Schwendisee - Christian Gauer - E-Book

Schwendisee E-Book

Christian Gauer

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Beschreibung

Ein Aussteiger, dessen Vergangenheit undurchsichtig ist und ein orgelspielender Ermittler. Tobias Elwood Gottwald ist eigentlich Organist, doch auch ein begabter Privatermittler. Als er einen mysteriösen Überwachungsauftrag erhält, bei dem der Kunde anonym bleibt, führt ihn seine Recherche nach St. Gallen und an den Schwendisee. Dort soll er einen Aussteiger und selbst ernannten Guru beobachten – doch plötzlich stirbt der Mann unter ungeklärten Umständen. Gottwald schaut genauer hin und kommt mit Hilfe seiner Intuition einer schrecklichen Geschichte auf die Spur, die bis heute Opfer fordert ...

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Seitenzahl: 457

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Der Maschinenmechaniker, Journalist und Selbstversorger Christian Gauer lebt seit mehr als zehn Jahren im beschaulichen oberen Toggenburg. Hier arbeitet er als Seewart und Klangwegmacher an den Schwendiseen und betreut den Schwendiseewart-Blog sowie die Rezensionsplattform Seitentrotter.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2024 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Shutterstock.com/Ursula Perreten

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-165-2

Originalausgabe

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Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß §44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

Trenne dich nicht von deinen Illusionen.Wenn sie verschwunden sind,wirst du weiter existieren,aber aufgehört haben zu leben.

Prolog

Der Steg am Rande des Moors verlor sich in Bodendunst und Nebel. Der stille Takt der Witterung über dem Naturjuwel. Kumuluswolkentürme über dem Rheintal. Umgeben von milchigem Blau. Als wäre die Gegend aus Minecraft, unfertig, bereit für die nächsten Bausteine. Bereit, den Soundteppich zu erweitern.

Charon war früh dran. Im dunklen Schluff seines Materiallagers beim Schopf am Schwendisee stand der Rasentrimmer. Verfügbar für die anstehende Arbeit. Ein ungutes Gefühl im Magen. Oder war’s der Darm? Von der Begegnung am Vortag. Das elende Gefühl, als Arbeiter nicht zu genügen, was er natürlich auf sich als Mensch bezog. Ha, von wegen Seepolizist. Ich bin nicht der Kontrolleur. Ich kann Vorschriften durchsetzen. Sein Gewissen hob den Arm. Charon wusste, was es ihm melden wollte. »Hart, unerbittlich sind die Anforderungen der Arbeitswelt. Du schreckst zurück, wirst du damit konfrontiert. Wenn du einen Auftrag nicht ohne Zeitdruck erledigen kannst. Das unbedingte Soll dir vor die Nase gesetzt wird.« Jetzt war’s endlich definiert. Diese Gedanken blockierten seinen Arbeitseifer. Und er musste vor der nächsten Schlechtwetterfront den Steg getrimmt haben. Darin hatten sie natürlich recht, die Schwendianer. Wer hier bestehen wollte, musste über sich hinauswachsen, er musste sich mächtig ins Zeug legen. Sein Vorgänger hatte ihm deutlich genug gesagt, was er mit »Steg trimmen« meinte. Und nun würde Charon den Bewohnern zeigen, dass er es verstanden hatte.

Er griff sich das Schultergurtzeug vom Nagel, dachte daran, noch die PET-Flasche mit Normalbenzin aus dem Kanister zu füllen. Er machte einen Schritt in den düsteren Schluff, stieß sich den Kopf am tief hängenden Querbalken. Schon wieder, zum wiederholten Male. Er befühlte die Stirn, unterdrückte einen Fluch. Erzürnt packte er den Beutel, der einen Ersatztrimmerfaden, die Schutzbrille und den Ohrenschutz enthielt. Und am Oberkörper das alte Armeegnägi, um die Arme zu schützen, trotz des Sommers.

»Summ, summ, heute leg ich die Stiele krumm.«

Erbost zog er probehalber an der Startschnur. Ha, Steg trimmen. Er hatte die Anweisung zuerst auf seine Weise umgesetzt. In einem Naturschutzgebiet Schilf zu mähen war in seinen Augen erst mal ein Frevel gewesen. Der Steg sollte einfach passierbar sein, darauf hatte er geachtet und nur die störenden Stängel entfernt.

Falsch. Er musste arbeiten wie Schwarzenegger als Mr. Freeze in »Batman & Robin«. Alles wegputzen. Der Unterschied war nur der Trimmer statt der Eiskanone, mit der Schwarzenegger alles gefror, was seinen Weg kreuzte.

Einen schönen Abstand zum Steg trimmen sollte er.

»Summ, summ, heute leg ich die Stängel krumm.«

Er war Charon, er konnte arbeiten.

Grollend machte er sich auf den kurzen Weg. Zwei Minuten bis zum Anfang des mit dicken Bodendielen gezimmerten Pfades. Niemand unterwegs. Er setzte Schutzbrille und Gehörschutz auf, zog die Startschnur. Ohne Verzug lief der Honda an, schnurrte sein benzingetriebenes, mechanisches Lied. Den Gashebel auf Vollleistung, führte Charon den Freischneider in runden Pendelbewegungen durch das satte Grün, das aus Schilf und Rohrglanzgras bestand.

»Summ, summ, ich leg euch krumm.«

Seine Mutter hatte ihn Charon getauft, weil sie »Boat on the River« von Styx liebte. Styx war das Wasser des Grauens. Nach einem griechischen Mythos war es der Grenzfluss zwischen Leben und Tod, und Charon war der Fährmann. Und er schnitt den Besuchern den Weg durch das Moor zur Freiheit frei. Erst später war ihm die tiefere Bedeutung in den Sinn gekommen. Eine Romanze zu diesem Lied, aus der er entstanden war. Die Musik war ihm zu mau, aber er würde als zweiter Schwendiseewart seinem Namen nun alle Ehre machen. Die Umgebung passte zum Lied.

»Summ, summ, ich leg euch krumm.«

Als ob die Stängel den Ruf des Schnitters hörten, neigten sie im Gleichtakt ihre feinen Häupter und legten sie auf den Grund des Moores. Etwa einen Meter beidseitig sollte es sein. Er sei der Ranger, und die Gemeinde erwarte es so. Pah, Ranger, dachte er.

»Summ, summ, ich leg euch krumm.«

Ein Tannenzapfen flog vor seine Füße. Als er aufschaute, gewahrte er eine Joggerin, die passieren wollte. Charon drückte auf Aus, atmete kurz durch, arbeitete weiter. Immer dieselbe kreisrunde Bewegung, hin und her, von oben wie ein Pendel durch das satte Grün. Dann und wann wischte er mit der freien Hand über die Schutzbrille. Unentwegt brummte der Motor sein einlullendes Lied. Bald käme er zur hinteren Plattform, wo die Infotafel stand. Noch eine kurze Strecke zum Ende des Stegs. Charon würde wenden und dasselbe auf der anderen Seite wiederholen.

Die Zeit war stehen geblieben. Die Arbeit wollte nicht mehr recht von der Hand gehen. Er spürte größeren Widerstand. Das Schilf und das Gras, ein Bewuchs wie eine Festung. Die Pendelbewegung stockte. Zwischen das satte Grün der Stängel hatte sich ein dunkelrosa Farbton gemischt. Begleitet von einem metallischen Geruch. Es wird ein halb verfaulter Ast sein, der da längs unter dem Steg liegt.

Das Rosa bekam mehr und mehr Kraft. Durchmischt von Fetzen anderer Farbe. War das Stoff? Grüner Hemdstoff? Erneut stoppte Charon den Trimmer, beugte sich vor, um bessere Sicht zu haben, und wäre beinahe vornüber vom Steg gestürzt. Was war das, das längs zum Steg halb verdeckt im Moor lag? Ein Tier? Wenn ja, was für eins? Aus dem trüben Gemisch von Erde, Wasser, Schilf und Gras ragte etwas hervor. Charon hob die Brille, um besser zu sehen, schnäuzte sich, wie um seine Gedanken zu ordnen. Unsicher, ob er wirklich wissen wollte, was da lag.

Er war der neue Schwendiseewart, er musste das regeln. Er schnallte den Trimmer vom Gstältli, gab sich einen Ruck und stieg vom Steg auf den Grund des Moors. Begleitet vom Schmatzen der Arbeitsschuhe räumte er die zerschnittenen Stängel beiseite. Zum Vorschein kam ein angewinkeltes Bein, die Länge des Schienbeins vom Trimmerfaden zerfetzt. An manchen Stellen eine Matsche aus blutigem Morast, Hose und Haut. Ihm wollte übel werden. Die ungleiche Dichte des Moors hatte den Leichnam auf der ganzen Länge seitlich einsinken lassen. Er suchte den Rest des Körpers. War das ein Ohr? Chancenlos.

Charon kollabierte.

