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Sommer 1936 in Hamburg: Der beste Freund des neunjährigen Helmut ist der gleichaltrige Jude Hans! Die Repressalien der Nazis gegen Juden sind bereits in vollem Gange und doch sind beide Jungs noch begeistert von dem erstarkten Deutschen Reich. Bei einem Besuch eines olympischen Boxkampfes in Berlin lernen die Jungs den jungen Leutnant der Luftwaffe Georg kennen und sie werden Freunde. Etwa um die gleiche Zeit beginnt in Deutschland und England ein Rennen um die Entwicklung der Radartechnik, die den zweiten Weltkrieg entscheidend beeinflussen sollte. Eine erhebliche Rolle spielt dabei eine Kommandoaktion der Engländer in Nordfrankreich im Februar 1942. Mit Fallschirmjägern wollen sie in der Nähe von LeHavre ein gut bewachtes, deutsches Radargerät abbauen und nach England zu schaffen. Mit Beginn des Krieges hat Helmut mehr und mehr erkannt, in welch großer Gefahr sein Freund Hans schwebt. Er ahnt, dass er sich wird entscheiden müssen: Für Deutschland oder für seinen Freund. Aber erst sehr spät beginnen Helmut und Georg, in die Geschehnisse einzugreifen und werden so verwickelt in den Wettlauf um die Erkenntnisse der Radartechnik.
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Seitenzahl: 325
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Für meine Eltern
Eine Auflistung der Charaktere in der Reihenfolge ihres Auftretens finden Sie am Ende des Buches auf S. →
Da ließ der Herr Schwefel und Feuer regnen vom Himmel herab auf Sodom und Gomorra. Und kehrte die Städte um und die ganze Gegend und alle Einwohner der Städte und was auf dem Lande gewachsen war.
1.Buch Mose Kapitel 19 Vers 24, 25
Prolog
Hamburg, 2015
Hamburg, 1936
Odiham, 1941
Kiel, 1936
St.-Jouin-Bruneval, 1942
Berlin, 1936
London, 1942
Burgos, 1937
Kiel, 1937
Hamburg, 1937
Manchester, 1942
Hamburg, 1938
Tilshead, 1942
Hamburg, 1939
Oslo, 1939
St.-Jouin-Bruneval, 1942
Deutsche Bucht, 1939
St.-Jouin-Bruneval, 1942
Hamburg, 1941
Kiel, 1941
St.-Jouin-Bruneval, 1942
Berlin, 1942
London, 1942
Hamburg, 1942
Hamburg, 1942
Berlin, 1942
Hamburg, 1942
Nordby, 1942
Auschwitz, 1943
Hamburg, 2015
Hamburg, 2015
Ich bin kein Mörder! Oder doch? Vielleicht sogar ein Massenmörder? Durch meine Mitwirkung sind mehr als 35.000 Menschen umgekommen? Nicht Soldaten im Kampfeinsatz, sondern Menschen, die ängstlich und wehrlos dem Tod ausgeliefert waren! Aber macht das einen Unterschied? Wären tote Soldaten eher zu rechtfertigen als getötete Frauen, Kinder, Freunde und – meine Familie. Hätten einige dieser Menschen ohne mein Zutun überlebt? Wären andere dafür gestorben? Allein im Hamburger Konzentrationslager Neuengamme und seinen Außenlagern sind mehr als 43.000 Menschen gestorben. Wären mehr gestorben, wenn ich nicht meinen Teil beigetragen hätte? Habe ich überhaupt beigetragen? Wurde der Krieg gar durch mein Zutun verkürzt? Oder habe ich für mehr Opfer gesorgt?
Gehöre ich wenigstens zu den Guten? Ich muss zu den Guten gehören…! Wenn ich mich zurück erinnere, haben damals alle geglaubt, auf der richtigen Seite zu stehen! Habe ich nicht auch an Hitler und seine Ziele geglaubt? Bin ich nicht begeistert im Jungvolk und in der Hitlerjugend marschiert im Glauben, dass wir die Guten sind? Darf ich oder muss ich sogar als Mensch im Krieg Stellung beziehen und handeln? Im Talmud steht ‚Wer nur ein Menschenleben rettet, rettet die ganze Welt!‘ Aber darf ich dafür töten? Sind durch mein Handeln die Richtigen gestorben? Kann überhaupt ein Leben mit einem anderen vergolten werden? Darf ich Leben gegen Leben nehmen? Welches Leben zählt mehr? Hätte ich so gehandelt, wie ich gehandelt habe, wenn ich gewusst hätte, was ich bewirke und insbesondere, wenn ich gewusst hätte, was ich jetzt weiß? Vermutlich nicht, aber letztendlich weiß ich es nicht.
Alle diese Fragen wird mir keiner beantworten. Ich werde diese bohrenden Fragen über meine eigene moralische Integrität wohl mit ins Grab nehmen. Ja, ich musste damit leben, aber ich durfte auch damit leben. Weil andere nicht die Wahl hatten, gibt es meine Geschichte.
Ich heiße Helmut, Helmut Martensen! Eigentlich bin ich ein Allerwelts-Typ, wie mein Name vermuten lässt. Aber eben nur eigentlich, da ich eine Geschichte erzähle, die – auch wieder eigentlich - nicht meine Geschichte ist, sondern die einer Freundschaft. Es ist die Geschichte von Hans und mir, und sie beginnt im Juni 1936. Wir waren neun Jahre alt und ganz normale Jungs - eigentlich…
Frank Wolken war genervt. Wieso hatte er das Gespräch nicht abgeblockt? Warum wollte dieser Greis unbedingt mit ihm sprechen. Wieder unterbrach das Navi seine Gedanken und auch das herbstliche Wetter sorgte nicht für gute Laune. Als er in der Hafencity losgefahren war, hatte er eine erste Hochwasserwarnung im Radio gehört. Er kannte den Osten Hamburgs kaum, obwohl er schon seit seinem Studium hier wohnte und Hamburg gerne als seine Heimat bezeichnete, auch wenn er mit dem Wort ‚Heimat‘ in Verbindung mit einem geographischen Ort nicht viel anfangen konnte. Es war aber auch hässlich hier! Natürlich wusste er, dass der Osten der Stadt im Sommer 1943 bei dem bis dahin größten Bombardement der Alliierten dem Erdboden gleichgemacht worden war, um in den vielen Arbeitervierteln einen möglichst hohen Blutzoll zu erzielen. Der Aufbau war nur teilweise gelungen und erinnerte ihn an Köln, das, wie er wusste, ebenso wie Hamburg mehrfach Angriffsziel der Alliierten Bomber gewesen war. Auch Köln war dabei heftig zerstört worden. Im Gegensatz zu Hamburg war Köln schnell und planlos aufgebaut worden, denn ohne die reichen Hamburger Pfeffersäcke ist das Geld für den Aufbau viel knapper gewesen als hier in der Hansestadt; obwohl auch Köln zur Hanse gehörte, wie er vor kurzem gelernt hatte.
