Der Tag, als sie ihr Gedächtnis verlor - Jenny Pergelt - E-Book

Der Tag, als sie ihr Gedächtnis verlor E-Book

Jenny Pergelt

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Beschreibung

Jenny Behnisch, die Leiterin der gleichnamigen Klinik, kann einfach nicht mehr. Sie weiß, dass nur einer berufen ist, die Klinik in Zukunft mit seinem umfassenden, exzellenten Wissen zu lenken: Dr. Daniel Norden! So kommt eine neue große Herausforderung auf den sympathischen, begnadeten Mediziner zu. Das Gute an dieser neuen Entwicklung: Dr. Nordens eigene, bestens etablierte Praxis kann ab sofort Sohn Dr. Danny Norden in Eigenregie weiterführen. Die Familie Norden startet in eine neue Epoche! »Ich könnte dich noch schnell zur Schule fahren.« »Nein, Mama, das brauchst du nicht.« Mira unterdrückte ein genervtes Augenrollen und packte ihre Brote und die Trinkflasche in den Schulrucksack. »Du bist doch eh schon spät dran.« »So spät nun auch wieder nicht.« Anne Hausmann nahm einen Apfel und eine Banane aus der Obstschale und reichte beides an ihre Tochter weiter. Kommentarlos legte Mira sie in ihren Rucksack. Wenn es um Vitamine ging, kannte ihre Mutter kein Pardon. Ständig machte sie sich Gedanken, ob Mira auch genügend Obst und Gemüse aß. Manchmal ärgerte sich Mira darüber. Schließlich war sie mit ihren zwölf Jahren kein Kleinkind mehr, dem man vorschreiben konnte, was es zu essen hatte. Sie war fast erwachsen und wollte auch so behandelt werden. Es war nicht fair, dass sie sich jedes Zipfelchen Unabhängigkeit hart erkämpfen musste. Mira entschlüpfte ein dramatischer Seufzer, als sie darüber nachdachte, wie schwer sie es doch hatte. Die Pubertät war echt kein Zuckerschlecken, wenn die Eltern so uneinsichtig waren wie ihre Mutter. »Alles in Ordnung mit dir?« Mira schreckte hoch. »Ja … klar. Warum fragst du?« »Ich weiß nicht so recht.«

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Chefarzt Dr. Norden – 1217 –

Der Tag, als sie ihr Gedächtnis verlor

Was ist geschehen, Anne?

Jenny Pergelt

»Ich könnte dich noch schnell zur Schule fahren.«

»Nein, Mama, das brauchst du nicht.« Mira unterdrückte ein genervtes Augenrollen und packte ihre Brote und die Trinkflasche in den Schulrucksack. »Du bist doch eh schon spät dran.«

»So spät nun auch wieder nicht.« Anne Hausmann nahm einen Apfel und eine Banane aus der Obstschale und reichte beides an ihre Tochter weiter. Kommentarlos legte Mira sie in ihren Rucksack. Wenn es um Vitamine ging, kannte ihre Mutter kein Pardon. Ständig machte sie sich Gedanken, ob Mira auch genügend Obst und Gemüse aß. Manchmal ärgerte sich Mira darüber. Schließlich war sie mit ihren zwölf Jahren kein Kleinkind mehr, dem man vorschreiben konnte, was es zu essen hatte. Sie war fast erwachsen und wollte auch so behandelt werden. Es war nicht fair, dass sie sich jedes Zipfelchen Unabhängigkeit hart erkämpfen musste. Mira entschlüpfte ein dramatischer Seufzer, als sie darüber nachdachte, wie schwer sie es doch hatte. Die Pubertät war echt kein Zuckerschlecken, wenn die Eltern so uneinsichtig waren wie ihre Mutter.

»Alles in Ordnung mit dir?«

Mira schreckte hoch. »Ja … klar. Warum fragst du?«

»Ich weiß nicht so recht.« Anne musterte ihre Tochter nachdenklich. »Du hast gerade laut geseufzt. Ein sicheres Zeichen dafür, dass du dich mit einem Problem herumschlägst. Also, wenn du darüber reden möchtest …«

»Ach, Mama!« Wieder seufzte Mira auf. Diesmal absichtlich und um einiges lauter als zuvor. »Ich bin kein Baby mehr. Trau mir doch endlich zu, dass ich allein zurechtkomme. Schließlich bin ich so gut wie erwachsen.«

»Erwachsen?« In diesem einen Wort ließ Anne so viel Skepsis mitschwingen, dass sich Mira sofort entrüstet aufplusterte.

