Chefarzt Dr. Norden 1219 – Arztroman - Jenny Pergelt - E-Book

Chefarzt Dr. Norden 1219 – Arztroman E-Book

Jenny Pergelt

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Beschreibung

Dr. Daniel Norden weilt zum Jahresausklang bei einem todkranken Patienten in der Behnisch-Klinik. Der Wetterdienst hat eine stürmische Silvesternacht angekündigt, in der auch mit einigen heftigen Windböen zu rechnen sei. Fee und Anneka sind auf dem Weg zu Freunden. Anneka wurde von ihrem alten Freund Raik Simon eingeladen. Fee setzt Anneka in Irschenberg ab und fährt zu ihren Freunden weiter. Später in der Nacht will sie Anneka wieder abholen. Anneka wünscht sich derweil, sie hätte Raiks Einladung nie angenommen. Er sieht in Anneka nur eine gute, alte Freundin. Seit einigen Wochen ist er in einer festen Beziehung mit Janine, die ihn an diesem Abend begleitet. Anneka fühlt sich völlig fehl am Platz. Ihr gefallen weder die Party noch die anderen Gäste. Daniels Patient stirbt kurz nach Mitternacht. Fee verabschiedet sich gegen zwei von ihren Freunden. Der Wind hat inzwischen deutlich an Stärke zugenommen und ist zu einem ordentlichen Sturm angewachsen. Auf der Fahrt zu Anneka hat Fee einen Unfall und kommt von der Straße ab. Die Neujahrsnacht hat es in jeder Hinsicht in sich ... Sehnsüchtig sah Ilma zu dem kleinen Park hinüber, als sie aus dem Bus stieg. Ein kurzer Abstecher dorthin, um ein halbes Stündchen auf einer Parkbank in der Sonne zu sitzen, könnte ihr jetzt durchaus gefallen. Doch von diesem Wunschgedanken verabschiedete sie sich schnell wieder, denn zu Hause wartete ein Schreibtisch voller Arbeit auf sie. Ilma seufzte leise auf. Wenigstens stand der Schreibtisch vor dem Fenster, das zum Park zeigte. So konnte sie ab und zu hinübersehen und sich vorstellen, wie sie dort auf schattigen Wegen entlangschlenderte oder ein kleines Päuschen auf einer Parkbank machte. Damit es nicht allein bei der Vorstellung blieb, beschloss Ilma spontan, ihrem Computer am Nachmittag für eine halbe Stunde Adieu zu sagen und sich eine kleine Auszeit zu gönnen. Ab morgen sollte das Wetter ohnehin umschlagen, und ein Tiefdruckgebiet mit dicken Wolken, Wind und Regen würde München heimsuchen. Heute war vielleicht die letzte Gelegenheit, um noch ein wenig Maisonne abzubekommen. Mit diesem Vorhaben im Kopf fiel es Ilma gleich viel leichter, an ihre Arbeit zurückzukehren. Sie wandte endlich den Blick vom Park ab und bemerkte jetzt auch den Umzugswagen vor ihrem Haus. Neugierig musterte sie die vielen Kartons, Möbel und Kisten, die die Männer auf dem Bürgersteig abgestellt hatten. Dabei wäre sie fast mit Michi, ihrem Nachbarn aus der dritten Etage, zusammengestoßen, der gerade das Haus verließ. »Hoppla!« Michi wich ihr lachend aus. »Du hast es ja eilig!« »Ich war nur ein wenig abgelenkt und habe deswegen nicht aufgepasst.« Ilma sah mit einem beredten Blick auf den Umzugswagen. »Weißt du schon etwas über den neuen Mieter?«, fragte sie dann deutlich leiser.

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Chefarzt Dr. Norden – 1219 –

Du sollst mein Vater sein!

Die kleine Rosa will es entscheiden

Jenny Pergelt

Sehnsüchtig sah Ilma zu dem kleinen Park hinüber, als sie aus dem Bus stieg. Ein kurzer Abstecher dorthin, um ein halbes Stündchen auf einer Parkbank in der Sonne zu sitzen, könnte ihr jetzt durchaus gefallen. Doch von diesem Wunschgedanken verabschiedete sie sich schnell wieder, denn zu Hause wartete ein Schreibtisch voller Arbeit auf sie.

