Chäserrugg - Christian Gauer - E-Book

Chäserrugg E-Book

Christian Gauer

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  • Herausgeber: Emons Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Ein Voralpenkrimi in einzigartiger Landschaft. Eigentlich hatte sich Privatermittler Gottwald Tobias geschworen, nie wieder in seine Heimat im oberen Toggenburg zurückzukehren. Doch dann erreicht ihn der Hilferuf eines alten Bekannten, der zu Unrecht des Mordes beschuldigt wird. Ihm zuliebe begibt sich Gottwald im Tal auf die Suche nach dem wahren Täter. Dass er dabei tief in der Vergangenheit einiger Verdächtiger gräbt, macht ihn bei den bärbeissigen Einheimischen nicht gerade beliebter – und bringt den Mörder in Zugzwang.

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Seitenzahl: 452

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Christian Gauer, 1967 geboren, hat eine Ausbildung als Maschinenmechaniker und Journalist. Er arbeitet als Schwendiseewart, Klangwegmacher und führt den Schwendiseewart-Blog und die Rezensionsplattform «Seitentrotter». Vor zwölf Jahren ist er mit der Familie von St. Gallen nach Unterwasser gezogen, wo er nebst einem Garten auch Kleintiere hält, um einen Teil des Einkommens als Selbstversorger bestreiten zu können.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2022 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: mauritius images/Prisma/Frischknecht Patrick

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-974-7

Originalausgabe

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Für all jene, die sich im Toggenburgzwischen Tradition und Neuzeit wohlfühlen

Prolog

Verlockend, genau das Richtige, dachte er. Er erhob sich, setzte Wasser auf, öffnete das Päckchen und streute einen vollen Esslöffel in den gläsernen Bierhumpen. In den Schatten neben der geschlossenen Eingangstüre waberte das Dunkel. Kugelhafte Tropfen begannen zu kreisen, formierten ein vertikal stehendes Auge. Eine Gestalt trat in das Loft.

«Pizza?», fragte der Fremde mit knatternd tiefer und blecherner Stimme.

Er goss heisses Wasser in den Krug.

«Nein danke, hab schon bestellt.» Gedankenverloren wies er auf die Pizza. Ein Drittel lag noch vor ihm. Neben dem Karton der Humpen mit dem Ayahuasca-Tee. Er nahm den Krug und schwenkte ihn, als wäre es der beste Wein, den er je vor sich gehabt hatte, setzte ihn an die Lippen, kostete – es schmeckte nach Kompost und Plastik – und stürzte den braunen Absud in einem Zug in seinen Rachen. Zu heiss, um hastig zu trinken, hätte er ihn beinahe wieder ausgespuckt. Stattdessen unterdrückte er den Schmerz und goss vom schweren Spanier nach.

Hatte er den Dimmer nicht reguliert? Sein Körper fühlte sich immer noch heiss an, er schwitzte jetzt von innen nach aussen, und es juckte ihn am ganzen Körper. Dieser Spanier, er musste ein selten guter Tropfen sein. Wie ein kleines Rinnsal den Weg den Berg hinunter sucht, drängte sich eine andere Erkenntnis in seinen Geist. Hatte da vorhin nicht jemand gesprochen? Ihm ein Stück Pizza angeboten?

Im Halbdunkel des Lofts gewahrte er die Person neben der Eingangstüre: silbergrau glänzend von Kopf bis Fuss. Hut, Gesicht, Anzug, Schuhe, Gehstock; alles genau abgestimmt und glitzernd. Die Augen dunkel wie Bergseen im Schatten. Den Stock in der Rechten, einen dicken schwarzen Ledereinband in der Linken.

Er öffnete den Mund, wollte sprechen. Der Fremde hakte den Stock an den linken Unterarm, öffnete das Buch. Beklemmende Starre ging von seinem Blick aus. Ein Blatt löste sich wie von Geisterhand, hypnotisierte ihn und segelte in seine Richtung. Als sei es eine göttliche Offenbarung, sperrte er seinen Mund noch weiter auf. Es landete zielgerecht auf seiner Zunge – wie konnte ein so grosses Blatt überhaupt da landen –, und sein Kiefer klappte endlich zu. Es schmeckte nach Pizza. Während er kaute, starrte er weiterhin auf das Wesen. Mehr, als dass er sie lesen konnte, fühlte er die Worte, die in den Augen des Fremden erschienen. Sie bildeten ganze Sätze und beamten sich in einem hellgelben Lichtstrahl in seine Seele. Das ging ihm zu schnell, und er konnte gerade noch lesen: «Zeit abzurechnen!»

EINS

Auf der Halden über dem Vorderberg befestigte Sepp Brägger die grüne Blache mit dicken Nägeln an der Hartholzbeige. Erster Schneefall hatte die Landschaft eingezuckert. Die Sonne senkte die letzten Strahlen über die Voralpen und tauchte den Schafberg in ein warmes Abendrot. Tiefe Schatten lagen bereits über dem Tal, und ein kräftiger Wind brachte den Geruch des nahen Winters. Letzte milde Stunden, von Hähnen bekräht.

Er hob den Blick und sog die festliche Stimmung, die ihm seine Heimat einmal mehr bot, in sich auf. Es blieben ihm einige Minuten, bevor die Tiere wieder seine Aufmerksamkeit forderten. Seit Generationen dünn besiedelt, harte Arbeit auf steinigem Boden, die Gesteinsschichten dem Forscher eine Freude, die traumhafte Landschaft ein Tourismusmagnet, dachte Sepp. Die paar Minuten konnte er immer erübrigen. Die Abendstimmung über den Voralpen liess ihn für einen Moment die Arbeit vergessen.

Er wohnte hier in einer einmaligen Natur. Sie forderte ihren Tribut, gab aber auch Halt und Lebenssinn. Schon seit Zeiten thronten die Churfirsten über dem Tal, die Stille fand nie einen Abbruch, und die Milchkuhhaltung gab seinem Leben einen gleichmässigen Rhythmus. Sepp gehörte hierhin. Schon viele Male hatte er hier oben auf der Halden erlebt, dass Sorgen ihn bedrücken und den Tagesanfang trüben konnten. In seiner Heimat zwischen Säntis und Churfirsten gab es immer einen bestimmten Punkt im Tagesablauf, der imstande war, seine Stimmung auf ein komplett anderes Niveau zu heben. Es genügte manchmal der kurze Gang vom Wohnhaus zum Stall, um seinem Gemüt wieder Freude zuzuführen wie ein gutes Stück Torte dem Bauch.

Der Schein der Sonne verblasste auf der Doppelspitze des Schafbergs. Sepp senkte den Kopf und machte sich daran, den mit Verbundsteinen befestigten Fahrweg hochzugehen. In den Hosentaschen verkrampften sich seine Hände, formten sich zu Fäusten. Ein Tritt mit dem Fuss beförderte einen eigrossen losen Stein in die Wiese. Etwas war heute nicht wie gewohnt, etwas bedrückte ihn. Und wenn er ehrlich war, kannte er den Grund. Was ihn in Gedanken umtrieb, lag tief in der jüngeren Vergangenheit begraben. Es jährte sich zum ersten Mal der Tag, an dem seine Jugendliebe den Tod gefunden hatte. Anna Bischof, das Mädchen vom Hof auf der Statz oberhalb des Wasserfalls, hatte sich an diesem Tag, es war Freitag, der 1. Dezember, an einem Balken erhängt. Und aus! Sie hatte ihr Leben weggeworfen. Und er hatte seit damals noch kein Interesse gezeigt, jemanden anderes kennenzulernen. Er war auf dem Weg, ein Single zu bleiben, ein alter, knorriger Einheimischer. Halden Sepp, so hatten sie seinen Vater gerufen, als er noch lebte. Er hatte auch nichts dagegen, ebenfalls so gerufen zu werden. Noch war er es aber nicht, denn er war noch nicht bereit. Noch war er der Junior vom Halden Sepp.

Na ja, das Mädchen, die Anna, dachte er, die wär’s gewesen. Hübsch, arbeitsam und mit einem Wesen so sanft, wie er es sich nicht besser vorstellen konnte. Die richtige Bäuerin. So war sie, bevor sie auf die schiefe Bahn geraten war.

