Chasing Eternity - Alyson Noël - E-Book

Chasing Eternity E-Book

Alyson Noel

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Beschreibung

Das Finale der opulenten Zeitreise-Trilogie Seit Natasha an der Gray Wolf Academy das Zeitreisen erlernte, wurde ihr Leben vollkommen auf den Kopf gestellt. Auf der Suche nach der Wahrheit über ihre Vergangenheit und im verzweifelten Wettlauf gegen Arthur Blackstone, der die Macht über die Zeit selbst erhalten will, hat sie ihre große Liebe Braxton verraten und sich auf eigene Faust auf einen Zeitsprung in die Vergangenheit begeben. Wird sie dort die Antworten auf das Mysterium ihrer Familie finden? Kann sie Arthur aufhalten, bevor er den Mechanismus von Antikythera vervollständigt und die Zeit zu seiner Waffe macht? Und wie wird sie Braxton jemals erklären können, warum sie ihn so hintergangen hat … bevor sie selbst zur größten Bedrohung für den Verlauf der Zeit wird? »Ein süchtig machendes, cleveres, modernes Fantasy-Epos« Tracy Wolff Alle Bände der ›Gray Wolf Academy‹-Reihe: Band 1: Stealing Infinity Band 2: Ruling Destiny Band 3: Chasing Eternity Die Bände sind nicht unabhängig voneinander lesbar.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 466

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über das Buch

Zeit ist die ultimative Waffe … wenn man weiß, wie man sie einsetzt.

 

Seit Natasha an der Gray Wolf Academy das Zeitreisen erlernte, wurde ihr Leben vollkommen auf den Kopf gestellt. Auf der Suche nach der Wahrheit über ihre Vergangenheit und im verzweifelten Wettlauf gegen Arthur Blackstone, der die Macht über die Zeit selbst erhalten will, hat sie ihre große Liebe Braxton verraten und sich auf eigene Faust auf einen Zeitsprung in die Vergangenheit begeben. Wird sie dort die Antworten auf das Mysterium ihrer Familie finden? Kann sie Arthur aufhalten, bevor er den Mechanismus von Antikythera vervollständigt und die Zeit zu seiner Waffe macht? Und wie wird sie Braxton jemals erklären können, warum sie ihn so hintergangen hat … bevor sie selbst zur größten Bedrohung für den Verlauf der Zeit wird?

 

Das Finale der opulenten Zeitreise-Trilogie

 

 

Von Alyson Noël sind bei dtv außerdem lieferbar:

Stealing Infinity (Band 1)

Ruling Destiny (Band 2)

Alyson Noël

Chasing Eternity

Band 3

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Michelle Landau

 

 

 

 

Für Ella, Finley, Sabine und Avalon:

Mögen eure Herzen stets von Staunen erfüllt sein.

Anmerkung der Autorin:

Dieses Buch nennt oder beschreibt Aspekte von sexueller/sexualisierter Gewalt, Diebstahl, Verlust eines Elternteils, Verlust eines Partners, gewalttätigen Handlungen, physischen Krankheiten, Selbstverletzung und Vernachlässigung Schutzbefohlener. Ich hoffe, dass ich diese Elemente sensibel und angemessen behandelt habe, und bitte Lesende, die darauf reagieren könnten, dies zur Kenntnis zu nehmen.

Die Zeit ist mein größter Feind.

– Eva Peron

Fakt:

Sämtliche Kunstwerke und Artefakte, die in diesem Roman erwähnt werden, sind real.

Prolog

Braxton

Grey Wolf Academy

Gegenwart

ICH SCHRECKE AUS DEM SCHLAF. Meine Haut ist schweißnass, meine Beine sind in den Laken verfangen, der erstickte Schrei ihres Namens reißt mich aus meinem Traum und zurück in die Trostlosigkeit meiner derzeitigen Realität.

Tasha – Tasha, nein!

Ruckartig setze ich mich auf, meine Brust hebt und senkt sich hektisch, ich ringe nach Atem. Es war nur ein Traum, versuche ich mich selbst zu überzeugen. Nur ein Traum. Doch die Worte sind gelogen. Denn die Wahrheit ist, dass ich zugesehen habe, wie die Schwerkraft versagt hat. Ich habe zugesehen, wie Elodie auf die Startrampe gesprungen ist, Tashas Hand gepackt hat und sie beide von einem Windstoß fortgetragen wurden.

Und ich habe keine Ahnung, wann – oder ob – sie zurückkehren werden.

Draußen zucken grelle Blitze über den Himmel, während der Regen so heftig gegen meine Fenster getrieben wird, dass die Scheiben in ihren Rahmen zittern.

Tasha ist weg. Und nichts von all dem – absolut nichts – ist nach Plan verlaufen.

Mit einer Hand streiche ich über die leeren Laken neben mir, sehne mich so verzweifelt nach einem kleinen Teil von ihr, dass ich nach dem Kissen greife, auf dem sie erst vor wenigen Stunden gelegen hat, und es mir schamlos aufs Gesicht presse, um jeden noch so kleinen Hauch ihres Dufts und ihrer Wärme einzufangen, der vielleicht zurückgeblieben ist.

Verdammt. Tasha – wieso?

Oh, aber du weißt wieso, verhöhnt mich eine innere Stimme. Tasha hat die eine Sache getan, die du schon vor langer Zeit hättest tun sollen. Aber du bist zu bequem geworden. Zu schwach. Du hast dein Schicksal gegen ein Leben in weichem Luxus eingetauscht und ihr damit keine andere Wahl gelassen, als an deiner Stelle zu handeln.

Ich bringe meine Gedanken zum Schweigen, werfe das Kissen beiseite und schließe fest die Augen, bis ich ein Bild von Tasha vor mir sehe. Wie sie auf dieser Startrampe aussah – so wunderschön, dass es mir fast das Herz gebrochen hat. Doch es war die eiserne Entschlossenheit in ihren grünen Augen, die mich bis auf den Grund meiner Seele erschüttert hat.

Und ich? Ich war so eingenommen von meinem Ärger, meinem Schock und Schmerz, dass ich verpasst habe, ihr zu sagen, wie unglaublich stolz ich bin, sie meine Freundin nennen zu dürfen.

Ich habe verpasst, ihr zu sagen, dass sie die mutigste Person ist, die ich kenne.

Ich nehme den Brief, den sie mir hinterlassen hat, vom Nachttisch und mein Blick huscht sofort zu den vier lebensverändernden Worten ganz am Ende: Ich liebe dich, Braxton.

Selbst nach allem, was ich getan habe, selbst nachdem ich gestanden haben, dabei gewesen zu sein, als Killian ihren Vater ermordet hat, liebt. Natasha Antoinette Clarke. Mich. Was auch immer das Schicksal für mich bereithält, das kann mir niemand nehmen.

Mit der Fingerspitze fahre ich über das xoxo vor ihrem Namen, rufe mir ihren Kuss so lebhaft in Erinnerung, dass mein Körper sofort darauf reagiert.

Tasha.

In Gedanken sehe ich ihr wunderschönes Gesicht vor mir, ganz nah.

Meine süße Tasha.

Ich sehe, wie sie langsam die Augen schließt, die Lippen leicht öffnet.

Instinktiv wandert meine Hand nach unten, erinnert sich an die Kontur ihrer Taille, die Wölbung ihrer Brüste, die Hitze ihrer Beine, die sie fest um mich geschlungen hat.

Fuck. Tasha. Wo zur Hölle bist du hin?

Ich beginne, meine Hand zu bewegen. Der bloße Gedanke an sie hat mich schon so weit gebracht, dass es nicht mehr viel braucht.

Aber nein.

Ich halte inne.

Nein. Für so was habe ich jetzt keine Zeit.

Ich klammere mich an den Rand der Matratze, stoße mich vom Bett ab und laufe rastlos im Zimmer auf und ab.

Elodie zufolge ist Arthur verreist, aber in zwei Tagen wird er zurück sein.

Was Killian angeht … Mit Sicherheit weiß ich nur, dass er nicht ewig im Florenz der Renaissance feststecken wird. Früher oder später wird er einen Weg zurück finden, und was dann?

Wird er Arthur sofort erzählen, dass wir ihn absichtlich zurückgelassen haben?

Oder hat Tasha recht und er wird sich irgendeine Ausrede einfallen lassen, um nicht schwach zu erscheinen?

Bei Killian weiß man nie.

Ich lasse mich auf meine durchgesessene Ledercouch fallen, greife nach dem alten Stiefel, den ich gestern Nacht aus meinem Schrank gezogen habe, und hole die kleine Silberkugel hervor, die Tasha dort für mich versteckt hat.

Der Mond.

Draußen wütet weiterhin der Sturm, das Gewitter spiegelt das Chaos in meinem Inneren wider, während ich die Kugel zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her rollen lasse. Dieser Mond, so kalt und hart in meiner Hand, ist eine eindringliche Erinnerung an die Entscheidungen, die ich getroffen habe, an den Weg, der noch vor mir liegt.