Wieder unterbrach die smarte Frauenstimme seine Gedanken mit dem selbstgefälligen Satz „Sie haben Ihr Ziel erreicht.“ Er schaute auf die Uhr! Er war pünktlich. Das war gar nicht seine Art, aber er wollte den Termin schnell hinter sich bringen, bevor er seinen Sohn am Abend vom Fußball abholen musste. Um Ärger mit seiner Exfrau zu vermeiden, durfte er nicht zu spät kommen. Sein häufiges Zuspätkommen interpretierte sie als ‚falsche Prioritätensetzung‘ und kommentierte es mit der Zeit nur noch mit ‚wie immer‘. Er äffte diese pauschalisierende Spitze in einem Tonfall mit passendem Gesichtsausdruck nach, deren Kombination, wie er fand, der zickigen Art seiner Exfrau sehr nahe kam. Er atmete durch und stieg aus.
Als er klingelte, passierte so lange nichts, dass er schon frohlockte, nun sagen zu können, er hätte ja alles versucht. Als sich die Tür mit einem Summen öffnete, ging er in das 60er Jahre Backsteinhaus, wo ihn Helmut Martensen im zweiten Stock erwartete.
Der Mann, so dachte Frank, sah sympathischer aus als er am Telefon geklungen hatte. Er war groß und hatte eine stolze Haltung für seine geschätzten 70 Jahre. Seine feinen, weißen Haare gaben ihm ein fast edles Aussehen und Martensens Augen schauten ihn auf bemerkenswerte Weise lebendig und neugierig an.
Als sie in dem kleinen Wohnzimmer saßen, bedankte sich Martensen bei Frank dafür, dass er es kurzfristig möglich gemacht hatte, zu ihm zu kommen.
„Warum ich?“, fragte Frank.
Martensen lächelte „Sie haben eine wunderschöne Geschichte über die Stolpersteine geschrieben.“
Frank erinnerte sich. Es war kein halbes Jahr her, dass er über das traurige Schicksal einer jüdischen Familie recherchiert und geschrieben hatte, die vor dem Krieg in Nähe der später abgebrannten Synagoge im Hamburger Grindelviertel lebte, bis der Rassenwahn der Nazis drei Generationen dieser Familie vernichtete, ohne Rücksicht auf Geschlecht und Alter. Die gold glänzenden Stolpersteine, die vor den Häusern auf den Gehsteigen liegen, erinnern daran, dass früher hier die auf den Steinen genannten Menschen gelebt hatten, bevor sie von den Nazis ermordet wurden. Geburts- und Todestag sind eingraviert. Diese Erinnerungssteine sind als kleine Denkmäler eine ebenso einfache wie wunderbare Idee.
Martensen ließ ihm die Zeit für den flashback und Frank wusste in diesem Moment, was ihn an Martensen faszinierte. Die Wohnung roch nicht muffig, wie man das häufig bei älteren Menschen erlebt, sie war modern und hell eingerichtet und nicht mit dunklen Möbeln aus den 70er Jahren zugestellt. Martensen war offensichtlich Jemand, der im Hier und Jetzt lebte und sich von Dingen trennen konnte. Und er wirkte, wie ein Mensch, der noch eine Aufgabe vor sich hatte und nicht, wie einer, der in der Vergangenheit lebt und nur auf den Tod wartet.
„Ich bin Jahrgang 1927“, sagte Martensen schließlich.
Frank überschlug das Alter und pfiff unhörbar durch die Zähne. Der Mann war 88 Jahre alt. Langsam schlug seine Gereiztheit in Interesse um. Vielleicht hatte dieser Martensen ja doch etwas zu erzählen?
„Obwohl meine Geschichte 1936 beginnt und 1943 endet, habe ich sie noch niemandem erzählt“, sagte Martensen nachdenklich.
Frank reagierte professionell. „Na, dann lassen Sie mal hören. Aber machen Sie es so kurz wie möglich.“ Er konnte seinem Verhaltensmuster nicht entfliehen. Bloß nicht zu viel Interesse zeigen. Er wusste ja tatsächlich nicht, was ihn erwartete.
Aber er war neugierig geworden. Wer war dieser Martensen, und was hatte er im Krieg erlebt? Und warum wollte er seine Geschichte gerade jetzt - 70 Jahre nach Kriegsende - doch noch erzählen?
Hans weinte. Es traf ihn noch ein Tritt. Er lag zusammengekrümmt am Boden und versuchte seinen Kopf mit den Händen zu schützen. Der Dreck der Straße mischte sich mit seinen Tränen. Als ihn ein Tritt von mir am Mund traf und Blut aus seinem Mund floss, ließen wir von ihm ab. Hans blieb liegen. Wir, Günther, Anton und ich, nahmen unsere Ranzen auf und gingen weiter als wäre nichts passiert.
„Das geschieht Hans ganz recht“, ätzte Anton, „Schließlich hat er ja angefangen.“
Und ich gab zurück, „So lernt der Idiot vielleicht, das ewige Provozieren zu unterlassen.“
Günther lachte: „Ach, Helmut, das lernt der nie.“
Wir ließen Hans mit seinen Tränen allein. Ich wusste, dass er keine Schmerzen spüren, sich nur gedemütigt fühlen würde. Ich sah noch, wie er sich langsam erhob, Blut ausspuckte, sein Taschentuch an die Nase hielt, seine Schulsachen aufsammelte und in Richtung Albertstraße ging, wo er wohnte. Dann war ich mit meinen Gedanken allein.