Die trüben Gedanken wollten sich nicht lösen. Sepp stand im Stall, versetzte mit fahrigen und ruckartigen Bewegungen die Melkmaschine. Nicht zufrieden mit seiner Leistung stampfte Anna mit den Hinterläufen. Er hatte die Kuh nach der verlorenen Liebe benannt; Anna Bischof, sein Mädchen, war diesem Schönling auf den Leim gegangen. Diesem missratenen Sohn eines besitzgierigen einheimischen Bauunternehmers.

Hubi Grob hatte ihr die Augen verdreht, den Sinn verzwirbelt, dass sie nicht mehr wusste, wo ihre Wurzeln waren. Sepp wusste heute noch nicht, was sie an diesem auf Schönheit bedachten Geck denn so attraktiv gefunden hatte. Dann hatte Hubi sie sitzen lassen. Und Anna fiel in eine bodenlose Depression. Zu Sepps Leidwesen begann sie die Leere mit Drogen zu überbrücken. Eine tödliche Kombination. Sepp boxte jetzt der Kuh in den rechten Hinterlauf, damit sie endlich den Platz freigab.

Immer wieder setzte Sepp hier an, wenn er an sie dachte. Er hätte etwas unternehmen und Hubi stoppen sollen. Es war jedoch auch müssig, daran noch mehr Gedanken zu verlieren. Anna war nicht mehr da, Hubi nicht im Tal sesshaft und er ein Bauer, der zwar keine Aussicht auf eine Beziehung hatte, sich aber trotz allem nicht verloren vorkam, hier oben auf der Halden.

Sepp streifte die schweren Stiefel von den Füssen, zog die Socken aus und legte sie zum Auslüften über die Stiefel.

Er betrat den Durchgang, der den angebauten Stallteil vom Wohnhaus trennte, und ging in die Küche. Vom Tisch, eine Kirschholzplatte mit knorrigem Tannenrugel als Bein, schnappte er sich das Stück Käse und den Brocken Brot, die von der Pause am Nachmittag übrig geblieben waren. Bevor er noch mehr ass, wollte er sich frisch machen. So begab er sich in den ersten Stock, wo sich die Duschecke, das WC und sein Schlafzimmer befanden. Die Stiege war eine Verbindung mit durchgetretenen Holzdielen in einer Steigung von mindestens fünfzig Grad, ein Gefahrenherd für Gedankenlose und Eilige. Für Sepp gehörte sie zum Haus wie jeder andere Einrichtungsgegenstand. Innerlich aufgewühlt nahm er die Stiege nicht mehr bewusst wahr. Er stolperte auf halbem Weg und bekam mit der einen Hand gerade noch den obersten Tritt zu fassen. In Wut geraten, knallte er ansatzlos die Faust an die Wand.

Wieder gefasst, hatte er sich in weniger als fünf Minuten frisch gemacht, sein Jeanshemd vom Haken geangelt und sich in die Küche begeben.

Draussen heulte ein Motor auf. Sepp schob den Vorhang beiseite und guckte zur Auffahrt. Ein kürbisfarbener Subaru Justy, Jahrgang 2011, kämpfte sich den Berg hoch. Der Fahrer liess den Wagen ein letztes Mal aufheulen und parkierte dann gleich neben seinem Ford Ranger.

Das ist doch das Auto der Andrea, der Bäuerin vom Ennethur, der Mutter von Anna, dachte Sepp. Die Wagentüre ging auf. Aus dem Führerstand stieg ein Mann, der in den Vorstellungen Sepps den verwerflichsten Bildern eines Menschen seines Standes entsprach. Er trug einen graublauen, vor Schmutz starrenden, knielangen Kittel, der einem Arbeiter in der Werkstatt Ehre verleihen würde, aber hier das Bild des Bauern zu dem machte, was Sepp zu vermeiden suchte. Ein nach Mist stinkender, schlecht gekleideter und ungewaschener Landwirt oder Knecht mit diesem Käppi, das wie ein Fingerhut aussah. Wenn das Tenue Blau den unbescholtenen Bürger zum Pinocchio machte, dann machte dieser Fingerhut seinesgleichen zum Globi. Sepp konnte nicht nachvollziehen, warum so viele seiner Standeskollegen sich das antaten und ein solch unförmiges Ding aufsetzten. Es machte seine Gattung doch erst zum Sinnbild eines Menschen, den man in den Städten als Hinterwäldler bezeichnete.

Annas Bruder überquerte den Vorplatz. In der Hand hielt er einen vergilbten Jutesack mit dem verbleichten Bild eines grünen Hirsches auf der Vorderseite. Die Tür zum Zwischengang stand offen.

Sepp sah, wie Albin stehen blieb und den notdürftigen Papierklebestreifen mit der schwarzen Aufschrift «Glocke» betrachtete. Er sah es in dessen Gesicht, dass Albin die Beschriftung nicht sehr einfallsreich fand. Dass der Knecht sich überlegte, da die Funktion eines Klingelknopfes doch klar war, wie bekloppt Sepp sein musste, dort nicht seinen Namen hingeschrieben zu haben. Spielt doch keine Rolle, dachte Sepp und trat in den Durchgang.

«Albi, was willst du hier?»

«Müssen … reden», nuschelte es aus dem verfilzten, haarigen Etwas, das unter der hässlichen Kopfbedeckung steckte; die Schultern hängend, schlottrige Haltung, der Rücken gebeugt, als krampfte er wirklich den ganzen Tag.

«Hab was Gutes dabei, Trester.»

Sepps Neugier siegte in diesem Moment über die grundsätzliche Abneigung gegen diesen Nachbarn, mit dem er mal die gleiche Schule besucht hatte. Albin griff in die Tasche, stellte die Flasche Hochprozentigen auf die Kirschholzplatte.

«Also, was treibt dich her?» Von der breiten Anrichte, die mit einem Aufsatzmöbel kombiniert war, griff Sepp zwei Shotgläser.

Erstaunlich gewandt schenkte Albin bis zur oberen Marke ein. Sie stiessen an und leerten das Glas. Aus der Hemdtasche holte Sepp eine Dose Schnupf hervor.

«Blau, grün, rot, rapid bis in Tod. Priiis.» Sie zogen sich das braune Pulver in die Nasenflügel.

«Der Unfall … auf der Jagd», brabbelte dann Albin und wollte sich den Fingerhut vom Kopf ziehen, was Sepp absolut missfiel. Albin liess aber das Stück Stoff sitzen und drehte es nur in eine andere Position. «Elmer Citro», stand da in dunkelgrüner Schrift.

Sepp erinnerte sich. Es war ein tragisches Ereignis gewesen, es hatte die Familie Bischof vom Ennethur hart getroffen.

Der Trester und die Prise gingen in Runde zwei.

«Was den braven Mädchen gefällt, ist ein Mann mit schön viel Geld. Ich hab kein Geld, ich armer Sack, deshalb bleibt mir nur der Schnupftabak. Priiis.»

Das braune Pulver fand nicht mehr ganz so präzis den erwünschten Weg zu den Schleimhäuten. Es bestäubte die Nase von Sepp, worauf dieser sein Nastuch hervorzog und einmal inbrünstig schnäuzte.

«Vater … war immer … vorsichtig», stotterte Albin weiter. Der Trester schien seine Zunge nicht zu lösen. «Abgemacht … haben sie es … und dem Max … gehört … nun unser Land. Hubi hat … damit geprahlt, in der … ‹Gräppele›, endlich tot … wir hätten … nichts anderes verdient. Vater … war immer vorsichtig. Die Anna … tot … das ganze Unglück … nur wegen … Grob.» Albi verstummte. Langte sich den Trester.

Sepp hielt die Hand über sein Glas. «Gehe noch weg, mir nicht mehr. Aber Albi, noch mal, warum bist du hier?»

Albin, die Ruhe selbst, schenkte sich ein, hob den Kopf, um den Shot zu stürzen. Dann griff er unter den Kittel und holte einen Briefumschlag hervor. Ohne Worte streckte er ihn Sepp hin. «Haben wir … gefunden … von Anna, sie würde … du musst das … haben.»

Sepp nahm den Brief entgegen und legte ihn auf den Anrichteaufsatz.

Albin stand auf und wandte sich zur Tür. «Wir … wollten, … dass du … das erfährst.» Er stampfte davon, stieg in den Justy, wendete und rollte hochtourig die Auffahrt hinunter.

Knapp vor halb neun erschien Sepp zur Probe. Das Lokal befand sich in einem Wohnblock in Lisighaus. Wie ein richtiger Bergler mit grossen Schritten den Berg runterspringt, nahm er im Treppenhaus gleich zwei Stufen auf einmal. Das ist doch die DNA der Natur hier oben, dachte Sepp, oder war es doch der Trester? Im Keller angekommen, drückte er die Klinke, als wollte er die Türe nicht nur öffnen, sondern gleich eindrücken.