»Mama, ich bin zwölf!«

»Ja, genau!« Anne zog ihre Tochter lächelnd an sich heran. Sie gab ihr einen lauten Schmatzer auf die Wange, dem eine wahre Flut an kleineren Küsschen folgte. »Gut, dass du mich immer wieder daran erinnerst, mein kleines, süßes, liebenswertes Mäuschen.«

»Ach, Mama«, maulte Mira leise, aber es hörte sich nicht so an, als würde sie sich darüber beschweren, dass ihre Mutter sie bei ihrem Kosenamen nannte und mit Küssen überhäufte. Ganz im Gegenteil. Es schein ihr ausgesprochen gut zu gefallen, dass sich ihre Mutter Zeit für sie nahm und noch ein wenig mit ihr kuschelte, bevor sie zur Arbeit aufbrechen musste. Mira schmiegte sich enger in ihre Arme und kicherte lautstark, als sie nun durchgekitzelt wurde.

Anne war es schließlich, die dieser kleinen Auszeit ein Ende bereitete. Sie gab Mira einen letzten Kuss auf die Nasenspitze und schob sie dann auf Armeslänge von sich. »Du bist tatsächlich schon fast erwachsen«, sagte sie mit echtem Bedauern in ihrer Stimme. »Ich wünschte, du könntest für immer mein kleines, süßes Mäuschen bleiben.«

»Ne, Mama, den Gefallen tue ich dir nicht«, griente Mira. »Ich bin doch froh, wenn ich so groß bin, dass ich deinen mütterlichen Klauen entkommen kann.«

»Hey! Weißt du eigentlich, dass du deiner armen, alten Mutter mit solchen Worten das Herz brechen kannst?«

»Alt? Zum Glück kam das jetzt nicht von mir«, lachte Mira und sah zu, wie ihre Mutter zum Kühlschrank ging und eine kleine Tüte aus dem Gemüsefach herausholte.

»Die musst du auch noch einpacken, Mira.«

Mira lugte hinein. »Möhren? Noch mehr Vitamine? Wann soll ich die denn essen? Du hast mich doch schon mit dem ganzen Obst beladen.«

»Die Möhren sind gar nicht für dich.« Anne wunderte sich. »Hast du vergessen, dass du sie für die Tiere mitnehmen wolltest?«

»Ach ja, richtig.« Kleinlaut griff Mira nach der Tür und steckte sie in den Rucksack. »Die Klasse macht ja heute den Ausflug zum Tiergnadenhof. Den hatte ich ganz vergessen.«

»Seltsam. Du hast doch in den letzten Tagen von nichts anderem mehr gesprochen und dich schon riesig auf den Tierhof gefreut.«

»Hab einfach nicht mehr dran gedacht.« Mira hielt den Kopf gesenkt und wich so dem prüfenden Blick ihrer Mutter aus. Doch die ließ nicht locker.

»Ist alles in Ordnung, Mäuschen? Bedrückt dich etwas?«

»Nein, Mama.« Mira wies mit dem Kopf zur Küchenuhr. »Musst du nicht langsam los? Es ist schon mächtig spät.«

Anne bekam einen Riesenschrecken, als sie nun dem Blick ihrer Tochter folgte. In zehn Minuten wollte sie in ihrer Kanzlei sein. Auch wenn die nicht weit entfernt war, würde der morgendliche, dichte Berufsverkehr ihren Plan, pünktlich zu sein, wohl vereiteln.

»Ach, das bekomme ich schon hin«, sagte sie entgegen ihrer Überzeugung. »So eilig habe ich es gar nicht. Sag mir lieber, ob es dir auch wirklich gutgeht. Gibt es vielleicht Probleme in der Schule?«

»Nein, Mama, bitte mach hier keinen Stress. Bei mir läuft’s bestens.«

»Und mit deinen Mitschülern kommst du auch klar?«, fragte Anne behutsam nach.

»Ja.« Jetzt rollte Mira doch noch mit den Augen. »Mama, niemand mobbt mich, falls das deine Sorge ist.« Betont lässig zuckte sie die Schultern. »Sie schenken mir keine große Beachtung. Ich bin halt immer noch die Neue. Daran wird sich wohl auch nichts mehr ändern.«

»Sag doch nicht so was, Mäuschen. Wir leben jetzt seit einem knappen Jahr in München, und genauso lange gehst du auf deine Schule. Da bist du doch nicht mehr neu.«

»Mag sein. Aber irgendwie fühlt sich das immer noch so an. Und die anderen behandeln mich ja auch so.«

Bei den Worten ihrer Tochter spürte Anne eine große Hilflosigkeit in sich aufsteigen. Sie hätte Mira gern etwas gesagt, das ihr Mut machte und Zuversicht gab. Mira sollte daran glauben können, dass es irgendwann einfacher wurde und dass sie im Moment nur eine schwierige Phase durchmachte, die sicher bald Geschichte war.

