Circle of Night - Das Reich der Schatten - Michelle C. Paige - E-Book

Circle of Night - Das Reich der Schatten E-Book

Michelle C. Paige

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Beschreibung

In Hamburg treiben dunkle Schatten ihr Unwesen ...

Die 17-jährige Louisa kann nur knapp einem Monster aus Feuer entkommen, das in der Elbphilharmonie wütet. Doch niemand außer ihr sieht dieses Wesen.

Erst durch den mysteriösen Noah erfährt Louisa, was sie ist: eine Hexe! Und auf die haben es die Monster ganz besonders abgesehen. Aber Louisa ist nicht allein, denn Niklas, die Zwillinge Jason und Josie sowie Gizem haben ähnliches erlebt. Noah bietet seine Hilfe an und bringt der Gruppe bei, wie sie ihre Magie einsetzen und die gefährlichen Schatten bekämpfen können.

Während Louisa bei den Übungsstunden aufblüht, sind sie für Niklas kaum auszuhalten. Und das nicht nur, weil zum Erlernen von Magie auch das Wälzen von dicken Zauberbüchern gehört. Sondern vor allem, weil Jason Teil ihrer Gruppe ist. Der Jason, der einst sein Leben zerstört hat.

Doch für Fehden innerhalb der Gruppe fehlt ihnen die Zeit. Sie müssen schnell stärker werden und zusammenarbeiten, um den Schattenwesen etwas entgegenzusetzen. Denn es werden immer mehr, und sie werden hungriger ...

Auftakt der spannenden Reihe »Circle of Night« um die fünf jungen Hexen und Hexer, die sich den Mächten des Bösen entgegenstellen und für Freundschaft, Liebe und eine bessere Welt alles riskieren.

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Inhalt

Cover

Über dieses Buch

Titel

Widmung

Kapitel 1 – Louisa

Kapitel 2 – Niklas

Kapitel 3 – Louisa

Kapitel 4 – Niklas

Kapitel 5 – Louisa

Kapitel 6 – Niklas

Kapitel 7 – Louisa

Kapitel 8 – Niklas

Kapitel 9 – Louisa

Kapitel 10 – Niklas

Kapitel 11 – Louisa

Kapitel 12 – Niklas

Kapitel 13 – Louisa

Kapitel 14 – Niklas

Kapitel 15 – Louisa

Kapitel 16 – Niklas

Kapitel 17 – Louisa

Kapitel 18 – Niklas

Kapitel 19 – Louisa

Kapitel 20 – Niklas

Kapitel 21 – Louisa

Kapitel 22 – Niklas

Kapitel 23 – Louisa

Kapitel 24 – Niklas

Kapitel 25 – Louisa

Kapitel 26 – Niklas

Kapitel 27 – Louisa

Kapitel 28 – Niklas

Epilog

Danksagung

Über die Autorin

Weitere Titel der Autorin

Impressum

Über dieses Buch

Die 17-jährige Louisa kann nur knapp einem Monster aus Feuer entkommen, das in der Elbphilharmonie wütet. Doch niemand außer ihr sieht dieses Wesen.

Erst durch den mysteriösen Noah erfährt Louisa, was sie ist: eine Hexe! Und auf die haben es diese Schattenwesen ganz besonders abgesehen.

Aber Louisa ist nicht allein, denn Niklas, die Zwillinge Jason und Josie sowie Gizem haben ähnliches erlebt. Noah bietet seine Hilfe an und bringt der Gruppe bei, wie sie ihre Magie einsetzen und die gefährlichen Schatten bekämpfen können.

Und sie müssen schnell stärker werden und zusammenarbeiten, um den Schattenwesen etwas entgegenzusetzen. Denn es werden immer mehr, und sie werden hungriger ...

Auftakt der spannenden Reihe »Circle of Night« um die fünf jungen Hexen und Hexer, die sich den Mächten des Bösen entgegenstellen und für Freundschaft, Liebe und eine bessere Welt alles riskieren.

Michelle C. Paige

Das Reich der Schatten

Eine YA-Urban-Fantasy-Reiheum die Hexen von Hamburg

Für Yui.

Und alle, die sich Geborgenheit wünschen, aber noch nicht bereit sind, danach zu fragen.

Kapitel 1 – Louisa

Bei Gefahr sollte man weglaufen, nicht darauf zu.

Niemand musste einem das sagen, das war absolut logisch, und Louisa brüstete sich gern mit ihrer Fähigkeit, immer logisch zu denken, ihrem größten Talent. Doch an dieser Situation gerade war ganz und gar nichts logisch. Eben noch hatte sie mit ihren Eltern den großen Konzertsaal betreten – die meisten anderen Besucher saßen bereits an ihren Plätzen –‍, dann brach pures Chaos aus. Flammen wälzten sich Sekunden später über den hölzernen Boden, und Menschen zerrten sie panisch in alle Richtungen, während der Feueralarm losschrillte.

