Chimäre - Falk Röbbelen - E-Book

Chimäre E-Book

Falk Röbbelen

0,0

Beschreibung

Eine an ihr Bett gefesselte Frau wird ermordet in Hamburg-Eimsbüttel aufgefunden. Bei den Recherchen entdecken die Mordermittler des Landeskriminalamtes Jo Hersig und Marten Stolzin, dass sie sich in der BDSM-Szene bewegte, aber auch dass sie Pilotin war und ein Sportflugzeug besaß. Diese Cessna ist bis unter das Dach vollgepackt mit C4 Plastiksprengstoff. Offensichtlich wurde die Ermordete erpresst und sollte dieses Flugzeug in ein den Ermittlern unbekanntes Ziel steuern. Unverzüglich wird Terroralarm ausgelöst und das Bundeskriminalamt eingeschaltet. Von dort wird die hochintelligente, hübsche aber leicht autistische Hauptkommissarin Samantha Baumann geschickt. Ihre Wirkung auf die beiden Hamburger Polizisten unterscheidet sich deutlich, denn während Jo von ihrer Arroganz genervt ist, verliebt sich Marten in sie. Gemeinsam versuchen sie dem Mörder und den möglichen Terroristen auf die Spur zu kommen. Sie sind sich einig: Egal, ob es sich um einen Täter handelt oder nur ein zufälliger Zusammenhang besteht, beide Fälle weisen darauf hin, dass dieser Mord nur der Auftakt einer Inszenierung ist, die Tod und Zerstörung bringt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 569

Veröffentlichungsjahr: 2021

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Für meine große Liebe Martina

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Noch 185 Tage

Noch 21 Tage

Noch 43 Tage

Noch 21 Tage

Noch 31 Tage

Noch 21 Tage

Noch 27 Tage

Noch 21 Tage

Noch 25 Tage

Noch 21 Tage

Noch 20 Tage

Noch 19 Tage

Noch 18 Tage

Noch 17 Tage

Noch 16 Tage

Noch 15 Tage

Noch 14 Tage

Noch 13 Tage

Noch 12 Tage

Noch 11 Tage

Noch 10 Tage

Noch 9 Tage

Noch 8 Tage

Noch 7 Tage

Noch 6 Tage

Noch 5 Tage

Noch 4 Tage

Noch 3 Tage

Noch 2 Tage

Noch 1 Tag

Tag 0

Epilog

Letzte Worte

Prolog

Er wusste, dass er nicht anders konnte. Nun war es wieder soweit. Es musste raus. Er hatte es bereits seit Tagen gespürt: Diese Unruhe, dieses Verlangen, dieser Trieb ließen sich nicht steuern und schon gar nicht unterdrücken. Warum nur war dieser Wahnsinn in ihm? Warum kam diese Begierde immer und immer wieder und forderte ihr Recht - und das Schicksal heraus? Er hatte es nie steuern können. Manchmal gelang ihm zeitweilig, es zu unterdrücken; immer in dem Bewusstsein, dass es in ihm kochte, wie in einem aktiven Vulkan, dessen Eruption nur eine Frage der Zeit war.

Trotz der aufkommenden Angst vor seinem Alter Ego musste er lächeln. Ja, der Vulkan war tatsächlich ein passendes Bild. Ein wunderschöner, fruchtbarer Berg, der sich nur ab und zu in ein lava-spuckendes, todbringendes Ungeheuer verwandelte, das unaufhaltsam hervorbrach, um danach wieder friedlich in der von ihm zerstörten Natur dazustehen, als wäre nichts geschehen.

Würde er schon am kommenden Wochenende seinen inneren Dämon wieder herauslassen müssen, sich wieder in Mr. Hyde verwandeln und sein zweites Ich ausleben? Um dann hoffentlich eine Zeit lang Ruhe zu haben, wieder mit freiem Kopf seinem Beruf nachgehen und sich endlich wieder auf eine echte Beziehung einlassen zu können? Dabei war er sich stets bewusst, dass das Begehren erneut anwachsen würde, bis zu dem Moment, in dem es nicht mehr seine Entscheidung, sondern die seines triebgesteuerten Unterbewusstseins war.

Die Aufregung, die Vorbereitung, die Inszenierung, all das gehörte dazu, sowie die Anspannung davor. Weil er wusste, dass er keinen Fehler machen und nichts dazwischenkommen durfte! Eine weitere Verzögerung würde seine zunehmende innere Unausgeglichenheit bis an den Rand des Erträglichen steigern - und darüber hinaus! Dazu führte jeder Aufschub zu erschreckend realen, körperlichen Reaktionen wie Hautausschlag, rasenden Kopfschmerzen oder Nasenbluten.

Er musste sich eingestehen, dass ihm die Vorbereitungen ebenso viel Befriedigung bereiteten und ihn in Vorfreude versetzten wie das eigentliche Spiel - das Spiel mit dem Feuer - ihm unsägliche Befriedigung schenkte. Aber auch die Gefahr der Entdeckung faszinierte ihn im gleichen Maße, wie das gesamte Spiel und die damit verbundene Angst und sexuelle Lust.

Sein Selbstbewusstsein war stetig gewachsen, denn bisher war alles gut gegangen, zumindest für ihn. Niemand hatte ihn erkannt, niemand würde auch nur ansatzweise vermuten, was er tat, da er seine „Ausschweifungen“, wie er sie gerne nannte, mit generalstabsmäßiger Präzision vorbereitete.

Leider wich allzu schnell die kurze, glückliche Zufriedenheit der Leere und der Scham des nächsten Tages. Zudem erkannte er trotz seiner jungen Jahre, dass die Unruhe und das Verlangen von Mal zu Mal früher einsetzten und sich die Intervalle zwischen den Ausbrüchen deutlich verkürzten.

Vielleicht war es an der Zeit, sich professionelle psychologische Hilfe zu holen? Oder war es längst zu spät? Hatte er dem Teufel schon zu viel Platz in seinem Leben eingeräumt und war er nur noch Gefangener seiner Triebe? Ihn schauderte bei diesen Gedanken.

I. Noch 185 Tage

Mittwoch, der 10. März 2021

11.35 Uhr MEZ

Der Mann am Telefon mit der seriös klingenden Stimme erkundigte sich bei der Dame, ob er mit der ‚Ferton Pharma AG‘ spreche und ob sie ihm helfen könne. Nachdem er sein Anliegen vorgetragen hatte, verband sie ihn mit Thomas Wellermann vom internationalen Vertrieb. Der Anrufer stellte sich als Zóltan Kerdelyi vor. Er rufe im Namen der Firma ‚RabaChem‘ aus Debrecen im Osten Ungarns an. Zóltan Kerdelyi sprach zwar gebrochenes, aber verständliches Deutsch, dennoch einigte man sich auf seine Bitte hin, Englisch zu sprechen. Kerdelyi erklärte, dass ‚RabaChem‘ den Chlorkohlenwasserstoff namens Ethylendichlorid - oder kurz EDC - für die Herstellung von Polyvinylchlorid – bekannt als PVC - benötige. Er bat um ein Angebot für eine Lieferung von zunächst einhundert Tonnen EDC, das ‚Ferton Pharma‘ sowohl für eigene Aktivitäten als auch für diverse Kunden seit Jahren regelmäßig aus Pakistan importierte.

Obwohl die ‚Ferton Pharma AG‘alljährlich erhebliche Mengen EDC einführte, war es wenig im Verhältnis zum pakistanischen Gesamtexport dieses Chlorkohlenwasserstoffs, da fast fünfzig Prozent des jährlichen Exports an chemischen Erzeugnissen aus Pakistan einzig aus dieser Flüssigkeit besteht.

All dies wusste auch Kerdelyi. Wellermann freute sich, mit einem Profi zu sprechen, und sagte ein entsprechendes Angebot zu.

Ebenso war beiden Gesprächspartnern bekannt, dass EDC hautreizend, narkotisierend und krebserzeugend ist, einen niedrigen Flammpunkt hat und bereits bei dreizehn Grad ein leicht entzündliches Dampf-Luft-Gemisch entwickelt. Deshalb muss diese flüssige, chemische Verbindung als Gefahrgut klassifiziert und beim Transport gekühlt werden. Dies verteuert den Transport erheblich, führt aber auch dazu, dass die verplombten Kühlcontainer soweit möglich vom Zoll gemieden wurden. Auch das wusste Kerdelyi, erwähnte es Wellermann gegenüber aber nicht.

Dem Gespräch folgte wenige Stunden später eine E-Mail von Kerdelyi, in der er seine Anfrage geschäftsmäßig konkretisierte. Da die Zeit drängte, bat er vorab bereits um die Steuernummer, sowie die Economic Operators’ Registration and Identification Number, oder kurz EORI Nummer, der früheren Zollnummer entsprechend und Bedingung aller zollrechtlichen Handlungen in Europa. Diese Nummer ist für die Zollabfertigung mittels des IT-Systems ATLAS erforderlich und dient der Identifizierung.

Natürlich kommuniziert daher kein Unternehmen diese Nummer auf seiner Website oder gibt sie an Unberechtigte. Aber bei einer seriösen Anfrage über eine relevante Exportmenge in einem für die ‚Ferton Pharma‘ bekannten Geschäftsumfeld war die Herausgabe der EORI Nummer für Wellermann ein selbstverständlicher Service.

Wie Zóltan Kerdelyi nach seinen eigenen Angaben bekannt, betrieb die ‚Ferton Pharma AG‘ regelmäßig Im- und Export mit Partnern aus Pakistan. Ebenso regelmäßig handelte es sich um chemische Erzeugnisse und zu großen Teilen konkret um EDC. Aufgrund Gewohnheit, Regelmäßigkeit und immer seltener werdenden Stichproben wusste man auch beim Zoll, dass die ‚Ferton Pharma AG‘ zuverlässig ein offensichtlich einträgliches, jedenfalls aber legales Geschäftsmodell betrieb und keiner besonderen Aufmerksamkeit bedurfte.