Für den ahnungslosen Betrachter ist diese Kugel nichts Außergewöhnliches. Genau genommen ist es genau die Art Gegenstand, die man gern ganz hinten in der Kramschublade findet.

Doch für Arthur repräsentiert dieser winzige Schatz einen weiteren Triumph in seinem bisher größten Bestreben – den Mechanismus von Antikythera wiederherzustellen, Kontrolle über die Zeit zu erlangen und damit letztendlich seinen einzig wahren Traum zu erfüllen, die Welt neu zu erschaffen.

Ich stoße ein frustriertes Seufzen aus und lasse den Mond zurück in den Stiefel gleiten. Ich brauche einen Verbündeten. Jemanden, auf den ich mich verlassen kann.

Als Gegner ist Arthur eine furchterregende Macht. Er hat eine Kultur kreiert, in der wir ständig um seine Gunst wetteifern, und zudem eine so tief sitzende Paranoia in uns allen gesät, dass es unmöglich ist zu wissen, wem man trauen kann.

Und auch wenn ich nicht behaupte, das volle Ausmaß zu kennen – ich bin mir nicht sicher, ob irgendjemand es kennt –, weiß ich, dass die Slabs, die wir auf Arthurs Wunsch hin immer bei uns tragen, und die Überwachungstechnologie, die hier überall versteckt ist, dafür sorgen, dass ihm kaum etwas verborgen bleibt.

Kaum etwas … aber manches eben doch.

Wie zum Beispiel die Hexen von Gray Wolf, die mithilfe des Zauberbuchs durch die Zeit reisen.

Ganz zu schweigen davon, dass Gerüchten zufolge auch Song und Anjou dieses Buch benutzt haben.

Aber haben sie es wirklich geschafft, sich Arthurs Blick zu entziehen?

Oder waren sie ihm einfach nicht wichtig genug, um sie aufzuhalten?

Ruhelos fahre ich mir durchs Haar, stehe auf und drehe eine weitere Runde durch mein luxuriöses Zimmer. Als ich vor Caravaggios Porträt des Narziss stehen bleiben, wandern meine Gedanken zurück zu dem Tag, als ich es in Arthurs Tresor ausgewählt habe, in der Hoffnung, dass es mich daran erinnern würde, aufmerksam zu bleiben, mich nicht von Arthurs Welt hypnotisieren zu lassen.

Eine Zeit lang hat es funktioniert. Nach außen hin schien ich seine Regeln zu befolgen. Doch innerlich war ich wach, immer in Alarmbereitschaft. Dennoch habe ich irgendwann meinen Schild gesenkt und mich selbst aus den Augen verloren. Erst als ich Tasha begegnet bin, habe ich erkannt, dass ich die Jagd nach Trophäen wie diesem Gemälde über alles andere gestellt habe, das mir einmal wichtig war.

Wie sich herausstellt, tritt der Gedächtnisverlust nicht nur während eines Sprungs auf, sondern auch hier.

Doch die Frage bleibt: Wo und wie soll ich anfangen?

Ich richte meine Aufmerksamkeit auf die Gegenstände, die Tasha mir zusammen mit ihrem Brief hinterlassen hat – eine rote Kreideskizze von Leonardo da Vinci persönlich und die kleine goldene Taschenuhr, die einst meinem Vater gehört hat.

Dieselbe Uhr, mit der ich als Kind stundenlang gespielt habe.

Ich streiche über den Kristall, drehe die Uhr dann, um die Gravur auf der Rückseite zu betrachten. Die Lebensblume – ein altes Symbol, das die Geheimnisse des Lebens enthalten soll, den Aufbau von Zeit und Raum – und eine Aufzeichnung allen Lebens.

Es ist dasselbe Symbol, das in meiner Armbeuge mit Tinte unter die Haut gestochen ist. Doch wie meine Ausbildung ist auch das Tattoo unvollendet geblieben.

Ich schließe die Finger um die verschlungenen Kreise und vergrabe die Uhr in meiner Faust. Allein die Tatsache, dass ich sie in der Hand halte, nachdem sie zwei Jahrhunderte verschollen war, kommt mir vor wie ein Wunder.

Die Uhr beginnt zu vibrieren, doch ich tue das Gefühl schnell als einen Trick meiner Sinne ab. Die Schmerzmittel, die ich vor dem Schlafengehen genommen habe, lassen nach und ich fühle mich benommen und schwindelig.

Ich gehe rüber zum Spülbecken, da mir ein Glas Wasser und etwas zu essen sicher guttun würde, als die Uhr in meiner Hand so vehement bebt, dass ich sie beinahe fallen lasse.

Was um alles in der Welt ist das denn jetzt?

Ich stehe in meiner Küche und starre fasziniert die Uhr an, die weiterhin bebt und zittert.

Ist es möglich, dass Tasha mir unwissentlich den Verbündeten gebracht hat, nach dem ich suche?

In Anbetracht der Tatsache, dass ich meine Gabe die letzten Jahre lang unterdrückt habe, ist es wenig überraschend, dass sich mir keinerlei Nachricht offenbart, als ich die Augen schließe, die Uhr fest drücke und versuche, in der energetischen Prägung aufzugehen, die mein Vater womöglich hinterlassen hat.

Doch ich erinnere mich an die Worte, die mein Vater gern wiederholt hat. Geduld, mein Junge. Vergiss nie, Eile ist der Feind deiner Macht. Also gebe ich nicht auf, bis ich endlich ein deutliches Kippen unter meinen Fußsohlen spüre und der Boden sich auflöst.

Genau so, höre ich ihn sagen, als käme die Stimme ganz aus der Nähe statt aus dem neunzehnten Jahrhundert. Bleib standhaft, fokussiert, ruhig …

Der Boden bricht immer weiter weg, zwingt mich, auf die Fersen zurückzukippen, während mein Magen sich verkrampft und brodelt. Trotzdem halte ich durch, befolge pflichtbewusst die Anweisungen meines Vaters: Sieh nicht hin – erst, wenn du gerufen wirst.

Ich halte die Augen geschlossen, ignoriere das Dröhnen der einstürzenden Wände, das Krachen brechender Fensterscheiben. Selbst als das Dach fortgerissen wird und ein explosiver Wind durch mein Zimmer fegt und meine Haare aufwirbelt, warte ich weiterhin auf den Klang meines Namens.

Als ich ihn endlich höre, ist die Freude über die Wiedervereinigung mit meinem Vater so überwältigend, dass meine Kehle ganz eng wird und ich einen Moment brauche, um mich zu sammeln.

Erst als die Stimme erneut erklingt – mich bei meinem wahren Namen nennt, den ich getragen habe, bevor meine Eltern zu einer bloßen Erinnerung verblasst sind –, öffne ich blinzelnd die Augen und sehe die große, in einen Umhang gehüllte Gestalt vor mir aufragen.

Sofort suche ich nach einer Mähne dunklen Haars, einem kantigen Kinn, durchdringend blauen Augen im selben dunklen Farbton wie meine. Doch dieser Mann – dieses düstere, gesichtslose Ding – weist keins dieser Attribute auf.

»Hallo, James.« Die schattenhafte Gestalt spricht mit tiefer, hallender Stimme.

Mein Instinkt drängt mich zur Flucht, doch meine Füße weigern sich, mir zu gehorchen.

Ich bin festgefroren.

An Ort und Stelle erstarrt.

Gefangen.

Mir bleibt nichts anderes übrig, als schockiert zuzusehen, wie dieses Schattenwesen auf mich zukommt.

Der letzte Gedanke, an den ich mich erinnere, bevor mir überwältigende Panik die Luft aus der Lunge quetscht, ist die grauenhafte Frage, die laut durch meinen Kopf dröhnt: Mein Gott – was zur Hölle habe ich heraufbeschworen?

1

Natasha

New York City

1998

SPRINGEN IST RISKANT.

Diese Warnung wurde mir von Anfang an eingetrichtert und ich akzeptiere sie als Tatsache, wann immer ich in die Vergangenheit reise.

Technologie kann versagen.

Fehler passieren.

Portale können sich schließen und man ist in einer Zeit und an einem Ort gestrandet, die nicht die eigenen sind.

Und Gott bewahre, dass man seine eigene Zeitlinie kreuzt, denn die Folge der Existenzdualiät ist Nichtexistenz. Eine Theorie, die ich nie freiwillig auf die Probe stellen würde.

Und auch wenn ich all diesen Dingen während meiner vergangenen Sprünge nur knapp entkommen bin, stand noch nie so viel auf dem Spiel wie diesmal.

Allerdings handelt es sich ja auch nicht um einen gewöhnlichen Sprung.