«Hoi zämä.» Die Worte getragen vom mitgebrachten Elan.

Die Wirbelschläge auf den Übungsböckli verstummten, und der Blick des Präsidenten und Vortrommlers richtete sich auf ihn.

«Auch schon da, zu spät, wie meist. Jetzt mach schon, stell dich hin. Wir haben die Grundlagen durchgetrommelt und sind bereit für das erste Stück. ‹Das Brösmeli›, das kennst du ja.»

«Subito parat», sagte Sepp und angelte sich die Schlegel aus dem Gestell. Er blickte umher, konnte aber sein Böckli nicht finden. Vier waren sie, die im Halbkreis vor Emmenegger Stellung bezogen hatten. Er schaute genauer hin und entdeckte es bei Paul.

«Hey», sagte Sepp, «ich komme zu spät, aber Paul hat seine Brille daheim liegen lassen.»

Paul reagierte und blickte auf sein Böckli. «Das ist meins.»

Kaum war Sepp da, fühlte er sich als einer von ihnen. Er hörte den markanten einheimischen Slang. Es musste nicht die Länge einer Festrede sein, es brauchte auch nicht die Intonation wie die zu einem Jodel des Churfirstenchörlis, nein, es reichten seine Kameraden vom hiesigen Tambourenverein.

«Ja sicher», entgegnete Sepp und lachte, «und zu Hause erkennst du deine Frau nicht.»

Alle grinsten.

Sepp kannte das ständige Durcheinander, in dem sich der Keller präsentierte. Es führte dazu, dass Aussenstehende sie leicht als einen Haufen Chaoten taxierten. Paul schnappte sich immer gleich das nächste Böckli, ohne darauf zu achten, wem es gehörte. Das allein störte Sepp nicht. Aber er konnte nun mal nicht auf jedem Böckli spielen. Die Bezüge waren erstens nicht aus dem gleichen Material und zweitens auch nicht gleich festgespannt. Das bedeutete, dass er klobig wirkte und den Wirbel nicht schön in einem Guss hinkriegte. Darum wollte er seine eigene Trommelhilfe.

Heiterkeit breitete sich immer noch auf den Gesichtern der Kollegen aus.

«Gib ihm jetzt endlich sein Böckli», drängte Emmenegger.

Paul brummte nur: «Wo ist denn meins?»

«Ach ja», sagte Emmenegger, «das hatte ich ja ganz vergessen. Deins ist bei mir zu Hause. Du hattest doch immer Mühe, es zu verstellen, weil die Flügelmutter fehlte. Ausserdem war das Gewinde nicht mehr gut.»

Die Probe kam zum Stillstand. Die vier verliessen den Halbkreis auf der Suche nach einem Böckli für Paul und begannen zu schwatzen. Es war ein eingeübtes Verhalten und gehörte zur Probe wie die Schlagtechnik zum Trommeln. Endlich fanden sie eines, das man sonst nur für die Jungtambouren einsetzte.

«Tambouren, zurück in die Ruheposition», versuchte Emmenegger die Probe fortzusetzen.

Sepp stellte sich hin. Seine Position war links aussen. Nicht in der Mitte. Dort standen die Leistungsschwächeren. Er fühlte sich unter diesen Dickgrinden zu Hause. Schliesslich war er auch einer. Das ständige nicht ganz ernst gemeinte Genörgel gehörte dazu. Und es hatte schon Abende gegeben, da konnten sie sich nicht beruhigen, was dann zum Beschluss führte, die Probe zu beenden und verfrüht in den zweiten wichtigen Teil zu wechseln: die Beizenstunde.

Heute aber beruhigten sich die Gemüter wieder, und Sepp setzte sich durch, noch mindestens eine Grundlage zu spielen. Die Worte von Albin von der Statz waren fürs Erste wie weggeblasen.

Um Viertel vor zehn waren sie in der Beiz, am Stammtisch im Hotel Toggenburg. Nebenan wurde gejasst. Sepp entgingen die kritischen Blicke nicht, mit denen er und seine Kollegen bedacht wurden. Er musste daran denken, dass Vereine hier oben der Gepflogenheit entsprechend wichtig waren. Trotzdem galt der Tambourenverein als etwas verschroben. Das mochte auch an der Lautstärke der Trommeln liegen und an den Übungen vor den Festen draussen auf dem Munzenriet, die nicht alle freuten. Das Misstrauen war gegenseitig. An der Wand neben dem Ausgang zum Hotelempfang hing der Kasten mit den Abzeichen. Kränze und dergleichen; daneben auch der Lorbeerkranz von Sepp mit vierfacher Silberblatteinlage, aber nicht die Fahne vom Verein. Diese hing im Mehrzweckgebäude im Chuchitobel.

Sie waren zu sechst: Jan, Sebi, Paul, Res, Sepp und Emmenegger. Deshalb rückten sie zwei zusätzliche Stühle an ihren Tisch.

Sie nahmen Platz und bestellten. Schwiegen, wussten nicht, was zu erzählen war. Sepp fragte sich, wieso eigentlich keine Frauen mehr dabei waren. Das war auch schon anders gewesen. Bei der Kassiererin angefangen, hatte die Hälfte des Vereins einmal aus Frauen bestanden. Er erinnerte sich vage daran, dass die Proben harmonischer gewesen waren und die Stunden in der Beiz lockerer, nicht so eine Atmosphäre wie unter einer Glashaube oder wie auf dem Mars. Sollte er den Anfang machen und von seinem Hof erzählen? Jeder schaute vor sich hin oder zum Nachbartisch oder schätzte erneut ab, wie hübsch nun die neue Serviertochter wirklich war.

Emmenegger brach das Schweigen. An Jan gerichtet, der auch Kassier war, erkundigte er sich nach dem Kassenabschluss des letzten Festes.

«Würd ich gern abschliessen, aber es fehlen noch ein paar Quittungen von Melanie», sagte er. Und es würde auch noch eine Weile so bleiben. Denn sie sei weggezogen.

Die Rechnung war einfach: keine Quittungen, keine Vereinsversammlung, denn dort musste das Kassabuch korrekt geführt präsentiert werden, dachte Sepp. Sie übten nicht für die Vereinsversammlung, sie übten für die Wettkämpfe, für das Dorffest, spann er den Gedanken weiter. Jan und Emmenegger hatten keine Lösung. Bier statt Frauen war eine Lösung, und was den Verein betraf, war Sepp damit zufrieden.

Aber das Eis war gebrochen.

Emmenegger sagte: «Das wäre eine für dich.» Er schwenkte den Kopf und zwinkerte Sepp zu.

Sepp fragte nach: «Wer?»

Res deutete auf die Kellnerin. «Die da.»

Die Tambouren lachten. Sie kannten Sepps wunden Punkt und nutzten ihn schonungslos aus. Die Serviertochter bediente die Jassrunde nebenan.

Jan sagte: «Jaaa, schau sie dir an, wie gemacht für dich.»

Sebi ergänzte: «Einen ungarischen Namen, nicht von hier, macht nachher die Saison auf dem Chäserrugg.»

Emmenegger sagte: «Toth oder so, hab ich gehört.»

Paul fragte: «Hä?»

Emmenegger antwortete: «Der Name.»

Paul sagte: «Jä so.»

Wieder lachten alle.

Auch wenn das Gespräch eine für Sepp unerwünschte Richtung nahm, er schätzte seine Kameraden; auch Paul, der Metzger war und Konversation eine Überforderung für ihn.

Er sagte: «Ihr seid aber gut informiert. Wissen eure Frauen davon?» Ein Gegenschlag, der wie Wasser auf einer gut imprägnierten Jacke abperlte.

Emmenegger, die Hand hochhaltend, rief: «Bringst du noch sechs Bier, bitte?»

Die Kellnerin hatte den Jasstisch abgefertigt und nahm beim Vorbeirauschen die Bestellung entgegen.

Als sie mit dem vollen Tablett in der Linken an den Tisch trat, schaute sie Sepp direkt in die Augen. «Toth, Boglarka Toth eisse isch, abr nenn mich Bogi.» Und an alle gewandt, ergänzte sie: «Nennt misch Bogi, ja?» Sie drehte sich um und ging Richtung Tresen.