Und dann, als sie aufblickte, schien die Welt stillzustehen, und alle Geräusche schienen zu verstummen, denn aus dem wütenden Feuer, dem Ursprungspunkt der Flammen auf der anderen Seite des Saals, stieg ein Körper auf. Eine groteske Gestalt, ein Wesen aus Schatten und Rauch, das so groß war wie der Raum, den es durch bloße Berührung in Brand steckte. Seine Fratze aus Muskeln und Knochen und Dunkelheit, die der eines albtraumhaften Dämons glich, zog Louisa in ihren Bann.

Aber es war in diesem Moment nicht die Tatsache, dass solche Wesen objektiv gesehen nicht existieren konnten, die sie so vereinnahmte. Es war stattdessen das Gefühl von Schmerz, das jede Faser seines Körpers ausstrahlte, während es verzweifelt zu versuchen schien, sich einen Ausgang aus diesem Saal zu brennen. Ein Schmerz, der so tief saß, dass die Angst, die Louisa bei solch einem Anblick empfinden sollte, von Mitleid überlagert wurde.

Behutsam schaute sie hoch, ging auf das Wesen zu, tat genau das, was sie nicht tun sollte. Sie streckte die Hand danach aus und erwartete intuitiv, dass es sich entweder in ein kleines trauriges Kind verwandelte ... oder dass sie jeden Moment aus dem Schlaf schrecken würde.

Für einen kurzen Augenblick trafen sich sein und ihr Blick – zumindest vermutete sie, dass die dunklen Gruben in seinem Gesicht Augen waren –‍, und für den Bruchteil einer Sekunde erwartete sie, dass es den Mund öffnen würde, um zu schreien, um all den Schmerz herauszulassen.

Erst als jemand sie an der Schulter packte und mit sich zog, als panische Stimmen und menschliche Schreie die pochende Stille unterbrachen und die unerträgliche Hitze der Flammen sie plötzlich übermannte, fand Louisa zurück in die Realität. Rauch war auf einmal überall und drohte, sie zu ersticken. Lautes Glassplittern ließ sie zusammenzucken, doch der uniformierte Feuerwehrmann schützte sie davor.

Kurz verlor Louisa das Ungetüm aus den Augen, wurde von dem Mann aufgefordert, ihm zu folgen. Als sie sich trotz allem noch einmal umdrehte, war die monströse Gestalt verschwunden, und nur Flammen blieben zurück, die die Elbphilharmonie unbarmherzig und unaufhaltsam zerfraßen.

Als Louisa eine Weile später mit Dutzenden von anderen Brandopfern in der Notaufnahme saß, bereute sie zutiefst, sich überhaupt auf das Konzert mit ihren Eltern zur Feier ihres Abiturs eingelassen zu haben. Denn Krankenhäuser aktivierten ihren Sorgen-Modus und steigerten ihn ins Unermessliche, obwohl die beiden sonst immer recht entspannt, in seltenen Fällen sogar cool waren.

Jetzt flatterten sie um sie herum und erhöhten Louisas Stresspegel mit ihrer plötzlich alles einnehmenden Nervosität. Sie versuchten, jeden vorbeilaufenden medizinischen Krankenhausangestellten davon zu überzeugen, dass ihre Tochter unbedingt zuerst behandelt werden musste. Wie peinlich! Louisas Beschwichtigungsversuche ignorierten sie, auch wenn sie wirklich nur ein paar unwesentliche Verbrennungen davongetragen hatte. Wo war das Erdloch, wenn man es brauchte, um sich darin zu verkriechen?

Sogar nachdem endlich eine Ärztin bezeugte, dass man sich keine Sorgen machen musste, dass sie nicht einmal Narben davontragen würde, fragte ihre Mutter sie ständig, ob es ihr wirklich gut ging. Ihr Vater hingegen atmete mehrfach tief durch, um nicht in Ohnmacht zu fallen.

Schließlich gab man ihnen noch ein paar Rezepte mit und schickte sie nach Hause, um Platz und Kapazitäten für andere Patienten zu schaffen.

»Ich verstehe einfach nicht ...« Ihre Mutter seufzte, sobald ihnen draußen die kühle Nachtluft entgegenschlug. »Louisa, Schatz, wieso bist du nicht mit uns rausgelaufen, als der Alarm losgegangen ist?«

Oh, nein. Nicht das. Nachdem sichergestellt war, dass es ihr gut ging, war es nun also an der Zeit für die Fragerunde. Wie konnte Louisa sich da jetzt am besten herauswieseln?