Diesmal ist das Risiko viel größer, als nur von betrunkenen Aristokraten beim Juwelendiebstahl erwischt zu werden oder schnell genug die Hinweise der Numerologie, einer Landkarte von Christoph Kolumbus und einer Handvoll Tarotkarten zu entschlüsseln, um irgendein lange verschollenes Artefakt zu finden.

Ganz abgesehen davon, was Arthur tun würde, sollte er herausfinden, dass ich weg bin – und ganz zu schweigen von der überaus realen Möglichkeit, dass Braxton mir nach dieser Sache nie wieder vertrauen wird –, ist es, glaube ich, nicht überdramatisch zu behaupten, dass sich der Zustand der gesamten Welt – ach was, der Zustand der Zeit selbst – womöglich niemals davon erholen wird, wenn dieser Sprung nicht so läuft wie erhofft.

»Willkommen in 1998«, sagt Elodie und reißt mich damit aus meinen Gedanken. »Eine Zeit, zu der Google noch in den Kinderschuhen steckt, die erste Staffel Sex and the City gerade angelaufen ist und Handys quasi die Größe von Ziegelsteinen haben.«

Sie deutet auf einen Typen im Anzug, der in ein Telefon brüllt, das beinahe so lang ist wie sein Unterarm. Ich antworte wohl nicht schnell genug, denn sie legt mir eine Hand auf die Schulter und fragt: »Hey, alles okay?«

Ich atme tief durch und nicke. »Ich …« Kurz hallte ich inne und ordne meine Gedanken. »Ich versuche nur, mich zu orientieren.« Schnell sehe ich mich um, mein Blick huscht über eine Ansammlung Wolkenkratzer, die so hoch sind, dass sie ihrem Namen alle Ehre machen. »In echt ist die Stadt so viel größer. Ein bisschen überwältigend.«

»Da vorn ist eine Bar.« Elodie deutet auf eine rote Markise, unter der eine Gruppe Leute steht. »Was hältst du davon, wenn wir dort anfangen?«

Ungläubig sehe ich sie an. Eine Bar? Ist das ihr Ernst? »Ich bin nicht für eine Sauftour hergekommen, El.« Ich schüttle den Kopf und biege in eine überfüllte Straße ab, tue so, als wüsste ich ganz genau, wo ich hinwill, obwohl wir beide wissen, dass ich keine Ahnung habe.

Aber was macht sie überhaupt hier? Sie wusste doch von Anfang an, dass ich vorhatte, allein zu springen.

Ich weiß nur, dass ich auf der Startrampe stand, vollkommen überzeugt davon, dass sie mich jeden Moment ohne den nötigen Klicker in die Vergangenheit beamen würde, ohne den ich nicht zurückkehren konnte. Dann, ehe ich auch nur blinzeln kann, steht sie neben mir, mit leuchtenden Augen und einem breiten Grinsen, als sei das alles nur ein großartiges Abenteuer.

Als stünde Braxton nicht daneben und sähe zu, noch dazu mit einem zutiefst schockierten und verletzten Ausdruck im Gesicht, der mich immer noch verfolgt.

»Komm schon.« Sie schließt zu mir auf. »Sieht doch ganz nett aus.«

Ich kann nicht anders, als die Augen zu verdrehen, während ich innerlich koche. Das ist so typisch Elodie, sie versucht immer, jede noch so banale Aufgabe in eine Party zu verwandeln. Normalerweise ist das harmlos, vielleicht sogar bewundernswert. Doch diesmal werde ich mich definitiv nicht darauf einlassen.

»Das hier ist nicht wie Schuleschwänzen, El«, schnaube ich und versuche nicht mal, meinen Unmut zu verbergen. »Das hier ist ernst. Vermutlich die ernsteste Angelegenheit meines Lebens. Ich muss meinen Dad finden, und da ich dich dafür nicht wirklich brauche, geh halt. Cheers! Salut! Prost! Geh was trinken. Ist mir egal. Ich verlange nur, dass du mich tun lässt, weswegen ich hergekommen bin.«

Elodie schließt die Finger um mein Handgelenk und lässt mich damit verstummen. Mit klimpernden Wimpern und großen blauen Augen fragt sie: »Bist du fertig?« Sie hebt eine Braue und wartet, als hätten wir alle Zeit der Welt.

Wieder verdrehe ich die Augen und versuche, mich von ihr loszumachen, aber Elodie ist stärker, als sie aussieht, und hält mich fest.

»Wieso bist du immer so versessen darauf, nur das Schlechteste über mich zu denken?«, fragt sie. »Vor weniger als zwei Stunden hast du mir noch versprochen, dass wir die Vergangenheit hinter uns lassen und von vorn anfangen.«

Ich starre meine Füße an, weiß, dass sie recht hat. Trotzdem, seit ihrem Stunt auf der Startrampe stehen wir wieder genau da, wo wir angefangen haben – mit Elodie und ihren Plänen, die nur sie kennt, während ich verzweifelt versuche, die Motivation hinter ihren Taten zu durchschauen.

»Hör zu, El«, sage ich, muss dabei gegen den New-York-City-Soundtrack aus Hupen, Rufen und Sirenen ankommen. »Zwei Tage sind nicht so viel Zeit, wie du denkst, und …«

»Tu mir einfach einen Gefallen und lies bitte das Datum.« Elodie zieht eine Ausgabe der New York Times aus einem Ständer des Kiosks, neben dem wir stehen, und hält sie mir unter die Nase.

Ist das ihr Ernst? Mit einer entschlossenen Bewegung reiße ich mich von ihr los. »Elodie, ich werde nicht …«

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich bitte gesagt habe.« Ungeduldig wedelt sie mit der Zeitung.

Frustriert stoße ich die Luft aus und betrachte mit zusammengekniffenen Augen die kleinen Buchstaben und Zahlen. »Mittwoch, 3. Juni 1998.« Ich zucke mit den Schultern. »Okay, du hast also das richtige Jahr getroffen. Gut gemacht. Kann ich jetzt bitte einfach …«

»Dritter Juni.« Elodie schiebt die Zeitung zurück in den Ständer, legt theatralisch den Kopf schief und tippt sich in einer übertriebenen Geste ans Kinn. »Hmmm … Ich frage mich, wieso mir dieses Datum so vertraut vorkommt.« Sie richtet den Blick direkt auf mich, hat längst erkannt, was mir jetzt erst wieder einfällt.

Der dritte Juni ist Dads Geburtstag!

»Woher wusstest du …«, beginne ich und verstumme sofort. »Natürlich.« Mit schief gelegtem Kopf mustere ich ihr Gesicht. »Du hast meine Akte gelesen.« Ich lasse sie nicht aus den Augen. »Was bedeutet, dass du schon alles über mich wusstest, als du an deinem ersten Schultag damals auf mich zugekommen bist.«

Sie zuckt mit den Schultern, als sei das keine große Sache.

Aber es ist eine große Sache. Das hat ihr einen enormen Vorteil verschafft. Elodie hatte alles über mich in Erfahrung gebracht, über meine Interessen, die Geschichte meiner Familie. Sie wusste ganz genau, wie sie mich ansprechen musste, um mich als Freundin zu gewinnen, wie sie mich manipulieren konnte … und das Schlimmste daran ist: Dasselbe trifft auch auf Braxton zu.

Aber kennt Elodie – wie Braxton – die vollständige Geschichte meiner Herkunft?

Weiß sie, dass ich eine Zeitwächterin bin – die erste weibliche Zeitwächterin überhaupt – und dass es mein Schicksal ist, Arthurs Pläne aufzuhalten, die Zeit zu kontrollieren und die Welt neu zu ordnen?

Und wenn dem so ist, weiß sie dann auch, dass Braxton ebenfalls ein Zeitwächter ist?

Und noch wichtiger: Ist ihr klar, dass es bei diesem Sprung nicht darum geht, meinen Vater wiederzusehen, der verschwunden ist, als ich acht war, sondern dass ich ihn davon überzeugen muss, dass ich seine zukünftige Tochter bin – die Tochter, die er erst in sieben Jahren zeugen wird, mit einer Frau, die er noch gar nicht kennengelernt hat –, in der Hoffnung, dass er mir die Tricks der Zeitwächter beibringt?

Und wenn sie all das weiß, was hat es dann zu bedeuten, dass sie darauf bestanden hat, mich zu begleiten?

Ich betrachte Elodies hübsches Gesicht, suche nach Hinweisen darauf, was hinter ihrer makellosen Fassade wirklich vor sich geht. Doch Elodie hat die Kunst perfektioniert, ihre wahren Gefühle zu verbergen, deswegen komme ich nicht sehr weit.