«Auf Bogi!», riefen sie, das Glas erhoben, ausser Sepp, dem hatte es gerade die Sprache verschlagen.

Zu christlicher Stunde kam er nach Hause. Er spürte jedoch keine Befriedigung, die er sonst meist nach der Probe hatte. Die Entspannung dank des kameradschaftlichen Zusammenseins stellte sich nicht ein. Wie schon früher am Abend meldete sich die tiefergehende Sorge. Die vermaledeite Liebe versetzte ihn wieder in eine grüblerische Stimmung.

In der Küche griff er sich den Trester von der Kirschholzplatte, den Albin gebracht hatte, und goss sich den Rest in ein Bierglas. Eins von der Sammlung der vielen Vereinsfeste mit dem Logo der Wildhauser Tambouren: die Trommel mit Bandelier und Schlegel. Sepp blickte zum Aufsatz auf der Anrichte. Eine Ecke des Briefs reichte über die Kante hinaus und erinnerte ihn an das mysteriöse Erscheinen Albins.

Wie lange lebte er eigentlich schon alleine auf der Halden? Sepp nahm einen Schluck, verzog das Gesicht zu einer Grimasse und kratzte sich ausgiebig im Nacken. Er hatte den Hof übernommen, wie so vieles. Er hatte ihn übernommen und damit auch die Gebräuche. Das ganze Leben seiner Eltern. Wer war er eigentlich, fragte sich Sepp jetzt enorm viel stärker als sonst. War er einer, der nur lebte, um den Hof weiterzuführen? Der keine wirtschaftlichen Innovationen förderte und nur das in Angriff nahm, was er kannte? Gewissermassen war es so, das wusste er. Aber das musste ihm niemand so direkt auf die Nase binden. Dem würde er zeigen, warum die Säntisthur nicht immer Wasser führte. Die Pferde hatte er der Tradition zuliebe, um im Frühling das erste Feld motorlos zu eggen.

Es darf nicht alles dem Tempo der Zeit anheimfallen, pflegte sein Vater jeweils zu sagen. Sonst verlierst du den Bezug zur Natur, und wenn du den Bezug zur Schöpfung verlierst, verlierst du das Gefühl für das Leben.

Sepp sah wieder, wie sein Vater an der Rückseite dieses von Schnitten gezeichneten Tisches sass, die selbst geschnitzte Pfeife schmauchte und ihm eine Lektion erteilte. Er hatte diese häuslichen Tugenden kommentarlos weitergeführt, wie so vieles. Er hatte die Milchwirtschaft weitergeführt, die Pferde nicht weggegeben und … viel zu früh hatte Vater sein Leben bei einem Lawinenniedergang eingebüsst. Das hatte Mutter in die Arme von Mutter Kirche getrieben, und er hatte von ihr eine gewisse Frömmigkeit mitbekommen. Schau, dass du am Wochenende wieder mal zur Kirche gehst, gell.

Und er war gegangen, in seinen Jugendjahren, im Gegensatz zu vielen seiner Altersgenossen. So ging er eben auch heute noch dann und wann zur Kirche. Er musste an die Meinung vieler Unterländer denken. Dass man hier oben alles so machte, wie man es halt immer machte. Das hielten viele, die zum Skifahren hier hochkamen und die er als Bähnler kennengelernt hatte, geradeheraus für die verknorzte Variante von Sturheit, der man nur in einem bergischen Hinterland wie dem Toggenburg begegnete. Althergebrachtes, so dichteten sie dann jeweils in einem Sermon weiter, ist nur in dem Masse wichtig, als dass es Veränderung nicht behindert.

Ja genau, dachte er dann jeweils, ich brauche Veränderung, und es behindert mich wesentlich, dass noch keine Frau da ist. Der Trester in Verbindung mit dem Bier, das er in der Beiz genossen hatte, tat seine Wirkung. Eine dunkle Wolke überzog das Herz. In einem Schwung flog das Bierglas in den Schüttstein und zersprang ordentlich in genug Scherben.

Eigentlich war es ja ein guter Hof, und er stand an bester Lage. Hier auf dem breiten Südhang, den die Einheimischen Sonnenhalb Unterwasser nannten. Er hatte keine zu steilen Hänge zu bewirtschaften wie viele seiner Berufskollegen. Die Wiesen, Äcker und Halden zogen sich wie ein breiter Rücken bis nach Alt St. Johann. Alles sanft abfallendes und ansteigendes Bergland, gut zu bearbeiten mit dem grossen Mäher. Es reichte ihm völlig, dass sein Stall die schweizerischen Richtlinien für die Milchkuhhaltung einhielt und somit den neuesten Standards entsprach. Da scherte es ihn nicht, dass er nicht besonders offen für Veränderung war. Die Kühe, die Pferde und die paar Hühner; es war ihm wichtig, dass es ihnen wohl erging, hier auf der Halden, wo er das Sagen hatte. Er strebte nicht nach Grösse, er strebte nach Leben. Natürlich war er froh über den modernen Fuhrpark. Nur dank ihm konnte er die anfallende Arbeit allein stemmen, dessen war sich Sepp bewusst. Daran gewöhnt, von früh bis spät auf den Beinen zu sein, war er sich auch nicht zu schade, eine Reparatur vorzunehmen. Auch an seinem Traktor, denn das hatte er gelernt. Vor seiner Zeit als amtierender Bauer hatte er als gelernter Landmaschinenmechaniker den Fuhrpark anderer repariert. Etwas Weiteres, das man hier oben so machte. Für sich selbst zu schauen, hart für ein selbstständiges Einkommen zu arbeiten ist eine gute Tradition, dachte Sepp. Auch wenn der Staat ihren Berufsstand unterstützte, es führte dazu, dass die Landwirte für den Erhalt des freien Lebens krampften.

Sepp nahm behutsam den Brief vom Aufbau. Der Bogen fühlte sich weich an, aber auch in seltsamer Weise fremd. Langsam hob er ihn empor und hielt ihn an die Nase. Nichts als der vertraute Geruch der Küche, der alles überlagerte. So schmiegte er die Wange an das Papier. Zeit, dachte Sepp, das hat Zeit. Er ging hoch in sein Zimmer und schob den Brief vorsichtig in das Buch mit den Toggenburger Sagen, das er auf dem Nachttisch liegen hatte.

Endlich im Bett, kreisten seine Gedanken um die Worte von Albin. Der Tod seines Vaters eine Machenschaft dieser Bauunternehmer von Starkenbach?

ZWEI

Es war der erste Samstag im Dezember. Auf zwei dicken Drahtseilen durchschnitt die rote Gondel den riesigen Talkessel zwischen dem Chäser- und dem Hinterrugg. Mit zehn Metern in der Sekunde flog sie ihrem Ziel, dem Chäserrugg, entgegen. Ungebremst passierte sie die Masten und liess den voll besetzten Kasten schaukeln. Noch nach Jahren freute sich Sepp, wenn sich bei einigen ein «Ah» aus der Kehle löste. Dabei war es aber auch das nie abbrechende lockere Geschnatter der Skitouristen, das immer wesentlich die Stimmung hob und angenehme Gefühle verbreitete.

Von den näher stehenden Gästen hörte er eine Mutter ihrem Kind im Vorschulalter die urtümliche Plattentektonik der Voralpen erklären. Als sie sich mit einer Vierteldrehung bückte, um den Handschuh der Tochter vom Boden aufzunehmen, räumte der Rucksack den Platz hinter ihr in einem Radius von mindestens zwanzig Zentimetern frei. «Ich kann es dir ja zu Hause einmal in einem Buch zeigen», sagte sie und blickte verärgert hinter sich, um zu sehen, was sie denn behindert hatte.

Das ist der Schafberg dort oben, dachte Sepp. Dabei fiel sein Blick auf die Frau mit dem dicken Make-up. Es sah aus, als wollte die aufgetragene Schicht mit der gefallenen Schneemenge konkurrieren. Sie hatte einen Davoser-Schlitten dabei. Sepp hatte sie vor dem Einstieg in die Kabine über ihre Eigenverantwortung informiert. Er musste das sagen, wenn jemand den Schlitten hochnehmen wollte, denn die Bahn übernahm keine Risikoverantwortung. «Ich will nicht schwarzmalen, aber passieren kann immer etwas. Sie haben die Verantwortung.» So hatte er es gesagt.