Es war Sommer und heiß in Hamburg. Das Schuljahr war fast vorbei. Die olympischen Spiele standen kurz bevor und Deutschland machte sich hübsch. Eigentlich hätte es besser nicht sein können. Die dunklen Wolken, die über unserer Freundschaft aufzogen, bemerkten wir Kinder kaum oder vielleicht ignorierten wir sie auch - wie so viele Erwachsene.
Ich ging mit meinen anderen Freunden nach Hause. Warum, fragte ich mich, war die Situation eigentlich so eskaliert. Schließlich waren Hans und ich doch die besten Freunde. Natürlich provozierte Hans gerne. Es war ihm gleichgültig, wen er gerade im Visier hatte, ob seine Mutter, seinen Lehrer oder seine Schulkameraden; er liebte es, andere zur Weißglut zu bringen.
Wir hatten über den Sieg des Rennfahrers Bernd Rosemeyer beim Eifelrennen am Sonntagnachmittag gesprochen. Rosemeyer wurde bereits als Volksheld gefeiert, aber Hans behauptete, Rosemeyer wäre genauso wenig ein Gewinnertyp wie Schmeling. Und auf die Frage, wie er denn darauf komme, sagte er, dass beide keine großen Siege eingefahren hätten und Schmeling auch am morgigen Donnerstag gegen Louis untergehen würde. Natürlich wollte er provozieren! Ich wusste das, denn unser Sport war das Boxen. Wie oft hatten wir Max Schmelings Schläge nachgeahmt und über ihn geredet und keiner wusste besser als ich, dass Schmeling von Hans vergöttert wurde. Schmeling war sein Idol. Wenn er ihn nun also verunglimpfte, so wollte er die Reaktionen testen und – wie so oft – uns provozieren. Nur dass dieses Mal die Reaktionen heftiger waren als von ihm vermutlich erwartet. Und auch ich hatte mich provozieren lassen. Auch ich schwärmte für Schmeling! Er war auch mein Idol! Und Hans hatte nicht aufgehört, über ihn zu lästern. Dann war die Situation von einigen Rempeleien zu den Tritten eskaliert. Und ich hatte mich gefreut, dass Hans einmal die Grenzen aufgezeigt wurden.
Nachdenklich ging ich hinter Günther und Anton her, die schon das Thema gewechselt hatten. Für sie war die Sache erledigt. Für mich noch lange nicht. Das war mir sofort klar gewesen. Langsam verflog meine Wut, und Scham brach sich Bahn. Mir war natürlich bewusst, dass es nicht fair war, Hans mit Günther und Anton gemeinsam zu verprügeln. Insbesondere das Treten nach dem wehrlosen und weinend daliegenden Freund war mir so unangenehm, dass ich es körperlich spürte. Ich schämte mich zutiefst. So versuchte ich, mir eine pädagogische Rechtfertigung zu recht zu legen und dachte an Äußerungen, wie: Hans könne mir danken, dass ich ihm einmal im Beisein von harmlosen Typen aufgezeigt habe, dass manche seinen Humor nicht verstünden - wenn man überhaupt von Humor sprechen könne. Vielleicht hatte ich ihm so sogar in der Zukunft das Leben gerettet… über so unverfrorene Gedanken musste ich bitter lächeln.
Es blieb ein fader Beigeschmack. Ich hatte Spaß gehabt, Hans mit anderen zu demütigen und ich hatte tatsächlich auf den liegenden und weinenden Hans nochmals eingetreten. Nicht, um ihn zu verletzen, aber um ihn heftig und einprägsam zu demütigen. Irgendetwas war mit mir durchgegangen, das schockierte mich. Ich hoffte inständig, dass meine Eltern nicht davon erführen; und dass Hans vielleicht gar nicht gemerkt hatte, dass die Tritte, die auf ihn einprasselten, als er schon am Boden lag, zu einem Teil auch von mir – seinem besten Freund - gekommen waren. Aber dies war eine vergebliche Hoffnung. Hans hatte mich in einem Moment angeschaut, als ich ausholte und ihn in den Bauch trat. Diesen Blick, diesen Ausdruck in seinen Augen, würde ich nicht so schnell vergessen. Ich schauderte, bemerkte kaum, dass sich meine Freunde verabschiedeten und trottete nach Hause.
Abends am Tisch mit meinen beiden Schwestern Margarete und Katharina sowie meinen Eltern war das Thema der am morgigen Donnerstag bevorstehende Kampf von Max Schmeling gegen Joe Louis in New York. Ich konnte es wieder nicht lassen, scheinheilig zu fragen, ob denn Vater mal einen Kampf von Schmeling gesehen habe, und schon erzählte Vater begeistert von dem Kampf im August 1934 in Hamburg, in dem Schmeling Walter Neusel besiegt hatte. Während Mutter schmunzelte, traktierten Katharina und Margarete mich unter dem Tisch mit Tritten, während mein Vater schwadronierte, dass Neusel in der achten Runde habe aufgeben müssen und dass er selbst dabei gewesen wäre, bei dem größten Boxkampf der Geschichte. Vater kam mehr und mehr ins Schwärmen. Und wie so oft zuvor mussten wir uns berichten lassen, wie Rothenburg, der Box-Promoter, auf der Sandrennbahn östlich von Hagenbecks Tierpark den Kampf von Schmeling gegen Neusel organisiert und es geschafft hatte, mehr als 100.000 Zuschauer in diese beeindruckende und in wenigen Wochen errichtete Freiluftarena zu bekommen. So viele Menschen bei einem Boxkampf, das habe es noch nie gegeben. Vaters Augen strahlten, dann schüttelte er sich und wurde nachdenklich. Schmeling sei nun schon einunddreißig und der ‚Neger‘ sei ja erst dreiundzwanzig. Das könne kaum gut ausgehen, zumal die Ringrichter in den USA sicher im Zweifel für den sogenannten braunen Bomber stimmen würden. Es würde sicher ein spannender Kampf werden.
Ob ich den Kampf auch im Volksempfänger hören dürfe, fragte ich, schließlich seien schon fast Ferien.
Vater guckte mich nachdenklich über den Brillenrand hinweg an und sagte streng: „Mitten in der Nacht, auf keinen Fall!“ Mutter nickte und fing an, abzuräumen.