»Okay«, sage ich schließlich. »Er hat heute Geburtstag. Ich bin mir nicht sicher, inwiefern uns das helfen soll, aber …«

Elodie grinst. »Rechne mal nach, Nat. Ich warte derweil.«

Schnell kalkuliere ich das Datum. »Oh. Okay, ja«, murmle ich. »Verstehe. Es ist sein einundzwanzigster Geburtstag.«

Das Grinsen, das sie mir schenkt, ist durch und durch selbstzufrieden. »Und wie genau feiert ein junger, alleinstehender zukünftiger Buchhalter diesen Meilenstein deiner Meinung nach?«

Ich sehe zwischen ihr und der Bar, auf die sie nun zusteuert, hin und her. »Aber es muss Hunderte Bars in der Stadt geben«, sage ich, während wir uns einen Weg durch die Menschenströme der Rushhour bahnen. »Woher sollen wir denn wissen, dass diese hier die richtige ist?«

Ich werfe Elodie einen Seitenblick zu, gebe nur widerstrebend meinen Plan auf, zur Columbia University hochzufahren, an der mein Dad momentan studiert, und den Campus abzusuchen, bis ich ihn finde. Was, wie mir nun klar wird, vermutlich ebenso wenig erfolgversprechend ist, wie auf der Suche nach einem grünäugigen, wuschelhaarigen Zeitwächter, der seine einundzwanzigste Reise um die Sonne mit seinem ersten legalen Bier feiert, von Bar zu Bar zu hüpfen.

Doch Elodie lässt sich nicht beirren. Sie beugt sich nur zu mir und flüstert mir ins Ohr: »Jetzt kommt der Part, an dem du mir zur Abwechslung mal wirklich vertrauen musst. Immerhin habe ich dich doch schon bis hierher gebracht, oder?«

Ich sehe, wie sie den Schlangenanhänger an der goldenen Kette um ihren Hals hin und her schiebt, und trotz der schwülen Hitze eines Sommertags in New York City überzieht plötzlich Gänsehaut meine Arme.

»El …«, setze ich an, doch meine Stimme versagt, zwingt mich dazu, mich zu räuspern und noch mal von vorn zu beginnen. »El, hast … hast du Magie benutzt? Ich meine, zusätzlich zu Arthurs Technologie?«

Elodie wirft mir einen Blick zu. »Was ich benutzt habe, ist Intention«, erwidert sie. »Und jetzt haben wir die Gelegenheit herauszufinden, ob es funktioniert hat.«

Ich sehe zu, wie sie das Kinn hebt, sich das lange blonde Haar über die Schulter wirft und in die Bar marschiert, ganz ähnlich wie an jenem Tag, als sie mich mit ins Arkana genommen hat, den Untergrundclub, der sich letztendlich als eins von Arthurs Hologrammen entpuppt hat.

Der Club, der die Reihe von Ereignissen in Gang gesetzt hat, die mich schließlich nach Gray Wolf gebracht haben.

An der Schwelle bleibe ich stehen, unsicher, was ich tun soll. Aber da wir nun schon einmal hier sind, wiederhole ich, was ich damals getan habe: Ich begrabe meine Zweifel und folge ihr, während ich flüstere: »Ich hoffe wirklich, dass ich das nicht noch bereuen werde.«

2

IN DER TÜR BLEIBE ICH WIEDER STEHEN. Im Hintergrund erklingen die ersten Takte von »Bittersweet Symphony«, während ich den Saum meines T-Shirts runterzerre und meine Jeans hochziehe, fest entschlossen, die Lücke dazwischen zu schließen.

Wieso habe ich mich nur darauf eingelassen, das anzuziehen? Wieso habe ich nicht darauf bestanden, mit Elodie das Outfit zu tauschen? In ihrem schwarzen Kleid zusammen mit dem kurzen weißen T-Shirt und klobigen Stiefeln würde ich sicher einen weitaus besseren Eindruck auf meinen Dad machen als in dieser bauchfreien Katastrophe.

»Hör auf, an deinen Klamotten rumzufummeln«, fährt Elodie mich an und schüttelt den Kopf. »Ehrlich, du solltest dankbar sein, nicht in einem dieser schrecklichen Korsetts oder Panniers zu stecken. Außerdem ist es kein Verbrechen, heiß auszusehen, weißt du?«

»Heiß auszusehen, war nie das Ziel«, grummle ich, folge ihr aber, als sie sich durch die Menge schiebt, sich so ungezwungen durch die Neunzigerjahre-Version einer Bar in Manhattan bewegt wie durch Versailles im Jahr 1745, London im Jahr 1813 und die Gray Wolf Academy der Gegenwart. Elodie ist das geborene Chamäleon, sie verschmilzt mühelos mit jeder neuen Umgebung. Und ich wünsche mir wieder einmal, all meine soziale Befangenheit gegen nur eine Unze ihres Selbstbewusstseins tauschen zu können.

»Und jetzt …« Sie dreht sich zu mir um und zwinkert mir zu, bevor sie an die Bar tritt und sich dabei an zwei jungen Wall-Street-Typen in schicken dunkelblauen Anzügen, strahlend weißen Hemden und teuren roten Seidenkrawatten vorbeidrängt, die beide versuchen, die Aufmerksamkeit des Barkeepers zu erregen.

Zunächst reagieren sie genervt auf ihr Vordrängeln. Doch als sie ihnen eins ihrer strahlendsten Lächeln schenkt, betteln sie nahezu darum, ihr einen Drink ausgeben zu dürfen.

»Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du aussiehst wie eine jüngere Version von Carolyn Bessette-Kennedy?«, fragt der mit den zurückgegelten dunklen Haaren. Aus kleinen braunen Augen mustert er sie wie ein Hund, der eine besonders saftige Lammkeule gewittert hat.

»Noch nie«, erwidert Elodie. »Aber Carolyn hat mir mal erzählt, dass sie oft für eine ältere Version von mir gehalten wird.«

Und … los geht’s. Stirnrunzelnd sehe ich zu, wie Elodie in den vollen Flirtmodus übergeht. Genau diese Art von Situation wollte ich vermeiden. Ihr ist ebenso klar wie mir, dass keiner der beiden mein Vater ist. Aber Elodie lässt sich nie die Chance entgehen, begehrt zu werden.

»Ich bin Brooks.« Mr Groß-Dunkel-und-Schmierig grinst.

Elodie streckt die Hand aus und neigt das Kinn, als wären wir wieder in die englische Regency-Epoche gesprungen. »Und ich bin Elodie«, sagt sie, klimpert dabei wortwörtlich mit den Wimpern.

»Ein wunderschöner Name für eine wunderschöne Frau.« Als er die Lippen auf ihren Handrücken drückt, muss ich die Zähne zusammenbeißen, um ein Stöhnen zu unterdrücken.

»Ich würde dich gern auf einen Drink einladen.« Er zieht eine platinfarbene Karte aus seinem Geldbeutel und wedelt damit durch die Luft, während Elodie ihn nachdenklich mustert.

»Unter einer Bedingung«, erwidert sie und spielt mit ihrem Schlangenanhänger.

Brooks lehnt sich mit leuchtenden Augen und erwartungsvoll geöffneten Lippen vor.

»Ich werde dir eine Frage stellen und du musst ehrlich antworten.« Sie hebt eine Braue. »Ich werde es wissen, falls du lügst.«

»Ah.« Er nickt. »Ich weiß, worum es geht.« Er räuspert sich und setzt eine Miene gespielter Demut auf. »Ja, wie sich herausstellt, werde ich oft mit John F. Kennedy junior verwechselt, deswegen passen wir ja so wunderbar zusammen.« Er hebt das Kinn, wirft den Kopf zurück und wartet auf ein Lachen, das nicht kommt.

»Interessant«, sagt Elodie, doch ihr leerer Gesichtsausdruck vermittelt das Gegenteil. »Aber was ich wirklich wissen will, ist dein Geburtsdatum.«

Brooks kneift die Augen zusammen, wirft seinem Freund einen kurzen Blick zu, ehe er sich wieder Elodie zuwendet und fragt: »Ist das so eine Astrologiesache? Ich bin Löwe. Und du weißt sicher, was man über Löwen sagt – sie sind die Könige des verdammten Dschung…«

Bevor er seinen Satz zu Ende bringen kann, wendet Elodie sich schon ab.

»Hey, was … was ist da gerade passiert?« Brooks sieht zwischen Elodies Hinterkopf und mir hin und her. »Was habe ich falsch gemacht?«

»Sie ist auf der Suche nach einem Zwilling«, erkläre ich, kehre ihm dann ebenfalls den Rücken zu und sehe mich aufmerksam im Raum um.

Die Bar ist gut gefüllt, hauptsächlich mit jungen, modernen Leuten, die auf einen After-Work-Drink vorbeigekommen sind, doch obwohl ich das Meer aus Gesichtern gründlich absuche, nach dem einen Ausschau halte, das mit der Erinnerung an meinen Dad übereinstimmt, sieht kein einziges ihm auch nur ähnlich.

Ein paar Augenblicke später taucht Elodie neben mir auf und reicht mir ein Martiniglas mit einer grellpinken Flüssigkeit und einer kandierten Limettenscheibe am Rand.