Dann drang ihm das Gespräch der deutschen Schneesport-Freunde ans Ohr. Sie zeigten schlicht kein Interesse am herrlichen Start zur Wintersaison. Die morgendlich frische Bergwelt war für sie wie Luft zum Atmen. Sie ist immer da und wird darum nicht wahrgenommen. Ihr Thema war die Qualität des Nachtzuges nach Hamburg. Dann fiel der Vergleich mit den Österreichischen Bundesbahnen. «Schön eng da», meinte einer. «Aber ökomässig ist halt das Zugfahren immer noch besser als Fliegen», sagte ein anderer, bevor dann ein Vater mit Kindern sagte: «Die Kinder müssen doch schliesslich mal ans Licht, ne?» Und die Mutter daneben, die zu ihrem Sohn sagte: «Du fährst dann die präparierte Schneepiste runter.»

Auch ein anderer Tonfall schnitt Sepp ins Ohr. «Wie komme ich nach Sellamatt», fragte eine Frau mit englischem Akzent. Es hatte sich angehört wie Zermatt. «Zölmat.» Dann war da noch die einheimische Mutter mit den drei Kindern im JO-Alter. JO, die Jugendorganisation des Schneesports Churfirsten, dachte Sepp. Zwei Buben und ein Mädchen mit den alten Anzügen des heimischen Skiclubs. Sepp kannte sie. Sie waren vom Chüeboden, den er jeden Tag passierte. Eine Bauersfrau, die in den freien Stunden im Winter den Kindern ermöglichte, auf die Piste zu gehen. Das Nachtragen der von anderen übernommenen Skikleider sparte ihr eine Menge Geld.

Seit dem Start in die Wintersaison schien ihm alles, was die Gäste aus ihrem Alltag an Normalem mit auf den Ruggen brachten, etwas zu sein, das ihm fehlte. Ihn erinnerte das Schaukeln der Gondel aber auch an jenen Tag des letzten Winters, als von Meteo Schweiz auf den späteren Nachmittag böenartige Winde bis zu hundert Kilometer pro Stunde angekündigt worden waren. Als sie die Kabine auf dem Iltios bestiegen, war noch nichts als eine zügige Bise zu spüren. Die Wolken am Himmel jedoch zogen sich merklich zusammen. Sie erreichten die Bergstation bei starkem Wind, der sich schon zu einem gefühlsmässigen Sturm von mehr als hundert Kilometern pro Stunde erhoben hatte. Die Kabine stand schief im Wind und konnte lange nicht einfahren. In seinem Innern hatte er damals schon mit seinem Leben abgerechnet. Die Einfahrt gelang, und die paar Gäste, die nur noch die letzte Bergfahrt geniessen wollten, verliessen traumatisiert die um ein paar Dellen reichere Kabine. Ein gutes Stück dieses Schreckens steckte immer noch in seinen Knochen.

Aber heute war das perfekte Wintersaison-Startwetter. Die Grade frisch im Minus, das Essen im Restaurant heiss, glitzernde Pulverschneehänge, stahlblauer Himmel und bestens präparierte Abfahrten. So musste es sein, dachte Sepp. Der Geniesser ging ins Gourmetrestaurant, um ein Fünfgangmenu zu bestellen, und der Schneesportler freute sich auf tadellose Pisten bei geringer Schneedecke.

Den Gästen den Rücken zugewandt, stand Sepp vor der Tür, bereit, den vorgelegten Riegel zu lösen. Er blickte nach oben zu den Rollen der Gegenbahn, wo er erkennen konnte, wann er öffnen durfte. Er trat auf die Plattform und wünschte allen einen guten Aufenthalt.

Aus dem Strom der Touristen, die aus der Kabine drängten, schälte sich ein Gast und näherte sich ihm. Ausrüstung: ein weisser Worldcup Rebels Ski von Head, schwarzer Skischuh mit weissem Head-Schriftzug, roter Albright-Wengen-Anzug, ein schwarzer Helm Marke Alpina mit kontrastierendem Sichtschutz.

Sepp wollte sich schon wegdrehen, da hob der Gast die Brille. Zum Vorschein kam Hubert Grob, Sohn des Bauunternehmers Hans Grob aus Starkenbach. Ein Sprössling dessen Familie, über den Albin Bischof gestern Abend in Rätseln gesprochen hatte. Einstiger Freund der Jugend und Abtrünniger des Tals; schmale Nase, eingefallene bleiche Wangen, hohe Stirn und spitzes Kinn mit zu Sehschlitzen verengten Augen, die Iron Man alle Ehre gemacht hätten. Sepp fühlte sich gerade wie ein gut polierter Parkettboden, auf den ein unachtsamer Bewohner zum zweiten Mal den Kaffee verschüttete.

«Die neue Uniform steht dir gut.»

Hubis Worte trafen Sepp mitten ins Herz. Ein Stich der Erhabenheit über die Herkunft aus dem Tal. Sepps Gesicht erstarrte. Vor zwanzig Jahren waren sie beste Kumpels gewesen. Die Primarschulzeit als dicke Freunde durchlaufen, auf dem Pausenplatz ein unzertrennliches Duo. Beim FC Thurbord spielten sie zusammen in der Juniorenabteilung. Bis zum Trainerwechsel kamen sie zu gleich vielen Einsätzen. Der neue Coach setzte mehr auf Hubi und liess die Mädchen spielen, auch wenn sie nicht an Sepps Leistung herankamen, was er damals als sehr unangenehm und obendrauf als ungerecht empfunden hatte. Oft stand er nun an der Linie, während Hubi stürmen durfte. Die fussballerische Zukunft fand ein Ende, als er sich entscheiden musste. Um weiterspielen zu können, sollte er nach Ebnat-Kappel ins Training fahren. Besonders in Erinnerung war Sepp jener Tag, als Hubi ihn drängte, doch weiterzuspielen. Es war an einem Samstag nach der Niederlage im D-Junioren-Meisterschaftsspiel gegen den FC Haag gewesen, und er war ein weiteres Mal nicht eingewechselt worden. Mit den Velos fuhren sie anschliessend vom Sportplatz in Alt St. Johann zur geheizten Badi in Unterwasser.

«Der Trainer lässt mich nicht spielen, ich habe keine Lust mehr», sagte Sepp.

«Wieso? Komm mit nach Ebnat, dort ist alles wieder anders. Es beginnt von Neuem», erwiderte Hubi. «Du hast mich doch zum Spielen überredet, und jetzt steigst du aus.»

Lange standen sie auf der Plattform des Drei-Meter-Sprungturms. Freunde, aber hiesige Söhne von verschiedenem Stand. Dann packte ihn der Zorn über die Zurücksetzung beim FC Thurbord, und er rief erbost: «Der Trainer hat gesagt, dass ich zwar schnell bin, aber keine Technik habe. Er gibt immer den Mädchen den Vorrang. Und du spielst lieber mit ihnen als mit mir.»

«Feigling», rief Hubi und sprang ins Becken.

In diesem Moment endete die Freundschaft.

Und jetzt war Hubi Gastroscout und wohnte irgendwo in Zürich.

«Ja, ja», kam es Sepp über die Lippen, als er Hubi so unvermittelt vor sich auftauchen sah. Er grüsste, indem er den linken Zeigefinger an den Bähnlerhut tippte, wandte sich dann ab und ging Richtung Personalausgang davon. Wenn Hubi sich so viel besser fühlte als seinesgleichen, dann konnte er es gut überspielen, denn man merkte ihm nichts an. Ein Bild geisterte nun jedoch wie ein wild gewordener Luftballon, den man fahren liess, ohne zuzuknöpfen, im Kopf von Sepp herum. Auf dem Ballon das hämische Gesicht des Hubi, der in seiner Bubenzeit der bessere Stürmer gewesen war. Beim Thurbord der vorgezogene Spieler und beim Skiclub der favorisierte Fahrer. Mit einem schmalen Gesicht, das sich unter dem Helm zu einem füchsischen Ausdruck verformte. Schmächtiger in Gestalt als er und kleiner gewachsen.

Sepp beendete seine Morgenschicht und wechselte ins Gipfelrestaurant auf dem Chäserrugg. Eine imposante Holzkonstruktion von Basler Architekten, erstellt von heimischen Handwerkern. Tische und Stühle ebenfalls aus hellem Holz. Er setzte sich nahe der Servicestation, die den langen Gastraum in zwei Hälften teilte, an den Bähnlertisch. Servicepersonal in weissen Hemden eilte durch die Tischreihen und bediente die zahlreichen Gäste.