Ilma seufzte leise auf. Wenigstens stand der Schreibtisch vor dem Fenster, das zum Park zeigte. So konnte sie ab und zu hinübersehen und sich vorstellen, wie sie dort auf schattigen Wegen entlangschlenderte oder ein kleines Päuschen auf einer Parkbank machte. Damit es nicht allein bei der Vorstellung blieb, beschloss Ilma spontan, ihrem Computer am Nachmittag für eine halbe Stunde Adieu zu sagen und sich eine kleine Auszeit zu gönnen. Ab morgen sollte das Wetter ohnehin umschlagen, und ein Tiefdruckgebiet mit dicken Wolken, Wind und Regen würde München heimsuchen. Heute war vielleicht die letzte Gelegenheit, um noch ein wenig Maisonne abzubekommen.

Mit diesem Vorhaben im Kopf fiel es Ilma gleich viel leichter, an ihre Arbeit zurückzukehren. Sie wandte endlich den Blick vom Park ab und bemerkte jetzt auch den Umzugswagen vor ihrem Haus. Neugierig musterte sie die vielen Kartons, Möbel und Kisten, die die Männer auf dem Bürgersteig abgestellt hatten. Dabei wäre sie fast mit Michi, ihrem Nachbarn aus der dritten Etage, zusammengestoßen, der gerade das Haus verließ.

»Hoppla!« Michi wich ihr lachend aus. »Du hast es ja eilig!«

»Ich war nur ein wenig abgelenkt und habe deswegen nicht aufgepasst.« Ilma sah mit einem beredten Blick auf den Umzugswagen. »Weißt du schon etwas über den neuen Mieter?«, fragte sie dann deutlich leiser.

»Eine Mieterin«, gab Michi genauso leise zurück und setzte dann hinzu: »Alleinerziehend mit Tochter.«

»Woher weiß du das?«, staunte Ilma. »Ich versuche seit Tagen, etwas herauszubekommen, wenn ich dem Hausmeister begegne. Nichts. Der Mann ist verschlossen wie eine Auster. Das Einzige, was er von sich gibt, sind irgendwelche Phrasen über Vertraulichkeit und Stillschweigen. Wie hast du ihn nur zum Reden bekommen?«

»Ich habe ihn solange genervt, bis er irgendwann brummte: ›Single mit Kind‹«, gestand Michi. »Und dann brauchte ich nur noch eins und eins zusammenzuzählen und die richtigen Schlussfolgerungen ziehen.« Als ihn Ilma weiter fragend ansah, erklärte er: »Der Hausmeister hat vor einer Viertelstunde die Namensschilder an der Türklingel und am Briefkasten angebracht. Ein Frauennamen! Und dass das Kind ein Mädchen sein muss, verdanke ich diversen anderen Hinweisen.« Michi deutete auf die Kinderzimmermöbel, die noch auf dem LKW standen, und zu denen ein großer Wäschekorb mit unzähligen Puppen und eine wunderschöne Puppenstube gehörten.

»Gut kombiniert, Sherlock Holmes«, sagte Ilma anerkennend.

»Vielen Dank! Wo kommst du jetzt eigentlich her?«, wollte Michi nun von ihr wissen.

Ilma tippte sich kurz auf die rechte Wange. »Zahnarzt.«

»War’s schlimm?«

»Nein, überhaupt nicht. Nur ein bisschen Zahnstein.«

»Ich hatte vorhin bei dir geklingelt und mich schon gewundert, wo du sein könntest.« Michi trat schnell zur Seite, als zwei Möbelpacker ein großes Sofa ins Haus trugen, und sagte dann: »Ilma, ich brauche mal wieder deine Hilfe.«

»Was gibts? Soll ich wieder ein Paket für dich annehmen?«

»Genau. Die Post ist heute später dran als sonst. Ich habe bis eben gewartet, aber nun muss ich los zum Dienst.«

»Kein Problem, ich bin ja da«, sagte Ilma sofort. »In den nächsten Stunden werde ich an meinem Schreibtisch sitzen und arbeiten. Ich will erst am späten Nachmittag einen kleinen Abstecher in den Park machen. Bis dahin ist die Post sicher durch.«

»Danke, du bist ein Schatz. Wieder einmal.« Michi sah sie treuherzig an. »Ich glaube, es wird höchste Zeit, dass ich mich endlich für deine Dienste revanchiere. Ich würde dich gern mal ins Kino einladen oder zum Essen.«