Die Ansage meines Vaters bekümmerte mich nicht. Ich wusste, dass es ihm noch wichtiger war als mir selbst, dass wir gemeinsam den Boxkampf erlebten. Außerdem hatte sich der Bruder meiner Mutter, Onkel Paul, angesagt. Und wenn der kam, durften wir immer dabei sein. Nicht nur deshalb liebten wir Kinder ihn.
~
Ich hatte am nächsten Morgen kurz mit dem Gedanken gespielt, mich krank zu stellen, nur um der Begegnung mit Hans auszuweichen oder diese zumindest hinauszuzögern. Und ich fühlte mich tatsächlich hundeelend. Ich wusste, dass eine Entschuldigung fällig war. Natürlich hatte ich mich falsch verhalten. Das war aber nur die eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite war da mein Stolz. Ich meinte, schon die Bilder zu sehen, wie Hans sich suhlen würde, in dem Wissen, wie viel Überwindung es mich kosten würde, mich zu entschuldigen. Es würde eine demütigende Situation werden, weil Hans sicherlich nicht nachsichtig über das Verhalten seines Freundes hinwegsehen würde. Er würde seine Rache genießen wollen. Und ich konnte ihn sogar verstehen. Ich sollte das Gleiche spüren, was wir ihm angetan hatten. Eine Demütigung! Denn das Dramatische waren nicht die Schläge oder Tritte gewesen, sondern die Demütigung. Wenn schon ich damals Stolz empfand, dann war das im Verhältnis zu den Empfindungen von Hans kaum der Rede wert. Hans hatte einen Stolz, der mich genauso beeindruckte, wie ich ihn verabscheute, zumindest dann, wenn es in sein arrogantes Spötteln überging. Natürlich wusste ich, dass das eine seiner Verteidigungsstrategien war, mit der er bisher gut gefahren war. Aber es war auch dieser Blick gewesen, den ich in den Augen von Hans gesehen hatte, als ich zutrat. Noch am Boden liegend schaute er mit einer Mischung aus abfälliger Arroganz und Mitleid auf seinen charakterschwachen Freund.
Umso mehr ich darüber nachdachte, desto heftigere Bauchschmerzen hatte ich und konnte den psychischen Druck körperlich spüren. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass ich mich nicht krank stellen musste, sondern es bereits war. Andererseits wollte ich mir diese Blöße, heute gar nicht aufzutauchen, noch weniger geben.
In der Schule angekommen, ignorierte mich Hans natürlich. Zu meinem Glück hatte ich damit gerechnet und bemerkte das sofort, bevor ich in eine peinliche Situation tappte. Wir gingen uns aus dem Weg. Zu meiner Verwunderung redete er im Laufe des Vormittags wie selbstverständlich mit Günther und Anton. Ich merkte, wie aus meiner Verwunderung Verärgerung wurde und schließlich in Wut umschlug. Damit hatte er sein Ziel schon erreicht. Das verstärkte meine Wut noch, weil ich wusste, was er bezweckte und mich dennoch gegen die aufkommende Wut nicht wehren konnte. Die Drei waren plötzlich die besten Freunde und - obwohl ich ihre Nähe mied - tauchten sie, wie von böser Hand geführt, immer wieder in meiner Reichweite auf. Ich kochte. Bei Gelegenheit folgte ich Anton auf die Toilette und fing wie beiläufig ein Gespräch an. „Mensch Anton, schon wieder vertragen mit Hans?“
„Nö, das war gar nicht nötig. Alles bereits vergessen“, war die lapidare Antwort.
Ich war erstaunt und versuchte ein gelassenes „Aha“.
Er ging zur Tür, drehte sich nochmal um und grinste: „Hans wusste, dass Du uns darauf ansprechen würdest. So ist er, der Hans. Ein gerissener Hund.“ Und weg war er.
In diesem Moment beschloss ich, mich nicht zu entschuldigen. Hans hatte es nicht verdient. Mir kamen die Tränen, aber ich kämpfte dagegen an und verschloss die Wut in mir. Wie ich Hans in diesem Moment hasste, so kann man wohl nur jemanden hassen, den man wirklich mag. Ich war ratlos. In meinen Gefühlen herrschte Chaos. Sie wechselten zwischen Wut und Ohnmacht, Schmerz und Verzweiflung.
Vom Unterricht bekam ich nichts mehr mit, obwohl ich als erster im Klassenzimmer war und es als letzter verließ. Mit meinen Gedanken war ich weit weg. Den Weg nach Hause nahm ich im Sprint.
Und am späten Nachmittag kam die nächste Hiobsbotschaft. Der für den heutigen Donnerstag in New York angesetzte Kampf zwischen Louis und Schmeling wurde aufgrund des anhaltenden Regens um 24 Stunden verschoben. Ich war genervt. Ich hatte mich so auf den Kampf gefreut und jetzt sollte es nochmals 24 Stunden dauern. Das bedeutete eine echte Geduldsprobe!
Als ich in der Nacht von Freitag auf Samstag von Vater geweckt wurde, war ich sofort hellwach. Und freute mich, als ich Onkel Paul sah. Paul war in letzter Zeit seltener gekommen, und ich sprang gleich in seine offenen Arme. Ich liebte Paul, weil er immer Zeit für mich hatte und sogar mit uns tobte, wenn unsere Eltern es verboten hatten. Paul hatte einen Sohn, den ich beneidete, obwohl er fünf Jahre jünger war als ich, denn Paul war der perfekte Erwachsene für mich. Einer, mit dem man durch Dick und Dünn gehen konnte.
Vor Aufregung und aus dem Schlaf gerissen, hatte ich ganz vergessen, dass Paul zum Boxkampf zu uns kommen würde. Umso mehr freute ich mich und nahm gleich Boxposition ein, als mir Paul die Fäuste entgegenstreckte. Drei Schläge von mir und Paul ging stöhnend zu Boden. Mutter, die mit Getränken kam, lachte und sagte, Paul hätte Schauspieler werden sollen.