EINS

»In einer pittoresken Umgebung zwischen den Ausläufern der Voralpen liegt Wattwil. Höhenzüge umgeben den Ort, die der aufmerksame Beobachter markant nennen würde. Hier hält der Voralpenexpress auf seinem Weg von St. Gallen nach Luzern. Wenn der goldbraune Zug in Lichtensteig den Tunnel verlässt, verwandelt er das Tal in eine fremdländische Landschaft …«

Elwood kratzte sich am Knie. War das alles, was er als Einstieg aus Wattwil herausholen konnte? Zu touristisch für seine kommende Rede als Parteipräsident der SP Wattwil? Heute war Dienstag, die Veranstaltung dann knapp drei Wochen später in Nesslau. Sie sollte Bürgernähe demonstrieren, Ansehen in der Bevölkerung einbringen. Die im Tal ansässige SVP hatte an der ersten Durchführung vor drei Jahren mit einer Traktorparade aufgewartet. Was viele Einheimische nicht goutiert hatten, war, dass der SP dadurch ein milder Aufwind beschert worden war und die Veranstaltung Anfang der Sommerferien ein fester Teil ihrer Agenda geworden war. Es ging nicht um die Verkündigung der Parolen. Sollte er eher von den Menschen her argumentieren? Was zeichnete sie hier aus? Er konnte unmöglich behaupten, der Charakter der Leute sei von den Bergen geprägt. Das würde er im oberen Toggenburg so ausdrücken. Aber dort wohnte er nicht, und dort gab es auch keine SP. Die Textilindustrie hatte hier eine reiche Vergangenheit. Die Mehrheit der Bewohner hatte ein Leben in einer riesigen Produktionshalle hinter sich. Sozialität beeinflusst von weiten, lauten Produktionsstätten. War Wattwil darum ein Durchgangsort zu nennen? Von ortsfernen Bürgern mit dem Bierspruch »Watt will er dort« belegt.

Elwood saß zu Hause an der Unterdorfstraße in seinem Lieblingssessel, dem Strandliegestuhl. Ivy arbeitete in Stein, vor allem bekannt als toggenburgisches Schwingerdorf, und er hatte Zeit zum Chillen. Das regte seine Gedanken an.

Auch wenn er stets ein wenig chaotisch sein Tagewerk vollbrachte, hätte er eine Idee, diese würde er nicht mehr vergessen. Frustriert, keinen richtig guten Ansatz gefunden zu haben, wechselte er von den trägen, müden Gedanken über den Schlag der Menschen zu den Motiven. Vielleicht wäre der einende Charakter von Arbeit ein guter Grundgedanke. Der SP würdig. Wäre dies das Thema?

Ein anderes Motiv … ein Motiv … das Motiv zu töten kam ihm in den Sinn, jemanden um die Ecke zu bringen. »Um die Ecke bringen« erinnerte ihn daran, wie er Viva tragen würde, um die Ecke. Natürlich, er musste lachen. Er hatte den Russell Terrier in der ersten Zeit die Treppen hoch- und runtergetragen, auf Empfehlung der hiesigen Leiterin des Welpenkurses. Er würde Viva aber nicht um die Ecke tragen. Genau genommen war diese Redewendung einfach nicht stark genug, zu milde, reichte in der Ausdruckskraft nicht dafür, um jemanden verschwinden zu lassen, nicht, jemanden gänzlich zu vaporisieren. Er dachte an Geld, Liebe, Eifersucht; musste noch daran denken, die Suchanfrage im Internet zu starten. Aber nicht bei Wikipedia. Dort würde er nicht suchen. Wenn man ihn fragte, verglich er die Erörterungen auf Wiki mit dem Gerede an einem Stammtisch; vieles waren nicht wirklich gefilterte Erkenntnisse, manchmal emotionsgeladen, eventuell wissenswert. Wer konnte schon wissen, wie informativ das war. Sicher aber zu wenig, um sich allein dadurch eine eigene Meinung zu bilden, damit er beim nächsten Gespräch nicht in die Falle tappte. Wiki funktionierte wie ein interessengefärbtes Wissenslexikon, ein Meinungsforum. Jeder konnte einen Beitrag erstellen.

Elwood suchte sich seine Meinung über Mordmotive. Damit er in seiner Gedankendatei bei einem allfälligen nächsten Fall schneller fündig würde. Und er wollte sichergehen, eine Basis legen. Denn er hatte Lunte gerochen. Einem unbescholtenen Bürger aus der Patsche zu helfen hatte ihm gefallen. Sepp von der Halden, sonnenhalb Unterwasser, der seine Viecher immer recht behandelte, war unter Mordverdacht geraten. Die Presse hatte ihm den Toten vom Ruggen unterschieben wollen. Kleiner, aber wichtiger Fehler! Der Tote war in Meilen gefunden worden. Weil sich aber Sepp auf dem Chäserrugg mit dem Opfer geprügelt hatte, hatte die Tageszeitung diesen Titel gewählt.

Die Profis, die kantonalen Polizeiermittler, tappten lange im Dunkeln. Bänziger von der Kripo St. Gallen. Bis Elwood durch eigene Nachforschungen Fakten lieferte und eine grauenhafte Geschichte an den Tag beförderte.

Und jetzt. Tobias »Elwood« Gottwald, seines Zeichens immer noch passionierter Orgelspieler der katholischen Kongregation in Wattwil, immer noch mit Ivy liiert, hatte sich überlegt, einen Detektivkurs zu belegen.

Ha. Er hatte es tatsächlich in die Tat umgesetzt. Auf seine Weise. Einen Kurs hatte er nicht belegt, jedoch die Fähigkeiten in Eigenregie trainiert. Als Vorbilder dienten ihm die Karrieren einiger Skifahrer. Wenn ein Heinzer, Müller oder Feuz, eine Figini, Walliser oder heute eine Suter nicht in mühsamer Eigenleistung an der Verbesserung der Technik gearbeitet hätten, hätten die Trainer und Verantwortlichen es nicht zustande gebracht, sie an die Spitze zu befördern. Zudem hatte er einen kurzen Kosten-Nutzen-Vergleich angestellt. Ebenso kurz war sein Fazit: zu viel Geld für zu wenig Know-how.

Sein Handy klingelte, was er absolut nicht liebte, denn Elwood saß im Chillsessel, ohne Ahnung über den Verbleib seines Handys. Eine weitere Marotte seines chaotischen Lebensstils. Starteten seine Gewohnheiten etwa ein Eigenleben? Er ortete den Ton in der Küche. Das bedeutete aufstehen, das Sinnen über dieses wichtige Thema aufgeben. Darum nervte es ihn stets. Denn nach erfolgtem Gespräch sich wieder hinsetzen und die Tiefe der Gedanken erlangen, keine Chance. Die Worte wären wie ein verlassenes Gerüst: noch da, aber unbegangen, ohne emotionalen Bezug. Umso ärgerlicher, weil in den meisten Fällen, bis er sein Handy gefunden hatte, die Leitung stumm war.

Heute nicht. Am andern Ende eine hörbar lebende Person. Ein mysteriöser Anrufer mit einem noch mysteriöseren Antrag. Oder war es ein Befehl, was da über die nächste Sunrise-Antenne in seine Muschel flatterte? Die Worte fühlten sich an wie der Klang einer Pfeife seiner Orgel, den er zum ersten Mal richtig hörte. Das Gespräch hatte, je länger es ging, eine nächste Facette in der Person, die Tobias »Elwood« Gottwald war, freigelegt. Die Rockstarmanier. Tun, als gäbe es kein Morgen. Oder die etwas frommere Erklärung, der Petrus-Style. Ohne Zweifel aus dem Boot steigen. Elwood hatte den Gürtel der Jeans auf Sitzfestigkeit geprüft, seine Sommerpedalen geschnappt und voller Elan seine Wohnung verlassen.

In diesem ominösen Moment war der Anruf ein Trittbrett. Ein federndes Trittbrett, das ihn, wie er hoffte, aus dem Alltag direkt in einen nächsten Fall katapultierte.

Schauplatz Kirche. Das hallenartige Gewölbe, das er sonst mit seinen Songs bespielte. Den kirchlichen Songs. Mit seinen Orgelkünsten die Liturgie flankierte. Religiöses Liedgut, dem er versuchte, einen gewissen Beat einzuhauchen. So wurden sie zu seinen Songs, wie er es sich in Gedanken ausmalte. Mit dem Pfarrer aber noch nicht auf gleicher Höhe spurtete. Er hatte aber auch gespürt, dass der Pfarrer seinem Verständnis von Musik nicht gänzlich eine Abfuhr erteilte, als sie im Café Abderhalden darüber gesprochen hatten. Er würde es nicht vergessen, einmal mit dem Geistlichen das Gespräch zu suchen. Aber eben: einmal und nicht lupenrein geplant, wie es seinem Lebensstil entsprach.