»Ein Cosmo?« Ich blinzle sie an. »Im Ernst?«

»Ich lasse mir meinen Carrie-Bradshaw-Moment nicht nehmen.« Sie stößt grinsend mit mir an.

»Ich kann nicht glauben, dass du unser weniges Geld für Cocktails ausgegeben hast«, grummle ich.

Elodie verdreht die Augen. »Wieso brauchen wir Geld, wenn wir über die mächtigste Währung überhaupt verfügen? Jugend, gutes Aussehen und Charme.«

»Du hast eindeutig zu viele Ausflüge in die Regency-Epoche gemacht«, sage ich, muss aber lachen. »Außerdem bist du eher eine Samantha als eine Carrie. Und – ich trinke das nicht. Ich brauche einen klaren Kopf, wenn ich ihm endlich begegne. Oder sollte ich sagen: falls ich ihm begegne?«

»Kein falls.« Tadelnd wackelt Elodie mit dem Zeigefinger. »Im Ernst, Nat, es wird passieren. Du musst nur darauf vertrauen. Also bitte, nimm endlich einen verdammten Schluck. Und übrigens, es ist ja wohl unglaublich, dass ich dich darum anflehen muss. Weißt du überhaupt noch, wie viel Spaß man mal mit dir haben konnte?«

Mein Körper versteift sich und ich klammere die Finger um den Stiel meines Glases. Ob ich es noch weiß? Als könnte ich diese impulsive, draufgängerische, frühere Version meiner selbst jemals vergessen. Das Mädchen, das nichts lieber getan hat, als die Schule zu schwänzen, in Clubs zu gehen und mit irgendwelchen Jungs rumzumachen. Klar, wir hatten Spaß, aber man sieht ja, wo mich das hingebracht hat.

Ich bin klug genug, nicht auf ihren Köder anzuspringen, und sage stattdessen: »Sieh dich um, El – er ist nicht hier. Diese ganze Sache mit der Intention funktioniert nicht und ich glaube allmählich, dass dieser Sprung ein Riesenfehler war. Es war impulsiv und dumm und …« Ich schüttle den Kopf. Mir ist bewusst, dass ich mich reinsteigere, aber ich kann nichts dagegen tun.

Ich meine, wieso dachte ich, einfach in einer Zeit auftauchen zu können, die nicht die meine ist, und in einer Stadt, die angeblich über sechs Millionen Einwohner hat, mühelos über meinen Dad zu stolpern? Das ist die schlimmste Form von Wunschdenken. Und was passiert, wenn wir ihn nicht finden, Arthur früher als geplant zurückkehrt und herausfindet, dass wir weg sind? Ich kann mir nicht mal vorstellen, wie er darauf reagieren würde. Aber eins ist sicher, es kann nicht gut enden.

Der Gedanke genügt, um mich in einem Wirbelsturm aus möglichen Auswirkungen und Strafen versinken zu lassen.

Arthur könnte sämtliche Zahlungen an meine Mom einstellen.

Oder, schlimmer noch, er könnte mich zurück ins Jugendgefängnis schicken.

Wenn man bedenkt, dass ich noch vor gar nicht allzu langer Zeit nichts sehnlicher wollte, als um jeden Preis in mein altes Leben zurückzukehren, ist es schon irgendwie witzig, dass ich diese Möglichkeit nun als schlimmstmögliche Folge betrachte.

Der Unterschied liegt darin, dass ich nun weiß, was auf dem Spiel steht, und alles dafür tun muss, um lange genug in Gray Wolf zu bleiben und Arthurs Traum zu zerstören.

Und trotzdem habe ich mit dieser einen unglaublich unbedachten Entscheidung das Schicksal der gesamten Welt risk…

Plötzlich wird mir ein Ellbogen in die Seite gerammt – ein scharfer, brutaler Schlag, der mich sofort aus dem Gleichgewicht bringt.

Wild rudere ich mit den Armen, versuche verzweifelt, nicht umzukippen, doch es ist sinnlos. Das Glas rutscht mir aus den Fingern und verteilt einen Schwall klebriger pinker Flüssigkeit über mein Oberteil, bevor es mit einem lauten Klirren auf dem Boden zerspringt.

»Pass doch auf!« Elodies Stimme schneidet durch den Lärm, als sie den betrunkenen Typ zur Seite schubst und zu mir eilt.

Aber sie kommt zu spät. Mit einem Fuß rutsche ich aus und in einem Moment, der sich bis in die Ewigkeit auszudehnen scheint, gehe ich zu Boden.

»Scheiße!« Ihr eigener Drink ist vergessen, Elodie lässt sich neben mich und die alkoholische Pfütze sinken, in die ich gefallen bin. »Nat, geht es dir gut?« Ihre Stimme ist voller Sorge, während ihr Blick suchend mein Gesicht abtastet.

Verschwommen sehe ich sie vor mir, ehe ich zu den Zuschauern aufblicke, deren Mienen zwischen Belustigung und Mitleid schwanken. Großartig. Einfach. Fucking. Großartig.

»Kannst du aufstehen?«, fragt Elodie. »Brauchst du Hilfe?«

Ich schüttle den Kopf, versuche aufzustehen, werde jedoch von einem scharfen Schmerz gestoppt, als sich ein Glassplitter in meine Handfläche bohrt.

Scheiße. Ich schließe die Augen, wünschte, ich könnte einfach verschwinden. Ich meine, ehrlich mal, ich liege auf dem Boden, bin von oben bis unten mit einem klebrigen pinken Cocktail bekleckert, habe eine blutige Wunde an der Hand – kann es noch schlimmer werden?

»Komm schon.« Elodie packt mich am Arm, zieht mich auf die Beine und drückt eine Cocktailserviette auf die kleine Wunde, um das Blut aufzusaugen.

Erst da bemerke ich, wie sehr meine Hände zittern.

»Es geht mir gut«, sage ich und mache mich schnell von ihr los. »Alles okay. Ehrlich«, beharre ich, obwohl mir bewusst ist, dass nichts okay ist.

Mein Körper zittert.

Meine Ohren vibrieren unter dem panischen Rasen meines Pulses, während das wilde Schlagen meines Herzens droht, wie ein Presslufthammer ein Loch durch meine Rippen zu schlagen.

Und als meine Lunge erstarrt, mir die Luft zum Atmen nimmt, presse ich instinktiv die Augen zu, in der verzweifelten Hoffnung, eine ausgewachsene Panikattacke noch abwenden zu können, obwohl alle Anzeichen darauf hindeuten, dass es dafür längst zu spät ist.

Oh nein. Oh, bitte nicht hier. Nicht jetzt. Das darf nicht passieren.

Oh, aber das tut es. Trotz meines Widerstands rutsche ich so schnell ab, dass ich keine Chance mehr habe, irgendetwas abzubremsen.

»Nat?«, fragt Elodie. »Halt einfach durch, okay? Ich bringe uns hier raus.«

»Ja, okay«, stoße ich mühsam hervor. Doch unter der Oberfläche höre ich nichts als die immer gleichen unerbittlichen Worte: Ich bin nicht okay. Ich bin nicht okay. Ich bin nicht …

Mein Körper stößt gegen ihren, als sie einen Arm um meine Taille schlingt und mich durch die Masse dirigiert. »Sieh dir das nur an«, höre ich sie sagen, auch wenn ihre Worte fern klingen, wie ein Echo von einem weit entfernten Ort. »Endlich springen wir mal in eine Zeit, in der es Klospülungen gibt, und dann ist die Schlange so lang, dass ich mir einen Nachttopf wünsche.«

Ihr Lachen ist hell und melodisch. Und auch wenn ich die Geste zu schätzen weiß, verstehe, dass sie nur versucht, die Stimmung zu heben, fürchte ich, dass es alles nur noch schlimmer machen würde, wenn ich versuche, mit einzufallen.

Das hier hat nichts mit deinem Dad oder diesem Sprung zu tun, rufe ich mir in Erinnerung, während ich mich weiterziehen lasse. Es geht um den Herzog und das, was in Versailles passiert ist. Aber du hast überlebt. Nein, besser noch, du bist daran gewachsen. Und der Herzog ist in einer längst vergangenen Zeit gefangen, die du nie wieder besuchen wirst. Du bist in Sicherheit. Du bist stark. Du kannst …

»Nat …« Elodie reibt in beruhigenden Kreisen über meinen Rücken. »Versuch zu atmen. Schön langsam, ja? Kriegst du das hin?«

Ich nicke, bemühe mich, meine Lunge mit Luft zu füllen und sie kurz anzuhalten, bevor ich sie wieder ausstoße. Nach der vierten Runde fühle ich mich fast wieder geerdet.