Wir versammelten uns um das Radio, das damals großspurig Volksempfänger hieß. Der Empfang des kleinen Bakelitgeräts war zwar durch kräftiges Rauschen eingeschränkt, aber die Spannung war im Tonfall des Reporters Arno Helmiss zu hören und übertrug sich in die Körper meiner konzentriert lauschenden Familie. Es war für Schmeling ein wichtiger Kampf. Dabei ging es in diesem Kampf nicht einmal um einen Titel, sondern darum, wer gegen den amtierenden Weltmeister würde antreten können. Aber es war seine Chance, auch international Anerkennung zu erlangen. Der acht Jahre jüngere Louis galt als unschlagbar, verfügte über mehr Schlagkraft, Schnelligkeit und war der bessere Techniker, aber noch kein Weltmeister. Dennoch würde es schwer werden für Schmeling.
Helmiss erklärte mit schnarrender Stimme aus dem New Yorker Yankee Stadion, dass Schmeling trotz der offensichtlichen Nachteile eine Chance für sich wittern würde, da er in einem Interview gesagt habe „I have seen something“. „Was ist dieses Etwas?“, fragte Helmiss. Was hatte Schmeling gesehen, als er sich mit seinem Trainer Max Machon wochenlang intensiv vorbereitet hatte?
Und dann ging es los und Louis übernahm die Initiative in dem auf fünfzehn Runden angesetzten Kampf. Mehrfach traf seine starke Linke den ‚schwarzen Ulan vom Rhein‘, wie Schmeling in den USA genannt wurde. Die 45.000 Zuschauer im Stadion jubelten. Was ist ein Ulan, fragte ich. Und Onkel Paul antwortete, nachdem Vater mit den Achseln gezuckt hatte, dass sei ein Kavallerist mit Lanze.
Vielleicht habe die Vorbereitung des braunen Bombers auf dem Golfplatz ja ausgereicht, um den bisher chancenlosen Schmeling zu besiegen, so monierte der schon fast mitleidende Reporter. Die ersten drei Runden gingen schließlich klar an Louis, der Schmeling scheinbar eher als Aufbaugegner gesehen hat, nachdem er alle seine 23 Kämpfe zuvor gewonnen hatte. Louis Linke landete in fröhlicher Regelmäßigkeit im Gesicht von Schmeling, der auffallend defensiv boxte.
„So ein fairer Sportler, der Max!“, konstatierte Onkel Paul. Und so leise, dass er meinte, es würde nur seine Schwester hören, die auf der Lehne seines Sessels saß, und nicht die Kinder, die zu seinen Füssen kauerten, fügte er hinzu, „Vielleicht ganz gut, wenn er nicht gewinnt! Sonst benutzen ‚die‘ ihn nur für ihre Zwecke.“
„Was meinst Du damit jetzt schon wieder?“, fragte Vater, aber Mutter ging dazwischen, bevor Paul antworten konnte, und schimpfte, dass sie jetzt den Boxkampf hören wolle.
Von diesen ‚die‘ war häufiger die Rede bei den Erwachsenen. Vor einem Jahr hatte ich Vater schließlich einmal gefragt, wer denn ‚die‘ seien, die auch Onkel Paul so oft erwähne, da ich das Gefühl hatte, ‚die‘ machen doch einiges falsch und ‚die‘ seien vielleicht sogar Räuber oder andere böse Menschen. Vater hatte nur gesagt, das sei ein geflügeltes Wort, häufig genutzt, wenn man nicht wisse, wer genau hinter einer Tat steckt. In dem Moment hatte ich mich gewundert, wieso ein Wort Flügel haben könne, mich aber entschieden, das beim nächsten Mal herauszufinden.
Nur eine Woche später hatte ich wieder einmal verbotenerweise das Fahrrad meines Vaters genutzt und auf seine Frage, ob ich wisse, wer das gewesen sei, hatte ich gesagt, das seien sicher ‚die‘ gewesen. Erst hatte Vater gelacht und über meinen Kopf gestreichelt, was er gerne machte, wenn er stolz war auf seinen Sohn. Aber dann hatte sich sein Gesichtsausdruck plötzlich verändert und er hatte gesagt, Kinder dürften das nicht sagen. Ich solle ihm versprechen, dass ich das nicht mehr sagen würde. Weil er plötzlich so ernst und ängstlich aussah, versprach ich es ihm. Aber mir gefiel die Vorstellung immer noch, dass ‚die‘ eigentlich an allem schuld sein könnten und ich überlegte auch, wie ich Hans beibringen könnte, dass ‚die‘ ihn ja schließlich getreten hätten.
Helmiss riss mich aus meinen Gedanken, als er zum Beginn der vierten Runde versuchte, zu verstehen, warum Schmeling seine gefürchtete Rechte ständig hinter seinem linken Jab versteckte. Plötzlich war Ruhe und man hörte nur das gleichmäßige Rauschen der Übertragung. Alle horchten in einem kurzen Schreckmoment auf in der Ahnung, dass der Empfang gestört sein könnte, aber Helmiss war offensichtlich nur kurz die Stimme weggeblieben. Schon war er wieder da und frohlockte, dass, als Louis nach einem Jab seine Linke hängen ließ, Schmeling plötzlich seine Rechte an den Kopf des ‚Negers‘ schlug. „Ja, das ist tatsächlich eine Schwachstelle des Amerikaners“, freute sich der Reporter, „er lässt häufig die Linke hängen.“ Und Helmiss zitierte „seen something“. Das hatten sie also gesehen, der Max und sein Trainer. Dafür wochenlang Filmausschnitte angeschaut. Wenn er das weiter beherzigen würde, hatte er vielleicht doch eine Chance. Und dieser Satz „I have seen something“, der alles und nichts sagt, sollte dann auch später im Boxsport zu einem geflügelten Wort werden.
Wann ist man eigentlich ein Neger, fragte meine kleinere Schwester Margarete.
Paul grinste, „Gute Frage“, sagte er, „wenn es nach der Herrenrasse geht, ist das der Ausdruck für einen negriden Zweig der Menschenrassen.“
Mutter sagte ängstlich: „Ach Paul! Lass das doch.“ Und zu Margarete gewandt, „Das ist ein Mensch mit schwarzer Hautfarbe und das kommt aus dem Lateinischen, mein Schatz.“
Mir gefiel die Erklärung von Paul besser und ich frohlockte: „Bin ich auch die Herrenrasse?“
Es war kurz Stille im Raum, bis Paul leise – fast ohne Stimme, aber doch hörbar „ja“ sagte.