Kalt, trist, dämmrig und düster. Der Duft nach Weihrauch fehlte. Elwood fühlte sich unsicher. Unwohl, an dem Ort seines regelmäßigen Dienstes nicht an seinem Arbeitsplatz zu sitzen, auf der Empore an der Orgel. Er hatte wie angewiesen das Kirchenschiff durchquert und in der ersten Reihe vor der Kanzel Platz genommen. Warten. Niemand sonst hier. Der Anrufer hatte die Zeit gut gewählt. Hätte er Viva mitnehmen, Ivy unterrichten oder gar Bänziger von der Polizei benachrichtigen sollen?

Ruhe, irgendetwas von Einsamkeit und immer noch das Vermissen des Geruchs von Weihrauch, der religiöse Dichte suggerierte. Setzen, warten und nach vorne blicken, hatte die Stimme gesagt.

»Nicht umdrehen«, schnarrte sie.

Elwood fühlte die Worte wie kalten Stahl in seinem Rücken. Hätte er es auch gewollt, kein Grad würde sich sein Körper dem Willen unterordnen. Wie war der hier so geräuschlos aufgetaucht? Auf Gummisohlen durch das Kirchenschiff gehen, kein Problem, aber die Tür und der Hall hier drin. Wie hatte der Mann das geschafft?

»Nicht reden. Antworten Sie nur auf meine Fragen. Verstanden?«

»Ja.«

»Nicht so laut, und krächzen Sie nicht. Ich kann Sie gut hören. Bleiben Sie ruhig, dann bleiben Sie schadlos. Nicht schreien. Der Pfarrer weilt heute in Lichtensteig, und der Messmer putzt an einem anderen Tag. Verstanden?«

»Okay.« Weiß ich, dachte Elwood.

»Ich will, dass Sie Ja sagen, verdammt, nicht okay, verstanden?«

»Okay, ich mein Ja, verstanden«, stammelte er verunsichert.

Die anfängliche Starre, die einem Schock nahekam, wich der Festigkeit eines glühenden Stücks Eisen. Er auf dem Amboss und die Worte wie Schläge. Versucht, nachzugeben. Das hatte er sich anders vorgestellt.

»Nicht drehen, verstanden?«

Konnte dieser Mann Gedanken lesen?

Wieder ein bisschen mehr Starre.

»Gut«, fuhr die Stimme im Rücken fort.

Kein subtiler Klang, gepresst, fordernd und irgendwie bissig, ohne Zweideutigkeit.

Und wenn die Glocken im offenen Turm den Gläubigen zur Umkehr rufen, so befahl ihm die Ansage des Fremden, zu verharren und auf gar keinen Fall umzukehren. Elwoods Gedanken genossen ein Eigenleben. Gesondert von den Befehlen. Gesondert von der Befindlichkeit seines Leibes. Was ihm einen guten Teil Lockerheit bescherte. Beginnend in den Gedanken, entspannte sich Elwood zusehends.

»Sie sind Tobias Gottwald, den man auch Elwood nennt?«

Die dumme Frage immer zuerst, dachte er. Das hatte er doch nachgeforscht.

»Ja, ich bin –«

»Reicht.«

Und Elwood erlaubte sich zu denken, weiterzuspinnen. Vom Tonbogen der Stimme zu den Konturen der Visage. Wie sah der Fremde aus? Hatte er ein eckiges, gefurchtes Gesicht? Bart, graue Haare? Wenn Bart, wie sah der aus? Wild oder gestutzt und schon ergraut? Er musste daran denken, zu Hause ein Phantombild zu zeichnen.

»Hören Sie«, setzte der Fremde beinahe weich an, »ich will, dass Sie für mich etwas tun.«

»Okay.«

Schweigen im Rücken.

»Ich mein Ja«, ergänzte darum Elwood.

»Gut, einsichtiger Knabe. Sie haben sich als Schnüffelnase in Wattwil einen Namen gemacht.«

»Ja.« Im oberen Toggenburg, wollte er anfügen.

»Nicht unterbrechen.«

Elwood erweiterte die Konturen der Visage. Vielleicht hatte er eine hohe Stirn. Auf jeden Fall hatte die Stimme eine freundliche, fast schon eine versöhnliche Note, aber auch eine herrische.

»Ich werde ein Couvert in einem Sack deponieren. Darin sind einige Fotos. Überwachen Sie diesen Mann. Sie finden ihn mittags am Bahnhof oder beim neuen Café daneben. Finden Sie raus, wo er sich überall herumtreibt, wen er trifft, und vor allem finden Sie heraus, wo er die letzten Jahre gewesen und warum er weggegangen ist. Ich erwarte von Ihnen Zusammenhänge. Fügen Sie die Fakten zu einer Geschichte zusammen. Das können Sie doch, Herr Gottwald. Fotos und sein Name sind unwichtig, verstanden?«

Pause, die Stille des sakralen Ortes. Die gesprochenen Worte, der Auftrag; verwandelt vom Licht der Mutter Kirche in eine heilige Mission.

Elwood schluckte.

»Höre ich ein Ja?«

Wieder fühlte er die Worte wie kalten Stahl im Rücken.

»J-aaa, Zeit, wie viel Zeit habe ich?«

»Von heute an zehn Tage. Dann deponieren Sie den Sack auf der Iburg. Zur gleichen Zeit. Bei den Fotos ist eine Karte mit eingezeichneter Übergabestelle. Sie bringen den Sack und entfernen sich, verstanden?«

»Verstanden.« Die gepresste Wiederholung hatte einen verzweifelten Unterton.

Elwood fügte dem Phantombild dicke Augenbrauen und ein altmodisches Käppi hinzu.

Er wollte schon bejahen. Auf jeden Fall hatte er genickt.

»Versuchen Sie nicht, mich zu hintergehen. Seien Sie gewarnt. Üben Sie absolutes Stillschweigen.«

Drohte er ihm?

»Handschriftlich oder maschinell?«, wagte Elwood zu fragen.

»Was?«

»Die Notizen.«

»Ach ja. Im Couvert befindet sich ein Pocket Viewer, ein digitaler Planer. Dort tippen Sie alles fein säuberlich unter der Memofunktion ein, verstanden? Arbeiten Sie zu meiner Zufriedenheit, weiß ich das zu schätzen. Sie bekommen zu gegebener Zeit Ihren Lohn. Sagen Sie endlich Ja, verd…«

Elwood merkte sich: den Fluch nicht ausgesprochen, also nicht zu Ende geflucht. Was das für das Phantombild bedeutete, musste er noch bedenken. Und: Der Typ ist leicht aus der Ruhe zu bringen.

Er war morgens aufgestanden, er hatte gechillt, der Anruf war gekommen und: Er hatte darauf reagiert. Bei seiner Ehre als Mensch, nicht nur als Privatdetektiv, er würde darauf achten, dass niemand zu Schaden kam.

»Ja«, sagte er schließlich, »ich will –«

»Gut«, hauchte der Fremde beinahe und machte, dass Elwoods Entscheidung wie der Anfang des Eheversprechens tönte.

»Und jetzt, Herr Gottwald, zählen Sie schön brav auf hundert, bevor Sie aufstehen, sich langsam umdrehen –«

Durch das Kirchenschiff hörte man die Tür in den Angeln quietschen.

»Ruhig. Tun Sie, als ob Sie beten, Orgler, das können Sie doch, oder?«

Orgler beten nicht, sie spielen, Sie Pfeife, dachte Elwood.

Erneute Stille. Ein Knarren, als sich die eingetretene Person auf eine Bank setzte.

»Beginnen Sie zu zählen.«

Elwood war schon bei hundert, drehte sich. Leer, die Bank hinter ihm. Weiter hinten eine Person auf Knien. Im Gebet versunken. Ist auch eine Kirche.

Er packte den Sack aus Plastik und verlor keine Zeit. Hastete aus der Kirche, in der Hoffnung, noch einen Blick auf den Fremden zu erhaschen.

Zu schade aber auch, dass es in Kirchen keine Überwachungskameras gab, die ihm etwas über den mysteriösen Besucher erzählen würden.

Zurück in die Kirche, Elwood, sagte er sich. Da sind keine Kameras. Aber vielleicht kann die eingetretene Person eine Beschreibung geben. Leise, um die Beterin nicht zu erschrecken, näherte er sich. Sie hob den Kopf, blickte nach vorn, die Hände blieben gefaltet.

Das übliche Erscheinungsbild. Die Kleidung nicht in schrillen Farben, die Haare mehr weiß als grau, der Kopf in einem sanften Zittern. Trotzdem würde er als passionierter Organist lieber mit vielen von den älteren Menschen einen Tee trinken als am Bahnhof auf der Bank ein Bier mit einem ungewaschenen Hippie. Das hatte ihn die Karriere als Kirchenmusiker gelehrt. Viele der im Alter vorgerückten Messebesucher waren im Geist sehr lebendig, frisch und witzig.