«Sepp, was kann ich dir bringen?» Geri, der klein gewachsene, aber stämmige Betriebsleiter, kam an den Tisch, nahm die Bestellung auf und tippte sie an der Hauptkasse direkt ins Betriebssystem. Hellblaues Hemd mit offenen Ärmeln, enge graue Jeans.

Mit einer Tasse schwarzen Kaffees kam er zurück und setzte sich schräg gegenüber von Sepp an den Tisch.

Ich verstehe immer noch nicht, was der unter strenger Arbeit versteht, dachte Sepp.

«Du, da komm ich hierher», Geri rückte den Stuhl zurecht, «und du weisst nicht, wer hier war und schon am ersten Tag Ärger gemacht hat.»

Sepp hatte das unbestimmte Gefühl, die Antwort kennen zu müssen.

«Du ja, nichts ahnend und gut gelaunt komme ich um zehn hier an und sehe am Tisch drei eine meiner neuen Servicemitarbeiterinnen mit einem Skilehrer plaudern, gell. Dachte ich. Sie blickt zu mir, worauf sich der ‹Skilehrer›umkehrt, ja. Was denkst du, wer mir da entgegenschaut, als hätte er hier oben die Aktienmehrheit? Der Grob, ja na, du kennst ihn doch, von früher, gell, vom Skiclub und vom Thurbord.»

Und wie er den kannte.

Geri machte eine Pause und nahm einen Schluck von seiner schwarzen Brühe.

Eine Kellnerin brachte das Essen. Alles zusammen: als Vorspeise einen grünen Salat mit französischem Dressing und die Bratwurst mit Zwiebelsauce und Pommes. Extra Sauce. Das Getränk stand schon da, ein halber Liter Apfelschorle.

«Hast du noch Brot?», fragte Sepp und schaute auf. Vor ihm stand eine strahlende Bogi und erwiderte seinen Blick.

«Bring isch gleich», sagte sie und wandte sich ab.

«Du ja, kennt ihr euch?», fragte Geri.

«Nein.» Sepp hatte das Messer genommen und die Gabel in die Bratwurst gesteckt, als wollte er ein Stück harten Käse schneiden. Bogi brachte in einem Körbchen zwei Scheiben Brot.

«Auf jeden Fall, gell, bin ich gleich hingegangen», fuhr Geri fort, «und habe ihn zur Rede gestellt, ja. Ich will nicht, dass er mir wieder Leute abwirbt, gell. Ich habe natürlich nichts dagegen, ja, wenn mein Personal mal ein Schwätzchen hält, gell. Aber bei dem geht es doch nicht um Small Talk. Nein! Nur in zweiter Linie, gell. In erster Linie geht es ihm doch darum, hier oben nach Personal Ausschau zu halten, gell. Wie die Viola, ja, die Studentin von der letzten Saison, die aus St. Gallen, die hat er mir weggeschnappt. Mit der Aussicht auf mehr Stundenlohn geködert, das hat er.»

Geri ereiferte sich in einem Guss. Dabei nahm er den nächsten Schluck.

Wieso erzählt er mir das alles, dachte Sepp, knausrig mit dem Brot, das sind sie hier.

«Du ja, auf jeden Fall habe ich ihn aufgefordert, das Lokal zu verlassen, gell. Du ja, das hättest du hören sollen. ‹Landeier›, hat er geschimpft, gell, und ist gegangen. Und wenn er wieder versucht, Personal abzuwerben, gell, das sag ich dir, ja, dann kann er was erleben, das lass ich mir nicht mehr gefallen.»

Der Tank des Ärgers war leer.

«Noch Brot?», fragte Geri, worauf Sepp verneinte. Bei Bogi hätte er bejaht, aber die nette Bedienung war noch nicht erschienen.

«Kaffee im Glas, einen Zucker», erwiderte er stattdessen.

Verdammte Plaudertasche, aber kein schlechter Mensch, wertete Sepp und wartete nur noch auf die Ablösung. «2 Minutes to Midnight», schoss ihm das Lied seiner Lieblingsband durch den Kopf. Er als Eddie auf dem Thron der Halden, der seinen halb verwesten Körper über das Tal beugt. Die Arbeit wieder aufzunehmen machte ihm heute wesentlich Mühe.

Am Rande des Schankraums zur Fensterfront hin bediente Bogi gerade eine grössere Gruppe. Sepp hörte, wie sie nach den Getränken fragte, sah, wie sie die Bestellung eine nach der andern in das portable Gerät eintippte, wie sie sich die braune Strähne aus dem Gesicht wischte und weitermachte.

«Träumst du?», sagte da eine Stimme hinter ihm. Heiri, der Bähnlerkollege, erschien zur Mittagspause.

Träge vom Essen erhob sich Sepp und machte sich wieder auf den Weg zur Arbeit. Vom Tisch griff er sich das Funkgerät und klippte es links am beigen Appenzeller Gurt fest. Vor dem Ausgang lief Bogi mit einem Tablett voll schmutzigem Geschirr an ihm vorbei. Überdeckt vom Kaffeearoma der leeren Tassen, stieg ihm ein holziger Geruch in die Nase. Ein Messer fiel klirrend zu Boden und schlidderte genau vor seinen Fuss. Er bückte sich und hob es auf. Dann blieb er stehen, denn seine Schuhe fühlten sich gerade schwer an, und er blickte zu Boden. Der holzige Geruch verstärkte sich, als Bogi auf ihn zuschritt.

«Danke dir», sagte sie, als er es zurück aufs volle Tablett legte.

Die Begegnung mit Bogi wischte die düsteren Gedanken, die Hubi geweckt hatte, von seinem inneren Tablet. Mit neuem Elan wandte er sich wieder seiner Schicht zu.

Auf dem Weg zur Toilette klopfte ihm jemand auf die Schulter. Hinter ihm auf der steilen Treppe zum WC stand Hubi.

«So lange, und kein Wort.» Hubi legte den rechten Arm auf die Schulter von Sepp. «Könntest ruhig etwas offener sein. Ihr hier oben seid echt das Letzte …»

«Was willst du noch hier? Hat dich Geri nicht gerade hinausgeworfen?» Sepp wahrte den Anstand, entledigte sich jedoch des Arms. Dann kehrte er sich um und setzte den Weg fort.

«Loser, ihr alle!»

Hubis leise und gepresst gesprochene Geringschätzung erreichte ihn nicht mehr. Sepp entwischte diesem festungsähnlichen Kellergewölbe und dachte, dieser düstere Abgang, von Hubis Geringschätzung in eine drohende Kulisse verwandelt, würde sich für eine Abreibung eignen.

Die Arbeit hatte sich unendlich lange hingezogen. Die Begegnung mit Hubi hatte die lichten und frohen Gedanken an Bogi verdrängt. Endlich bestieg Sepp seinen goldbraunen Pick-up. Mit dem klobigen Hochgebirgsschuh drückte er die Kupplung und drehte den Schlüssel. Das Brummen des Vierzylindermotors hatte einen erlösenden Effekt. Er legte den Rückwärtsgang ein und setzte den SUV sprunghaft aus dem Parkplatz. Von der Talstation der Iltiosbahn in Unterwasser bog er auf die Frühweidstrasse, drückte das Gaspedal bis sechzig Kilometer pro Stunde und überquerte die Wildhauser Thur, die an dieser Stelle etwas mehr als ein Bergbach war. Nach knapp hundert Metern erreichte er die Kantonsstrasse. Die Einheimischen nannten diese Kreuzung auch das «Köbelisloch». So hatte ihm Grossmutter erzählt, dass der Köbeli, ein Zeitgenosse seines Vaters, dort durch ein Schlagloch mit dem Velo gestürzt war und beinahe von einem VW Käfer überrollt worden wäre, an dessen Steuer der Gemeindepräsident sass.

Sepp schaute und gab Gas. Weit und breit kein Verkehr. Er hätte auch in entgegengesetzter Richtung die Frühweidstrasse befahren können und wäre dann an der «Sternenkugel», seiner Stammbeiz, vorbeigekommen. Was er meist auch machte. Um zu schauen, ob sich ein Feierabendbier lohnte. Heute nicht.

