses Ultimative, dieses Bescheidwissen, dieses Kleinmachen; andererseits reibt sie sich, sie schmiegt sich daran. »Wir können es ausprobieren, Sebastian, aber ich bin mir nicht sicher, ob es funktioniert.«

»Natürlich wird es funktionieren.«

Er trägt schwarz glänzende Schuhe mit einer ungewöhnlich breiten Vorderseite. Es ist ewig her, dass sie einen Mann mit derart polierten Schuhen gesehen hat. Es erinnert sie irgendwie an Lakritzstangen.

»Ich habe schon alles vorbereitet«, sagt er und reicht ihr eine frisch gedruckte Visitenkarte. »Tobias Kaiser«, steht dort, und kleiner darunter, in Goldschrift abgesetzt: »Key Account Planning Effizienzer«.

Lisa schmunzelt und sagt: »Eine Nummer kleiner ging’s nicht?«

Sebastian öffnet eine Datei in seinem Laptop und präsentiert eine passende Homepage der Agentur »Coram Publico« nebst Verlinkungen zu Facebook und Xing, Erfolgshistorie, begeisterten Kundenreferenzen und Mitarbeiterausflügen. Alles sieht professionell aus.

»Das muss doch Stunden gedauert haben«, sagt Lisa und pfeift anerkennend.

Er schaut sie fragend an.

Sie ist unschlüssig, ob Sebastian sie tatsächlich betrachtet oder direkt durch sie hindurchstarrt.

»Entweder professionell – oder wir lassen es gleich sein. Ich finde deine Bemerkung unangebracht. So eine Aktion muss perfekt sein. Da darf nichts auffallen, nicht der kleinste Zweifel darf aufkommen. Dann sind wir geliefert.«

Sie nickt betreten.

Er hält ihre eine schwarze Hornbrille entgegen. »Passend zum Outfit.« Es ist so ein Teil, vor dem sie sich als Schülerin gefürchtet hat. Nie im Leben wollte sie so eine Brille tragen. Mittlerweile sind sie modern, weiß sie, und trotzdem ist es ungewohnt.

»Glas …«, sagt sie lächelnd, als hätte sie erwartet, dass so eine Brille auch ihre Sehkraft noch einmal verbesserte.

»Steht dir«, sagt Sebastian.

»Nicht dein Ernst.« Lisa runzelt die Stirn und schaltet ihr Handy auf Filmfunktion, um sich selber dabei zu betrachten. Zumindest erkennt sie sich nicht wieder. Ich sehe wie eine andere Frau aus, denkt sie und hat zum ersten Mal nicht mehr so ein mulmiges Gefühl wegen des verdeckten Einsatzes.

»Und da drin soll eine Kamera sein?«, fragt sie und schüttelt den Kopf.

Er nickt.

»Ansonsten trage ich noch eine Kamera in einem Hemdenknopf versteckt, eine weitere in meinem Kugelschreiber, der gleichzeitig auch noch als Sprachrekorder dient. Deshalb liegt er nur neben mir, ich werde ihn nicht zum Schreiben benutzen.«

»Ich habe zwar irgendwie schon mal gehört, was heutzutage alles möglich ist, aber wenn ich das jetzt so in echt mitkriege, dann …«

»Macht es dich scharf?«

»Nein, es macht mir eher ein wenig Angst …«

2

Es hat nie lange gehalten, denkt Lisa. Es gab immer Männer, Jungs, die was von mir wollten, aber es hat nie lange gehalten. Manchmal denke ich, es gibt so ein Codewort, wenn es um Liebe geht, das alle anderen mitgeteilt bekommen haben, beim Abi-Fest oder so, nur ich nicht. Obwohl ich Karriere gemacht habe. Es wundert sie, dass sie auf diese Gedanken kommt, aber es muss damit zusammenhängen, dass sie zum ersten Mal seit Monaten wieder mit einem Mann in einem Auto sitzen wird.

Wie ein Paar.

»Gut geschlafen?«, fragt Sebastian.