»Fragen Sie ruhig, junger Mann.« Die Frau behielt den Kopf geradeaus.

»Haben Sie den Mann eben bemerkt?«

»Ah, Herr Gottwald, wie konnte ich Sie nicht erkennen?« Die Frau unterbrach ihr Gebet, setzte sich gerade hin.

»Kommen Sie. Für ein Gespräch habe ich immer Zeit, vor allem mit Ihnen, wo Sie so wunderbar die Orgel spielen. Mein Herz. Sie treffen die Töne und greifen nicht daneben wie der alte Hoffmann. Himmlisch. Was fragten Sie? Der Mann. Ja, da ging einer vorbei. Gesehen habe ich nichts. Aber Beten öffnet die inneren Augen, das müsst ihr Jungen noch lernen. Der viele Lärm verdirbt eine wichtige Gabe. Außerdem schärft es die anderen Sinne. Gerochen habe ich. Oh ho ho, ja, der hat aber gerochen, irgendwie bitter. Warten Sie mal, genau, es erinnert mich an meinen Garten. An Salbei, glaube ich. Ach, was sage ich, glaube, nein, das denke ich, denn glauben tu ich ja hier. Wie steht es mit Ihnen, Herr Gottwald, glauben Sie? Oder darf ich Du zu Ihnen sagen, wo wir schon mal plaudern, gell.«

»Sicher, ich bin Tobias. Und wie heißen Sie, äh du, wie heißt du?«, stotterte er.

»Elisabeth, aber nenn mich Eli, wo du so wunderbar spielst.«

»Da Sie beteten, haben Sie, hast du noch mehr bemerkt?«

»Der Duft, der war real, das kann ich sagen. Das andere, na ja, ich hab da schon was gesehen, oder mehr gefühlt. So etwas wie eine Welle, eine Zorneswelle kam den Gang herauf. Ich würde es mit einem angeschossenen Dachs vergleichen.«

»Alles?«

»Ja, das ist alles, mehr habe ich nicht.«

»Darf ich dann gehen?«

Elwood fühlte sich wohl in der Gegenwart von Eli. Verpflichtet zu fragen, nicht einfach zu gehen. Der fremde Auftraggeber hatte ihn genötigt, mit geißelhaften Worten. Eli hatte in ihrer Art eine Ausstrahlung wie ein Engel. Die Worte wie ein sanftes Flügelschlagen. Er auf festem Grund, verpflichtet zu handeln wie ein Gentleman. Und es doch vorzog, zu gehen. Der Auftrag kitzelte seine Neugier. Zehn Tage, hatte der Typ gesagt. Genau die Zeit, die Ivy noch arbeitete, bevor sie mit zwei Freundinnen in den wohlverdienten Urlaub aufbrach.

»Oh, lieber Freund, wir sind doch nicht verheiratet. Du kannst tun, was du willst. Ich halte dich doch nicht auf. Obwohl, das Gespräch hat sich gut angelassen. Wo ich schon mal mit dem Organisten reden kann. Hm.«

Schmollte sie?

»Gut, ich wünsch einen schönen Tag.«

»Das wünsch ich a-auch.« Eli sang die Worte in großmütterlicher Weise.

Und dann war Elwood zur Kirchentür hinaus. Hinaus in den Juni, der es mächtig an warmen Tagen vermissen ließ. Es ging heute gerade noch, ohne zu frieren, nur mit dem Leibchen bekleidet, draußen zu sein.

Er umrundete die Kirche, bog vor dem Coop in die Unterdorfstraße ein. Den Plastiksack fest unter den Arm geklemmt. Zu Hause begab er sich gleich ins Büro. Aus einer der Schubladen des wuchtigen Schreibtisches klaubte er die eigenhändig verfassten Unterlagen über Detektivarbeit. Zusammen mit dem Sack legte er sie fein säuberlich auf die dicke Arbeitsplatte. Von weit her vernahm er die melancholische Weise eines Blasinstruments. Tuba, Trompete, Horn oder so, dachte er.

Dann begab er sich in die Küche, setzte Wasser für sein Lieblings-Fast-Food-Menü auf: Spaghetti mit Pesto, heute das rote, und genug Parmesan. Dazu Eistee aus der Tüte von der Migros. Momentan mit Pfirsichgeschmack, wo er sonst Zitrone bevorzugte. Viva lag ruhig im Körbchen im Wohnzimmer. Wedelte freudig, als er sie knuddelte.

Zurück in der Küche griff er sich den A4-Notizblock von der Anrichte. Er lag stets neben dem Brotkorb und war von Krümeln übersät. Nicht so einfach war es, in seinem Haushalt einen tüchtigen Bleistift zu orten. Die hatten die Gabe, immer wieder zu verschwinden. Elwood begab sich zum Fenster und wedelte die Brosamen nach draußen. Beinahe hätte er losgelassen. Bei der Treppe zum Eingang des Nachbarhauses stand ein Mann. Kantiges Gesicht, bleiche Lundgren-Frise, schwarze Jeans, beigegelbes Hemd mit einer Krawatte in ähnlichem Farbton, aber eine Nuance dunkler. Dunkelweinrote Lederschuhe, schätzte er.

Eine Lehre aus dem Detektivtraining, schnell und genau beobachten und nicht wieder vergessen. Der Mann sprach in sein Handy. Zu gern hätte Elwood mitgehört. Nicht, um zu wissen, was derjenige sprach, sondern, um den Klang der Stimme zu prüfen.

Wieder fühlte er die Stimme im Rücken, erinnerte sich an die Kälte, die sie verströmt hatte. Er schloss das Fenster. Eigentlich war es Sommer. Er könnte offen lassen. Aber er hatte zu tun und wollte möglichst keine Unterbrechung. Es war wie beim Chillen. Arbeiten und Chillen ähnelten sich in dem Punkt. Eine Unterbrechung killte den Elan, die Motivation, die Intuition.

Mit einem Bleistift aus der Reserve im Büro in den Händen setzte er sich an den Klapptisch. Dann malte er die ersten Striche. Eckiges Gesicht, dicke Augenbrauen, ein Käppi auf dem Kopf, den unterdrückten Fluch versuchte er mit einzubauen. Verbissen, verkrampft und mit kaltem Blick, so musste er aussehen. Er schattierte, arbeitete mit Druck auf der Mine oder ließ los, wo nötig. Als er fertig war, stand er auf und hielt das Phantombild ins hereinfallende Licht des angebrochenen Nachmittags. Konnte so der Auftraggeber aussehen? Gezeichnet hatte Elwood vor allem in der Jugend. Zugegeben, er war ein bisschen eingerostet. Das Gegenteil von dem, was das kochende Wasser darstellte. Seine Technik, keine sprudelnde Lebendigkeit. Er legte das A4-Blatt auf die Anrichte, widmete sich dem Essen. Ein voller Suppenteller Spaghetti und der ganze Inhalt des kleinen Glasbehälters, nachdem er sich das siedende Wasser beinahe über die Finger geleert hätte. Darüber genug Käse, den Eistee griffbereit.

Er steckte sich die dritte Gabel in den Mund, als es klingelte. Elwood trat in den Gang, der in einer Linie mit der Küche war.

Öffnete. Im Treppenhaus die Nachbarin, Bea, von unten. Weites Micky-Maus-Shirt, helle, kurze, zerfranste Jeans, barfuß.

»Tobias, hast du eine Sekunde? Ich bräuchte kurz Hilfe.«

»Ja, gut.« Ungern verließ er seine dampfenden Spaghetti.

»Um was geht es?«, fragte er.

»Ach, nur ein Schrank im Schlafzimmer, den ich verschieben will. Ivy sagte, so bekäme ich mehr Platz.«

Natürlich, der Rat von Ivy, die es liebte, Wohnungen einzurichten, und es noch mehr mochte, andern einen Rat zu erteilen.

Den Schrank rücken. Das dauerte. Das Bild an dem neuen Ort musste weg, und um das bewerkstelligen zu können, musste das Bett verschoben werden, und der Kleiderständer stand auch im Weg. Dann endlich der Schrank.

Elwood schwitzte. Bestimmt waren seine Pesto-Spaghetti kalt. Was tat man nicht alles für gute Nachbarschaft.

»Danke«, sagte Bea. »Willst du ein Bier?«

»Sehr freundlich von dir, aber vielleicht ein andermal, wenn Ivy auch hier ist. So redet es sich besser, zu dritt.«

Schnell machte sich Elwood aus der Wohnung, um nicht noch mehr fadenscheinige Ausreden vom Stapel zu lassen. Er wollte nur wieder hoch, essen und sich dann um den Auftrag kümmern.

Bea zeigte ein Grinsen, und er war weg.

Sei nicht immer so kalt, so abweisend, meldete sich sein Gewissen. Du kennst Bea schon lange. Und von Ivy weißt du, dass sie nicht gerade mit guten Freundschaften gesegnet ist. Du handelst im Sinne deiner Partnerin, wenn du ihr hilfst.