Hätte es sich um ein Unternehmen gehandelt, das erstmalig diese Route nutzte, eine solche Fracht lud oder sich gar das erste Mal mit Im- und Export beschäftigte, wäre der Zoll selbstverständlich sehr viel aufmerksamer und eine Überprüfung hätte zum Standardprozedere gehört. Aber der Zoll im Hamburger Hafen muss sich bei einem Durchsatz von täglich 24.000 Containern - davon rund 1.500 mit Gefahrgut - auf seine Erfahrung und seine Kontakte in Bezug auf eine Risikobewertung verlassen. Nur ‚kontrollwürdige‘ Container werden im System angezeigt. Somit hatte das Label „keine besondere Aufmerksamkeit“ eine entscheidende Relevanz.

Der von Kerdelyi für seine Firma ‚RabaChem‘ avisierte Auftrag an die ‚Ferton Pharma AG‘ kam schließlich nicht zustande, aber Kerdelyi versprach, dass er und sein Unternehmen ‚RabaChem‘ ganz sicher zu einem späteren Zeitpunkt auf die Dienste von ‚Ferton Pharma‘ zurückgreifen würden.

Wenn Wellermann geahnt hätte, wie sehr Kerdelyis Versprechen erstmals in ihrer gesamten Kommunikation der Wahrheit entsprach und dass die außergewöhnliche Form des Rückgriffs auf die Dienste von ‚Ferton Pharma‘ ganz sicher nicht die Zusammenarbeit war, die Wellermann sich erhofft hatte, dann hätte er wohl nicht geantwortet, dass er sich auf die zukünftige Geschäftsbeziehung freuen würde, wie auch immer diese geartet wäre.

II. Noch 21 Tage

Samstag, der 21. August 2021

01.28 Uhr MESZ

Sie war auf eine atemberaubende Art und Weise fasziniert von diesem Wesen, das sich ihr in diesem Moment kalt lächelnd näherte und sich mit der Geschmeidigkeit einer Katze bewegte - elegant Fuß vor Fuß setzend und die Langsamkeit zum Verbündeten seines Spiels machend. Und dennoch ließ sie das Gefühl nicht los, dass es nur einer Nuance, vielleicht eines unerwarteten Geräusches, bedurfte und das Wesen würde spurlos verschwinden - wie eine nachtaktive Raubkatze nach dem Erlegen und Verzehren ihrer Beute.

Der Gedanke, diesem Wesen ausgeliefert zu sein, erregte sie. Die Erregung erfasste ihren Körper und erinnerte sie schmerzhaft daran, dass ihre Hände und Füße gefesselt waren. Die auf Spannung gebundenen, lilafarbenen Seile gaben ihr erstaunlich wenig Spielraum. Ihre Extremitäten waren an die schmiedeeisernen Bettpfosten gefesselt, die aufstrebenden Pflanzen nachempfunden waren. Das aufwändig gestaltete Kopfteil des Bettes, das eine gewaltige Rosenblüte darstellte, war das Letzte, was sie gesehen hatte, bevor ihr das weiche Tuch, das sich zuvor unvorhersehbar und immer und immer wieder um ihren Körper geschlungen hatte, die Sicht nahm.

Sie liebte den devoten Part des sexuellen Spiels. Sie brauchte diese Rolle, um abschalten zu können. Dennoch war es für sie jedes Mal ein tiefer Fall, der Vertrauen voraussetzte, das innerhalb von wenigen Sekunden aufgebaut war - oder eben nicht. Letzteres war leider die Regel.

Sie kam im beruflichen Umfeld aus einer von männlicher Dominanz geprägten Realität, die sie mit viel Härte bewältigte. Doch wenn sie sich in die Arme einer ihr völlig unbekannten Person fallenlassen konnte, war das Ausgeliefertsein ein wesentlicher Bestandteil ihrer sexuellen Lust. Sie hatte ihre Entscheidungen für ihre jeweiligen Spielpartner bisher niemals bereut. Es waren Menschen, die sie nicht kannte und nach dieser Nacht vergessen wollte. Anonymität war für sie entscheidend in diesem Spiel, auch wenn es heute ausnahmsweise in ihrem eigenen Bett stattfand. Wenn sie nach ihren Begegnungen das Spielfeld verlassen hatte, versuchte sie die Erinnerung abzuschütteln, wie einen bösen Traum, wie eine tote Fliege, die noch am Finger klebt.

Wie immer hatte sie auch heute Nacht ihren dominanten Spielpartner selbst gewählt. Ihren jeweiligen Antagonisten nannte sie in ihren Gedanken gerne ihren „Prädator“! Das Raubtier in ihrem nächtlichen Drama, dem sie sich selbst als willige Beute darbot.

Und nun schlich eben dieser Prädator auf das Bett zu, auf dem seine Beute lag, die jeden seiner Bewegungen mit ihren verbliebenen und schmerzhaft angespannten Sinnesorganen wahrnahm. Er bewegte sich betont langsam - wissend, dass ihm seine Beute sicher war. Vorsichtig glitt er mit Händen und Füßen auf das Bett und über sie hinweg, mit fast liebevoller Zärtlichkeit, das sein Opfer bewusst leicht stöhnend und unbewusst mit leichtem Zucken der Beinmuskulatur goutierte.

Ihre Gesichter waren nun übereinander und sie hörte den erregten Atem und die Stimme, die ihr beeindruckend emotionslos ins Ohr flüsterte: „Ich werde dich töten!“

Ihre Anspannung löste sich, sie atmete hörbar aus. Sie hatte diese sexuelle Spannung nicht für möglich gehalten, als sie vor fast drei Stunden ihre Entscheidung für diese so gar nicht ihrem Schema entsprechende Kreatur getroffen hatte. Sie suchte und liebte für ihr Spiel die grobe, männliche Dominanz und war dennoch mehr und mehr von der vordergründigen Effemination fasziniert.

Mit dem nächsten Atemzug hoffte sie den alltäglichen Unrat herauszuspülen, der sich in ihr angesammelt hatte. Sie wusste, dass sie nun soweit war, sich ganz und gar fallen zu lassen.

Ein Fingernagel bewegte sich langsam und zärtlich, fast ängstlich zwischen ihren Brüsten zu ihrer Scham und sie dachte: Eine gute Wahl!

III. Noch 43 Tage

Freitag, der 30. Juli 2021

12.55 Uhr MESZ +3h

Zóltan Kerdelyi hatte seinen persönlichen Besuch eine Woche zuvor angekündigt. Nun parkte er seinen Mietwagen auf dem Besucherparkplatz der Spedition Bulfati, in der West Wharf Road in der pakistanischen Hafenstadt Karatschi.

Faizan Bulfati persönlich erwartete ihn und mit ihm ein profitables Geschäft, denn Verträge mit deutschen Unternehmen waren immer recht einträglich. Kerdelyi hatte sich ihm gegenüber unter dem arabischen Namen Yousef Najjar und als Vertreter der deutschen Firma ‚Ferton Pharma AG‘ vorgestellt. Najjar zeigte sich dankbar für die Gastfreundschaft von Faizan Bulfati, der die echte, möglicherweise ungarische Identität seines Gesprächspartners nicht kannte, und die ihn auch nicht interessierte.

Nach dem üblichen Small Talk erhielt Bulfatis Spedition von der ‚Ferton Pharma AG‘ den Auftrag, chemische Erzeugnisse – konkret 550 Tonnen EDC - in zwanzig Kühlcontainern nach Hamburg zu transportieren. Da sie als Cost Insurance Freight gebucht wurden, waren die Kosten bis zum Löschen im Bestimmungshafen gedeckt. Bei dieser Art des für die Reederei risikofreien Transports werden die wenigsten Fragen gestellt.

Bulfati hatte an keine Zweifel an der Seriösität von Yousef Najjar, der ihn über eine E-Mail-Adresse der ‚Ferton Pharma AG‘ kontaktiert hatte und ihm eine Visitenkarte mit Kontaktdaten sowie Prospektmaterial der ‚Ferton Pharma‘ übergab. Hätte er jedoch Zweifel gehabt, so wären ihm diese endgültig genommen worden, als Najjar wie selbstverständlich und um die Sache zu beschleunigen, auch die EORI Nummer der ‚Ferton Pharma AG‘ vorlegte.

Auftragsgemäß würde die ‚Bulfati Spedition‘ zwanzig FEU-Kühlcontainer mieten, also Forty-Foot-Equivalent-Units und diese in der Shahrah-e-Ghalib Road beim Kemari Terminal A in der Nähe des Hafens von Karatschi bereit stellen.

Zusätzlich akzeptierte Bulfati aufgrund der attraktiven und in bar gezahlten Vergütung, dass ein anderes, ungenanntes Unternehmen die Container dort mit der Fracht beladen und die ‚Bulfati Spedition‘ lediglich die danach versiegelten Container abholen würde. Ein arbeitsteiliges Beladen kam durchaus regelmässig vor, wenn auch selten von Seiten eines Auftraggebers aus Deutschland. Allerdings wurde es auch selten derart großzügig vergütet wie in diesem Fall. Und Faizan Bulfati war für seine zuverlässige Verschwiegenheit bekannt, wenn sie angemessen bezahlt wurde. Ihm war ein solches „Kavaliersdelikt“, wie er die auch in Pakistan weit verbreitete Marken- und Produktpiraterie gerne bezeichnete, kein schlechtes Gewissen wert; obwohl ihm bekannt war, dass der hierdurch entstehende wirtschaftliche Schaden weltweit jährlich auf rund 300 Milliarden Euro geschätzt wird.

Yousef Najjar wirkte derart vertrauenserweckend, dass Bulfati ihm sofort glaubte, dass der Lieferant die Inhalte wie besprochen geladen, aber das Packzertifikat nicht ausgefüllt habe. So ergänzte Najjar das Packzertifikat in Bezug auf die Waren und Bulfati bürgte dafür mit seinem guten Namen.

Mit diesem Zertifikat, das gemäß des International Maritime Dangerous Goods Codes der International Maritime Organisation vorgeschrieben ist, wird die IMO-Erklärung, also das Beförderungspapier für gefährliche Güter, vervollständigt.