»Geht so …«

Es geht weniger um den Schlaf. Ihr Pony, undone, wie es heißt, Pixie, hing nach dem Aufstehen zu weit nach rechts, wie sie fand, irgendwie schief, weshalb sie nach dem Duschen beschloss, ein wenig nachzuhelfen, mit einer Schere zu korrigieren, bis sie dieses Ergebnis erst recht verzweifeln ließ. Jetzt sieht es völlig bescheuert aus, denkt sie, aber Sebastian merkt es nicht einmal. Zudem ist ihr die Strumpfhose zu weit nach unten gerutscht, weshalb sie unrhythmische, zu kurz geratene Schritte zum Auto hin ansetzen muss, die sie eher wie eine tumbe Spielzeugfigur zum Aufziehen wirken lässt, die ziellos nach vorne wackelt. »Sieht man die Mikrofone wirklich nicht?«

»Die sind kleiner als mein Knopf mit der Kamera«, antwortet er. »Schau dir den Kugelschreiber an. Siehst du irgendwas?«

»Wo hast du das ganze Zeug eigentlich her?« Sie räuspert sich. Vielleicht war das unangebracht, denkt sie. Deshalb hat sie die Frage eher beiläufig gestellt, mal eben so aus der Hüfte geschossen, und trotzdem fühlt sie sich in ihre Kindheit zurückversetzt, als sie zum ersten Mal einen Nachbarhund streicheln sollte, voller Respekt, ängstlich, und ihm erst einmal nur den Handrücken zeigte, damit der Köter daran schnüffeln sollte.

»Heutzutage kann man alles kriegen.«

Mehr kommt nicht. Sebastian tastet seine Jackentaschen ab und schaut stur nach vorne. Hochkonzentriert, als löse er dabei die Weltformel oder zumindest eine komplexe physikalische Berechnung. Und als würde er unverzüglich aufschauen, sobald er das Ergebnis ermittelt hätte. Aber er schaut nicht hoch.

»Du darfst nie aus deiner Rolle fallen«, sagt er. »Traust du dir das zu?«

»Ja«, antwortet sie.

Nein.

»Wenn auch nur der leiseste Zweifel aufkommt, sind wir erledigt«, sagt er. »Wir sind Geschäftsführer einer erfolgreichen Agentur und wollen eine große Anzeige schalten.«

Sie schnürt ihren Mantelkragen eng um den Hals zu, was sie weniger ängstlich als vielmehr kosmopolitisch wirken lassen soll, und lässt sich ächzend auf dem Beifahrersitz nieder, nachdem sie ein tosendes Meer aus Dosen, Papiertaschentüchern, Zeitungen und ehemaligen Schnellimbissutensilien in den Boden gedrückt hat.

»Sorry, die Unordnung …«

Sebastian fährt sehr aggressiv.

Um Gullydeckeln oder unsichtbaren Schlaglöchern auszuweichen, rutscht er mit den Fingern am Lenkrad entlang, als warte dort draußen ein Abgrund, und der Wagen neigt sich derart zur Seite, dass Lisa abwechselnd in beide Ecken poltert.

»Alles in Ordnung?«, fragt er belustigt.

»Alles korrekt.«

Ihr ist übel. Um sich abzulenken, dreht sie das Beifahrerfenster sporadisch auf und nieder. Und als sie sich unbeobachtet fühlt, lässt sie ihren Kaugummi nach draußen fallen, in ein Bett aus schwüler Luft und Abgasen. Zu Hause, denkt sie, schmeiße ich auch gerne einen Apfelkitsch aus dem Fenster.

»Nachher wäre es auch unpassend gewesen …«, sagt er tonlos.

»Wie bitte?«

»Geschäftsführer kauen keinen Kaugummi.«

Lisa beobachtet den fließenden Gegenverkehr. Die Sonne steht tief am Himmel, sehr tief, und strahlt frontal in die Innenräume all der angespannten Chauffeure um sie herum. Sie betrachtet diese Gesichter, während sie nur wenige Meter von ihr entfernt vorbeirasen. Ausdruckslos. Von Sorgen zerfressen.

»Attacke«, sagt er und atmet demonstrativ aus.