Ivy sagte auch, dass Bea, für viele Männer das Idealbild einer jungen Frau, immer wieder eine miserable Wahl getroffen hatte. Sie war mit Kerlen befreundet gewesen, ebenso gut aussehend, deren Charakter nicht so gefällig war wie ihre Schönheit blendend. Das Fazit war darum so kurz wie die Liste der Männer lang. Kein wirkliches Interesse an einer tieferen Beziehung.

Elwood stand in der Küche, die Hand auf seinen Spaghetti. Lau. Sollte er wieder runtergehen? Die Arbeit konnte warten. In zehn Tagen würde er die Observierung mehr als hinkriegen. Ebenso die Übungen an der Orgel, da waren keine verrückten Partituren in Sicht. Die ewig gleichen Kirchenlieder. Und er hatte sich schon vorgenommen, einmal mit dem Pfarrer zu sprechen. Außerdem hatte er für heute genug Kirche erlebt.

Er könnte Viva mitnehmen. Um dann über was zu sprechen? Über das Gespräch in der Kirche? Nein. Elwood nahm die Hand von den Spaghetti. Das blieb Sache des Privatdetektivs, der er war, wenigstens in der Freizeit.

Er dachte weiter darüber nach. Das Ende der Gedankenlitanei war dann: Du hast keinen Garten zum Rausgehen, dafür Freunde, die du treffen kannst. Er ließ Viva schlafen und begab sich wieder auf den Weg nach unten. Warum fühlte sich seine linke Hand so fettig an? Er hob die Hand, wollte klopfen. Die Tür ging auf.

»Nicht klopfen. Willst du mein Werk ruinieren?«

Packpapier bedeckte die ganze Fläche. Angeklebt über die Türränder. Darauf Postkartengrüße aus allen Ecken der Welt. Von Freunden geschickt. Nie hatte er so genau hingeschaut.

Bea hatte das Bier in der Hand, streckte es ihm entgegen. Pinkes Shirt. Stilisiertes Bild von Nina Hagen, mit Augen wie Alice Cooper, darüber der Name von Ninas Band.

»Wusste gar nicht, dass du das hörst.«

»Was hörst? Willst du nicht reinkommen?«

Elwood betrat zum zweiten Mal die Wohnung. Bea hatte auch nicht mehr die verfranste Jeans an. Lila gemusterte Pumphose. Sie hatte wohl ihre häusliche Arbeit hinter sich und darum in bequemere Kleidung gewechselt.

Sympathisch, fand er. Nicht das Wechseln der Kleider, denn er zog meistens an, was für den ganzen Tag passte. Auch für die ruhige Zeit. Er malochte nicht auf dem Bau. Und Kirchenstaub störte nicht.

»Diese Art von Musik«, nahm er den Gedanken wieder auf.

»Stimmungssache. Das sollte dir doch bekannt sein. Ich habe da eine Biografie gelesen. Dachte vorhin gleich, du solltest bleiben.«

Sie bedachte ihn mit einem wissenden Blick. Die Augenbrauen hochgezogen, die Mundwinkel weit in der Wange.

Elwood nahm das Bier.

Sie ging zur Balkontür. »Draußen ist es angenehm. Setz dich doch schon mal in die Lounge. Ich hol mir auch noch etwas zu trinken.«

Dann saßen sie da, schwiegen ein paar Minuten. Kinder stritten irgendwo um einen Ball. Eine Turmuhr schlug die Zeit.

»Weißt du, ich bin froh, euch zu kennen. Um ehrlich zu sein, bleibe ich hier wohnen wegen euch. Dass wir uns gut verstehen, dass du einfach hier sitzen kannst und Ivy es mir im Nachhinein nicht übel nimmt. Ich mein, Wattwil, was kann man hier schon außer arbeiten?«

Elwood sagte vorerst kein Wort. Es stimmte. Ivy würde keinen Eifersuchtsanfall kriegen. Dafür kannten sie sich zu lange. Im Gegenteil, sie würde ihn tadeln, hätte er nicht seine Hilfe angeboten. Normal? Nein, nicht normal, wie er aus vielen anderen Beispielen wusste.

»Willst du sie nicht heiraten? Ich mein, kirchlich, in einem anderen spirituellen Rahmen. Ich mein, Angebote gibt’s zuhauf.«

Hatte Ivy das deponiert? »Heiraten? Bedeutet mir nichts. Standesamt reicht. Wieso sollte ich?«

Schulterzucken, Kopfdrehen, während sie am Bierglas nippte.

»Ich würde das wollen, wenn ich den richtigen Mann gefunden hätte. So viele Lappen, Waschlappen.«

Sie seufzte laut.

Die Frau hatte Humor.

»Vielleicht denke ich noch darüber nach. Und, hast du jemand im Blick? Du bist auch nicht mehr die Jüngste.«

»Jaaa«, dehnte sie. Sie wirkte ernst, gefasst, das Schelmische war verschwunden.

Dann schaute sie Elwood direkt in die Augen. »Hast du jemals in deinem Leben überlegt, in ein Kloster zu gehen? Ich mein, kennst du das Beispiel von diesem Kelly-Family-Typ? Wie heißt der noch mal? War letzthin im Fernsehen. War beeindruckend.«

»Kloster, bist du besch… da lernst du doch nichts, was du nicht selbst erarbeiten kannst. Du kannst dir eine Bibel kaufen, von mir aus die Bhagavad Gita lesen.«

»Nein, Tobias. Das Alleinsein kann einen fertigmachen.«

Ah, dort war der Haken. Aber darum musst du dich doch nicht gleich einer Sekte anschließen. Er war froh, runtergekommen zu sein, auch wenn es nur ein Kurzbesuch war. Ein Tropfen auf einen heißen Stein. Es der Seele wohltat, ihrer Seele. Sollte sich die SP Besuche auf die Fahne schreiben?

»Michael Patrick heißt er, der mit den schönen Locken, früher. Ist das ein Mann. Ich sollte wieder mehr ins Fitness. Nehme zu, wenn ich nur rumsitze.«

Der nächste Haken. Vom Alleinsein zum Lover zur perfekten Figur. Bea wollte Sorgen teilen, Ballast abladen, gedanklich und emotional. Na dann prost. Umso besser. Er musste nicht reden. Zumindest nichts Wichtiges. Zuhören und an der richtigen Stelle nicken, hm sagen, bejahen, ihre Sorgen teilen. Keine Vorschläge, kein Rat, keine Rede und schon gar nicht philosophieren.

Elwood schaute über den Balkonrand. Sicht auf die Ausläufer, die das Zürcher Hinterland vom Toggenburg trennten. Mäßig schön Ende Juni, ein zögerlicher Sommer. Eine nächste Erkenntnis zog in das Zentrum seines Denkens. Bea könnte ihm vielleicht einen Tipp geben. Genug am Seelenheil herumgeflickt. In einer gewinnorientierten Gesellschaft die produktionslose Zeit genutzt und den Spielraum mit Leben erfüllt. Solche Sachen mussten gehörig ausgedrückt sein.

»Tobias, willst du noch ein Bier?«

Es behagte ihm bei Bea immer besser. Und vielleicht konnte er so die Grundidee für seine SP-Rede herausfiltern. Von dem Nachbarbesuch und der produktionslosen Zeit. Das konnte er gut verknüpfen. Ha, Zeit ist nicht Geld, und Geld braucht man nicht unbedingt für Zeit oder konnte sich zumindest keine kaufen.

»Warte, nein, komm gleich wieder.«

Er erhob sich und hastete hoch in seine Wohnung. Im Büro zog er das Couvert unter den Detektivnotizen hervor, öffnete es und warf einen ersten Blick auf das Bild. Porträt bis zur Hüfte. Unbekannt. Aus der Küche holte er sein Handy und machte ein Bild von dem Foto. Viva trottete daher und schnupperte an seinem Bein. Sorgfältig tat er das Bild, eine farbige A4-Fotokopie auf normalem Druckpapier, zurück zu den Notizen. Zudecken mit dem Couvert und gleich zurück zu Bea. Viva schlich ihm nach. Kurz entschlossen nahm er die Hündin unter den Arm. Aus der Wohnung tönte Nina Hagens rauchig soulige Stimme. Bea saß in der Lounge, und es sah aus, als lauschte sie den Spatzen im Wettstreit zu den Tönen von »Ich glotz TV«.

Er setzte Viva auf den Boden. Sie rannte freudig auf Bea zu.

»Hundchen, süßes Hundchen.«

Als Elwood ging, war der Nachmittag weit fortgeschritten.

Seinen Ermittlungsbemühungen stand ein erster Erfolg zu Buche. Es bestätigte zudem seine Art der Nachforschungen. Aufmerksam sein, intuitiv arbeiten, und er hatte immer einen guten Teil Professionalität auf seiner Seite. Er hatte Bea nicht gleich alles erzählt. Das Nötigste, wenn überhaupt. Elwood hatte sich hingesetzt und Bea das Foto auf dem Handy präsentiert.