Die in bar gezahlte Frachtrate war mit rund sechstausend Dollar pro Kühlcontainer generös bemessenen. Dadurch konnte Bulfati sich bereits mehr als nur die üblichen fünf Prozent pro Container einstecken. Damit nicht genug lobte Najjar einen weiteren Bonus von fünftausend Dollar aus, damit Bulfati die zwanzig Container gleichmässig auf vier Schiffe von verschiedenen Reedereien unterbrachte und diese als Freight PrePaid vorab bezahlte.

Bulfati erhielt eine Liste, in der namentlich die Schiffe ‚Charles Maersk‘, ‚Cosco Pride‘, ‚Wilhelmshaven Express‘, sowie ‚ONE Balance‘ genannt wurden. Ebenso stand dort deren ‚Estimated Time of Departure‘. Danach würden zwei Schiffe aus dem Hutchison Ports Pakistan Terminal sowie weitere zwei aus dem Pakistan International Container Terminal des Hafens Karatschi am 16. und am 17. August ablegen.

Für die pakistanische Zoll-Ausfuhrerklärung würde der überaus dankbare und dienstbeflissene Zollbeamte einhundertfünfzig Dollar pro Container erhalten. Diese Vergütung entsprach etwa der Summe seines offiziellen Jahressalärs als Zöllner. Der Sinn dieser bar vergüteten Summe war, dass der Zoll seine Aufgabe verrichten konnte, ohne Gefahr zu laufen, die Abfahrt eines Containers zu verhindern, dessen Ladung sowie ungehinderte Abfahrt die Existenz diverser Familien in Pakistan sicherte. So wurde ihm zumindest glaubhaft auf Sindhi versichert. Auf diese Weise partizipierten in den Augen des Zöllners alle Beteiligten davon und der chronisch unterbesetzte Zoll konnte sich auf andere, möglicherweise gefährliche Ladungen konzentrieren. Denn im Hafen von Karatschi wurden jährlich gut zwei Millionen Standardcontainer umgeschlagen, so dass wie überall auf der Welt Kontrollen nur stichprobenartig möglich waren.

IV. Noch 21 Tage

Samstag, der 21. August 2021

09.07 Uhr MESZ

„Moin, alles klar bei dir?“, rief der Mann von oben.

Der Junge, der auf den Treppenstufen saß, antwortete nicht, doch das interessierte den mit Elan die Treppe hinuntereilenden Mann nicht.

„Es ist kurz nach Acht. Musst du nicht in die Schule? Ach, es ist ja Samstag. Vergiss es. Schönes Wochenende!“

Er kam gerade aus seiner Wohnung im vierten Obergeschoß, hatte den Treppenabstiegsrhythmus gefunden, den er sich in den Jahren in diesem Altbau ohne Fahrstuhl angewöhnt hatte, und jonglierte, während er sprach, an dem Jungen vorbei, ohne die Hand vom Geländer zu nehmen. Er schaute dem Jungen aus den Augenwinkeln ins Gesicht und überlegte einen Moment, ob es nicht der für beide einfachere Weg wäre, es dabei zu belassen. Er war eh schon zu spät dran.

In diesem Moment schniefte der Junge so geräuschvoll und mit derart dramatischer Tragik, dass der Mann seinen morgendlichen Abwärtsschwung verlor. Denn er wusste, dass er ihn nun nicht ignorieren konnte. Wenn er sich umgedreht hätte, wäre ihm das kurze hoffnungsvolle Aufflackern in den Augen des Jungen sicher nicht entgangen, als dieser erkannte, dass sein Schluchzen den gewünschten Effekt zeigte.

Der Mann setzte sich zu dem Jungen auf die Stufen und fragte:

„Was ist los?“, es klang vielleicht genervter, als er wollte. Dafür fand er den Jungen zu sympathisch. Der war eigentlich ein Jugendlicher. Er schätzte ihn auf fünfzehn und konnte ein Interesse an diesem nach Aufmerksamkeit heischenden Häufchen Elend nicht leugnen.

„Warum interessiert Sie das?“, fragte der Junge, in der Reaktion ein wenig zu trotzig.

„Weiß ich auch nicht“, gab der Mann offen zu. Kurze Stille trat ein, die er brauchte, um sich auf den Jungen einzulassen. Er hatte keinen Bezug zu Kindern. Warum interessierte ihn gerade dieser Junge? Er fing an zu reden und hoffte, dass ihm vielleicht beim Sprechen etwas Sinnvolles einfiel:

„Warum bist du so aggressiv? Natürlich interessiere ich mich für dich. Immerhin wohnen wir hier unter einem Dach und kennen uns nun schon ein paar Monate.“

Das war, fand er, ein guter Anfang. Doch der Junge sah das anders:

„Das ist aber dünn!“

Dann sah er den Mann nachdenklich an und fragte: „Oder hat meine Mutter Sie geschickt? Sollen Sie mir nachspionieren? Es heißt, Sie seien bei der Polizei?“

Der Mann schaute den Jungen erstaunt an und erklärte dann ernst, fast dramatisch: „Also gut. Ich bin ertappt. Deine Mutter hat die Polizei angerufen, um dich zu überwachen, und ich bin abgestellt worden, dich undercover zu beschatten. Und nun bin ich aufgeflogen! Meinst du, du kannst das für dich behalten? Sonst schmeißen die mich raus, weil ich mich nicht clever genug angestellt habe.“

„Na gut, Sie sind lustiger als Sie aussehen!“, stellte der Junge fest, ohne auch nur eine Miene zu verziehen. „Oder auch ein guter Lügner!“, meinte er nachdenklich und mehr zu sich selbst.

Der Mann tat erstaunt: „Ich bin Polizist! Dürfen Polizisten lügen?“, fragte er mit großen Augen und unschuldig ausgebreiteten Armen.

„Sind Sie wirklich Polizist?“, fragte der Junge misstrauisch.

Der Polizist holte seine Dienstmarke der Hamburger Kriminalpolizei aus der Tasche. Eine ovale, bronzefarbene Metallplatte, auf der auf der einen Seite „Kriminalpolizei“ stand und auf der anderen Seite das Wappen der Stadt Hamburg sowie eine Zahlenfolge abgebildet war.

„Woher weiß ich, dass das Ihre Marke ist und das Ding nicht aus einem Kaugummiautomaten kommt?“, fragte der Junge immer noch misstrauisch. Mit gespieltem Stöhnen holte der Polizist seinen Dienstausweis aus seinem Portemonnaie.

„Willst du noch bei meiner Dienststelle anrufen? LKA 41: Fachkommissariat Tötungsdelikte.“

Der Junge war sichtlich beeindruckt, versuchte das aber zu überspielen und fragte fast zu beiläufig: „Oberkommissar Joachim Hersig?“

„Für Freunde nur Jo. Du kannst mich auch gerne duzen“, antwortete Jo mit einem Grinsen.

„Toll, ich heiße Emrah!“ Er guckte den Polizisten trotzig an: „Ich heiße für alle so.“

Jo lächelte: „Aber du hast doch Freunde?“

„Klar! Was soll die Frage?“

Die aggressive Antwort des Jungen kam wie aus der Pistole geschossen, so dass sich Jo Zeit mit seiner Antwort ließ:

„Na, ich sehe dich hier oft alleine rumhängen. Und du siehst nicht immer fröhlich aus. Daher habe ich mich schon gefragt, warum du nicht häufiger mit Kumpeln unterwegs bist?“

„Ist halt so“, Emrah guckte weg. „Du scheinst mich ja doch zu überwachen!“, stellte er dann fest.

Jo lachte: „Zumindest machst du mich neugierig. Ein gutaussehender, sportlicher Junge, der an einem Samstagvormittag alleine auf der Treppe sitzt, weckt den Kriminalisten in mir. Vor allem, weil ich dich hier nicht das erste Mal sehe. Also, was ist los?“

„Was soll los sein? Und wenn, wieso soll ich das irgendeinem Fremden erzählen?“

Jo tat beleidigt: „Wieso fremd? Du bist der Emrah, ich der Jo. Wir duzen uns und wohnen im gleichen Haus. Was willst du noch wissen, damit du mir vertraust?“

Nun grinste Emrah zum ersten Mal! Es schien fast so, als hätte er seinen Gesprächspartner dahin getrotzt, wo er ihn haben wollte: „Erzähl mir von einem aktuellen Fall!“

Jo schaute ihn erstaunt an. Diese Antwort hatte er nicht erwartet. „Das darf ich nicht, es gibt ja ein Dienstgeheimnis, wie du vielleicht weißt.“

„Tja, ich darf dir auch nichts erzählen. Privatsphäre! Wie du vielleicht weißt!“, antwortete Emrah wieder bockig.

Jo lachte kurz auf: „Also gut, Klugscheißer, ich werde dir meinen aktuellen Fall – natürlich anonym – erzählen. Dann bist du dran, mir zu erzählen, warum du hier alleine sitzt. Und wir versprechen uns, dass wir niemandem, wirklich niemandem, davon erzählen, ok?!“

Emrah bemerkte trocken: „Deal!“, und hielt ihm seine Faust entgegen. Auch Jo entgegnete: „Deal!“, und boxte mit seiner Faust gegen die des Jungen.

„Ich bin gerade angerufen worden, weil eine Leiche gefunden wurde.“

„Eine Tote?“, rief Emrah aufgeregt dazwischen. Jo stellte so wenig süffisant wie möglich klar: „Ja, eine Leiche ist nach meiner Erfahrung immer tot.“

Noch während er sprach, ärgerte er sich über diese Äußerung, als er merkte, dass Emrah sein Zwischenruf peinlich war.

„Viel weiß ich noch nicht, da ich ja noch nicht am Tatort war. Aber es ist wohl eine Frau und sie wurde heute Nacht getötet.“

Er stockte kurz und überlegte, ob er mehr erzählen sollte. Er entschied sich dafür, denn er hatte das sichere Gefühl, den Jungen damit nicht zu überfordern: „Sie lag nackt im Bett, vermutlich ein Sexualdelikt.“

Schon während er den Satz aussprach, fragte er sich, warum er das dem Jungen erzählte? War er so neugierig auf dessen Geschichte, dass er mit einer Story vorlegen wollte, die er gar nicht erzählen durfte? Er riskierte seinen Job für diesen Jungen. Das ist verrückt, dachte er. Wusste der Junge überhaupt, was ein Sexualdelikt war? Die Antwort kam postwendend:

„Heißt das, Sie wurde beim Sex getötet?“, fragte Emrah.