»Einfach nur so oder versuchst du schon wieder, dich mit mir zu verabreden?«

»Einfach nur so.« Er grinste sie frech an. »Es sei denn, du stimmst endlich einer Verabredung zu. Dann ist es natürlich ein Date. Du siehst, ich habe die Hoffnung immer noch nicht aufgegeben, obwohl du mir einen Korb nach dem anderen gibst.«

»Glaub mir, das mache ich nicht gern«, seufzte sie. »Aber ich werde meine Meinung nicht ändern. Aus uns beiden wird niemals ein Paar werden. Ich mag dich sehr, aber eben nur als Freund. Können wir es nicht dabei belassen?«

Michi griff sich mit einer dramatischen Geste ans Herz. »Und schon wieder hast du mir das Herz gebrochen. Wenn du so weitermachst, werde ich dich irgendwann aufgeben und mich nach einer anderen Frau umsehen.«

»Das wäre sicher eine gute Idee.« Ilma war froh, dass Michi mit der erneuten Abfuhr so locker umging. »Vielleicht ist die neue Mieterin die Richtige für dich?«

»Kai Erdmann? Ja, warum eigentlich nicht? Auf alle Fälle werde ich sie mir mal etwas genauer ansehen, sobald sie hier eingezogen ist.«

Ilma prustete los. Als Michi sie nur verständnislos ansah, sagte sie lachend: »Wie kommst du nur darauf, dass Kai eine Frau ist? So viel ich weiß, ist Kai als Jungenname viel gebräuchlicher.«

»Mag sein, aber auch hier habe ich wieder eins und eins zusammengezählt.« Michi hob einen Finger. »Erstens hatte ich eine Schulfreundin, die Kai hieß. Da ist es doch wohl naheliegend, dass ich auch jetzt von einer Frau ausgehe.« Michi hob den zweiten Finger. »Statistisch betrachtet ist ein alleinerziehender Single meistens eine Frau. Und drittens: Vertraue ich auf mein Bauchgefühl. Und das sagt mir gerade, dass Kai Erdmann die Frau meiner Träume ist.«

»Na, dann hoffe ich mal, dass sich dein Bauchgefühl nicht irrt«, lachte Ilma. »Aber vorsichtshalber solltest du dich schon mal darauf einstellen, dass Kai Erdmann nicht auf Make-up und High Heels steht. Nur für alle Fälle. Damit du vorbereitet bist.«

Michi rollte mit den Augen. »Du bist heute wieder ausgesprochen witzig.« Er schulterte seinen Rucksack und schenkte Ilma dann ein unbekümmertes Lächeln. Ihre kleine Neckerei nahm er ihr nicht übel. »Ich muss jetzt los. Mein Dienst beginnt gleich. Und was hast du heute noch vor?«

»Ach, das Übliche. Ich arbeite an mehreren Aufträgen, die ich in den nächsten Tagen abschließen muss. Zurzeit läuft es richtig gut bei mir. Ich kann mich vor Arbeit kaum retten.«

»Das freut mich für dich. Obwohl es bestimmt nicht gut ist, wenn du den ganzen Tag vor deinem Computer hockst.«

»Mache ich gar nicht. Jetzt war ich ja auch unterwegs …«

»Ja, weil du zum Zahnarzt musstest. Das zählt nicht.«

»… und heute Nachmittag werde ich noch in den Park gehen und das tolle Wetter ausnutzen«, sprach sie weiter, ohne auf seinen Einwand einzugehen.

»Gute Idee. Ich hoffe nur, du vergisst sie nicht, wenn du mitten in der Arbeit steckst.« Er überlegte kurz und fragte dann: »Was hältst du von Pizza heute Abend? Ich habe schon um sieben Feierabend, dann könnte ich beim Pizzadienst vorbeifahren und uns unser Abendbrot mitbringen.« Er zeigte dabei auf das Fahrrad, das neben ihm stand. »Und keine Angst, das ist dann kein Date, sondern nur ein kleines Dankeschön dafür, dass du immer meine Pakete annimmst, wenn ich nicht zu Hause bin.«

»Mach ich doch gern, auch ohne Pizza. Allerdings käme die mir heute sehr gelegen. Ich habe echt noch viel zu tun und spare mir so die Zeit fürs Kochen.«