»Ich … Das wird schon wieder«, sage ich, halte den Kopf aber gesenkt, damit Elodie nicht sieht, wie meine Wangen vor Verlegenheit brennen. »Ich brauche nur eine Minute«, lüge ich, weiß ganz genau, dass es weitaus länger dauern wird. Seit meiner Begegnung mit dem Herzog treten solche Panikattacken in unregelmäßigen Abständen auf, jedes Mal, wenn ich mich bedroht, eingeengt, überwältigt oder unsicher fühle.

»Lass dir Zeit«, sagt Elodie. »Keine Eile.«

Als mein Atem endlich zu einem normaleren Rhythmus zurückgefunden hat, hebe ich das Kinn, schiebe mir die Haare hinter die Ohren und sehe mich an diesem neuen Ort um. Überrascht stelle ich fest, dass Elodie mich nicht zurück auf die volle Straße geführt hat, wie ich dachte. Stattdessen befinden wir uns auf einer kleinen Terrasse, etwas abseits des chaotischen Treibens der Bar.

»Danke«, sage ich und begegne zögerlich ihrem Blick. »Es ist nur … manchmal …«

»Du musst dich nicht erklären.« Mit einer erhobenen Hand bringt Elodie mich zum Schweigen. »Ich erkenne die Zeichen. Und nur damit du es weißt, du bist nicht allein damit. Ich kenne niemanden unter den Blauen, der nicht schon mal in eine riskante Situation geraten ist und hin und wieder davon heimgesucht wird. Glaub mir, auch ich hatte genug davon.«

Erstaunt starre ich sie an. Es sieht Elodie nicht ähnlich, Schwäche zu zeigen oder Geschichten zu teilen, die sie in einem weniger als selbstbewussten Licht darstellen. »Aber du bist immer so selbstsicher. Scheinst immer die volle Kontrolle über jeden Raum zu haben, den du betrittst.«

»Na ja … Offensichtlich nicht über jeden Raum.« Sie hebt unbekümmert die Schultern, fügt sonst aber nichts mehr hinzu. Und auch wenn meine Neugier geweckt ist, weiß ich, dass es keinen Sinn hat, auf mehr zu drängen.

Ein Moment der Stille breitet sich zwischen uns aus, während Elodie ihre klobigen schwarzen Stiefel betrachtet, als würde sie abwägen, wie viel sie preisgeben soll.

»Wir Blauen nennen es nicht grundlos Springen«, sagt sie schließlich und richtet die klaren blauen Augen wieder auf mich. »Man kann dabei ganz schön auf die Nase fallen.«

»Und wie gehst du damit um?«, frage ich begierig auf jeden Tipp, den sie mir geben kann.

»Zeit.« Nervös kratzt sie sich am Arm. »Und jede Menge Besuche bei Dr. Lucy.«

Ich mustere dieses wunderschöne, selbstsichere Mädchen, als würde ich sie durch eine vollkommen neue Linse betrachten. Auf den ersten Blick scheint sie mit ihrer schlanken Figur, dem glänzenden blonden Haar und dem herzenbrechenden Gesicht alles zu haben, was man sich nur wünschen kann. Und auf gewisse Weise stimmt das auch. Doch zum ersten Mal erkenne ich auch den Schatten der Traurigkeit, der in ihr lauert.

Mir ist klar, dass dieses Fenster, das sie geöffnet hat, nicht lange offen bleiben wird, deswegen kratze ich den Mut zusammen zu fragen: »El, bist du nie …« Ich halte inne, kaue auf der Innenseite meiner Wange und suche nach dem richtigen Wort. »Ähm, ich meine, bist du nie wütend auf Arthur oder nimmst es ihm übel, dass er uns immer wieder diesen gefährlichen Situationen aussetzt, nur um seine Sammlung edler Kunst und Juwelen zu erweitern?«

Reglos warte ich auf ihre Antwort, besorgt, möglicherweise eine Grenze übertreten zu haben. Elodie ist Arthur vollkommen treu ergeben und hat mir mehrfach gesagt, dass sie ihn als eine Art Vater betrachtet.

Überraschenderweise zuckt sie nur mit den Schultern. »Ich habe es wohl immer als kleinen Preis gesehen für alles, was er für mich getan hat«, antwortet sie mit leiser Stimme und nachdenklicher Miene.

»Du meinst, dass er dich aus dem Kinderheim gerettet hat?«, frage ich und halte wieder den Atem an.

Elodie seufzt. »Du sagst das, als wäre es keine große Sache, aber du hast keine Ahnung, wie es wirklich war – es hätte Dickens alle Ehre gemacht. Wäre Arthur nicht eingeschritten, würde ich jetzt nicht hier stehen. Und ich meine nicht, hier mit dir in New York City. Ich meine, dass ich meinen zehnten Geburtstag vermutlich nie erlebt hätte.«

Während ich sie weiterhin betrachte, komme ich nicht umhin, mich zu fragen, ob Elodie wie Braxton und Killian nicht aus meiner Zeit stammt.

Bevor ich jedoch nachfragen kann, sagt sie: »Jetzt bin ich dran mit den Fragen.«

Ich nicke zögerlich und bin auf alles gefasst, als ich sehe, wie sie mit den Wimpern klimpert und die Lippen zu einem durchtriebenen Grinsen verzieht.

Mit einem Blick über meine Schulter fragt sie: »Wieso hast du nie erwähnt, wie heiß dein Dad ist?«

Ich kneife die Augen zusammen und versuche, ihre Worte zu begreifen.

»Mit diesen Wuschelhaaren, in denen man einfach nur seine Finger vergraben will, diesen durchdringenden grünen Augen und dem sexy Intellektuellenvibe – ganz zu schweigen davon, wie er diese Jeans ausfüllt – könnte ich Jago glatt vergessen. Und Nash auch.«

Ich folge ihrem Blick zur hinteren Wand, wo ein Mann mit braunen Locken steht. Er trägt verwaschene Jeans und ein hellblaues Hemd und nippt umgeben von Freunden entspannt an einem Bier.

Sofort klappt mein Mund auf, meine Zunge klebt mir am Gaumen und ein Kaleidoskop aus Schmetterlingen wirbelt in meinem Brustkorb auf.

Er ist hier. OhmeinGott-OhmeinGott-OhmeinGott – er ist es wirklich!

Mit offenem Mund starre ich ihn an, bin mir bewusst, wie auffällig ich mich benehme, kann jedoch nichts dagegen tun. Er ist deutlich jünger als in meiner Erinnerung. Sein Haar ist dunkler, ohne jede Spur von grauen Strähnen, und die feinen Linien, die sich einmal wie Flügel von seinen Augen ausbreiten werden, sind noch nicht erschienen. Doch all die vertrauen Züge und Eigenschaften sind vorhanden.

Wie er dasteht, eine Hand in der Hosentasche, und auf den Fersen wippt.

Die Art, wie er den Kopf in den Nacken wirft und tief aus dem Bauch lacht.

Die Art, wie er die Lippen zusammenpresst, genau wie ich.

Der Vater, den ich seit einem Jahrzehnt nicht mehr gesehen habe – der Mann, der von Killian ermordet wurde –, ist jetzt hier auf der Terrasse irgendeiner New Yorker Bar und feiert seinen einundzwanzigsten Geburtstag, nur ein paar Schritte von mir entfernt.

Es ist genau der Moment, auf den ich gehofft habe.

Der einzige Grund, aus dem ich alles aufs Spiel gesetzt und diesen Sprung gewagt habe.

Und doch, nun, da der Moment gekommen ist – nun, da er in meiner Reichweite ist –, bin ich wie erstarrt, taub, vollkommen bewegungsunfähig, kann nichts anderes tun, als ihn anzustarren.

»Ich meine, das ist er doch, oder?« Elodie wirft mir einen fragenden Blick zu, doch ich bringe nicht mehr als ein stummes Nicken zustande.

Ich hätte mir einen Plan zurechtlegen sollen. Ich meine, selbst wenn ich in der Lage wäre, zu ihm rüberzugehen, selbst wenn ich meine Zunge weit genug von meinem Gaumen lösen könnte, um Worte zu formulieren – was zur Hölle würde ich denn sagen?

Wie spricht man den Vater an, zu dem man früher eine so enge Bindung hatte, der jedoch noch nichts von einem weiß, weil man erst in sieben Jahren gezeugt werden wird?

»Ehrlich, Nat …«, fährt Elodie fort, doch ihre Stimme ist kaum mehr als ein Rauschen in meinen Ohren.

Mein Dad ist hier. Ich habe ihn gefunden. Okay, eigentlich hat Elodie ihn gefunden. Aber trotzdem – er ist da drüben!

»… benimmst dich echt komisch, und wenn du die Gunst der Stunde nicht nutzen willst, lässt du mir wohl keine andere Wahl, als …«

Moment, was?