„Ja!“ bestätigte Jo. Wieder ließ er sich Zeit für seine Antwort: „Zumindest gab es vermutlich im Zusammenhang mit dem Mord auch sexuelle Handlungen. Genaueres weiß ich noch nicht.“

„Also ist der Mörder ein Mann?“

„Woher willst du das wissen?“, fragte Jo erstaunt.

Nun tat Emrah so, als würde er über nichts anderes reden als über ungeklärte Mordfälle: „Na ja, sie wird wohl Sex mit einem Mann gehabt haben?“

„Sie könnte auch Sex mit einer Frau gehabt haben!“, versuchte Jo Zweifel bei dem Jungen zu wecken.

Emrah blickte Jo mit offenem Erstaunen an und dieser hatte erstmals den Eindruck, dass der Junge authentisch war. Um diese Nähe nicht zu zerstören, antwortete Jo schnell: „Ok, du hast nicht Unrecht. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Mörder ein Mann ist, ist ziemlich groß. Man weiß, dass rund 93 Prozent der Sexualdelikte gegen Frauen verübt werden. Da viele Taten nicht aufgeklärt werden, weiß man zwar nicht, ob auch genau 93 Prozent von Männern begangen werden, aber auch wenn man davon ausgeht, dass dem so ist, bleiben sieben Prozent! Also wachsam bleiben und niemals eine Möglichkeit zu schnell ad acta legen.“

„Ad was?“

„Zu den Akten legen, heißt so viel, wie nicht mehr beachten!“, erklärte Jo.

„Das macht Sinn!“, dachte Emrah laut. „Und warum kannst du dann mit mir hier sitzen? Hast du es nicht eilig?“

„Nein, es kommt nicht auf eine halbe Stunde an. Helfen kann ich leider nicht mehr, und die Kollegen sind ja bereits vor Ort. Also ganz ausnahmsweise ist Zeit kein Geld. Aber jetzt bist du dran!“, forderte der Polizist den Jungen auf, aber Emrah war fragte plötzlich misstrauisch: „Bist du Jude?“

Jo war überrascht: „Und wenn ich es wäre?“

„Dann würde ich nicht mit dir sprechen!“

„Warum nicht?“, wollte Jo erstaunt wissen.

„Weil ein Fluch auf den Juden lastet. Ihr habt Gott getäuscht und den Propheten umgebracht. Ihr steuert die USA und seid manipulativ. Die großen Supermarktketten gehören euch, aber ihr zahlt keine Steuern, weil ihr geldgierig seid. Ihr seid Feinde des Islam, und es wird die Armageddon-Schlacht geben, in der alle Juden ermordet werden.“

Jo schaute den Jugendlichen ungläubig an und meinte dann mit echtem Entsetzen: „Meine Güte, mach mal eine Pause. Wieso ‚Ihr‘?! Ich habe nicht gesagt, dass ich Jude bin.“

„Dann bist du kein Jude?“, fragte Emrah nun ein wenig verunsichert.

„Nein“, lächelte Jo nachsichtig, aber er war entsetzt über den Hass, der in dem Jungen aufgeflackert war und über die stereotypen antisemitischen Tiraden, die er heruntergerasselt hatte, als hätte er sie auswendig gelernt. Der Junge hatte sich aber bereits wieder im Griff, als ihm klar wurde, dass er zu schnell und zu heftig seine Aggressionen offenbart hatte:

„Bitte entschuldige. Es tut mir leid“, räumte er ein - jetzt wieder ganz höflich. Jo entschied sich, nicht zu fragen, was Emrah mit „Es“ meinte. Seinen Hass auf Juden oder seinen Verdacht, dass Jo Jude sei? Lieber wollte er das Thema zu diesem Zeitpunkt ruhen lassen, da er befürchtete, dass der Junge sich zurückziehen könnte, wenn er weiter bohren würde. Er beschloss, ihn lieber an ihre Vereinbarung zu erinnern:

„Du wolltest mir von dir erzählen.“

„Ja, richtig“, nahm der Junge dankbar die Gelegenheit wahr, die für ihn unangenehme Situation zu überspielen. „Was willst du wissen?“

Jo freute sich, denn er war ehrlich interessiert, zu erfahren, welche Geschichte sich hinter diesem scheinbar einsamen, jungen Menschen verbarg. So fing er vorsichtig an:

„Wie alt bist du?“

„Ich bin, ich meine, ich werde in drei Wochen sechzehn.“

Jo fühlte Genugtuung, dass seine Altersschätzung gepasst hatte.

„Du wohnst hier mit deiner Mutter, richtig?“

„Ja, hier im zweiten Stock“, Emrah zeigte die halbe Treppe hinauf.

„Und dein Vater? Und Geschwister?“, wollte Jo wissen.

„Mein Vater ist zurück nach Jordanien gegangen. Geschwister habe ich nicht.“

„Warum seid ihr nicht mitgegangen, du und deine Mutter?“

Emrah schaute nachdenklich zwischen seinen Beinen auf die Stufe: „Meine Mutter ist schon in Deutschland aufgewachsen. Sie kommt aus der Türkei und spricht kein Arabisch. Aber sie hatte wohl das Gefühl, dass meine Chancen hier besser seien. Ich bin da nicht so sicher.“

„Warum bist du da nicht so sicher?“, fragte Jo nach.

Der Junge schaute ihm nun gerade und durchaus selbstbewusst in die Augen, als er antwortete: „Weil ich glaube, dass es Außenseiter grundsätzlich schwerer haben. Und das werde ich hier immer bleiben, egal was passiert.“

„Warum sitzt du hier auf der Treppe und triffst dich nicht mit deinen Kumpeln?“

„Ich muss gleich zur Koranschule. Da lohnt eine Verabredung nicht. Meine besten Freunde treffe ich sowieso dort.“

„Auch Freundinnen?“, grinste Jo.

Der Junge schaute ihn entsetzt an und entgegnete: „Nein, natürlich nicht. Frauen sind haram.“

„Und das ist vermutlich nichts Gutes?“, fragte Jo erstaunt und vorsichtig geworden nach.

„Das heißt, sie sind unrein. Ich will und muss lernen, mein Fleisch zu bezähmen!“, antwortete der Junge im Brustton der Überzeugung. Wieder wirkte dieser Satz für Jo auswendig gelernt. Er schaute sich den Jungen genauer an und stellte fest, dass Emrah ein ausgesprochen hübscher Kerl war. Seine dunklen Haare glänzten durch das Wachs, das sie bändigen sollte, aber augenscheinlich nicht verhindern konnte, dass ihm einige Strähnen in die Stirn fielen. Seine Augen waren wachsam und wirkten neugierig. Seine Kleidung war typisch für diese Generation. Er trug einen dunklen Kapuzenpullover, oder Hoodie, wie man ihn heute bezeichnete, dazu eine Stoffhose, die auffällig unter der Hüfte saß und an den Füßen hatte er kräftigrote Turnschuhe. Keine Marken. Bis auf die Schuhe wirkte er wie das Klischee des südländischen Jugendlichen. Auch wenn Jo die Frage auf der Zunge brannte, warum Frauen haram, also unrein, seien, stellte er auch diese Frage zurück und nahm sich vor, dieses Wort und den Zusammenhang zu googlen. Stattdessen erkundigte er sich: „Was machst du in der Koranschule?“

„Wir sind bei unserem Imam, der uns vom Propheten erzählt, wir beten gemeinsam und singen Naschids.“

„Was singt ihr? Naschis sind doch Süßigkeiten.“

Emrah versuchte abzuschätzen, ob der Polizist ihn ernst nahm, und antwortete fast mechanisch: „Naschids sind religiöse Lieder, die den Propheten preisen und unsere Gemeinschaft ehren.“

„Ach je“, stöhnte Jo unbewusst und erntete einen aggressiven Blick des Jungen. Jo spürte die Wut des Jungen, ohne ihn anzuschauen, lächelte beschämt und schob schnell nach: „Ach, ich meine, ich muss jetzt wirklich los. Aber wir tauschen uns nochmal aus, oder?“

Emrah nickte und erst dann stand Jo auf, klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter, drehte sich noch einmal um, als hätte er gerade eine Eingebung, nickte dem Jungen zu und sagte: „Salām Alaikum!“

Emrah erwiderte: „Alaikum Assalām“, und zeigte, dass ihm dieser Wunsch nach Frieden für seinen neuen Freund am Herzen lag, indem er seine Hand mit betonter Geste an seine Brust führte.

V. Noch 31 Tage

Mittwoch, der 11. August 2021

10.15 Uhr MESZ +3h

Gemäß den Zollvorschriften müssen Container vierundzwanzig Stunden vor Verschiffung in der Europäischen Union angemeldet werden. So meldete Faizan Bulfati die zwanzig Container mit chemischen Erzeugnissen mit dem Ziel Hamburg und beauftragt von der deutschen Firma ‚Ferton Pharma‘ an der ersten in der Europäischen Union gelegenen Zollstelle, in diesem Fall Malta, online an.

Dieses digitale Verfahren wurde im Rahmen der Sicherheitsrisikoanalyse nach dem 11. September 2001 in der Europäischen Union eingeführt. Der Zoll konnte so die EORI-Nummer dem traditionsreichen, deutschen Unternehmen zuordnen, das seit Jahrzehnten chemische Erzeugnisse aus Pakistan importierte und auch diesen Transport beauftragt hatte.

Diese Container sollten laut ihrer Frachtpapiere zunächst nicht verzollt werden. Sie würden vielmehr ‚am Schuppen gelöscht‘ und somit im Hamburger Hafen nur im Rahmen der ‚vorübergehenden Verwahrung‘ gelagert werden. Die IT-gestützte Risikoanalyse hatte bereits zu diesem Zeitpunkt und vor Verschiffung ergeben, daß keine Stichproben durch den deutschen Zoll in Hamburg notwendig sein würden.