Es ist ein Industriegebiet, in dem Lisa noch nie vorher gewesen ist. Ich lebe seit 20 Jahren in dieser Stadt, denkt sie, aber in diesem Viertel war ich noch nie. Der Lärm des vorbeirauschendenVerkehrs, die Nüchternheit der Gebäude erinnert sie an dröge Spionagefilme, in denen sich verschlagene Agenten in genau so einem Ambiente verabreden. Immer in irgendwelchen anonymen Vorstadtsiedlungen, an Schnellstraßen und Industriegebieten. Gleichwohl ist sie auch gebannt von dieser unwirklichen Umgebung, von diesen amerikanisch anmutenden Straßen fast ohne Fußgänger. Niemand geht in solchen Gegenden zu Fuß, denkt sie, und dann auch noch im Anzug. Bürgersteige sind teilweise schon nicht mehr vorhanden oder von Unkraut überwuchert.

Sebastian klingelt an einem wuchtigen Quadratbau mit bestimmt 50 verschiedenen Firmenschildern.

»Herr Büser!«, ruft er wenig später aufgedreht und öffnet beide Arme. »Es ist mir eine Freude, Sie endlich mal live zu sehen!«

Es fasziniert Lisa, mit welcher Selbstverständlichkeit Sebastian in seine Rolle schlüpft. Sie tut sich eher schwer. Seit ihrer Pubertät plagt sie sich damit herum, mit ihrer Schüchternheit, mit ihren Selbstzweifeln, die sie mittlerweile zwar eingehend analysiert hat und zu bändigen versteht, sodass sie Vorträge auf einem internationalen Kongress halten konnte, ohne einmal mit der Wimper zu zucken, aber unverändert gibt es diese Momente, in denen sie nicht weiß, was sie mit ihren Händen anfangen soll. Beinahe wie in der fünften Klasse, denkt sie und reibt die Finger pausenlos gegeneinander, als wolle sie die Handflächen von Dreck befreien.

»Guten Tag«, sagt sie leise.

Du musst nur eine Rolle spielen, hatte Sebastian gesagt, aber sie fühlt sich blockiert. Sie möchte nicht betrügen. Es geht darum, etwas aufzudecken, das ist richtig, aber sie agiert lieber mit offenem Visier, wie es heißt, mit ihrem richtigen Namen und einem vorab angemeldeten Interviewtermin. Diese ganze Schauspielerei ist ihr fremd.

»Herr Büser, darf ich Ihnen ein wenig auf die Nerven gehen?«

Sebastian scherzt und grinst und zeigt sein schönstes Lächeln. Als Schauspieler ist er lockerer als in der Redaktion, denkt Lisa und schmunzelt. Insgeheim bewundert sie seine Besessenheit. Die Homepage, die er gebastelt hat, ist ausgetüftelt bis in kleinste Nebensächlichkeiten. Er hat eine komplette Firmenchronik erfunden, das Design kopiert, Mitarbeiterfotos besorgt mitsamt Referenzen, und das alles so detailgetreu, dass selbst sie, die doch weiß, es handelt sich um ein Fake, davon ausgehen würde, »Coram Publico« sei eine real existierende Firma. Mit mir als Assistentin, denkt sie.

»Den Kaffee bekommen Sie auf jeden Fall gratis.«

Alle lachen. Dabei geht es um einen Haufen Geld.

Eine ganzseitige Anzeige in der BILD kostet um die 50.000 Euro, in der Aachener Zeitung ungefähr 24.000 Euro. Egal bei welcher Zeitung, jeder Verlagsleiter wird Entgegenkommen zeigen.

»Wir dürfen für einen Klienten richtig investieren«, sagt Sebastian und strahlt, »wir denken an mehrere ganzseitige Anzeigen über einen Monat verteilt. Unsere Idee war Montag.«

»Samstags ist besser, da kriegen Sie mehr Aufmerksamkeit.«

»Und natürlich teurer!« Sebastian lacht aus vollem Hals und richtet seinen Zeigefinger wie eine Pistole auf sein Gegenüber. Beide grinsen.

Lisa dagegen ist abgelenkt. Herr Büser schielt. Sie möchte nicht unhöflich wirken, aber sie kommt nicht zu einer Entscheidung, in welches Auge sie schauen soll. Bei einem Normalsichtigen stand sie noch nie vor dieser Frage, da glotzt sie irgendwo ins Gesicht und irgendwie in beide Augen. Aber bei einem schielenden Menschen? Ich konzentriere mich erst auf das normale Auge, denkt sie, aber dann stockt sie, weil das ja vielleicht gerade das falsche Auge sein könnte, also starrt sie nunmehr auf die andere, die verdrehte Pupille. Aber vielleicht schaue ich damit an ihm vorbei, ins Leere? Also konzentriert sie sich wieder auf das andere Auge. Oder vielleicht sollte ich mich am besten auf die Stelle zwischen beiden Augen, auf die Nase fokussieren?