»Willst du mich verkuppeln?« Ein schräger Blick zu Elwood.

»TV, TV, TV …«, röhrte Hagen über die Bluetooth-Box.

»Würd ich nicht wagen.« Er hatte die Hand zum Schwur erhoben.

Bea schnappte sich Elwoods Handy und besah sich das Bild genauer. »Wart mal, er hat zwar eine gänzlich normale Kleidung an, aber ja, den kenn ich. Wenn er derjenige ist. Nennt sich auf einer anderen Bühne Guru Chaachaa Jabar. Er führt einen Youtube-Kanal, über den ich vor einiger Zeit gestolpert bin. Was? Ich habe doch nur geschaut. Warte.«

Bea erhob sich und ging in das Wohnzimmer. Mit dem Handy in der Linken kehrte sie zu Elwood zurück. Sie griff sich ihr Bier, tippte mit dem Daumen auf dem Display herum, während sie sich zurück auf die Lounge neben ihn setzte.

Elwood staunte. War entzückt. Über die Leichtigkeit des Umgangs mit dem Smartphone. Links tippen, rechts Bier trinken und dann noch hinsetzen, das musste er üben.

»Da, schau.«

Auf dem Handyscreen das Bild eines indisch gekleideten Mannes mittleren Alters. Etwas jünger als er selbst. Oder war das, was er als indisch identifizierte, nur die europäische Vorstellung davon? Anstelle der edel gemusterten Kurta ein safranfarbenes Hemd, Gilet mit Elefantenmuster, Stirnband und als Anhänger ein Peace-Zeichen, so groß wie ein Mercedesstern. Dazu die passenden halblangen fettigen Haare. Er musste sich eingestehen, dass er Menschen in diesem Outfit immer mit hinduistischem Gedankengut in Verbindung brachte.

Elwood verglich die Gesichter. Eine andere Zeit, andere Umstände und womöglich andere Sorgen zur Zeit der Aufnahmen. Der Ausdruck, die Augen und der Mund stimmten überein. Eine andere Kleidung, aber es war derselbe Mann.

»Er verbreitet auf seinem Youtube-Kanal seine eigenen hinduistischen Ansichten, wie ich mich erinnere. Wir können mal reingucken.«

Schon hatte sie auf Youtube den Kanal bereit und scrollte durch die Themen.

»Willkommen im digitalen Aschram von Guru Chaachaa Jabar«, las sie laut. »Meine Lehren als kosmischer Avatar. Folge der Nummerierung, um dein Sansara zu verlassen. – Thema Nummer eins: Vom Gu zum Ru, Chaachaa Jabar führt dich aus der Dunkelheit ans Licht. – Willst du noch mehr hören? Ah, die Nummer sieben tönt interessant: Mein eigenes Puja-Ritual. – Schon lange her. Aber ich habe mich mit seinen Lehren befasst.«

»Hah.« Elwood hatte gerade ein gewaltiges Flashback an die Neunziger. An die Zeit, als die Hare-Krishna-Bewegung in der Schweiz florierte. Sie an den Open Airs ihre Zelte aufschlugen und er es nicht auf die Reihe brachte, wieso man einfaches Leben mit Religion verbinden musste. Und sowieso, was hatte eine gute Rockparty mit Erlösung am Hut? Er wollte damals nicht erleuchtet werden, nicht von dieser Kultur, in der er lebte. Er war nicht SVP, schon damals nicht, und er wollte leben.

»Ja, tipp eine an, die erste, wenn’s sein muss.«

Es folgte ein Akkord auf der Sitar und dann die Stimme des Gurus. Auf Schweizerdeutsch. Im Hintergrund Räucherstäbchen und Blumen. Elwood fühlte sich an die Ikea-Werbestimme erinnert.

»Hallo und ein Namaste aus dem Aschram von Guru Chaachaa Jabar. In diesem geistlichen Take führe ich dich in dein persönliches Moksha. Wenn du nicht weißt, was das ist, bist du genau richtig. Es wird das erste Licht der ewigen Wahrheiten sein, das auf dein Leben fällt. Glaube nicht den abendländischen Atheisten. Es gibt ewige Wahrheiten. Und du kannst sie finden. – Damit du in die richtige Stimmung kommst, halte mal die Hände vor deine Brust und atme –«

»Stopp«, rief Elwood, »das reicht. Ich wollte nur wissen, wer der Typ ist. Nichts mehr und weniger.« Lehren, kombinierte er, bringen mich nicht weiter. Das will mein Auftraggeber auch nicht wissen. Vermutlich ist er darüber sowieso informiert. Den Rest muss ich herausfinden. Wo war der Guru die letzten Jahre gewesen? Waren Avatare nicht digitale Wesen? Er musste unbedingt seinen Stand des Wissens erneuern.

»Ich muss nach oben. Soll Viva noch ein wenig bleiben?«

Ja, hatte sie gesagt, und er trottete aus der Wohnung und die Treppe hinauf. Fürs Erste würde er ein wenig chillen, für sich allein, um die Gedanken wieder zu sammeln. Oder sollte er doch eine Stunde an die Orgel? Von religiösen Inhalten hatte er jedoch genug. Elwood brauchte mentale Erholung, gedankliche Entspannung, um dann mit frischem Enthusiasmus seine Aufgabe anzupacken: die Überwachung der Zielperson.

Er erhob sich wieder aus dem Sessel. Bea würde mit Viva zurechtkommen und umgekehrt. Darum musste er sich nicht kümmern. Ivy war frühmorgens gegangen, und er wusste, dass ihr Feierabend sich verzögern konnte, wieder einmal. Zeit für Elwood, seine Angelegenheiten zu regeln.

Er schnappte sich seine atmungsaktiven grauen Sneakers, zog den Gurt wieder enger. Keine Noten, er ging zum Improvisieren, wie so oft. Dabei fiel ihm meistens auch eine geniale Verknüpfung zu einem Kirchenlied ein. Wie letzthin mit »Lobe den Herren«, ein Lied, das Pfarrer Frei liebte wie kein anderes. Er hatte die Akkorde gespielt und die Melodie gesummt, als ihm nach dem ersten Durchgang die Melodie von »Love of My Life« in den Sinn kam. Hammer, dachte er. Die Melodien fließen ineinander, die Tastenfolgen stimmen auch, F-Dur, wie er gleich merkte.

»Love of my life, you hurt me, you’ve broken my heart«, summte er leise. Die erste Strophe ging durch seine Gedanken. Und Freddie am Livekonzert in Zürich mit der doppelten Landesfahne, vorne Britannien, hinten Schweiz.

»Was schleichen Sie so durch die Gegend?«

Elwood drehte sich. Von der Post her kam der Pfarrer. Lockere Freizeitkleidung, in der Rechten eine schwarze Dokumentenmappe.

»Ich wollte zur Kirche, üben. Gehen Sie auch da lang?«

»Nein.« Der Herr Pfarrer deutete mit dem Kopf. »Coop.«

»Hm.« Hatte er schon etwas mitgekriegt vom frühen Nachmittag? Besaß er etwa auch die Gabe, mit den inneren Augen zu sehen, wie es Eli gesagt hatte? Wusste er etwas? Er wüsste nicht, dass er geschlichen war, vorher. Daran musste er arbeiten, wenn er morgen gedachte, diesen Guru zu observieren.

»Herr Pfarrer«, sprach Elwood und gewann wieder an Sicherheit, »können wir mal die Wahl der Kirchenlieder besprechen?« Pause. »Eine andere Art, sie zu spielen, mit Verknüpfungen zu«, er konnte nicht »weltlich« sagen, das würde den Pfarrer abschrecken, »mit Verknüpfungen zu mehr Rhythmus.«

Jetzt war es raus.

»Ah, der Herr Gottwald, Sie hatten da schon mal Andeutungen gemacht. Und mir gefällt Ihr Stil. Wissen Sie, als ich jung war, hörte ich Motörhead. Sie wissen doch bestimmt, der Lemmy, der Frontsänger«, der Pfarrer bekreuzigte sich, »Gott hab ihn selig, der war Pfarrerssohn. Vielleicht habe ich die falsche …«

Elwood sah, wie der Pfarrer den Kopf in den Nacken warf, als hätte er lange Haare, und Lemmys heiseren Gesangsstil imitierte.

»We can be heroes, just for one day«, um dann den Satz zu beenden, »… falsche Leiter bestiegen.« Herr Frei lächelte. »Kommen Sie mal in mein Büro. Wir finden einen Weg, unsere Träume in eine Liturgie einzubinden.«

Und weg war er.

Wow, Junge, dachte Elwood. Die zwischenmenschliche Distanz hatte sich gerade um einen Kilometer verringert, oder die Luftlinie von der Empore zum Altarraum war auf die Hälfte geschrumpft.