Die Container konnten rechtzeitig verladen werden und befanden sich innerhalb einer Fracht von insgesamt rund 24.000 Standardcontainern – auch Twenty-Foot-Equivalent-Unit genannt, oder kurz ‚TEU‘ - auf den gewünschten vier Schiffen.

Die vier Reedereien stellten dem Ablader, Faizan Bulfati, jeweils ein Orderkonnossement pro Container aus, als sie die zwanzig Container an Bord nahmen. Dadurch, dass nicht ein Konnossement für je fünf Container pro Schiff ausgestellt wurde, sondern jeder Container ein eigenes erhielt, wurden die Container einzeln verladen. Da zudem alle Container laut ihrer Wiegenote von der Spedition ‚Bulfati‘ mit einem verifizierten Bruttogewicht von jeweils fast dreißig Tonnen gekennzeichnet waren, wurden sie so auf dem Schiff verteilt, dass sie mittig und mit Abstand voneinander verladen wurden. Damit würden sie beim Löschen auch auf den Terminals in Hamburg entsprechend verteilt stehen. Genau das war gewollt.

Da zu den Pflichtangaben der Frachtpapiere auch die Containernummer gehört, konnte von nun an Yousef Najjar - wie im Übrigen jeder Unbeteiligte, der im Besitz der Containernummer war - zu beliebiger Zeit prüfen, wo sich jeder einzelne dieser zwanzig Container gerade befand.

Als Notify-Adresse wurde für die zwanzig Kühlcontainer die Hamburger Spedition ‚Kurt Malter GmbH‘ angegeben, die von dieser Angabe in den Papieren zu diesem Zeitpunkt noch nichts ahnte.

Die Verladung von Containern auf verschiedene Containerschiffe, obwohl sie für ein und denselben Auftraggeber und Bestimmungshafen sind, ist durchaus üblich und hängt an den Kapazitäten, den Abfahrtszeiten und den Frachtkosten. In sechzehn der Container waren tatsächlich chemische Erzeugnisse, allerdings nicht die 460 Tonnen des in den Sicherheitsdatenblättern kommunizierten flüssigen EDC. Vielmehr enthielten diese Container - vor direkten Blicken geschützt durch eine Schicht flüssiges EDC - jeweils neunundzwanzig Tonnen C4-Plastiksprengstoff. In den verbleibenden vier Containern war – auch unter flüssigem EDC – Methylfluorophosphonsäure-1,2,2-trimethylpropylester. Geläufiger ist diese Säure unter dem Namen Soman - ein als chemischer Kampfstoff eingesetztes Nervengift.

VI. Noch 21 Tage

Samstag, der 21. August 2021

09.56 Uhr MESZ

Sie schaute Jo an - unentwegt -, oder gar in ihn hinein? Ihr Blick, und das schien er körperlich zu spüren, ging durch seine Fassade hindurch, als könne sie in ihm wie in einem offenen Buch lesen. Er jedoch scheiterte bereits an der Undurchdringlichkeit ihrer Augen. Sie gaben kein Geheimnis preis. Er stutzte, es schien ihm, als umspiele ein Lächeln ihre Lippen. Nein, das bildete er sich natürlich ein. Und doch glaubte er, in ihren Augen eine Sehnsucht zu erkennen, eine Sehnsucht nach dem Leben! Sah er in ihren Augen den Wunsch, ihm zu erzählen, was geschehen war, ihm zu verraten, warum sie auf diesem Bett tot mit gefesselten Händen und Füßen vor ihm lag?

Er ahnte, dass er den eingefrorenen Blick dieser endlos traurigen, sehnsuchtsvollen Augen nicht so schnell vergessen würde. Das lag auch an den unappetitlichen punktförmigen Einblutungen in der Bindehaut, die darauf hindeuteten, dass sie erwürgt worden war.

„Sag mir, Maria Stern, wer hat dir das angetan?“, hörte er sich zu ihr sprechen und war sich nicht sicher, ob er diese Frage tatsächlich ausgesprochen oder nur gedacht hatte.

Als Antwort hörte er eine Stimme hinter sich, aber der Inhalt drang nicht zu ihm durch. Wieder hörte er die Stimme. Er meinte, einen spöttisch, freundlichen Tonfall zu erkennen. Aber wieder nahm er den Inhalt nicht wahr oder wollte ihn nicht wahrnehmen, um den Moment zu halten, noch nicht loszulassen, auch um vielleicht eine Erkenntnis oder gar eine Spur zum Mörder mitzunehmen. Doch hörte er sich schon mit einem tonlos abwesenden „Ja“ antworten, da sein Unterbewusstsein der ihm bekannten Stimme vertraute.

Doch der Moment verstrich ohne Erkenntnisse. Erst jetzt bemerkte er, dass er vornübergebeugt die Leiche anstarrte, vorsichtig darauf bedacht, sie nicht zu berühren. Es schien, als betrachte er in bewundernder Andacht ein großartiges, jedoch für den Laien unverständliches Kunstwerk. Vermutlich hatte er in dieser Haltung mit der Leiche vernehmbar gesprochen. Beschämt löste er sich aus seiner Pose, als hinter ihm wieder diese Stimme dröhnte, wie eine Lautsprecherdurchsage:

„Er ist verliebt! Er hat es bestätigt. Wie wunderbar. Das junge Glück.“

Die fröhlich ungezwungene Stimme – ähnlich unpassend wie seine eigene selbstvergessene Betrachtungsweise - holte ihn vollends aus seinen merkwürdigen Gedanken. Die Stimme dieses Mannes, mit dem er seit vier Jahren zusammenarbeitete, empfand er schon unter normalen Verhältnissen als zu polternd. Jetzt, während er und die Kollegen aus Respekt vor der Toten so leise arbeiteten, als bewegten sie sich in einer Kapelle, wirkte diese laute Stimme so unpassend, dass Jo sich für diesen tölpelhaften Menschen schämte. Der erkannte das Unbehagen seines Partners und Freundes zwar sofort, behielt aber seine Lautstärke bei. Jo hatte das Gefühl, angebrüllt zu werden: „Jo, du nekrophiler Perverser!“ Jo war fassungslos! Obwohl er diesen ebenso lauten wie unangemessen fröhlichen Menschen fast so gut kannte wie seinen Bruder, überraschte ihn immer wieder dessen ungehobelte und beeindruckend schamlose Art, sich durch sein Leben zu bewegen oder besser zu lärmen. Er lächelte gequält:

„Marten! Wie wunderbar dich zu sehen.“

Die beiden Männer begrüßten sich wie Sportler, die sich auf dem Platz Glück wünschten. Ihre Hände schlugen sie wie beim Armdrücken hohl ineinander, damit ein möglichst lautes Klatschgeräusch entstand, gefolgt von einer Umarmung.

Der in dieser Situation absurde Gruß sorgte für Kopfschütteln bei den drei weiteren Beamten der Mordbereitschaft, zumal die weißen Ganzkörperanzüge, die alle Beamten in der Wohnung trugen, bei jeder Bewegung raschelten. Die ebenfalls anwesenden beiden Spusis, so nannten sie die Kollegen der Spurensicherung, schienen Marten zu kennen, denn sie reagierten gar nicht, sondern machten unbeeindruckt ihre Arbeit.

Jeden neuen Fall begannen Jo und Marten mit diesem Sportlergruß. Für sie war das wie ein Initiationsritus und sie entwickelten als Team eine beeindruckend synergetische Beziehung. Beiden war bewusst, dass sie sich perfekt ergänzten: Marten war der reaktionsschnelle Draufgänger und Jo eher der vorsichtige Analytiker. Die Kenntnis ihrer Stärken und das alberne zur Schau stellen dieses Bewusstseins half ihnen, sich auf eine neue Aufgabe einzulassen. Das Unverständnis der Kollegen war ihnen bei diesem Ritual ebenso herzlich gleichgültig, wie die Tatsache, dass ihnen ihr „unprofessionelles Verhalten“ von einem Mordbereitschaftsleiter schon ein kräftiges „Ohrenrubbeln“ beschert hatte.

Marten schaute Jo an: „Du siehst müde aus.“

Dieser verzog seinen Mund zu einem gequälten Lächeln: „Leichen anschauen macht mich müde. Ich empfinde hier nicht gerade Lebensfreude. Außerdem ist mir zu warm in diesem Anzug. Trotzdem schön, dich zu sehen, Marten. Bist du gerade erst gekommen?“

„Nein, ich habe schon gesammelt.“

Jo schaute nachdenklich auf die Leiche und fragte eher uninteressiert: „Was haben wir denn bisher?“

„Leider nicht viel!“, sagte Marten und schaute auf seine Uhr. „Sie ist nach erster Einschätzung seit sechs bis acht Stunden tot. Vermutlich wurde sie erdrosselt. Noch nix zu Täter oder Motiv. Sie lebte alleine und wurde von einer Freundin gefunden, mit der sie heute Vormittag zum Joggen verabredet war. Sie ist… äh… war 41 Jahre alt und heißt… äh… hieß… .“

„Maria Stern! Ich weiß. Und diese Freundin ist sauber?“

„Prüfen wir noch. Sie liegt mit einem Schock im Krankenhaus. Ich habe sie daher bislang noch gar nicht persönlich sprechen können. Die Jungs von der Schutzpolizei meinten, so wie sie aussah und reagiert hat, wäre sie eine grandiose Schauspielerin, wenn sie nicht sauber wäre. In jedem Fall sei sie viel zu schade fürs Gefängnis. Sie heißt… .“

Marten blätterte in den Notizen seines alten Blocks. Im Gegensatz zu Jo, der mit seinem Smartphone Fotos von der Leiche machte, während sie sprachen, war Marten nicht in der digitalen Welt unterwegs. Er liebte den Retro-Charme, wie er es ausdrückte. Aber er wusste natürlich, dass die Spusis von Tatort und Leiche eine sogenannte Lichtbildmappe erstellen würden. Auch diesen aus einer anderen Zeit stammenden Begriff liebte er. Dass selbstgeschossene Fotos der Leiche, zumal auf dem eigenen Handy, nicht erlaubt waren, war ihm genauso egal wie Jo.