»Herr Kaiser, es geht nicht um die unterschiedliche Berechnung. Wenn Sie vier Anzeigen im Monat schalten, dann finden wir eine Lösung, die allen entgegenkommt.«

Dieser Verlagsleiter erinnert Lisa an Ken,den Freund vonBarbie, an eine Puppe aus Plastik, mit einem symmetrischen Gesicht, das in seiner Gradlinigkeit austauschbar und anonym wirkt, und in einem Anzug, der wie aufgemalt wirkt.

Und alle nehmen zu viel Parfum, denkt Lisa. Irgendwie gehört das in diesen Kreisen wohl zur Grundausstattung des Selbstvertrauens.

Neben dem Verlagsleiter sitzen zwei Frauen. Zum ersten Mal fällt Lisa auf, dass sie in Sebastians Gegenwart einen irgendwie gebannten, konzentrierten, gleichzeitig strahlenden Gesichtsausdruck annehmen. Beinahe kommt es ihr so vor, als ob diese Frauen einen Klang hören, wie von einer tibetischen Glocke, der sich im ganzen Körper ausbreitet, den aber alle anderen Anwesenden nicht wahrnehmen können. Eine der Damen erhebt sich sogar mitten im Gespräch, um neue Wasserflaschen zu holen. Sie wankt und wackelt auf ihren Highheels, lächelt Sebastian an, grabscht dann ihre mehrfarbig lackierten Nägel in Lisas Oberarm, um im Gleichgewicht zu bleiben.

Lisa lächelt zurück, aber sie würde die Frau am liebsten hintenüberfallen lassen.

»Das ist ein gutes Stichwort«, sagt Sebastian in seiner Rolle, »meine Klienten würden sich wünschen, dass im Umfeld der Anzeige nicht irgendwelche Artikel platziert werden, die im Gegensatz zum Geist der Anzeige stehen.«

»Wie meinen Sie das?« Büser umspannt mit beiden Händen die Stuhllehne, als wolle er deren Haltbarkeit überprüfen.

Räuspernde Stille.

»Wenn ich für einen – sagen wir mal als Beispiel – einen Klienten aus der Automobilbranche vier ganzseitige Anzeigen schalte, am Samstag, dann wäre es äußerst destruktiv, wenn am gleichen Tag ein Artikel über Schadstoffbelastung oder die Vorzüge des öffentlichen Nahverkehrs gedruckt wird. Verstehen Sie? Das könnte man doch auch am nächsten Tag bringen.«

»Ich habe jetzt nicht unbedingt Einblick in die Abläufe der Redaktion, also welcher Beitrag an welchem Tag …«

»Die Freiheit der Presse ist uns ein großes Gut«, unterbricht Sebastian, »es geht nur um eine gewisse Verschiebung. Das tut niemandem weh. Und wir sind wirklich bereit, ein solches Entgegenkommen großzügig zu honorieren. Wirklich großzügig.«

Lisa schaut zu Boden. Ein wenig weicht ihre Bewunderung für Sebastian, weil sie seine Maskerade mittlerweile für schamloses Lügen hält. Er spielt den Geschäftsführer dieser Firma in einer Gerissenheit, die sie sprachlos macht. Und er scheint es noch zu genießen.

»In so einem Fall könnten wir uns auch vorstellen, eine ganze Woche lang Anzeigen zu schalten. Oder auch in den Supplements. Oder wir richten für Sie eine Party aus, es gibt viele Möglichkeiten.«

Sebastian wartet. Er hat eine Technik entwickelt, Menschen unter halb gesenkten Lidern hervor zu betrachten, was ihm etwas Wissendes und Erhabenes geben soll.

»Herr Kaiser«, sagt der Verlagsleiter lächelnd, »ich bin sicher, dass wir eine Lösung finden werden. Melden Sie sich, sobald Sie konkret das Motiv und die Woche wissen, dann treffen wir uns noch einmal in kleinem Kreis. Vielleicht sogar am besten unter vier Augen?«

Sebastian nickt und lächelt.