Mir lief es kalt den Rücken runter. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ich nicht stolz darauf sein könnte, ich mich vielmehr dafür schämen müsste oder gar Angst davor haben sollte. Das war nicht logisch, aber ich wollte einen besseren Moment abwarten, um das herauszufinden.
„Der Neger wird nun aber kräftig durchgeschüttelt!“, berichtete Helmiss. „Der Max setzt nach und Joe Louis scheint beeindruckt, während ihn weitere Schläge treffen. Und nun liegt er. Das erste Mal geht der ‚braune Bomber‘ zu Boden, das erste Mal in seiner Profi-Karriere.“
Schnell erholte sich Louis von dem Niederschlag, „doch nun ist unser Schmeling am Ruder. Er setzt Akzent für Akzent und insbesondere die klareren ‚Treffer‘“ so fasste Helmiss die ersten elf Runden zusammen und führte weiter aus: „Glänzend hat der Max sich gegen den nun, ja ich möchte sagen, mehr und mehr hilf- und konzeptlos agierenden US-Amerikaner behauptet. Und immer wieder nutzt der Max dessen offensichtliche Schwachstelle und punktet mit starken Rechten und deckt den Zweiundzwanzigjährigen mit Schlägen ein.“
Zwischenzeitlich war auch Euphorie vor dem Volksempfänger zu spüren. Selbst der skeptische Paul hatte glänzende Augen und auch Katharina, meine ältere Schwester, die zunächst zu schlafen schien, dann mit betonter Langeweile zuschaute und schließlich mit strahlend feuchten Augen das kleine unscheinbare Empfangsgerät fast anhimmelte.
Wir hatten alle das Gefühl, dabei zu sein. Noch heute sehe ich Bilder vom Kampf, obwohl ich die Bilder des Kampfes niemals gesehen habe. Sie wurden ja schon wenige Wochen später in den Kinos gezeigt, als ‚Beweis für die Überlegenheit der arischen Rasse‘ unter dem Titel “Max Schmelings Sieg – ein deutscher Sieg“. Und dennoch ‚sehe‘ ich heute noch, wie Max Schmeling sofort nach Ertönen des Gongs zur zwölften Runde als Erster in der Ringmitte ist. Schon das ist eine beeindruckende Demonstration seiner Entschlossenheit und wie Helmiss es ausdrückte, „von deutschem Siegeswillen“. Und es war keineswegs nur Show, Schmeling wollte es wissen. Helmiss Stimme überschlug sich nun. „Mit einer tollen Rechten trifft Max den Neger und ohh…! Und er lässt dieser gleich einen linken Uppercut folgen. Der Neger ist empfindlich getroffen!“ Und wirklich drängte Schmeling den schwankenden und sichtlich angeschlagenen Amerikaner in die Ringseile. Der versuchte es zunächst mit Halten, wurde dann aber vom nachsetzenden Schmeling durch den Ring getrieben.
Überrascht über den ausgeteilten Schlaghagel, den Louis nun über sich ergehen lassen musste, wirkte er mehr und mehr wehrlos. Dann stellte sich Schmeling den inzwischen fast ohne Defensive boxenden Amerikaner zurecht und traf ihn mit seiner heftigen Rechten am Kinn.
Mit dem furios aufdrehenden Schmeling wurden auch die Kommentare von Arno Helmiss immer aggressiver und schließlich kam es in der zwölften von fünfzehn Runden zum Knockout: "Da kommt die Rechte wieder und wieder eine Rechte und noch eine. Max schlägt dem Neger vorzeitig die Seele aus dem Leibe, der Neger geht zurück, wackelt, kann nicht mehr. Schmeling hat ihn zu Boden geschlagen. Aus!“
Später schilderte Schmeling den entscheidenden Moment so, dass Louis sich um seine Achse gedreht habe, sei an den Seilen in die Knie gestürzt und habe noch versucht, sich an ihnen emporzuziehen, sein Körper sei aber in sich zusammengebrochen.
Ringrichter Arthur Donovan zählte Louis an, doch der gestürzte Favorit kam nicht mehr auf die Beine. Spektakulär hatte Louis seinen Nimbus der Unbesiegbarkeit verloren. Nach exakt 2:29 Minuten der zwölften Runde war eine der größten Sensationen in der Geschichte des Sports perfekt.
Vergessen waren alle Unkenrufe von Onkel Paul und wir freuten uns für Schmeling und über diesen unerwarteten Sieg. Wir stießen mehrfach auf den Sieger an und auch wir Kinder durften die Gläser erheben, wobei zumindest Margarete und ich keinen Alkohol erhielten. Bei Katharina war ich mir nicht sicher, da sie später so merkwürdig kicherte. Paul meinte irgendwann, wir sollten auch auf Walter anstoßen, ohne den das alles nicht möglich gewesen wäre. Er meinte Walter Rothenburg, der für einen Kampf Schmelings gegen den Amerikaner Steve Hamas die Hanseatenhalle in Hamburg-Rothenburgsort bauen ließ. Es war die größte Sporthalle der Welt; sie bot 25.000 Menschen Platz, der Madison-Square-Garden dagegen nur 20.000. Der in dieser Halle von Schmeling errungene Sieg gegen Hamas ermöglichte Schmeling, wieder in Amerika als Boxer Fuß zu fassen und damit an diesem denkwürdigen, heutigen Tage gegen Joe Louis anzutreten. Rothenburg hatte diesen Toast in jedem Fall verdient, und es war auch irgendwie ein Toast auf unsere gemeinsame Heimat Hamburg.
Für mich wurde es auch deswegen ein so wichtiges Ereignis, weil es das letzte Mal war, dass ich Paul lachend sah. Dabei war er immer ein so fröhlicher und lustiger Mensch gewesen.
Als ich einschlief, hatte ich das Gefühl, selbst den WM-Titel geholt zu haben, obwohl es in dem Kampf nicht um irgendeinen Titel gegangen war. Ich hielt ihn hoch, den Gürtel, und zeigte ihn dem rasenden Publikum….