»Mama, mach dir nicht so viele Gedanken um mich«, sagte Mira, die ahnte, was in ihrer Mutter vorging.

»Ich bin deine Mutter, Süße. Es ist meine Pflicht, mir deinetwegen Gedanken zu machen.« Es sollte scherzhaft klingen, aber Anne konnte die Besorgnis nicht aus ihrer Stimme heraushalten. Schnell zog sie Mira noch einmal in ihre Arme und küsste sie auf die Stirn. »Ich wünsche dir einen wunderschönen Nachmittag auf dem Tierhof. Ich werde mich heute beeilen und versuchen, etwas früher nach Hause zu kommen.«

»Nett, dass du es versuchen willst«, gab Mira nüchtern zurück. »Aber du weißt sicher selbst, wie schlecht die Chancen stehen, dass du es diesmal hinbekommst.«

Mira hörte sich nicht so an, als würde es ihr viel ausmachen, nach der Schule in eine leere Wohnung zu kommen. Trotzdem plagte Anne augenblicklich das schlechte Gewissen. Müsste sie ihrer Tochter eine bessere Mutter sein? Litt Mira vielleicht unter ihrer Berufstätigkeit und dass sie so viel Zeit in der Kanzlei verbrachte?

Diese Fragen ließen Anne während ihrer Fahrt zur Arbeit nicht mehr los. Sie versuchte Antworten zu finden, die nicht darauf hinausliefen, dass ihr Umzug nach München ein großer Fehler gewesen war. Noch im letzten Jahr lebten sie in einer beschaulichen, ruhigen Kleinstadt in der Nähe von Nürnberg. Anne hatte als Büroleiterin bei einem Steuerberater gearbeitet, und Mira war ein glückliches kleines Mädchen mit vielen Freundinnen gewesen. Alles war perfekt – bis sich Harald entschied, seine Familie zu verlassen, um fortan mit seiner neuen Liebe zusammenzuleben.

Die Entscheidung, in München neu anzufangen, war Anne leichtgefallen. Sie kannte München, war hier aufgewachsen und hatte in dieser Metropole eine wundervolle Kindheit und Jugend verbracht. München und die Möglichkeiten, die ihr das Großstadtleben bot, erschienen ihr ideal für einen Neustart. Hier gab es kein Getuschel der Nachbarn oder die Gefahr, dem Ex und seiner Freundin im Supermarkt zu begegnen. Während in einer Kleinstadt jeder über jeden Bescheid wusste, bot so eine riesige Stadt wie München die Chance, in der Anonymität unterzutauchen und ein neues Leben zu beginnen.

Nur schade, dass dieses Leben nicht für alle so verheißungsvoll war. Gerade Mira, die für die gescheiterte Ehe ihrer Eltern am wenigsten konnte, brachte der Umzug nach München große Probleme mit sich. Sie hatte ihre alten Freunde zurückgelassen, und der Kontakt zu ihrem Vater war kaum noch existent. Zudem tat sie sich schwer damit, Anschluss bei ihren Mitschülern zu finden. Sie hatte keine Freundinnen mehr, mit denen sie sich am Nachmittag treffen und etwas unternehmen konnte. Mira war einsam und allein, wenn sie nach der Schule heimkam. An der Trennung ihrer Eltern traf sie keine Schuld, und trotzdem hatte sie am heftigsten darunter zu leiden.

*

Anne parkte auf dem reservierten Platz vor dem Bürogebäude, in der sich ihre Steuerberaterkanzlei befand. Sie genoss es, noch ein paar Sekunden im Wagen sitzen zu bleiben und voller Stolz auf das polierte Messingschild neben der Eingangstür zu blicken. Seit einigen Wochen stand dort ihr Name in schwarzen, eleganten Lettern, die ein geschickter Handwerker kunstvoll ins Metall gearbeitet hatte. Es war wunderschön, und Anne konnte sich kaum satt daran sehen. Bewies dieses Schild doch, dass sie es geschafft hatte. Sie hatte sich eine Existenz aufgebaut und ihren großen Traum, als freiberufliche Steuerberaterin zu arbeiten, verwirklicht.