Dann schweigt er lange.

 

Erst als Lisa und er beim Auto angelangt sind, lacht er plötzlich laut auf und dreht sich. Er wirkt völlig verändert.

»Wir haben alles, was wir brauchen«, jauchzt er. »Damit rocken wir die Bude. Das wird ein Scoop.« Er wirkt jetzt wie ein Kind. Albern, unbedarft, irgendwie liebenswert.

»Du bist zufrieden?«

»Gib mir fünf!«, jauchzt Sebastian und hält ihr seine Handfläche entgegen. Sie patscht darauf. Verglichen mit seiner Flosse wirkt meine Hand so winzig, denkt sie.

»War das gut?«

»Warst du nicht dabei?«, antwortet er mit einem dümmlichen Lächeln, das arrogant wirken soll.

»Ich habe so was noch nie gemacht. Mir fehlt die Erfahrung, um das einzustufen.«

»Haben sie uns alles abgekauft oder nicht?« Er wippt vor und zurück, mit den Händen in den Gesäßtaschen, immer wieder, vor und zurück.

»Das schon, aber … Ich meine, wir haben noch nicht deren Bestätigung, dass sie für eine große Anzeige auch redaktionelle Änderungen machen werden.«

Sebastian schließt die Augen. »Du bist sehr negativ.«

»So war das nicht gemeint. Ich sage doch nur …«

»Negativ!«, unterbricht er sie.

Beide steigen ein.

Sebastian startet den Motor, schaltet in den Rückwärtsgang, und während er seinen Kopf nach hinten dreht, um eine bessere Sicht zu haben, streicht sie kurz über seinen kratzigen Backenbart. »Normalerweise mag ich das nicht bei Männern – aber dir steht es.« Lisa will die Stimmung harmonisieren, seinen verbissenen Blick besänftigen. Ihre Hand fühlt sich dabei heiß und trocken an. Selbst aus ihren Augen scheint Wärme zu strömen.

»Morgen rasiere ich mich wieder.«

3

Lisa liebt es, ausgedehnt zu frühstücken, nicht nur am Wochenende.

Mindestens eine halbe Stunde, in Ruhe, das ist ihre Devise, und für dieses Vorhaben steht sie bereitwillig früher auf.

Eine Marotte von ihr ist es, Bilder auf Brötchenhälften zu malen, mit Honigstreifen oder Margarinekringeln, mit Petersiliesprenkeln und Schokoladencremestrichen. Ihre Lieblingsmotive sind Katzen und Häuser.

Letzten Monat hat sie in der Küche, im Flur und im Wohnzimmer Zeitschaltuhren eingebaut. Nicht etwa, um Einbrecher abzuhalten, sondern weil sie sich einsam fühlt, wenn sie abends von der Arbeit nach Hause kommt und dort nur alles dunkel vorfindet.

Ihr Handy rumort.

»Wie war der Termin?«

Eine WhatsApp von Emma, typisch für sie, ohne Anrede, nicht mal ein kurzes »Hi«, direkt in die Vollen.

Lisa beißt in ihr bemaltes Frühstücksbrot und überlegt kurz, all die widersprüchlichen Gefühle und Gedanken anzusprechen. Aber dann belässt sie es bei einer belanglosen Antwort.

»Ganz gut.«

Alles andere wäre zu viel für eine Nachricht.

Nach einem zweiten Bissen ergänzt sie die erste Nachricht.

»Kann ich dir heute Mittag genauer erzählen.«

Lisa erinnert sich an den letzten gemeinsamen Abend mit Emma, und dabei vor allem an deren spontane Idee, Nudeln zu kochen. Um drei Uhr morgens. Emma stand unbeweglich neben dem kochenden Topf und verbrachte die meiste Zeit damit, mit der Gabel eine einzige Nudel aus dem Kochwasser zu fischen. Was ihr fast nie gelang.

Sämtliche Zutaten für eine improvisierte Soße wollte sie ansonsten aus der Hand direkt in den Topf schneiden. Auch Zwiebeln, im Stehen zerkleinert. Zudem schwor sie auf Meersalz, schimpfte aber während des Kochens pausenlos über eben diese Zutat. Denn die Kristalle waren zu dick und ließen sich nicht gleichmäßig streuen, manchmal kam gar nichts aus der Packung raus, dann wieder ploppten ganze Klumpen.