An der Orgel sortierte Elwood seine Gedanken, während er neue Verknüpfungen von Mercury und »Lobe den Herren« ausprobierte. Den Blick wie ein Engel schräg nach oben gerichtet. Zielgerichtet nur innerlich. Jetzt hatte er einen neuen Fall. Und vielleicht entwickelte er sich zu einem Kriminalfall. Zumindest war es ein richtiger Auftrag. Bea hatte ihm den Namen geliefert, den bürgerlichen musste er noch rausfinden. Guru Chaachaa Jabar. Ob er ein Wattwiler war, musste er ebenfalls herausfinden. Und wo der sich die letzten Jahre herumgetrieben hatte. Morgen würde er früh aufstehen, Viva zufriedenstellen und sich dann Zeit nehmen, am Bahnhof zu sein. Elwood atmete durch.

»Love of my life«, sagte er laut.

Am Abend, oder sonst irgendwann, sobald als möglich eben, nahm er sich vor, mit Ivy darüber zu reden.

ZWEI

Elwood stand an der Ecke des Bahnhofs Wattwil. Im Durchgang zwischen Haupt- und Nebengebäude. Zurückgekämmte Haare zu einem Rossschwanz gebunden wie Jon Lord im Alter; heute das schwarze Leibchen mit dem stilisierten Konterfei des Tastengenies, grüne Leinenhose mit Seitentaschen und die bequemen neuen Sneakers. Den New Yorker G-man Cotton im Ohr. Wie er seinem Partner Phil Decker Anweisungen gab. Ecke vierzigste, zwei Blocks vom Tatort entfernt. Wie er es auch in der Krimiserie »Castle« immer wieder aufgeschnappt hatte. Zusammen mit Ivy hatte er alle Folgen zweimal geguckt. Er hatte keine Blocks vor sich, nur die gerade Linie des Hauptgebäudes. War aber bereit, alle Wege zu gehen, um erfolgreich zu sein. Er schaute wieder hin, zur Nische vor dem Hauptdurchgang. Hatte ihn der selbst ernannte Guru gesehen? Kurz hatte er den Kopf gedreht und in seine Richtung geschaut. Elwood wendete ebenfalls den Kopf. Auf Gleis 3 fuhr der Zug aus Nesslau ein. »S2«, stand auf dem Anzeigebalken. Es war elf Uhr morgens.

Zu Hause hatte er den Inhalt des Couverts nochmals geprüft. Drei Bilder standen ihm zur Verfügung. Darauf die Zielperson mit gewöhnlicher Kleidung. Dann waren da der Pocket Viewer und der Plan der Burg. Er hatte die Frage beantwortet, wieso ihm der unbekannte Auftraggeber den Namen nicht nannte, den bürgerlichen. Elwood vermutete, dass es für die Beschattung ohne Belang war. Und dass der ominöse Fremde über die Guru-Identität Bescheid wusste. Er aber hatte vor, ihn herauszufinden. Über den bürgerlichen Namen könnte er Anhaltspunkte finden. Der Fremde hatte es genau formuliert: Finden Sie heraus, wo die Zielperson die letzten Jahre gesteckt hat. Eine Geschichte sollte er liefern, keine Fotos. Und er hatte gezeichnet. Ein Phantombild des Anrufers, was zur Ausbildung eines Detektivs gehörte. Er verzichtete auf Wanzen, GPS-Tracker und Nachtsichtgerät. Texte entschlüsseln ordnete er bei den drei ??? ein. Anders war es mit der Befragungstechnik, der Psychologie derselben. Da wollte er noch einiges mehr nachlesen.

In der Nacht hatte er geträumt, er liefe durch ein junges Buchenwäldchen. Die Sonne sandte ihre Strahlen durch das Laub schräg zwischen die Stämmchen. Blauer Himmel und ein Knirschen unter seinen Sohlen, als liefe er über transparentes Folienpapier.

Wollte ihn seine Seele darauf hinweisen, wie man sich möglichst ohne Geräusch fortbewegt? Wusste die das besser? Dieser Traum war nicht so komplex gewesen, aber vielleicht sollte er etwas über Traumdeutung lesen.

Von der Bahnhofstraße hörte er ein Geknatter. Eine Kolonne Vespafreunde auf dem Weg durch das Toggenburg. Elwood zählte sechsundzwanzig. Und dachte an eine andere Weisheit. Nur wo man zu Fuß gewesen ist, ist man wirklich gewesen. Wobei er ungemein gern eins jener Gefährte besitzen würde. Als er wieder nach vorne schaute, war der Guru verschwunden. Gähnende Leere, wo der soeben mit einem Bier in den Händen gestanden hatte, wie Elwood interpretierte. Er wendete den Kopf, zuerst neunzig Grad, um zu sehen, ob der Guru nicht plötzlich hinter ihm auftauchte. Dann vorsichtig wieder nach vorn. Leer. Er verscheuchte den Gedanken an das Knistern des Traums. Setzte vorerst aber behutsam einen Fuß vor den andern. Endlich kam Leben in die Sache. Zu lange hatte er nur verharrt. Gefühlt mehrere Stunden. Erster Tag hin, erster Tag her. Er wollte es nicht versieben. Von der anderen Seite war er auf den Bahnhof zugelaufen. Hatte den Guru unter den Randständigen ausgemacht. Wenn man die noch jungen Menschen Randständige nennen sollte. Die im Winter bestimmt nicht so früh am Bahnhof waren. Jetzt aber bei diesen milden Temperaturen die Zeit draußen genossen. Das gemeinsame Biertrinken. Wo war der Guru? Elwood war beinahe vorbei am Abgang zur Unterführung. Immer noch konnte er ihn nicht sehen. Noch einmal hielt er inne, spähte umher, konnte ihn nirgends finden. Er setzte seinen Weg fort. Beschleunigte seine Schritte. Wenn schon offensiv, dann richtig. Vorbeilaufen fällt nicht auf. Anschließend musste er sich neu postieren oder abbrechen und nach Hause gehen. Er wählte das Erste. Zwei Burschen saßen auf der Bank gleich beim Geländer. Von dem Guru keine Spur. Elwood unterdrückte den Impuls, auf sie zuzugehen, das Bild zu zeigen und nach dem Namen zu fragen. Wäre das Einfachste. Er hielt sich an den gewählten Plan und lief vorbei. War sicher besser. Denn einer der beiden würde es bestimmt dem Guru stecken, dass einer nach seinem Namen gefragt hatte. Er war sich nicht sicher, was für eine Auswirkung das haben würde. Er verlangsamte seinen Gang und ging nach rechts hinüber zum Kiosk. Kurz entschlossen trat er ein und kaufte sich ein Kägi fret. Wieder draußen stellte er sich an den runden Hochtisch. Das hätte er tun sollen. Öffentlich hinstellen und beobachten. Von der Haltestelle nach Ebnat-Kappel winkte ihm eine Frau. Er schaute genauer hin. Bea.

»Zu Besuch«, hörte er sie rufen. Sie wendete den Kopf, und er folgte ihrem Blick. Die Bahnhofstraße runter kam Guru Chaachaa Jabar. In der Hand eine Coop-Papiertragetasche. Nachschub, tippte Elwood. Die Kleider stimmten mit dem Stil auf dem Youtube-Kanal überein. Absolut gurumäßig, was er aus der Ferne bestimmen konnte. Hippiemäßiger Aufzug, den man hinlänglich mit hinduistischem Gedankengut verknüpfte. Er schaute zurück zu Bea. Leer. Der Bus nach Ebnat war abgefahren. Ein wenig drehte er sein Gesicht wieder in die Marschrichtung des Gurus, öffnete das Kägi fret, als er näher kam und an ihm vorbei zu seinen Spießgesellen ging. Was sollte er jetzt tun? Warten und unauffällig beobachten, darauf hoffen, dass der Guru wieder ging? Dann könnte er ihm folgen. Oder sollte er nochmals in den Kiosk gehen, eine Zeitung kaufen und sich direkt nebenan auf die Bank setzen? Er wählte wieder das Erste. Warten, nicht Tee trinken, warten. Er hatte Zeit, wie jene drei Brüder dort drüben. Ha. Er könnte trotzdem die Zeitung kaufen. Entschied sich, daran zu arbeiten, die grottenschlechten Einstiegsideen zur anstehenden SP-Rede von gestern zu toppen. Ein schlechter Einstieg war wie der vermasselte Anfang eines Rockkonzerts. Die Zuhörer wieder zu fangen brauchte zu viel Energie. Was dürfte es also sein, diesmal? Elwood aß den zweiten Stängel des Kägi frets. Ballte die Packung zu einer Kugel und warf sie Richtung Kübel. Daneben. Er bückte sich, versuchte es noch mal. Treffer. Genau so, dachte er. Nach dem zweiten Anlauf ein Treffer.