Ennet der Strasse fuhr er am leer stehenden alten Coop und der Post vorbei und überquerte die Säntisthur, um danach auf die Chüebodenstrasse einzubiegen. An der Nesselhalden bremste er ab, um den Holzer Ammann passieren zu lassen, der mit seinem Aebi und dem Holzkranlader unterwegs war. Er grüsste und gab nach der lang gezogenen Linkskurve wieder Gas, bis er seinen Ranger auf knapp achtzig beschleunigt hatte, und bremste erst, als die nächste Kehre zum Chüeboden auftauchte. Danach fuhr er die Strasse in gemächlichem Tempo hoch, vorbei an der Abzweigung, die über die Thur und weiter nach Wildhaus führte. Rechts begleitete ihn das Rauschen der Säntisthur, die sich durch den Talkessel den Weg hinab suchte.

Er liess die Fensterscheibe runter und lauschte. Die Fahrt von Unterwasser hier hoch war Routine, bedeutete ihm aber ein Stück Heimat. Nur ein paar Höhenmeter entschieden grundsätzlich über seine emotionale Verfassung. Umziehen, Kühe melken, misten, Milch bringen und frisches Futter nachlegen, dann auf ein Bier ab in die «Kugel».

Vorne an der Kreuzung angelangt, bog er gelassen links nach der Halden ein. Die Strasse führte weiter den Bergrücken hoch – vorbei am neu erstellten Haus seines Chefs der Toggenburger Bergbahnen, einem Chalet aus einheimischem Fallholz – nach der Halden. Ein Ort, an dem einige ihre Zweitwohnung hatten, von denen er manche Besitzer kannte, andere nicht, weil der Eigentümer gewechselt hatte. Von der vollbetonierten Strasse bog er auf den mit Verbundsteinen befestigten Fahrweg, der zu seinem Hof führte.

In der Jackeninnentasche vibrierte das Handy. Keine Zeit jetzt. Er parkierte auf dem Vorplatz. Schon länger hatte er vor, ihn zu teeren, damit im Sommer der Staub nicht mehr hochwirbelte. Die Tür zum Zwischengang stand offen, was ihn nicht verwunderte; hatte seine Haushaltshilfe wahrscheinlich offen gelassen.

In der Küche entledigte er sich seiner Kleider und griff sich die Stallhosen und das Hemd mit dem Edelweissmuster. Nach dem Tod seiner Eltern hatte er die Gewohnheit wieder eingeführt. Sie hatten sich immer hier umgezogen. Jedenfalls bevor seine Mutter sich durchgesetzt hatte. Sie bekam ihren Willen, und gegenüber dem alten Tiba-Holzherd wurde eine moderne Küchenkombination eingebaut. Das hatte die geräumige Bauernküche nicht verkleinert, aber den Platz für die Kleider genommen. Seit er hier jedoch allein wohnte, zog er sich wieder in der Küche um.

Gegen ein Taschengeld machte ihm Lisa, die Tochter einer Bauersfamilie, die ihren Hof nicht weit von der Halden hatte, manchmal das Gröbste im Haushalt. Sie wusch ihm den Stapel Kleider, staubsaugte und machte für ihn Besorgungen. Sie erinnerte ihn an Anna, ja, das tat sie, aber sie war erst dreizehn. Die Küche zeigte heute ihre Handschrift. Nicht nur das. Der Duft war hier heute anders. Es roch nicht nur nach einem Burschen. In der Luft war dieser feine Unterschied, es roch nach ungewaschenem Mädchen.

Nachdem er für das Wohl der Tiere gesorgt hatte – denn das war ihm wichtig, nicht nur, sie zu halten, auch für sie zu sorgen –, brachte er die Milch in die Dorfkäserei, zog sich dann wieder um und bestieg sein Auto.

Er parkierte den Ranger beim alten Coop in Unterwasser und ging zu Fuss die paar Meter die Dorfstrasse hinauf zur «Kugel». Da war mal auf dem Trottoir die Länge des Olympiasprungs von Simon Ammann eingezeichnet gewesen. Die Gemeinde hatte das später entfernt, er wusste nicht, warum.

Es dämmerte. Umgeben von ersten Schatten musterte er die Gebäudeumrisse links und rechts der Strasse. Das Hotel am Dorfplatz, das seinen Betrieb vor Jahren eingestellt hatte. Das Elektrogeschäft, das jetzt Kameraden, die er aus der Schulzeit kannte, betrieben und das er noch nie im Leben betreten hatte. Mit Ladenöffnungszeiten wochentags von sieben bis neun Uhr morgens. Daneben das Coiffeurgeschäft. Auf der anderen Seite der Dorfstrasse das Hotel Post. Dann ein Planungsgeschäft mit Namen KonzeptPlus. Die waren letztes Jahr eingezogen. Sepp hatte keine Ahnung, was die eigentlich betrieben. Dann die neu erstellte Coopfiliale. Ein hallenmässiger Bau, eingekleidet mit türkisfarbenen Latten.

Er bog um die Ecke und hatte die «Kugel» auf der anderen Seite der Strasse vor sich. Ein Gebilde, das den Namen von der halbrunden Form hatte, bestehend aus glasähnlichem Kunststoff und von jeder Seite einsehbar. Vor vielen Jahren hatte sie das Nachtleben des Hotels Sternen erweitert, das gleich auf der anderen Seite des Coops an der Dorfstrasse stand. Ein verfallendes Riesengebäude, das die besten Jahre auch schon lange hinter sich hatte. Ein Neuanstrich hatte die Fassade zwischenzeitlich wieder zum Leuchten gebracht.

Als Sepp sich zur «Kugel» wandte, hörte er das Quietschen von Reifen. Ein schwarzer Ford Ranger schoss um die Ecke beim Coop. Emmenegger. Er schaute ihm beim Parkieren zu, und gemeinsam betraten sie den mit ein paar wenigen Gästen besetzten Schankraum. Sepp in angenehmer Ausgangskleidung, Emmenegger mit sportlich gelber Softshelljacke, darunter ein blau-schwarz gestreiftes Flanellhemd und schwarze Outdoorhosen. An den Füssen einen von allen Bahnangestellten bevorzugten klobigen Gebirgsschuh, der einen guten Halt versprach und darum gut geeignet für die Arbeit als Pistenbullyfahrer war. Aussenboxen berieselten die Terrasse mit dem Mainstream des regionalen Senders, von der Grillecke der Geruch von Gas, der Rost belegt mit Würsten und anderem, das Sepp nicht einordnen konnte.

Sie besetzten zwei Hocker an der linken Seite des Kugelrunds. Die Bierdeckel auf der Theke ein Werbegeschenk des lokalen Bierbrauers.

«Früh fertig», sagte Sepp.

«Hatten von gestern auf heute viel zu tun», erwiderte Emmenegger und griff sich das Chrystals aus der Jacke. Sie legten sich die Prise und sprachen: «Im Toggenburg leben, im Toggenburg saufen, wir sind ein toller Haufen. Priiis.»

Der braune Staub wurde hörbar hochgezogen.

«Nichts los», sagte Emmenegger.

«Mehr als zu Hause», entgegnete Sepp.

Die zweite Prise wurde auf den Handrücken gestreut. «Heute ein Fest und morgen zu, so gehen wir hier zur Ruh. Priiis.»

Der Besitzer, ein stämmiger Mann mit Bierbauch und Halbglatze, brachte die bestellten Johanner. Durch die halb offene Tür hörten sie Stimmen von der Strasse, dann Lachen. Zwei Damen standen draussen am Stehtisch und rauchten.

«Prost.» Emmenegger und Sepp hoben die Flaschen.

«Wann machst du denn dein Winterfest?», fragte Emmenegger.

«Einmal», antwortete Sepp, während ein Lied von Mark Forster aus den Boxen schallte. «Dieses Jahr habe ich irgendwie … keine Lust, so viele Leute bei mir zu haben. Du kannst aber immer kommen. Es ist gut reden mit dir, wenn du nicht gerade mit den anderen vom Verein unterwegs bist und wir nur zu zweit sind.»

Emmenegger schaute zu ihm her. Sepp musste einen unsicheren Gesichtsausdruck gezeigt haben. Er wusste aber, dass Emmenegger ihn schon zu lange kannte, um nicht zu verstehen, wie er es meinte. Dass er ihn durch die gemeinsame Aktivität bei den Tambouren schätzen gelernt hatte.

Aus den Boxen säuselte Gesülze. Die beiden wandten sich wieder dem Bier zu. Sepp leerte seines in einem Zug und hob die leere Flasche empor. «Noch eins.»

«Mir auch», ergänzte Emmenegger.