Ich reiße den Blick gerade rechtzeitig von meinem Dad los, um zu sehen, wie Elodie ihr Haar aufschüttelt und sich mit der Zunge über die Schneidezähne fährt. »Stell dir mal vor.« Sie grinst breit. »Wenn ich es richtig anstelle, bin ich am Ende vielleicht deine Mommy.«

Dann, ehe ich sie aufhalten kann, hält sie auf meinen Dad zu und lässt mich fassungslos stehen.

3

OH NEIN.

Nein-nein-nein-nein-nein-nein-nein!

Ich stürze ihr hinterher, doch Elodies Vorsprung ist so groß, dass ich noch drei Schritte von meinem Dad entfernt bin, als sie schon vor ihm steht.

»Ich will nicht stören«, sagt sie, »aber ich wollte dir alles Gute zum Geburtstag wünschen.«

Neben ihr komme ich zum Stehen, sehe mit angehaltenem Atem zu, wie Elodie meinem Dad die Art glühenden Blick zuwirft, der leicht die ganze Stadt in Brand stecken könnte.

Ich hätte wissen sollen, dass ihr Witz, sie könnte meine Mom werden, kein Scherz war. Wenn er zurückflirtet, weiß ich echt nicht, wie ich reagieren soll.

Mein Dad kneift die Augen zusammen, verlagert das Gewicht von einem Fuß auf den anderen. »Bist du dir sicher, dass du alt genug bist, um hier zu sein?«, fragt er und lässt mich erleichtert aufatmen, während einer seiner Freunde laut auflacht.

»Sieht zumindest so aus.« Elodie grinst. »Ich meine, schließlich stehe ich hier bei dir und habe einen Drink in der Hand.«

Im ersten Moment bin ich verwirrt. Nachdem sie ihren Cocktail in der Bar zurückgelassen hat, sind ihre Hände nun leer. Doch dann beobachte ich schockiert, wie sie meinem Dad das Bier aus der Hand nimmt, es an ihre Lippen setzt und einen tiefen, durstigen Schluck nimmt, ohne ihn auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen.

In einer anderen Zeit, auf einem anderen Sprung, hätte ich ihre Dreistigkeit vielleicht bewundert.

Aber nicht hier.

Nicht auf diesem Sprung.

Und definitiv nicht, wenn es sich bei ihrer nächsten Eroberung um meinen Dad handelt.

Ich muss dem ein Ende bereiten. Ich muss irgendwie dazwischengehen. Aber wie? Was kann ich tun oder sagen, ohne alles noch viel schlimmer zu machen?

»Und was ist mit dir?«, fragt Elodie. »Noch keinen Tag lang einundzwanzig und schon bist du hier.« Sie hebt die Bierflasche, will einen weiteren Schluck nehmen, doch da nimmt mein Dad sie ihr sanft ab und stellt sie auf einen Tisch, der auffällig weit außerhalb ihrer Reichweite ist.

»Woher weißt du, dass er Geburtstag hat?«, fragt einer seiner Freunde, ein Typ mit roten Haaren und Sommersprossen auf Nase und Wangen.

Elodie dreht sich zu ihm um und grinst, als hätte er ihr mit dieser Frage eine Riesenfreude gemacht. In meinem Magen rumort es nervös. Wer weiß schon, was sie darauf erwidern wird.

»Und wer bist du?«, fragt sie und mustert ihn aus schmalen Augen.

»Ich bin Mark«, antwortet er.

Elodie nickt. »Also, Mark, ich heiße Elodie«, sagt sie, »Elodie Blue, und wie sich herausstellt, habe ich hellseherische Fähigkeiten.«

Mark lacht, während mein Dad die Szene mit einer gesunden Portion Skepsis verfolgt, als sei er sich nicht ganz sicher, was er von der Elodie-Blue-Show halten soll.

»Hellseherische Fähigkeiten?«, wiederholt Mark mit ungläubigem Blick.

Elodie nickt, als sei das kaum der Rede wert.

»Na dann, Hellseherin«, wirft ein weiterer Freund mit welligem schwarzem Haar und sonnengebräunter Haut ein, »verrat uns doch, was die Zukunft für unser Geburtstagskind bereithält.«

Mehr Ermutigung braucht sie nicht. Doch auch wenn sie in dieser Sache voll aufgeht, kann ich nicht zulassen, dass sie weitermacht.

»Elodie …«, versuche ich verzweifelt, sie zu stoppen, ehe alles aus dem Ruder läuft. Aber Elodie ist nicht aufzuhalten, sie steht im Rampenlicht und will es sich nicht nehmen lassen.

»Darf ich?« Ohne auf mich zu achten, deutet sie auf die Hand meines Dads, der sich mit offensichtlichem Widerwillen breitschlagen lässt, mitzuspielen. »Dann wollen wir doch mal sehen …« Mit der Fingerspitze fährt sie die Linien seiner Hand nach. »Du studierst an der Columbia University, richtig?«

Mark schlägt meinem Dad auf den Rücken, doch der nickt als Antwort nur.

»Und du hast ein echtes Talent für Zahlen.« Sie drückt ihren Zeigefinger auf eine sanft geschwungene Linie, als hätte diese ihr die Information verraten und nicht die Akte über meine Familie, die sie vermutlich auswendig gelernt hat. »Du überlegst, Buchhalter zu werden, vor allem, weil dir das ein stabiler Beruf zu sein scheint. Aber im Herzen bist du ein Abenteurer, deswegen hast du Angst davor, zu lange an einem Ort festzusitzen.«

Auf der Suche nach Bestätigung sieht sie ihn an, doch mein Dad hat die Stirn gerunzelt und die Lippen zu einer dünnen, grimmigen Linie zusammengepresst.

Elodie spricht weiter, erzählt von einem möglichen Umzug nach Kalifornien, gefolgt von einer Hochzeit und Kindern – oder besser gesagt einem Kind. »Nur das eine, und aller Wahrscheinlichkeit nach ein Mädchen.« Sie zieht eine kurze Linie am Rand seiner Handfläche nach. Dann lässt sie endlich los und fügt hinzu: »Aber weißt du, was komisch ist? Du siehst aus, als könntest du mit meiner Freundin Natasha hier verwandt sein. Eure Augen haben denselben Grünton. Und dieselbe Form. Ist es möglich, dass ihr verwandt seid? Entfernte Cousins oder verschollene Geschwister, die bei der Geburt getrennt wurden?«

Alle starren mich an, als wäre ihnen meine Existenz erst jetzt bewusst geworden. Und obwohl ich daran gewöhnt bin, von Elodie in den Schatten gestellt zu werden, fühlte es sich an, als wäre plötzlich sämtlicher Sauerstoff aus dem Raum gesogen worden, als mein Dad sich zu mir dreht und meinem Blick begegnet, und plötzlich sehne ich mich nach dem Schutz der Unsichtbarkeit.

Aber nur, weil ich Angst vor dem habe, was als Nächstes kommt. So viel hängt von diesem einen Moment ab – nicht nur für mich, sondern für die Zeit selbst. Seit mir die Idee gekommen ist, habe ich mir dieses Wiedersehen in Gedanken sicher tausend Mal ausgemalt, aber ich habe wohl immer direkt zu der Stelle vorgespult, an der wir uns unter Tränen in die Arme fallen, so überwältigt von unseren Emotionen, allem, was wir verloren haben, und allem, das wir in der kurzen Zeit, die uns zur Verfügung steht, gewinnen können.

Was ich mir nicht ausgemalt habe, ist alles, was vor diesem Punkt passiert. Vor allem den wichtigsten Moment, in dem ich die große Bombe platzen lasse – Überraschung! Ich bin deine Tochter aus der Zukunft! –, was ich natürlich nicht einfach so sagen kann, aber ich bin so nervös, dass alles Mögliche aus meinem Mund kommen könnte.

Irgendwo in der Ferne höre ich vage, wie einer der Freunde meines Dads sagt: »Wow. Die Ähnlichkeit ist wirklich … verblüffend.«

Doch in diesem Zwischenraum, in dem ich mich gerade befinde, versinkt die Welt um mich herum in Dunkelheit, bis nur noch ein einziger Lichtpunkt übrig bleibt, der meinen Dad und mich umfängt.

Sag es ihm. Nutz den Augenblick und tu es einfach. Du hast wortwörtlich keine Zeit zu verschwenden!

Ich starre weiterhin meinen Dad an, wünschte, ich könnte alles mit einem Blick ausdrücken, da ich nicht in der Lage zu sein scheine, die richtigen Worte zu finden.

Elodies Räuspern bricht die Stille und macht mir bewusst, wie merkwürdig unangenehm diese Situation für alle anderen sein muss.

Aber ich weiß auch, dass Elodie auf ihre eigene merkwürdig unangenehme Weise die Tür entriegelt hat und es nun an mir ist, sie aufzutreten und mir zu holen, weswegen ich hergekommen bin.