»Kommst du mit dem Typen klar?«

Emma lässt nicht locker. Lisa überlegt wieder, was sie antworten soll.

Emmas Wohnung, erinnert sie sich, sah aus, als hätte sie sämtliche Flohmärkte der Republik besucht, um die Restposten dann in ihrer Wohnung abzulegen. Es gab Unmengen Tassen aus verschiedenen Städten, bedruckt anlässlich wechselnder Ereignisse, zudem Stühle und Sessel aus unterschiedlichen Materialien in allen nur denkbaren Farbtönen.

»Er wirkt auf mich sehr steif.« Emma setzt im Sekundenabstand neue Sätze ab. »Fast schon künstlich. Und ich habe das Gefühl, er redet mir nach dem Mund.«

Lisa träufelt neue Marmeladehimmel auf ihren Toast, leckt sich die Finger sauber und tippt mit ihren klebrigen Fingern eine Antwort.

»Keine Ahnung, ich finde ihn nett.«

Es dauert nur wenige Augenblicke, dann folgt das nächste Brummen. Von Emma: »Aber er ist immer so übertrieben freundlich und zuvorkommend, schleimig beinahe.« Dahinter diverse Emojis, die diverse Stimmungen ausdrücken sollen.

Mit einem weiteren Nachsatz. Brummen. »Als hätte er eine Maske auf sein Gesicht geklebt.«

Lisa erinnert sich an einen gemeinsamen Ausflug. In einer Pause animierte Emma die Gruppe, Postkarten an eine sogenannte schwierige Person in ihrem Freundeskreis zu schreiben. Alle gaben sich viel Mühe, und nach einigen Tagen fand Lisa die Karten in ihrem Briefkasten.

Sie hatte es nicht so lustig gefunden wie Emma.

Was soll ich antworten?

Sie schlürft aus ihrer Schnabeltasse den Milchschaum ab. »Wir sind Kollegen.« Ohne Emoji.

Diesmal erfolgt keine Reaktion.

Emmas provokante Art, ausschließlich die Sachen zu essen, die abgelaufen sind, erinnert sich Lisa, und das demonstrativ vor eben den Kolleginnen zu praktizieren, die sich davor ekeln. Weil Emma sich solchen Ängsten verweigere, wie sie sagt, und gewissen Panikmachern.

Warum antwortet sie nicht?

Das ist ungewöhnlich für Emma. Lisa liest ihre Nachricht ein zweites Mal, ob sie vielleicht ohne Emoji missverständlich sein könnte. Emma schafft es aus dem Nichts heraus, beleidigt zu sein, überlegt sie, ohne jeglichen ersichtlichen Anlass. Emma ist ansprüchlich, wie es in der Therapeutensprache heißt, sehr leicht reizbar, aufbrausend und kündigt einem dann die Freundschaft für immer. Das hatten wir schon mehrmals, schmunzelt Lisa. Wie oft schon hatten sie beide jegliche Kommunikation eingestellt, weil Emma mit lautem Getöse, wie eine Königin, abrauschte. Sie ist professionell, denkt Lisa, auf jeden Fall, aber privat ist es manchmal schwierig. Wenn wir etwas essen oder trinken gehen, und dann gibt es plötzlich diese Momente, in denen Emma abrupt schweigend vor sich hin brütet.

Soll ich nachfragen?

Der Nachbar, ein Stockwerk abwärts, läuft viel in seiner Wohnung herum, gerne frühmorgens oder sogar nachts. Dabei trägt er anscheinend Turnschuhe, auf Laminatboden. Auf jeden Fall quietscht es unregelmäßig, wie der Pfiff von einem Schiedsrichter. Kurz und schrill und unregelmäßig.

Keine Antwort.

Lisa räumt die Sachen vom Tisch, stellt alles in den Kühlschrank, zieht ihre Schuhe an. Der Reißverschluss ihrer Jacke klemmt, was sie einerseits ärgert, andererseits aber auch vergessen lässt, dass sie auf eine Antwort von Emma wartet.

Bis ihr Handy plötzlich vibriert.

Sie läuft zum Tisch, wo sie es liegen gelassen hat.

»Was denn sonst?«

DAS MUTTERMAL

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