Eine Weile sassen sie schweigend an der Bar. Dann war da das Lied, das Sepp immer an die Zeit in der Jungschar der evangelischen Kirche in Alt St. Johann erinnerte. Eine Gitarre, die man genau auf diese Weise am Lagerfeuer spielte. Ein Schrummen der Saiten ohne viel Hingabe und der Gesang ein Gejammer, so gut wie das von Chrigel, dem damaligen Leiter.

Die Tür zur «Kugel» öffnete sich ganz, und ein kühler Wind strich ihnen um den Nacken.

«Was darf es sein?» Die neuen Gäste setzten sich nicht auf die Hocker. Sie stellten sich beim Eingang zum privaten Bereich an den Tresen. Bogi und Ruth. Sepp kannte Ruth, die arbeitete schon lange auf dem Ruggen. Und Bogi hatte er nun schon zweimal gesehen. Und … er fand sie interessant. Aber rübergehen? Auf keinen Fall, nein.

Emmenegger stiess Sepp in die Seite. «Was?», fragte er. Er deutete mit dem Kopf auf die andere Seite der Bar.

Die Ladys bestellten sich je ein Eve.

Neue Gäste stellten sich ein. Die Bar füllte sich langsam. Der Geräuschpegel erhöhte sich, und Honi, der Barkeeper, schraubte an den Dezibel.

«Schnupf?» Emmenegger versuchte das Gespräch mit Sepp wieder aufzunehmen.

Sepp nickte und hielt die Hand hin.

«Nid lafere, liefere; nid sabbere, schnüffele», sprach er daraufhin, was Sepp mit einem leisen Grummeln quittierte. «Priiis.»

Zum dritten Mal zogen sie sich das braune Pulver in die Nase.

Durch den Lärm glaubte Sepp zu hören, wie Bogi gerade daran war, Ruth zu erzählen, wie sie aus Ungarn angereist war. «… Wien … umsteigen … allein …» Dabei wippte sie mit dem Kopf im Takt, bewegte die Hüfte, wenn es passte. In einem fort flossen die Worte aus ihrem Mund, und es machte den Anschein, als würde sie sich gerade die Seele aus dem Leib reden.

Sepp sah sie lachen und gestikulieren. Schwatzen und wippen. Emmenegger nahm’s gelassen zur Kenntnis, während Sepp vor sich hin träumte.

Wie Bogi so erzählte, was sie auf ihrer Reise in die Schweiz erlebt hatte, schaute sie dann und wann mal rüber. Sepp, der sie beobachtete, aber nicht bemerkt werden wollte, drehte den Kopf schnell weg, sobald sie hinblickte.

Gerne hätte Sepp einen Blick in die Gedanken von Bogi geworfen. Sein vorgetäuschtes Desinteresse schien sie nicht zu beeindrucken. Als ob nichts sei, bewegte sie sich weiter im Takt der Musik.

Honi änderte den Musikstil. Aus den Boxen dröhnte jetzt ein Song aus einer Zeit, da man die Künstler mit ihren Frisuren mit Wattestäbchen vergleichen konnte. Menschen dünn wie Spargeln, die Haarpracht, die man ungewaschen als Mähne bezeichnete.

«Yeah!», rief da Bogi, griff sich in die Haare und schüttelte den Kopf im Takt, dass die schulterlangen braunblonden Haare flogen.

Ruth schaute verwundert zu Sepp und Emmenegger. Die grinsten und bestellten noch ein Bier.

Eines jedoch hatte Sepp schon verstanden. Bogi war keine Frau, die mit sich spielen liess. Wenigstens nicht in dem Sinn, wie es viele männliche Subjekte verstanden. Sie hatte eine Ausstrahlung, die in ihm eine friedvolle Gelassenheit bewirkte. Damit einher ging die unausgesprochene Mahnung: Lass es sein, Stümper, wenn es dir damit nicht ernst ist. Und er hatte noch was verstanden. Bogi stand definitiv auf die Sorte Musik, die er sich zu Hause jeweils auflegte.

«Süss, nicht?», sagte da Emmenegger und klopfte Sepp auf den Arm.

Nach dem dritten Bier und einer weiteren Prise Schnupf waren Emmenegger und Sepp aufgestanden und gegangen. Auf dem Weg nach draussen hatten sie Ruth zugenickt, wobei sie Bogi auch mit grüssten. Emmenegger stieg in seinen SUV, und Sepp machte sich auf den Weg zum alten Coop.

Zu Hause in der Küche griff er sich den starken Eigenbrand und suchte wie üblich das Bierglas. Als er es nicht fand, langte er nach dem Milchchacheli, das abgewaschen neben der Spüle lag. Er goss es voll und begab sich in seine Bar. Einen Raum, den er sich in der Jugendzeit eingerichtet hatte. Er befand sich im alten Stall, auf der anderen Seite des Gangs, in den auch die Küche mündete.

Als Vater den neuen Stall bauen durfte, bekam er die Erlaubnis für den Umbau. Mit seinen Freunden vom Tambourenverein hatte er viele Stunden investiert. Das Resultat war eine komplette Bar mit Tresen, Hockern und Stehtischen. An den Wänden die Konterfeis bekannter älterer Rockstars. Das herausragendste: ein Bildnis von Eddie, dem Monster. Die Figur, die alle Cover von Iron Maiden prägte. Er hatte sie alle. Vom gleichnamigen Erstling «Iron Maiden» bis hin zu «Book of Souls». Dazu die besten Livealben als Longplayer. Er drückte den Hauptschalter und durchsuchte die Platten, die neben dem Turm an der Tresenwand lehnten. «Flight 666», er fand die richtige, nahm die Vinylplatte aus der Hülle, legte sie auf den Teller und setzte die Nadel. Bald tönte «The Number of the Beast» aus den Boxen. Die zwei Bässe am Boden, die vier Hochtöner in den Raumecken.

Sepp setzte sich in die Couchecke. Vier durchgesessene Sessel aus dem Brocki Buchs. Jeder eine andere Marke, jeder hatte seine eigene Geschichte. Gut genug für die Chillecke in seiner Bar.

Die Gedanken an Bogi, noch warm in der Erinnerung, wurden bald von einem düstern Bild überschattet. Hubi, wie er in seiner tollen Ausrüstung vor ihm stand. Dann meldete sich ein unbestimmtes Gefühl, das er nicht benennen konnte. Er starrte vor sich hin. An der Wand gegenüber hing seine erste Gitarre, eine Washburn Western mit einem Satz weicher Saiten, damit er sich die Finger nicht wund spielte. War schon lange her.

Als er die Gitarre so betrachtete, fiel es ihm wieder ein. Albin hatte ihm letzthin einen Brief gebracht. Einen Umschlag mit einem Bogen Papier, beschrieben von Anna. Wo hatte er den hingetan? Er überlegte, konnte es nicht sagen. Nachdem er die Platte gewechselt hatte, war «Flight 666» bei «Fear of the Dark» angelangt und den lauten Fangesängen, die den Sänger Bruce Dickinson überschallten. «Oh, oh, oh, oh, oh, o-oh, fear of the dark», sang Sepp mit. Es war düster gewesen, als er den Brief weggelegt hatte. Am dunkelsten ist es in meinem Haus im Schlafzimmer. Dort liegt das Sagenbuch, und dort habe ich ihn bestimmt hingelegt, dachte Sepp. Er nippte noch mal an seinem Milchchacheli und ging dann in sein Zimmer. Es war erst Viertel nach zehn, keine Zeit, um den Tag schon abzubrechen. Vom Nachttisch nahm er das Sagenbuch. Er schlug es auf und überflog den Titel, den er liebte. Die Geschichte von Tout de Bon, dem Riesen vom Gulmen. Darunter steckte der Umschlag. Er nahm ihn in die Hand und legte das Buch zurück.

In der Bar setzte er sich auf seinen Lieblingsplatz, auf das grüne Ledersofa. Die Anlage spielte den letzten Song: Sepp sah Harris, wie er das Publikum animierte, sah den Leadgitarristen, wie er zu den schnell gespielten Riffs hüpfte, er sah Dickinson, der alles gab, dass die Fans einen anständigen Metalsong hörten. Er schloss die Augen, hörte auf die begeisterte Menge und liess das Lied ausklingen. Dann sah er wieder auf den Brief vor sich. Von Anna hatte er, als sie noch lebte, nie einen Brief bekommen. Warum jetzt? Hatte sie keinen Mut gehabt? Der Brief war nicht zugeklebt. Er drückte den Umschlag auseinander und zog den gefalteten Brief heraus.

Lieber Sepp,