Aber ich kann es ihm schlecht sagen, während alle anderen zusehen. Ich muss einen Weg finden, ihn allein zu sprechen, ihn an einen ruhigen Ort zu locken, an dem wir uns unter vier Augen unterhalten können. Und dann werde ich …

»Natasha?«

Der Klang meines Namens aus dem Mund meines Dads jagt kribbelnde Wellen über meinen Rücken, wie ein Stein auf Wasser.

Es ist zehn lange Jahre her, dass ich seine Stimme gehört habe.

Zehn lange Jahre, seit er der wichtigste Mensch meiner Welt war.

»Du blutest.« Er deutet auf den Arm, den ich unbewusst gerieben habe und der nun von roten Streifen überzogen ist.

Dazu kommen noch der pinke Fleck auf der Vorderseite meines Shirts, mein entblößter Bauchnabel und die zur Schau gestellten Hüftknochen – was für ein fantastischer erster Eindruck.

»Oh, ähm …« Ich schlucke schwer und zwinge mich zu einem entspannten Tonfall. »Das ist nichts. Nur … keine große Sache.«

»Darf ich mal sehen?«, fragt er.

Mit wild klopfendem Herzen beiße ich mir auf die Lippe und strecke ihm meine Hand entgegen, rechne halb damit, dass er mich mit einem Lied oder einer Geschichte ablenkt, während er meine Wunde inspiziert, so wie er es immer getan hat, als ich ein Kind war.

»Du solltest das versorgen lassen«, sagt er mit schmalen Augen, als wüsste er nicht recht, was er mit dieser sonderbaren Situation anfangen soll, in der er sich wiederfindet. »Du willst dir doch keine Infektion einfangen.«

Wieder schlucke ich schwer und werfe Elodie einen kurzen Blick zu, die inzwischen dabei ist, Mark aus der Hand zu lesen, und ihm den Rat gibt, Aktien von Google, Apple und einem winzigen Start-up namens Netflix zu kaufen. Ich wende mich wieder meinem Dad zu.

»Ähm, ja.« Ich zucke mit den Schultern. »Das will ich nicht.« Ich versuche zu lachen, aber meine Kehle ist so rau, dass es eher klingt wie das Kratzen einer Schallplatte.

»Es ist wirklich erstaunlich.« Sein nachdenklicher und eindringlicher Blick bleibt an mir hängen. »Du hast etwas so Vertrautes an dir. Etwas, das für das bloße Auge nicht sichtbar ist.«

Ich beiße mir so fest auf die Lippe, dass es mich nicht wundern würde, wenn ich auch dort zu bluten anfange.

»Vielleicht sind wir ja wirklich verwandt.« Er lacht nervös. »Wie ist dein Nachname?«

Ich hole tief Luft und antworte mit zu einem Flüstern gesenkter Stimme: »Clarke. Mein Name ist Natasha Antoinette Clarke.«

Dann warte ich, sehe sein scharfes Einatmen, die Art, wie sich seine Augen weiten und sein Kinn herabfällt. Das ist meine Chance, womöglich die einzige, die ich jemals bekommen werde, deswegen räuspere ich mich und fahre fort: »Und ich hoffe, das klingt jetzt nicht komisch, aber vielleicht könnten wir irgendwo hingehen, wo …« Ich sehe mich um. »Na ja, irgendwo, wo wir allein sind, denn ich muss dir etwas Wichtiges sagen.«

Ich halte inne, warte angespannt auf seine Antwort. Doch mein Dad reagiert nicht so unvermittelt, wie ich gehofft hatte. Er springt nicht sofort darauf an und zieht mich mit sich.

Stattdessen steht er da wie erstarrt und sieht mich an, als hätte er ein Gespenst gesehen. Was ich absolut verstehe, denn mir geht es ganz genauso.

»Worum geht es?«, fragt er schließlich, seine Stimme ist eine Mischung aus derselben Art Erwartung und ungutem Gefühl, wie auch ich sie empfinde.

»Es geht um …« Ich zögere, bin mir des Gewichts all der ungesagten Wort bewusst, die von innen gegen mich pressen, mich drängen, die Wahrheit mit ihm zu teilen, bevor es zu spät und der Augenblick vorbei ist.

Es geht um eine Offenbarung – eine erstaunliche Erkenntnis, die über die Zeit selbst hinausgeht.

Es geht um den Mechanismus von Antikythera, der gefährlich kurz davorsteht, wiederhergestellt zu werden.

Es geht um Arthur Blackstones Pläne, die Zeit zu kontrollieren und die Welt neu zu ordnen.

Es geht um deinen zu frühen Tod und darum, dass du mir alles beibringen musst, wozu du nie die Gelegenheit hattest …

»Natasha«, haucht mein Dad, seine Stimme schneidet durch die aufgeladene Atmosphäre wie eine scharfe Klinge.

Ein weiterer Blick zu Elodie zeigt mir, dass sie nun die Zukunft eines weiteren Typen prophezeit. Trotzdem kann ich es nicht riskieren, dass irgendjemand uns überhört, deswegen presse ich einen Finger in die Wunde auf meiner Handfläche und zeichne mit meinem eigenen Blut mehrere Kreise in meine Armbeuge, die die Lebensblume darstellen sollen.

Als ich den letzten Kreis schließe, wage ich einen Blick zu meinem Dad und sehe ihn blinzeln, einmal, zweimal. Als er mir wieder in die Augen sieht, schwingt ein Begreifen zwischen uns, das mehr sagt als gesprochene Worte.

»Es geht um …« Ich verstumme, fühle mich wieder, als würde die Welt auf ihn und mich zusammenschrumpfen. Dann, dem Gefühl des Jetzt oder Nie folgend, beuge ich mich vor und flüstere: »Es geht um … eine Familiensache.«

Die Worte pulsieren zwischen uns. Die Luft spannt sich unter dem Gewicht meiner Worte an.

»Mein Gott«, stößt er atemlos hervor, mustert mich, als wäre er sich nicht sicher, ob ich wirklich echt bin. »Bist du …« Er schüttelt den Kopf. »Ist das …«

Tränen steigen mir in die Augen. »Es ist echt«, bestätige ich, schlucke ein Schluchzen herunter, das meine Kehle wund und brennend zurücklässt. »Es passiert wirklich. Es ist keine Fragmentierung.«

Er nickt hastig, doch das unsichere Schimmern in seinen Augen zeigt mir, dass er immer noch dabei ist, alles zu verarbeiten, es zu begreifen, diese vollkommen unerklärliche Situation zu verstehen, in die ich uns gebracht habe.

Wäre ich nicht diejenige, die knappe dreißig Jahre in der Zeit zurückgereist ist, würde es mir sicher ebenso ergehen.

»Die Sache ist die«, fahre ich fort, meine Stimme fest und drängend. Ich bin mir bewusst, dass die nächsten Worte unbedingt ausgesprochen werden müssen. »Ich bin hier, weil …« Ich hole tief Luft und mit dem Ausatmen sage ich: »Dad, ich brauche dringend deine Hilfe.«

4

»DAD.«

Ich habe ihn wirklich Dad genannt.

Ich meine, natürlich ist er das. Aber trotzdem, in Anbetracht der Tatsache, dass ich erst in sieben Jahren geboren werde, muss das ziemlich schockierend für ihn sein.

Aber jetzt ist es raus und ich kann es nicht zurücknehmen. Mir bleibt nur noch zu warten. Darauf, wie mein Dad reagiert. Dass er etwas sagt. Etwas tut. Irgendetwas, das mir einen Hinweis darauf gibt, was er über mich und die verblüffende Wahrheit denkt, die ich ihm gerade offenbart habe.

Doch er steht einfach nur da, die Zähne fest aufeinandergepresst, ein unleserliches Flackern in den Augen – Verwirrung, Angst, vielleicht ein zögerlicher Funken des Wiedererkennens? Mit Sicherheit weiß ich nur, dass er mich mustert, jeden Zentimeter genau überprüft, und mit jeder Sekunde, die verstreicht, wird die Mauer der Stille zwischen uns dicker.

Ich hätte die Eröffnung nicht überstürzen sollen. Ich hätte warten sollen, bis wir allein sind, bevor ich die Bombe platzen lasse.

Die Stille ist unerträglich. Gerade als ich glaube, keine weitere Sekunde mehr aushalten zu können, schüttelt mein Dad den Kopf, als würde er aus einer Art Trance erwachen. Er legt mir einen Arm um die Schultern und verkündet seinen Freunden: »Natasha hat sich die Hand verletzt. Ich nehme sie mit in meine Wohnung, um die Wunde zu versorgen.«

Überrascht drehen sich seine Freunde zu uns um, taxieren mich auf eine so anzügliche Art, dass ich gegen den Impuls ankämpfen muss, ihnen zu erklären, dass es ganz anders ist, als sie denken.

»Kommst du klar?«, frage ich Elodie und fühle mich etwas merkwürdig und schuldig dabei, sie mit den zwei Typen, die wir eben erst kennengelernt haben, allein zu lassen.