~
Als ich Hans am Montagnachmittag zum Boxtraining abholte, war unser einziges Thema Schmelings grandioser Kampf. Wir waren so beseelt von seinem Sieg, dass wir beide den Vorfall von letztem Mittwoch für den Moment zwar nicht vergessen hatten, aber unausgesprochen hinten anstellten, da es wichtigeres zu besprechen gab. Wir schwelgten in Erinnerungen vom letzten Freitag und tauschten unsere Erkenntnisse aus.
Der ganze Boxstall wirkte wie euphorisiert. Alle gingen mit noch mehr Ehrgeiz in ihr Training.
Als ich meine Aufwärmübungen fast hinter mich gebracht hatte und bei den letzten Liegestützen war, flogen mir plötzlich zwei Handschuhe an den Kopf. Ich schrie erschrocken auf und drehte mich um.
Hans stand in seinen Boxsachen vor mir. „Kannst Du auch fair kämpfen?“, fragte er mich.
Ich nickte beschämt und zog die Handschuhe an.
Wir kannten uns ja nicht nur seit Jahren, sondern boxten auch seit fast zwei Jahren zusammen. Wir kannten daher unsere Stärken und natürlich unsere vielen Schwächen besser als jeder andere. Ich war zwar größer und stärker als Hans, aber er war sehr schnell und zäh - ein unangenehmer Gegner.
Zunächst interessierte es niemanden, dass der nun beginnende Boxkampf von zwei Neunjährigen über ein normales Training hinausging. Aber als ich einen unerwarteten linken Ausleger des Rechtshänders Hans abbekam und kurz zu Boden ging, hörten die ersten auf zu trainieren und schauten uns zu.
Bisher hatte ich eher defensiv geboxt, aber nun hatte Hans seine Revanche bekommen und damit war es meiner Ansicht nach gut! Ich hatte auch Angst, was ich natürlich nicht zugegeben hätte. Angst, noch einen Schlag zu kassieren und mir wirklich weh zu tun, aber auch, dass ich Hans zu heftig erwischen würde.
„Es reicht, oder?“, fragte ich daher, als ich wieder stand. Ich brauchte Hans nur anzusehen, um zu wissen, dass es keineswegs reichte.
„Hast Du genug? Oder nur Angst?“, er wusste, wie er mich überzeugen konnte.
Schnell war ich wieder auf den Beinen und dann ging es richtig los. Wir schienen beide wie entfesselt. Wir spürten keine Angst, aber auch keine Schmerzen und prügelten aufeinander ein – wie besessen. Ich habe keine Erinnerung daran, ob es Sekunden oder Minuten waren, ich weiß auch nicht, ob ich mehr einsteckte oder austeilte. Plötzlich packten mich jedenfalls zwei Arme eines Erwachsenen und stießen mich in die Seile. Als ich wieder in Richtung Hans wollte, drang nun auch die Stimme unseres Trainers Woltmann zu mir durch.
„Martensen!“, schrie er, „noch einen Schlag und Du bist raus hier? Wir machen hier Sport und tragen keine Prügeleien aus! Für Dich gilt das Gleiche, Cohn!“ Er zeigte mit dem Zeigefinger auf Hans.
Wir guckten uns an, und erst jetzt bemerkten wir, dass außer uns und dem Trainer noch drei weitere junge Männer im Ring standen, die uns getrennt hatten. Als wir uns wieder ansahen und die Situation begriffen, dass wir wie zwei wilde Stiere aufeinander losgegangen waren und es offensichtlich vier kräftige Männer gebraucht hatte, uns zu trennen, mussten wir beide plötzlich lachen.
„Seid Ihr völlig durchgedreht?“, schrie Woltmann. „Zieht Euch um und kommt erst wieder, wenn Ihr Euch bei mir entschuldigen wollt.“
Schnell rafften wir unsere Sachen zusammen. Wir mussten allerdings in unterschiedliche Umkleidekabinen, da gemeinsames Umziehen mit Juden bereits seit fast einem Jahr nicht mehr erlaubt war. Ich wollte gerade raus, als einer der Jugendlichen, den ich sonst nur in der HJ-Uniform kannte, zu mir sagte, so dass es Hans, der draußen bereits auf mich wartete, aber hören konnte: „Mensch Helmut, lässt Dich von einem Juden umhauen? So werden wir die nie los.“
Ich antwortete nicht, holte Hans ein und wir gingen eine Weile schweigend nebeneinander her. Irgendwann hielt ich die Stille nicht mehr aus und sagte: „Ich habe mich nur umhauen lassen, um zu zeigen, dass ich Dich nicht loswerden will. Sonst, mein Freund…“ und ich nahm ihn in den Schwitzkasten und rieb ihm mit den Fingerkuppen über den Scheitel „wärst Du nicht so glimpflich davon gekommen.“
Wir stießen uns ein paar Mal hin und her und lachten. Wir hatten uns wieder vertragen. Es war zwischen uns alles wieder in Ordnung, ohne ein Wort über den Anlass für die Schlägerei beim Training zu verlieren. Ohne eine Kritik von Hans an meinem feigen Tritt, ohne eine Kritik von mir an seinen Provokationen. Wir kannten unsere Fehler und wussten, dass wir uns falsch verhalten hatten. Wir wussten aber insbesondere, dass wir die besten Freunde waren. Und das war so viel mehr wert als alles andere. Dafür würden wir uns unsere Schwächen verzeihen. Ich war selten in meinem Leben so glücklich und fühlte so viel Leben in mir wie in diesem Moment und wie in der Freundschaft zu Hans. Er war wie ein Bruder, den ich nicht hatte. Er war mein alter ego. Wir verstanden uns ohne Worte.
Tony Hill schaute der Blonden in die Augen. Sie entsprach hundertprozentig seinem Beuteschema. Sie sah nicht besonders intelligent aus, verfügte aber über zwei andere überzeugende Argumente. Er lag unter ihr und das blonde Luder hatte sich gerade über ihn gelehnt und ihm irgendwas Versautes ins Ohr gehaucht. Er betrachtete ihre Titten, die er auf BH Größe D schätzte und gerade als er überlegte, ob es überhaupt E gab oder bei DD Schluss war, umschlossen seine Hände wie ein Automatismus die in Reichweite baumelnden Glocken, als es klingelte. Erstaunt ließ er los und als er wieder zugriff, klingelte es erneut. Er wurde stutzig, überlegte kurz, ob er nicht über Glocken nachdenken dürfe, als es erneut klingelte auch ohne seinen Zugriff. Er begriff, dass der Zusammenhang zufällig war und der erneute Klingelton, der nun lauter wurde, weckte ihn schließlich auf.