Als sich Michi aufs Fahrrad schwang, um loszufahren, winkte sie ihm noch einmal zum Abschied zu und ging dann ins Haus. Michi arbeitete als Pfleger auf einer chirurgischen Station in der Behnisch-Klinik. Alle mochten den aufgeweckten jungen Mann, und auch Ilma gefiel er gut. Sie waren beide im gleichen Alter und verstanden sich bestens. Doch Ilma hatte in ihm nie mehr gesehen als einen guten Freund. Da gab es kein Herzklopfen, wenn sie sich begegneten. Und wenn sie an ihn dachte, fühlte sie keinen einzigen Schmetterling in ihrem Bauch herumflattern. Nein, Michi war nur ein guter Kumpel, und jeder halbherzige Versuch, mehr daraus zu machen, wäre ihm gegenüber nicht fair. Ilma würde sich nämlich nie in ihn verlieben.

*

Ilma warf einen kurzen Blick in ihren leeren Briefkasten und stieg dann die Treppe hoch zu ihrer Wohnung in der zweiten Etage. Auf halber Strecke trugen die Möbelpacker gerade ein paar Schrankteile in die noch leere Wohnung. Als Ilma kurz stehenblieb, um einen neugierigen Blick hineinzuwerfen, wurde sie von einem großen, muskelbepackten Mann im blauen Arbeitsoverall angesprochen, der gerade raus wollte.

»Sie möchten wohl den neuen Mieter willkommen heißen.«

»Äh … ja. Ist Herr Erdmann denn da? Oder Frau Erdmann?«

»Herr Erdmann.« Er beugte sich vertraulich zu ihr rüber und sagte mit gedämpfter Stimme. »Eine Frau Erdmann gibt’s nicht. Er lebt allein mit seiner kleinen Tochter.«

»Aha.« Ilma musste lächeln. Kai Erdmann war also doch ein Mann. Ilma freute sich schon auf Michis Gesicht, wenn sie ihm das heute Abend erzählte. Sie wollte weitergehen, doch dem Herrn von der Umzugsfirma stand der Sinn nach einem kurzen Plausch. Ungefragt verriet er, dass Ilmas neuer Nachbar und seine Tochter bisher in Berlin lebten und dass sie wohl erst am Abend nachkommen würden. »Wir sind ja schon in aller Frühe mit den Möbeln vorgefahren. Herr Erdmann musste noch bleiben wegen der Wohnungsübergabe. Außerdem hat die Kleine heute ihren letzten Tag in der Kita. Da wird wohl noch ein wenig Abschied gefeiert.«

Der Mann ging schließlich wieder seiner Arbeit nach, und Ilma setzte den Gang fort zu ihrer Wohnung in der Etage darüber. Im Wohnzimmer öffnete sie weit das Fenster, um die warme Frühlingsluft hineinzulassen, bevor sie ihren Computer anschaltete. Während er hochfuhr, machte sie sich einen Kaffee in der Küche.

Später als geplant setzte sie sich an den Schreibtisch und begann mit ihrer Arbeit. Ilma arbeitete als freiberufliche Übersetzerin für Schwedisch und Englisch. Viele Aufträge erhielt sie von einem wissenschaftlichen Online-Magazin, für das sie Publikationen aus dem Wirtschaftsbereich übersetzte. Sie war seit einem guten Jahr selbständig und hatte sich inzwischen einen Namen gemacht, so dass auch immer mehr Aufträge von Privatleuten oder Unternehmen dazukamen. Ilma liebte, was sie tat, und sie genoss die Vorzüge einer freiberuflichen Tätigkeit. Es gefiel ihr, ihr eigener Herr zu sein und sich nicht mit schlecht gelaunten oder tyrannischen Chefs herumstreiten zu müssen. Allerdings war ihr Job manchmal etwas einsam. Dann fehlte ihr der Bürotratsch und die Kaffeepause mit netten Kollegen.

In den nächsten beiden Stunden arbeitete Ilma an einem großen Artikel, den sie bis morgen vom Schwedischen ins Deutsche übersetzen musste. Durch das offene Fenster drangen die Geräusche der Straße in ihre Wohnung, ohne dass sie sie bei ihrer Arbeit störten. Der Umzugswagen war längst wieder abgefahren, als sie das Klingeln an der Wohnungstür von ihrem Computer losriss. Horst, der Postbote, der die Pakete in ihrer Gegend auslieferte, übergab ihr eins für Michi und das zweite für Frau Krüger aus dem Erdgeschoss.