Ein kurzer Blick nach drüben offenbarte keine Neuigkeiten. Frisches Bier hatte die Runde gemacht. Ließ die Burschen lauter werden.

Elwood stand mit den Ellbogen auf den Stehtisch gestützt da. Kopf abgedreht Richtung Bushaltestelle. Jederzeit bereit, die Bewegungen des Gurus zu verfolgen. Er hätte auch Zeit, Notizen zu machen, was ihm auffiel. Vor allem dachte er daran, wieso er den handlichen Pocket Viewer nicht mitgenommen hatte. Er könnte alles direkt eintippen. Wäre doch praktisch. Untersucht hatte er ihn. Das digitale Notizbuch war vollkommen leer. Vom Kalender über den Terminplaner bis zu den Kontakten, keine Einträge. Hätte er Fingerabdrücke nehmen sollen? Er war sich sicher, dass der Fremde Handschuhe getragen hatte. Zudem hatte er das Gerät schon in den Händen gedreht und gewendet. Ohne Schutz.

Eine Frau stellte sich ihm gegenüber an den Stehtisch. Weiße Handtasche mit silbernem Kettentragriemen, Packung Mary Long in der Rechten, Zigarette in der Linken. Die Frau selbst sah aus wie Mary Long. Jedenfalls die schwarzen gepflegten Haare. Sie hatten einen Blaustich. Was nicht zum sonstigen Äußeren passte. Wie auch nicht die Handtasche. Ein nicht sommerliches rotes Lakers-Spielerdress mit einem Scorernamen, der ihm nichts sagte, und braune Lederhose. Das zu weite Sportleibchen verhüllte eine mollige Figur. Sympathisch. Es roch so richtig nach Mensch. Und Elwood wusste, was er an der nächsten Parteisitzung als thematischen Einstieg bringen könnte. Der Kerngedanke. Die Leistungsgesellschaft war wichtig. Aber ebenso wichtig war, dass der Mensch seine Identität nicht preisgeben musste. Seine Partei hatte offene Arme für Personen jeder Couleur. Konnte es sein, dass die Zielperson ihre Identität verloren hatte oder am Verlieren war?

»Darf ich?« Mary Long wedelte mit der Zigarette.

»Ja sicher, stört mich nicht.«

Durch ihre Anwesenheit war sein Herumstehen nicht mehr so auffällig.

»Sind doch draußen«, ergänzte er.

Aus der Richtung des Gurus schepperte es. Eine halb volle Dose knallte auf den Boden. Gralsburg, diese Pfütze, kann man sowieso nur gekühlt trinken. Dann das Gekeife des Gurus: »Du hast schon Schulden bei mir. Ich liefere meistens das Bier. Und jetzt soll ich dir noch die Zigaretten …«

Es wurde handgreiflich. Der Guru zog den Kürzeren und ging zu Boden. Elwood wollte schon Partei ergreifen, denn eine Hilfe geben war wichtiger als am Auftrag festhalten, als der Guru sich aufrappelte und von dannen machte.

»Behaltet das Bier«, hörte Elwood ihn noch rufen.

Er bereute, von Mary Long Abschied nehmen zu müssen. Der Gedankengang war noch nicht fertig. Unausgereift. In einigem Abstand folgte er dem Guru das Perron entlang bis zu der Stelle, wo er die Observierung begonnen hatte. Immer darauf bedacht, ihm nicht zu nahe zu kommen. Weiter die neue Ladenpassage an der Bahnhofstraße hinauf ging es zur Brücke über die Thur. Vor seinen Augen, hinter der Brache, das kleine noch existierende Kino »Passerelle«. Vor der Brücke rechts weg der Thur entlang. »Auweg«, stand auf der blauen Tafel. Eine Richtung, die er nie beschritt. Mit Viva ging er immer die andere Seite der Thur entlang, nach Lichtensteig. Hier war es ein Feldweg von der Breite einer Fahrspur, kein Asphalt. Die Thur beschrieb einen leichten Bogen. In der Ferne, hinter dem Geäst von mächtigen Linden, ein Wahrzeichen von Wattwil: die drei Hochhäuser, liebevoll Eidgenossen genannt. Vorbei an Firmengelände und Markthalle. Vor ihm der Guru, der nicht vorhatte, sein Tempo zu drosseln. Elwood war bemüht, den Abstand nicht zu verringern und unverdächtig daherzuschreiten. Von Linde zu Linde zu gehen sah dann wohl komisch aus und würde ihn erst recht verraten.

Die Hände in den Hosentaschen, marschierte er gemächlich daher, als sei es tägliche Routine. Keine tägliche Routine bot der auf ihn zukommende Besitzer von zwei Hunden. Beide an einer langen Leine. Der kleinere Hund verhedderte sich in der Leine des größeren. Der Besitzer war bestrebt, Haltung zu bewahren. Die spielenden Hunde verwickelten sich ständig neu. Was den Hundehalter veranlasste, sich zu drehen und zu wenden, bis er die Leine des einen um die Beine hatte. Lustig.

Elwood schaute wieder nach vorn. Etwa zehn Minuten waren sie gegangen, seit sie die Bahnhofstraße verlassen hatten. Er sah, wie der Guru das schmale, schräg abfallende Flussbord überquerte, die Schuhe und Socken von den Füßen zog und in den Fluss stieg. Was hat der nur vor? Wusste er einen Verfolger hinter sich und wollte ihn, Elwood, abhängen? Na warte: Was du kannst, kann ich schon lange. Elwood wartete, bis der Guru drüben und die andere Seite hinaufgestiegen war. Dann verließ er seine zweckmäßige Deckung hinter der Linde, hinter der er gesteckt hatte, um den nächsten Schritt des Gurus zu verfolgen, und lief das kurze Bord hinunter. Am Rand der Thur wollte er die Sneakers von den Füßen zerren, da überlegte er es sich anders. Barfuß gehen bei all den Steinen? Geht nicht. Seine Füße so weich wie der beste Brie. Kurz entschlossen setzte er den rechten Fuß ins Wasser. Der Guru hatte die Stelle gut gewählt. Der Fluss brach über ein paar Steine hinweg auf ein tieferes Niveau. Bestimmt keinen Meter. Aber es reichte, um die Thur zu queren, die kein Hochwasser führte. Als der erste Tritt von Erfolg gekrönt war, zog Elwood den zweiten Fuß nach. Wasser spülte über seinen Spann. Er hob den Kopf, konnte den Guru nicht mehr sehen. Hastig suchte er sich von Stein zu Stein den Weg über die Thur. In der Mitte glitt er rechts aus und wäre beinahe hingefallen. Im Spagat schaffte er es mit dem linken Knie, den Sturz abzufangen. Schmerzhaft. Den Schwung des Oberkörpers stoppte er mit der Hand im Wasser. Elwood stöhnte auf, unterdrückte den Ärger und setzte den Weg fort. Die letzten fünf Meter waren ohne Zwischenfall. Dafür hatte er den Guru aus den Augen verloren. Mit größerer Eile, als er es gewohnt war, hetzte er das Bord hoch. Oben auf dem Feldweg gönnte er sich eine kurze Verschnaufpause, betrachtete seine nassen Sneakers, das Hosenbein und die Hand, mit der er sich in der fließenden Thur abgestützt hatte. Ärgerlich. Aber es war Sommer.

Wohin war der Guru verschwunden? Auch auf dieser Seite Firmen, neuere, ältere. Ein Stück den Weg entlang, dann offene Fläche. Elwood ging weiter der Thur entlang. Rechts neben der Grünfläche, die er als Garten identifizierte, sah er ein weißes Mehrfamilienhaus. Unten am Eingang verschwand eine Person. War das der Guru? Er ging über eine Kanalbrücke und dann rechts am Wasserlauf entlang zu dem fünfstöckigen rechteckigen Wohnblock. Die Stirnseite hatte einen vorspringenden Dachbalkon. Das Gebäude sah aus wie eine fette Ente mit Schnabel. Im Garten bewegte sich etwas. Ein älterer Herr mit zerrissenem, knielangem orangem Arbeitskittel stand gebeugt über einem Hochbeet. Als er näher kam, hob dieser den Kopf. Elwood zückte gedankenschnell das Handy, entsperrte es und präsentierte dem Mann im Garten das Konterfei der Zielperson.

»Guten Tag, kennen Sie diesen Mann?«

Der Senior schaute auf das Handy, dann Elwood ins Gesicht und dann auf seine nassen Schuhe.

»Wie ist sein Name«, setzte Elwood nach, »wie heißt er?«

»Kennen ist übertrieben, junger Mann, und der Name, schauen Sie doch auf die Briefkästen, dort steht er.«

Elwood tat wie ihm geheißen und ging die fünf Meter unter das Vordach am Eingang. Briefkästen links und rechts. Er schaute zuerst rechts. Dann links. Familiennamen mit Anfangsbuchstaben und ausgeschriebenen Vornamen. Einzelpersonen, Frauen, Männer, eine WG