Er schlurfte zum Telefon in den Flur, ließ sich auf den Holzstuhl fallen, griff zum Hörer und grunzte ein verschlafenes Hallo hinein.
Er lauschte kurz, zog einmal kurz den Rotz hoch und sagte: „Ja, ja, Jones, hier spricht Hill. Was wollen Sie denn schon wieder? Hmm, hmm, okay, ich kann heute noch Ihre Fotos machen. Schicken Sie mir den ganzen Schmodder zum Hangar, ich bin in zwei Stunden dort und nehme die Spit. Die ist schön wendig, damit komme ich nah genug dran. Dann haben Sie heute Abend, was sie brauchen.“
Tony Hill war Flight Lieutenant der Royal Air Force und nach der gewonnenen Schlacht um England Anfang des Jahres in die No. 1 Photographic Reconnaissance Unit, kurz 1PRU, gewechselt. Die Aufgabe seiner Einheit war, wie der Name schon sagte, Aufklärung mit Flugzeugen, die jeweils mit zwei Williamson F24 Kameras in den beiden Seitenwänden des Rumpfes ausgerüstet waren.
Hill legte auf und rieb sich mit beiden Händen das Gesicht. Es war Montagmorgen und der dritte Advent war vorbei. Zum Glück. Er verzog das Gesicht. Er hasste Weihnachten und sein Bezug zu Adventssonntagen war in etwa so wie der Bezug vom Papst zu seinem Traum, dem er noch kurz nachtrauerte. Dann sprang er auf und machte seine einhundert Liegestütze wie jeden Morgen.
Keine neunzig Minuten später erreichte er auf seinem Motorrad, einer sieben Jahre alten Triumph Speed Twin, das Flugfeld der RAF Station Benson bei Odiham in der Grafschaft Oxfordshire. Er hatte sein Kommen avisiert, so dass seine ‚Spit‘ bereits flugfertig sein müsste.
Die von ihm kurz ‚Spit‘ genannte Maschine war eine Supermarine Spitfire, die nicht nur er wegen ihrer erstaunlichen Wendigkeit liebte. Dennoch spürte er kurz vor Erreichen seines Flugzeuges nicht mehr die Vorfreude auf den Flug, wie er das früher empfunden hatte, sondern der Schweiß trat ihm aus den Poren und er hatte Atembeschwerden. Zu frisch waren die Erinnerungen an die Luftkämpfe, die er sich in seiner damaligen Spitfire gemeinsam mit den Kameraden in den Hawker Hurricanes gegen die deutschen Messerschmidt BF 109 und die Junkers, Heinkels und Dorniers, wie die deutschen Bomber hießen, geliefert hatte. Er schüttelte die Erinnerungen ab und fuhr an die Schranke. Der wachhabende Soldat erkannte ihn, auch wenn sich Hill nicht an ihn erinnerte, aber sein Gedächtnis für Gesichter war nicht außerordentlich ausgeprägt. Er salutierte höflich zurück und fuhr durch die geöffnete Schranke zum Hangar 8. Als er von seiner recht betagten Triumph stieg, erblickte er seine Spitfire und stellte zufrieden fest, dass sie abflugbereit war. Er ging in das kleine Büro und sah, dass ein Mann dort seine Hände in der Kaffeemaschine hatte, die offensichtlich wieder nicht das tat, was von ihr erwartet wurde.
Er erkannte seinen Chief Technician und fragte ihn mit einem Nicken zu der offensichtlich störrischen Kaffeemaschine: „Fliegt das Ding, wenn Du fertig bist?“
„Hill“, grinste Chief Technician Hardy, „Klar, nicht nur fliegen kann sie dann, sondern vermutlich auch besser landen als Du! Wieso bist Du schon da? Das dürfte Rekordzeit sein? Hast Du wieder ununterbrochen die 90 Meilen aus den 27 PS rausgeholt.“
Hill grinste: „Ja, und gelandet habe ich das Ding auch, obwohl die Spurweite der guten alten Triumph noch enger ist, als bei der verdammten Spit.“
Chief Technician Hardy überhörte diese Spitze gegenüber ‚seiner Spiti‘, wie er sie liebevoll nannte. Doch diese Kritik an der Spitfire war berechtigt, denn ihre enge Spurweite führte immer wieder zu Unfällen. Hardy wechselte das Thema: „Ein Laufbursche von Jones war hier und hat den Umschlag dort für Dich abgegeben.“
Hill nickte, öffnete das Dokument und holte Kartenmaterial und Fotos raus. „Wann kann ich starten?“, fragte er geistesabwesend.
„Vor 10 Minuten“, sagte Hardy und freute sich über das Getöse der nun laufenden Kaffeemaschine.
Als Hill in der Luft in Richtung Portsmouth war, dachte er über die ihm gestellte Aufgabe nach. Professor Dr. Reginald Victor Jones aus dem Forschungszentrum des britischen Luftfahrtministeriums hatte ihn bereits mehrfach beauftragt, Aufnahmen an der Nordfranzösischen Küste zu machen. Jones war begeistert von Hill, der es immer wieder schaffte, sehr nah an die ausgewählten Ziele heranzukommen. Und auch Hill konnte Jones gut leiden. Er hielt Jones für den intelligentesten Menschen, den er kannte, der zudem bereits für den bisherigen Kriegsverlauf einen vielleicht entscheidenden Einfluss gehabt hatte. Dabei war Jones ihm gegenüber niemals arrogant aufgetreten. Im Gegenteil, auch Jones respektierte Hill als einen Spezialisten seines Faches. Jones hatte ihm auch das Luftfahrt-Forschungszentrum in Farnborough gezeigt, das keine zwölf Meilen von Odiham entfernt war, und ihm erklärt, wie wichtig ihre gemeinsame Aufgabe sei. Dort hatte Hill interessante Details über Chain Home und Chain Home Low erfahren. So hieß die Kette aus Radarstellungen, die den gesamten Luftraum über der Ostküste Englands überwachte. Ohne Chain Home hätten sie den Angriffen der deutschen Luftwaffe wohl nicht standhalten können.