Er fand den Namen auf der ersten Seite seiner sogar für ihn kaum lesbaren Schrift: „…Melanie Kunzen, ist 43 Jahre alt und wohnt mit ihrer Familie in den Walddörfern.“

„Wie hat sie die Leiche gefunden? Ich meine, wie ist sie ins Haus und in die Wohnung gekommen?“

„Sie hat wohl schon seit Jahren einen eigenen Schlüssel, da sie manchmal hier schläft. Als Maria auf ihr Klingeln nicht reagierte, hat sie die Türe aufgeschlossen, da sie dachte, Maria habe verpennt. Beides – sowohl Verschlafen als auch mit eigenem Schlüssel öffnen - sei nicht zum ersten Mal vorgekommen.“

„Und noch weitere Zeugen?“

„Soweit wir Nachbarn angetroffen haben, nix Verwendbares. Weder heute Morgen, noch gestern Abend, noch in den letzten Wochen ist ihnen etwas aufgefallen. Die meisten kannten sie nicht wirklich. Die übliche großstädtische Anonymität. Nach Aussage von dieser Melanie Kunzen war sie wohl seit Monaten Single und auch nicht auf der Suche.“

„War sie gestern unterwegs?“

„Wissen wir noch nicht. Ich kläre das mit den Kollegen von der 65.“

„65? Wieso Rotlicht und Rocker?“, fragte Jo.

„Vielleicht wissen die ja von einer SM-Veranstaltung von gestern. Irgendwo muss sie schließlich den Fesselkünstler kennengelernt haben. Eine Indianerparty war es vermutlich nicht…“, und er schaute Jo bewusst nicht an, um dessen zu erwartende Grimasse nicht sehen zu müssen. Vielmehr redete er im gleichen Tonfall weiter: „Du kannst ja parallel unseren Freund von den Sexualdelikten anrufen?“

„MC?“

„Ja, genau, Marc Clarendorf, richtig? Die 42er müssten wir sowieso hinzuziehen, so wie der Fall liegt.“ Jo nickte und grummelte irgendwas davon, dass die Jungs von der 42 vermutlich noch gar nicht wach seien und man sicher auch fesseln könne, wenn man noch nie auf einer SM-Party gewesen sei.

Marten streifte durchs Zimmer, nahm ein Foto aus einem Fotorahmen an sich, das in der zur Verfügung stehenden Auswahl das aktuellste Foto von Maria Stern war. Dann blieb er vor dem von der Spurensicherung mit einer Nummer markierten Fleck auf dem Teppich stehen. Jo setzte seine Fotodokumentation nun ohne Fokus auf die Leiche fort. Diese Fotos für seine ausschließlich persönliche Erinnerung waren ihm für die gedankliche Rekonstruktion des Tatorts wichtig, auch wenn sie im Sinne des Datenschutzes bedenklich waren. Erst als er die Kamera anhob und eine 360 Grad Aufnahme machte, schaute er sich erstmals intensiv in dem fast sechzig Quadratmeter großen Raum um. Das Szenario wirkte irreal. Die Leiche lag in einem atemberaubenden Himmelbett, dessen Baldachin aus fein gearbeiteten, schmiedeeisernen Blüten bestand. Diese wuchsen scheinbar aus den vier abgerundeten Pfosten wie aus Blütenstengeln empor. Das geschmiedete Pflanzenrankwerk bildete am Kopfteil ein Ornament aus einem Flechtwerk von verschlungenen Volutenranken, an das die Hände der Leiche mit kräftigen, lilafarbenen Baumwollseilen gefesselt waren, die Beine gespreizt und jeder Fuß mit einem Seil an einen der vorderen Pfosten gebunden.

Trotz des morbiden Szenarios hatte das Bett eine beruhigende Wirkung, vervollständigt durch zwei große Standkronleuchter mit heruntergebrannten Kerzen, die an den Bettseiten standen. Offensichtlich hatte der Mörder die Kerzen brennen lassen. Alles wirkte inszeniert. Der Mörder musste Zeit darauf verwendet haben, sein Opfer und ihr Leichenzimmer so herzurichten. Jo fand das Ergebnis durchaus gelungen. Anders als bei anderen Leichenfunden bestand hier weder ein Grund, sich zu ekeln, noch ein Anlass für Mitleid, Trauer oder gar Feindseligkeit gegenüber dem Mörder. Eher im Gegenteil: Das Bild hinterließ einen stimmigen und friedvollen Eindruck. Ja, er konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass diese Szenerie genauso wirken sollte und der Mörder sie manipulierte.

„Es wirkt stimmig, oder?“, sagte Marten. Jo stutzte: Konnte Marten Gedanken lesen? „Wieso, was meinst du?“

Marten zeigt auf das Bett und die Kerzen: „Das ist eine Inszenierung, fast perfekt, bis auf diesen Blutfleck.“

Er hockte sich auf den Teppich vor dem Bett und sah sich den auffällig großen Fleck auf dem Teppich an.

„Warum ist der hier? Sie hat keinerlei blutende Verletzung. Es muss Blut des Täters sein.“ Jo überlegte: „Vielleicht hat sich der Täter verletzt? Oder sie haben vorher auf dem Boden gelegen? Oder es ist eine satanische Inszenierung mit einer Selbstverletzung des Täters? Keine Ahnung!“

„Siehst du!“, Marten fuchtelte mit dem Zeigefinger vor seiner Nase: „Und ich, ich habe auch keine Ahnung. Daher sollten wir versuchen, diesen Blutfleck zu verstehen.“

Sie schauten sich in den anderen Räumen der luxuriösen Wohnung um. Ein Mann von der Kriminaltechnik saß bereits am Notebook des Opfers und versuchte, sich Zugang zu verschaffen.

„Haben wir ihr Handy?“, fragte Jo, ohne sich wirklich für die Antwort zu interessieren, da er davon ausging, dass ihm von einem solch relevanten Detail wie einem sichergestellten Mobiltelefon berichtet worden wäre. Seine Vermutung wurde durch Marten bestätigt: „Nee, leider nein. Hat sicher der Mörder eingesackt!“ Jo grinste, als er bemerkte, dass Marten in dem viel zu warmen Einweg-Overall wie immer heftig schwitzte: „Lass uns gleich noch das Foto machen.“

Auch Jo war heiß, Marten aber hasste diese Mülltüten, wie er sie nannte, die die Mordbereitschaft für alle Akteure in den Einbauschränken ihres VW-Busses gelagert hatte. Zwar sollte jeder einen dieser Overalls in seinem Dienstfahrzeug haben, den die Rufbereitschaft beanspruchen durfte. Aber Marten lehnte dieses Angebot grundsätzlich ab und war wie immer mit seinem Privatfahrzeug gekommen. Er nahm immer einen der ausliegenden Overalls und behauptete, nur Anfänger hätten vorschriftsmäßig ihren eigenen dabei.

Martens Telefon klingelte, er schaute auf das Display und verzog das Gesicht. Während er mit seinem Finger über das Display wischte, flüsterte er: „Mama ist dran“, und dann ins Telefon: „Moin, Herr Hundt, Sie sind aber schnell heute.“ Er lauschte und nickte ab und zu: „Ok, ich verstehe. Wir haben aber noch einen weiteren unaufgeklärten Mord, die Sache Martensen, da hatten wir gehofft…“ Er wurde unterbrochen und nickte wieder.

„Sie kriegen eine erste Akte, sagen wir, morgen Abend, aber momentan haben wir noch gar nix und ich will nicht alles stehen und liegen lassen, um ihnen eine aussagefreie Akte rüberzuschieben.“ Wieder hörte er zu. Jo grinste. Marten brauchte beim Telefonieren Bewegung. Er ging zwischen Flur und Küche hin und her, versuchte dabei erfolglos das Telefon in den Spalt zwischen Kopfschutz des Einweganzugs und seinem Ohr zu bugsieren. Marten schwitzte dabei noch stärker, weil er sich wegen des Kopfschutzes nicht richtig auf das Telefonat konzentrieren konnte. Jo amüsierte sich über den Kopfschutz seines Partners, der fest zusammengezogen fast über dessen Augen reichte, zumal er wusste, dass Marten das absichtlich machte. Seit Jahren lief zwischen ihnen ein Wettbewerb, wer in dem Anzug blöder aussehen konnte. Bei jedem Mord machten sie neben den relevanten Fotos ein ‚Selfie‘ von sich in den Einweganzügen. Marten hatte Jo dafür sogar einen ‚Selfie-Stick‘ geschenkt.

Marten schien seinen Gesprächspartner zwischenzeitlich davon überzeugt zu haben, dass er die den Fall betreffenden Informationen zügig erhalten würde, und teilte ihm noch einige erste Erkenntnisse am Telefon mit: „Das Opfer hat sich offensichtlich freiwillig fesseln lassen. Es gibt hier keine Spuren von Gewalt außer den Spuren von Befreiungsversuchen, vermutlich in dem Moment entstanden, als sie erstickte. Ob es tatsächlich Mord war oder aus gefährlichem Spiel ernst wurde, können wir noch nicht definitiv sagen. Dazu benötigen wir die endgültige Aussage der Gerichtsmedizin.