Plötzlich erstarrte Anne in ihrem Sitz. Sie kniff die Augen zusammen, um so ihr Firmenschild besser fixieren zu können. War das etwa Dreck, dort, direkt neben ihrem Vornamen? Vogelkot? Ein alter Kaugummi? Graffiti? Anne hielt jetzt nichts mehr im Wagen. Mit großen Schritten eilte sie auf das Haus zu. Vor dem Schild blieb sie stehen und atmete erleichtert auf. Es war nur ein harmloser Schmutzfleck, mehr nicht. Sie holte ein Taschentuch heraus und warf einen hastigen Blick nach links und rechts, bevor sie das Tuch mit etwas Spucke befeuchtete. Mit flinken Handbewegungen machte sie sich anschließend daran, ihrem wunderschönen Schild den Glanz und seine makellose Sauberkeit zurückzugeben. Zufrieden betrachtete sie ihr Werk und betrat dann endlich das Haus, um mit dem Fahrstuhl in die dritte Etage zu ihrer Kanzlei zu fahren.

Die fünf Mitarbeiterinnen, die sie beschäftigte, saßen an ihren Computern, als Anne kurz in ihre Büros schaute, um sie zu begrüßen. Zum Schluss war Karina Friedrichs, ihre überaus kompetente und fleißige Empfangsdame, an der Reihe. Karina war für alle Sekretariatsarbeiten zuständig und oft genug Annes Rettungsanker in der Not.

»Guten Morgen, Frau Friedrichs.« Anne langte über den Tresen und reichte ihr die Hand. »Bin ich mal wieder die Letzte?«, fragte sie augenzwinkernd.

»Ja, aber ich denke, das dürfen Sie sich auch erlauben«, gab Karina im gleichen launigen Ton zurück. »Nicht nur weil Sie der Boss sind, sondern weil Sie gestern Abend ebenfalls die Letzte waren und noch mitten in der Nacht Mails geschrieben haben.«

»Woher wissen Sie das?«, fragte Anne verblüfft. Sie hatte sich gestern mal wieder Arbeit mit nach Hause genommen und sie erledigt, als Mira eingeschlafen war. Darunter war auch ein wichtiges Schreiben fürs Finanzamt gewesen, das sie als Mail verschickt hatte. Als Anne dann endlich todmüde zu Bett ging, war es schon weit nach Mitternacht gewesen.

»Frau Klingbeil vom Finanzamt hat vorhin angerufen«, beantwortete Karina die Frage ihrer Chefin. »Sie wollte mit Ihnen über die Mail sprechen, die sie bei Dienstbeginn in ihrem Posteingang gefunden hat und die dort wohl irgendwann in der Nacht angekommen war.«

»Okay, dann rufe ich sie am besten sofort zurück.« Auf den versteckten Vorwurf in Karinas Worten ging sie gar nicht erst ein. Anne wusste, dass das nur wieder auf eine unerquickliche Diskussion über zu lange Arbeitszeiten und zu wenig Nachtruhe hinauslaufen würde. Karina Friedrichs, die ein großes Herz besaß und sich gern der Probleme anderer annahm, war nämlich der festen Überzeugung, dass ihre Chefin viel zu viel arbeitete und dabei zu wenig auf ihre Gesundheit achtete.

Als sich Anne nun abwandte, um schnell in ihrem Büro zu verschwinden und beim Finanzamt anzurufen, hielt Karina sie auf. »Wollen Sie nicht erst mal in Ruhe ankommen, bevor Sie sich gleich wieder in die Arbeit stürzen? Ich bringe Ihnen einen Kaffee. Mit Frau Klingbeil können Sie später noch telefonieren. Sie hörte sich vorhin nicht so an, als wäre es besonders dringend.«

»Kaffee klingt super. Vielen Dank, Frau Friedrichs«, gab Anne lächelnd zurück. Ihr Lächeln verschwand, als sie in ihrem Büro war und die Tür hinter sich geschlossen hatte. Sie lehnte sich mit dem Rücken dagegen und wünschte sich plötzlich, in ihrem Bett zu liegen. Sie war müde und wusste, dass sie es seit Monaten mit dem Arbeiten übertrieb. Der Tag hatte gerade erst begonnen, und sie fühlte sich schon jetzt völlig erschöpft und ausgelaugt. Sehnsüchtig wünschte sie sich, wieder einmal gründlich ausschlafen, abschalten und entspannen zu können. Doch das war unmöglich, jedenfalls zum jetzigen Zeitpunkt. Sie sah sich noch immer in der schwierigen Gründungsphase, in der sich entschied, ob ein Unternehmen auf dem Markt bestehen konnte oder eben nicht. Ein großes Maß an Mehrarbeit und Engagement war nötig, um sich in dieser Branche zu behaupten. Das Leben als selbständige Steuerberaterin war hart und anstrengend. Sie hatte Gehälter zu zahlen, die Sozialversicherung für ihre Angestellten, die Büromiete, Kreditraten, Steuern, Haftpflicht …