»Nanu, Horst, diesmal nur zwei?«

»Wenn du noch mehr möchtest, kannst du auch die für die Nachbarhäuser annehmen. Dann spare ich mir ein paar Wege und habe heute mal früher Feierabend.«

»Nein, danke«, erwiderte Ilma lachend. »Es reicht mir schon, die Paketstation für unser Haus zu sein. Ich muss nicht gleich die ganze Straße übernehmen. Dann käme ich nämlich gar nicht mehr zum Arbeiten.«

»Tja, meine Liebe, das ist nun mal das Los der Menschen im Homeoffice. Sie sind immer zu Hause und immer erreichbar.«

Ilma nahm Horst die Pakete ab und kehrte an ihren Schreibtisch zurück. Sie arbeitete weiter, machte sich zwischendurch etwas zu essen, als ihr Magen laut und vernehmlich knurrte und vergaß dabei den geplanten Ausflug in den Park. Gegen sechs holte sich Frau Krüger, die im Supermarkt an der Kasse arbeitete, ihr Paket. Sie unterhielten sich ein paar Minuten im Hausflur, und als Ilma wieder ins Wohnzimmer kam, fiel ihr auf, wie kühl es inzwischen geworden war. Als sie das Fenster schloss, hielt gerade ein blauer Kombi mit Berliner Kennzeichen vor dem Haus. Das musste der neue Mieter aus der ersten Etage sein, der es nun auch nach München geschafft hatte.

Ilma reckte den Hals, um mehr von dem Mann zu sehen, der jetzt aus seinem Wagen stieg. Er war groß und wirkte durchtrainiert und sportlich. Ein gutaussehender Mann – soweit sie das aus der Entfernung beurteilen konnte. Er öffnete eine hintere Wagentür und beugte sich hinein. Kurze Zeit später kam er wieder hoch, mit einem schlafenden Kind auf seinen Armen. Ilma überlegte, ob sie hinunterlaufen sollte, um ihm die Haustür aufzuhalten. Doch Frau Krüger war schneller. Sie tauchte wie aus dem Nichts neben dem Wagen auf, schloss die Autotür für ihn und eilte dann zum Haus zurück, um ihm dort die Tür aufzuhalten und mit ihm hineinzugehen.

Ilma setzte sich wieder auf ihren Platz, um weiterzuarbeiten. Doch mit der Arbeit ging es plötzlich nicht mehr so schnell voran. Immer wieder schweiften ihre Gedanken ab und wanderten zu dem Mann und seiner Tochter. Ilma lehnte sich seufzend auf ihrem Stuhl zurück. In zwei Jahren würde sie ihren dreißigsten Geburtstag feiern. Sie hatte immer gedacht, dass sie bis dahin längst eine Familie mit mindestens drei Kindern hätte. Doch davon war sie Lichtjahre entfernt. Sie hatte ja noch nicht mal ihre große Liebe kennengelernt. Wie denn auch? Wenn sie den ganzen Tag an ihrem Schreibtisch verbrachte, gab es gar keine Möglichkeit, ihrem Traumprinzen zu begegnen.

Ilma war froh, als Michi eine Viertelstunde später mit der Pizza kam und sie aus ihren trüben Gedanken riss. In Michis Gegenwart hatten schlechte Stimmung und Torschlusspanik keine Chance, sich durchzusetzen.

»Ich habe übrigens Neuigkeiten von Frau Erdmann, unserer neuen Nachbarin«, griente sie.

»Die kannst du für dich behalten«, brummte Michi. »Ich bin Kai Erdmann eben im Hausflur begegnet.«

Ilma lachte. »Darf ich deinem gequälten Gesichtsausdruck entnehmen, dass du dich nicht mit ihm verabredet hast?«

Michi rollte genervt mit den Augen. »Und? Amüsierst du dich gut auf meine Kosten?«

»O ja! Und wie!«, erwiderte Ilma mit vollem Mund. »Ich finde das wirklich total witzig. Dass du nicht darüber lachen kannst, ist nicht meine Schuld. Du solltest mal an deinem Sinn für Humor arbeiten.«