Aber irgendwie ist mir…“, er schaute Jo an, der kurz nickte „…ist uns das zu inszeniert, als dass wir hier von einem Zufall sprechen würden. Wir gehen davon aus, dass wir in einer Mordsache ermitteln. Die Sexualpraktik war für das Opfer wohl gelernt. Ob wir deswegen auch den Täter im SM-Milieu suchen müssen, wissen wir noch nicht. Ich befürchte, dass der Täter kein Bekannter war und wir kein Standardmotiv haben, sondern dass die Situation hier komplexer ist. Wie gesagt, keine Zeugen, keinerlei Spuren, alles noch ziemlich dünn. Die Sache lösen wir nicht in wenigen Stunden. Ach, bevor ich es vergesse, ich denke, wir sollten in jedem Fall die retrograden Verbindungsdaten des Opfers auswerten und die Mobilfunkzelle des Tatortes feststellen und bezüglich des Tatzeitraums auswerten. Vermutlich ist ja keine Gefahr im Verzug. Daher könnten Sie beim zuständigen Richter schon einen Beschluss beantragen!“ Er lauschte wieder. „Ja, Festnetz und Mobilfunk, die Nummern schicke ich Ihnen, sobald ich sie von der Zeugin habe. Ja, die Freundin, die die Tote gefunden hat. Sonst frage ich bei ihrer Agentur nach. Jedenfalls kriegen Sie die Nummern schnellstmöglich. Ja, machen wir, Danke für Ihr Verständnis und Vertrauen. Gruß von Joachim Hersig. Ja, richte ich aus.“

Er legte auf und schaute zu Jo, der den Daumen und kleinen Finger an seiner rechten Hand abspreizte, dann die Hand wie einen Telefonhörer an sein Ohr legte und begann, mit der Stimmlage eines Kindes zu reden: „Ja, Mami, Danke für dein Verständnis und Vertrauen, kann dir der liebe Jo auch noch in den Arsch kriechen, da passen wir sicher beide rein. Küssi, Mami. Auch von dem lieben Jo ein Küssi!“

„Die Mutter des Verfahrens ist die Mutter des Verfahrens und bleibt die Mutter des Verfahrens“, deklamierte Marten und grinste. Jo freute sich über die prägnante Zusammenfassung der Tatsache, dass die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen bei der Aufklärung einer Straftat verantwortete und entschied, ob Anklage vor dem zuständigen Gericht Sinn machte. Sie wurde daher auch als „Herrin des Ermittlungsverfahrens“ bezeichnet, woraus Jo und Marten irgendwann die „Mutter“ gemacht hatten.

Sie hatten gute Erfahrung mit Oberstaatsanwalt Hundt, der die Abteilung 66 für Tötungsverfahren leitete. Er hatte auf Wunsch der alarmierten Mordbereitschaft am frühen Morgen die Durchsuchung der Wohnung des Opfers angeordnet. Diese Anordnung bei Gefahr im Verzug konnte auch ohne Richtervorbehalt ergehen und Hundt hatte gleich angekündigt, dass er persönlich informiert werden möchte, da er selbst den Fall betreuen und ihn nicht an einen der Staatsanwälte seiner Abteilung abgeben würde. Obwohl sie ein sehr vertrauensvolles, fast freundschaftliches Verhältnis mit Hundt pflegten, hätten sie sich gefreut, wenn er das Verfahren „in die Linie“ gegeben hätte. Nur zu gut kannten sie den Druck in Verfahren, die er persönlich führte.

Jo setzte sein Smartphone auf den ‚Selfie-Stick‘, sie gingen ins Schlafzimmer und machten ihr Foto.

„Immer noch mit der Technik des letzten Jahrhunderts unterwegs?“, hörten sie hinter sich eine Stimme. Jo drehte sich um und grinste: „Der 3-Donald mit der Technik von morgen! So faszinierend ich deine Aufnahmen finde, aber gebraucht habe ich sie noch nie. Schick mir trotzdem mal die Info, wo ich den Kram eigentlich finde.“ 3-Donald nickte und stellte seinen 3-D Scanner mitten im Raum ab. Offensichtlich hatte der Kriminaltechniker Donald Wissmer von diesem unscheinbaren graublauen Kasten seinen Spitznamen. Er scheuchte die beiden aus dem Raum und fing an, mit mehr als einer Million Laserstrahlen pro Sekunde den Raum zu vermessen, um ein farbiges 360-Grad-Foto des Raumes zu erstellen, um jederzeit aus jedem Winkel den Tatort später erneut aufrufen zu können.

Auch wenn der Tag für einen Morgen im Hochsommer relativ kühl begann, stand in den Räumen noch die Hitze der Vortage. So waren beide froh, als sie wieder an der frischen Luft standen. Als Marten seinen Overall abgelegt hatte, sah Jo ihn verwundert an, denn Marten trug zu einem dunkelblauen Anzug, der zu groß und zu weit zu sein schien, ein kariertes Hemd, dazu eine zwar einfarbige aber gänzlich unpassende Krawatte. Jos besondere Aufmerksamkeit zog jedoch die dunkelblaue Anzughose seines Partners auf sich. Diese schlackerte gewaltig an den Beinen und hätte im Stil in die 80er gepasst. Die heute modernen Röhrenhosen hätte Marten nach Jos Empfinden sogar noch gut drunter tragen können und so frotzelte er: „Zu der Hose würde auch ein Zweireiher passen“. Marten blickte ihn an, als würde er tatsächlich über die Idee nachdenken. Jo gefiel das Thema: „Ehrlich, machst du heute den Pressesprecher? Im Konfirmandenanzug?“

Ohne auf Jos Kommentar einzugehen, stellte Marten fest: „Merkwürdig, dass keiner von den Zecken hier ist. Sonst wissen die doch immer schon vor uns Bescheid. Zum Glück muss ich mich nicht vor diese Meute stellen.

Du könntest aber Dingens, wie heißt er noch, unseren Pressesprecher, informieren, was wir wissen, damit er gewappnet ist.“

Er versuchte, sein Spiegelbild im Seitenfenster seines Wagens zu sehen: „Was ist denn mit meinem Anzug? Einen Neueren habe ich nicht. Konnte ja nicht ahnen, dass man von einer gediegenen Hochzeit nicht nach Hause kommt.“

Jo lachte: „Du warst in diesem Anzug auf einer Hochzeit? War das Motto ‚Achtziger‘ oder nur „bad taste“? Und du warst nicht Zuhause? Das heißt, du hast darin eine abgeschleppt? Wow! War das Mitleid oder wurdest du beim Eulenschießen gewonnen?“

Marten musste über die zweite Alternative lachen. Während ihres Jahres bei der Polizeiakademie, an der sie sich kennengelernt hatten, hatten sie dieses unwürdige Spiel einmal praktiziert.

Die einzige Regel war, dass derjenige, der in einer Disco die hässlichste Frau nach Hause nahm, am nächsten Abend von den Mitspielern ausgehalten werden sollte. Es gab aber Unstimmigkeiten über die Kriterien, so dass sie sich nicht über den Sieger einigen konnten. Marten schüttelte über die wenig charmante Diskussion damals den Kopf. Jo war aber noch nicht fertig: „Frauen machen solche bösen Spiele nicht, also war es Mitleid! Es muss Mitleid gewesen sein! Dein 80er-Jahre-Kostüm ist weder Retro noch klassisch, sondern einfach nur hässlich! Nein, das trifft es nicht, denn provokant hässliche Kleidung könnte noch begehrenswert sein. Diese Lappen jedoch sind einfach nur schlechter Stil. Also zeig mir ein Foto deiner neuen Bekanntschaft, deren Mitleid du damit erregt hast.“

Marten lächelte: „Der Gentleman genießt und schweigt, aber, wenn du sie gesehen hättest, würdest du mir Geld bieten, damit ich dir mein gutes Stück mal leihe.“

Jo lachte und sagte mit hoher Stimme: „Hallo Süßer, du siehst nicht so gut aus wie Starsky oder Hutch! Aber vielleicht bist du ja so Dirty wie Harry?“

Doch Marten hörte nicht mehr zu, öffnete seinen Wagen und warf sein Jackett auf den Rücksitz, während er die nächsten Schritte plante: „Hoffentlich kommen wir an den Computer der Leiche. Check doch unabhängig von der 65 und 42, ob gestern Bondage – Veranstaltungen in den einschlägigen Locations stattgefunden haben. Wenn in sechsunddreißig Stunden keine Ergebnisse vorliegen, sollten wir zusätzliche Manpower holen, notfalls vom Kriminaldauerdienst. Teilen wir uns auf. Du fährst ins ‚Stütz‘, ich übernehme die Zeugin, ok?!“

Auch wenn Jo der gedankliche Alleingang seines Partners nervte, war er froh, dass er ins Polizeipräsidium in Hamburg Alsterdorf, umgangssprachlich ‚Stütz‘ genannt, fahren konnte und antwortete salutierend: „Sir, jawohl, Sir!“

Marten stieg zufrieden lächelnd in seinen 1974er BMW E9 und sein Tonfall erreichte eine unerträg-liche Selbstgefälligkeit: „Da haben wir es wieder“, rief Marten, während er sich in seinem Rückspiegel betrachtete. Jo ahnte Böses. „Was haben wir?“, fragte er vorsichtig und dachte im selben Augenblick, dass er besser nicht nachgefragt hätte. Marten startete den Wagen, dessen Sechszylinder lautstark ansprang, schloss die Tür und ließ das Fenster hinunter. Dann legte er lässig seinen linken Arm hinaus. „Im Polizeidienst sind Entscheider gefragt. Menschen, die Verantwortung übernehmen. Sei froh, so einen Menschen in deiner Nähe zu haben. Weil ich so jemand bin, würde jeder Film aus meiner Perspektive erzählt werden. Ich mit meiner dominant-dynamischen Ausstrahlung bin die Idealbesetzung der Hauptfigur! Du dagegen bist halt eher der Watson, der Robin oder der Harry, der das Auto holt. Aber sei nicht traurig. Es braucht auch den Buddy des Protagonisten. In diesem Sinne, wir sehen uns am Stütz“, grinste er und bevor Jo auch nur seine Hand oder gar seinen Mittelfinger ausstrecken konnte, raste Marten mit aufheulendem Motor davon.

VII. Noch 27 Tage

Montag, der 16. August 2021

16.29 Uhr MESZ +3h

Das steuerbordseitig an der Kaimauer vom Hutchison Ports Pakistan Terminal angelegte Containerschiff ‚Cosco Pride‘ der chinesischen Reederei ‚Cosco Shipping‘ startete das elektrische Bugstrahlruder. Ebenfalls wurden der rechte und linke Heckpropeller von einem MAN Zweitakt-Dieselmotor mit bis zu 92.000 PS in Gang gesetzt. Die beiden Propeller drehten in gegensätzlicher Richtung, um das über 350 Meter lange und fast vierzig Meter breite Schiff in seitliche Bewegung zu versetzen.

Das Schiff war in nur acht Stunden Aufenthalt mit rund achtzig Prozent seiner Kapazität von 8.700 Standard-TEU-Containern beladen worden. Von den doppelt so großen FEU-Containern waren wenige an Bord. Solche Forty-Foot-Equivalent-Units waren auch die von der Spedition ‚Bulfati‘ für die ‚Ferton Pharma AG‘ geladenen fünf Kühlcontainer mit chemischen Erzeugnissen.

Schon nach wenigen Metern stoppte das Schiff die Seitwärtsbewegung und entfernte sich langsam in südöstlicher Richtung aus dem Tiefseehafen von Karatschi, um unter Hongkongs Flagge mit bis zu zweiundzwanzig Knoten auf den Golf von Aden zuzusteuern.

Bereits ein Tag zuvor war die ‚Wilhelmshaven Express‘ der Reederei ‚Hapag Lloyd‘ vom fast drei Kilometer weiter nördlich gelegenen Kai des Pakistan International Container Terminal ausgelaufen. Das unter portugiesischer Flagge, mit rund dreiundzwanzig Knoten fahrende, fast zwanzig Jahre alte Containerschiff hatte zwar nur eine Kapazität von rund sechstausend TEU-Containern, konnte davon aber bis zu fünfhundert Integral-Kühlcontainer mit Strom versorgen. Geladen waren 3.700 TEU, inklusive der von der Spedition ‚Bulfati‘ für die ‚Ferton Pharma AG‘ geladenen fünf Kühlcontainer. Knapp 80.000 PS würden das rund 280 Meter lange Schiff in den kommenden vier Wochen durch den Suezkanal über Valencia nach Southampton, Antwerpen und schließlich nach Hamburg bewegen.

VIII. Noch 21 Tage

Samstag, der 21. August 2021

11.35 Uhr MESZ

Kurz nachdem Jo in seinen alten Toyota Corolla gestiegen und Richtung Polizeipräsidium gestartet war, verließ einhundert Meter weiter hinten ein grauer Passat Kombi eine Parkbucht und folgte dem Corolla in vorsichtigem Abstand. Der Mann im Passat, der sich gelegentlich als Zóltan Kerdelyi aus Ungarn oder auch gerne als Yousef Najjar ausgab, wartete bereits hier, kurz nachdem der erste Polizeiwagen angekommen war. Er wusste, dass er seine nächsten Schritte nun sehr genau überprüfen musste.

Er erinnerte sich so präzise an ihr erstes Gespräch als wäre es gestern gewesen. Dabei war es fast auf den Tag zwölf Monate her. Damals hatte er den alten Mann am Brunnen des Innenhofs nach seiner rituellen Waschung begrüßt und sie waren gemeinsam in das Gotteshaus gegangen. Er hatte die Vitalität dieses alten Mannes gespürt und kaum glauben können, dass er mit seinen jugendlich wirkenden Bewegungen weit über achtzig war. Sie waren auf der Suche nach einem Gebetsplatz langsam nebeneinander hergegangen, ohne zu sprechen. Hin und wieder hatte sein Begleiter anderen Menschen zugenickt. Er schien viele der Anwesenden zu kennen. Diese zollten ihm offensichtlich Respekt, suchten aber nicht seine Nähe. Schließlich hatten sie sich für einen Platz entschieden, der etwas abseits lag und sich auf eine merkwürdig intime Art nebeneinander niedergelassen, so dass der Abstand zwischen ihren Körpern auf für ihn unangenehme Weise gering war; in der seitlichen Hocke halb sitzend, halb kniend hatten sie sich so platziert, dass sie mühelos ihre Köpfe zusammenstecken konnten. Respektvoll hatte er gewartet, dass der Alte das Gespräch begann. Dieser ließ sich Zeit und schaute in die Runde. Danach betrachtete er ihn eindringlich und begann in einem sehr leisen, aber seiner Bedeutung angemessenen Ton das Gespräch mit einer üblichen Höflichkeitsfloskel:

„Xudo ʙo şumo ʙod. xuş omaded - Gott sei mit dir. Sei herzlich Willkommen.“

Auch wenn er es befremdlich gefunden hatte, dass der Alte die ihm bekannte Floskel übersetzte, hatte er doch ohne Zögern und begleitet von leichtem Kopfnicken geantwortet: „Taşakkur ʙaroi mehmonnavozii şumo.“

Ein aufmerksamer Europäer, der in Vorderasien gelebt hat, hätte behauptet, dass sie persisch sprechen und zwar das iranische Farsi. Doch sie verwendeten nicht das aus Teheran stammende lahǧe-ye tehrānī, das seit dem Mittelalter die Amtssprache im Iran ist, sondern sprachen Tādschīkī, an den dem Russischen und den Turk-Sprachen entnommenen Lauten zu erkennen. Sie beide – der Ältere direkt und der Jüngere über beide Elternteile – stammten aus Tadschikistan.

Aufgrund seines deutschen Akzentes und obwohl er natürlich die Willkommensformel verstand, hatte der Jüngere doch sogleich darum gebeten, die Unterhaltung auf Deutsch zu führen. Zwar war Deutsch nicht seine Muttersprache, aber die Sprache, mit der er aufgewachsen war. Der Ältere hatte zwar höflich genickt, aber er hatte ihm seinen Unwillen angesehen. Die Antwort in scharfem Ton war daher nicht überraschend:

„Ihr, die ihr glaubt! Spendet von dem, was wir euch beschert haben, bevor ein Tag kommt, an dem es kein Handeln, keine Freundschaft und keine Fürsprache mehr geben wird. Die Ungläubigen sind es, die Unrecht tun. Du erinnerst Sure 2, 254?“

Noch mehr als der außerordentlich scharfe Ton hatte ihn geärgert, dass ihm wie einem Unwissenden auch hier gleich wieder die Übersetzung präsentiert worden war. Er wusste nicht, was ihn mehr demütigte. Die inhaltliche wie sprachliche Belehrung hatte jedenfalls ihre Wirkung nicht verfehlt.

Dennoch, so fand er, war er erstaunlich souverän geblieben und hatte seine Antwort mit dem nächsten Vers der gleichen Sure begonnen:

„mâ baina aidîhim wa-mâ chalfahum wa-lâ yuhîtûna bi-shaiin oder er weiß, was vor und was hinter ihnen ist, doch sie begreifen nichts von seinem Wissen. Ich kenne die zweite Sure und auch ich lebe mein Leben in Ehrfurcht und in Gehorsam für Allah, dem Allmächtigen.“

Er hatte dabei, wie gelernt, die Hände geöffnet und fast unhörbar geflüstert: „Allah - Hu - Akbar!“, doch der alte Mann hatte ihn unterbrochen:

„Du weißt, dein Vorgehen ist nicht akzeptabel. Allah erwartet Disziplin von uns!“

„Aber Allah sagt eben nicht nur „…dann tötet die Götzendiener, wo immer ihr sie findet…“, sondern auch „Wer ein menschliches Wesen tötet, so ist es, als ob er alle Menschen getötet hätte. Und wer es am Leben erhält, so ist es, als ob er alle Menschen am Leben erhält.“

Zischend war ihm der Alte dazwischengefahren. Er kenne die Suren und wünsche keine Belehrungen. Sofort hatte der Jüngere beschwichtigt: „Ich würde nie wagen, Sie zu belehren! Ich möchte, dass Sie meine Ambitionen verstehen. Natürlich will ich in erster Linie kämpfen und unsere Feinde vernichten, aber mein Anliegen ist eben auch, unsere Brüder am Leben zu halten.“

„Ich kann akzeptieren weder deine Belehrung noch deine Alleingänge!“, war ihm der Ältere ungnädig über den Mund gefahren. Unterwürfig hatte er genickt und nach einer Pause für ein kurzes Gebet hatte er vorsichtig aber selbstbewusst erwidert:

„Der Vorschlag, den wir erhalten haben, ist nicht effizient. Es wird einen Sinn haben, dass uns Allah nicht die Kraft gibt, seine ungläubigen Feinde mit eigenen Mitteln zu zerstören. Doch wenn wir nur diese kleine Fliege sein sollten, die den Elefanten provoziert, so muss diese Fliege doch einen Weg finden, den Elefanten derart zu reizen, dass dieser letztlich die Welt der Ungläubigen zerstört. Könnte das nicht Allahs Wille sein?“

„Mag sein. Aus dem Grunde wir bilden hier junge Menschen aus, die sind gelehrsam und gehorsam und bereit für Allah zu opfern alles.“

„Niemals würde ich das bestreiten. Ihr macht hier eine außergewöhnlich gute und wichtige Arbeit, wenn Ihr mir erlaubt, das festzustellen.“

Sein Kopf blieb gesenkt, aber vorsichtig schaute er den Älteren aus den Augenwinkeln an, um abzuschätzen, ob es gelungen war, mit seiner überzogenen Unterwürfigkeit den Alten für sich einzunehmen. „Nur glaube ich, dass unsere Effizienz zu gering ist. Wenn einer von uns stirbt, um zehn oder zwanzig Ungläubige mitzunehmen, ist diese Quote bei weitem zu gering. Unser gerechter Krieg im Namen Allahs wird so über kurz oder lang verloren gehen.“

„Aber deine Aktion gefährdet auch unsere Gemeinde und unsere wichtigen Aktivitäten! Das ist auch nicht - wie du sagst - effektiv!“

Auch wenn es ihn gereizt hatte, so hatte er doch nicht gewagt, ihn über den Unterschied zwischen Effizienz und Effektivität zu belehren. Er war demütig geblieben und hatte vorsichtig gefragt: „Aber was für eine Wirkung! Welche Angst werden wir auslösen, wenn ganze Landstriche unbewohnbar sind? Welche Bilder entstehen? Natürlich wäre es leichter, sagen wir, die Wasserversorgung der Stadt zu vergiften. Aber die Bilder von vielen Menschen im Krankenhaus, die sich krümmen, da fehlt das Momentum, der Bilder-Effekt für die Tagesschau.“

„Wenn das ist überhaupt möglich!“