»Da sind auf einmal so viele Leute durcheinandergelaufen.« Sie zuckte schuldbewusst mit den Schultern. »Ich habe euch aus den Augen und dann die Orientierung verloren.« War das gut genug, damit sie keine Fragen mehr stellten? Louisa wich dem eindringlichen Blick ihrer Mutter aus, rieb sich stattdessen die Oberarme und sah sich auf dem hell beleuchteten Parkplatz um.

Es musste nach Mitternacht sein, und doch sammelten sich dort große Menschentrauben, während ständig Krankenwagen ankamen und wieder davonfuhren. Auch der Rest der Stadt, den man in der Ferne erspähen konnte, schien hell erleuchtet zu sein. Dieser Brand musste halb Hamburg in Panik versetzt haben.

»Louisa ...« Die Stimme ihres Vaters ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Er sagte nicht einfach nur ihren Namen. Es waren Tausende andere Dinge davor und danach, die er nicht aussprach. Da waren weder Wut noch Anschuldigung, im Gegenteil. Jeder Buchstabe war getränkt von tiefer Sorge, die sich auch in der Furche seiner rechten Augenbraue widerspiegelte, während er sie aufmerksam musterte.

Übel nehmen konnte sie es ihm nicht, denn immerhin war er es damals gewesen, der sie gefunden hatte. Der für ein paar schreckliche, weltenuntergehende Sekunden gefürchtet haben musste, dass er sie für immer verloren hatte. Auch damals war es keine Absicht gewesen. Aber vermutlich würde diese Sorge nun bis in alle Ewigkeit fest in ihm verankert bleiben. Eine Angst, so tief, dass es sie manchmal schmerzte, ihm auch nur in die Augen zu blicken.

Er atmete tief ein. »Ich habe immer wieder versucht, in den Raum zurückzudrücken, und dich da irgendwann einfach nur noch stehen sehen, Lou.« Mit dem Zeigefinger deutete er auf ihr knallgelbes Shirt, das man gar nicht aus den Augen verlieren konnte. »Und es tut mir so leid, dass ich dich da nicht selbst rausgeholt habe, mein Schatz. Die Feuerwehrleute haben uns irgendwann quasi allesamt herausgetrieben. Das ging alles so schnell! Ich wusste, die würden dich da auch rausholen. Aber eins verstehe ich einfach nicht. Als ich dich endlich erspäht hatte ... Wieso bist du nicht gerannt?«

Kurz erstarrte sie, erinnerte sich an die dämonische Gestalt, die so real gewesen war, dass sie ihren eigenen Erinnerungen kaum trauen konnte. Aber es hatte sich so echt angefühlt, so verdammt echt, dass sich jedes Detail davon und dieser tiefe Schmerz in sie hineingebrannt hatten.

Allerdings hatte sie niemanden sonst darüber sprechen hören. Alle Gespräche hatten sich um den Brand gedreht, nicht um die schreckliche Gestalt, die ihn ausgelöst hatte. Deshalb ging Louisa davon aus, dass kein anderer außer ihr sie gesehen hatte. Das wiederum musste bedeuten, dass sie es sich eingebildet hatte. Dass die letzten Monate mit dem Abitur vielleicht doch ein wenig zu stressig gewesen waren und sie im Augenblick eine Gefahr für sich selbst darstellte. Das war etwas, was ihre Eltern auf jeden Fall alarmieren würde. Und die Klinik für eine Einweisung befand sich direkt um die Ecke.

Nein, danke. Denn das würde alles zerstören, wofür sie die letzten zwei Jahre so hart gearbeitet hatte. Also musste sie sich jetzt ganz genau überlegen, was sie am klügsten antwortete. Wie sie ihre Eltern beruhigen konnte, trotz deren Misstrauen. Was war die perfekte, kleine, aber feine Lüge, die sie ihnen unterbreiten konnte?

»Ich ...« Louisa runzelte die Stirn, blickte kurz zu Boden und schüttelte schließlich den Kopf. Es war doch eigentlich verdammt einfach. »Ich ... Ich war wie gelähmt.« Die Freeze-Reaktion. »Da war plötzlich überall Feuer, und es war so laut! So viele Menschen sind durch die Ausgänge geströmt.« Sie verzog die Lippen. »Ich habe mich so oft zu den Türen umgedreht ... Irgendwann wusste ich nicht mehr, wo vorn und wo hinten ist. Durch den Rauch ist mir schwindlig geworden, und ich hatte keine Ahnung mehr, was ich tun soll.«

Endlich sah sie erst ihrer Mutter, dann ihrem Vater in die Augen. Die Lüge brannte bitter in ihrer Brust. »Es tut mir leid. Wirklich. Ich war so durcheinander. Das Feuer war so ...« Nervös leckte sie sich über die Lippen, bemühte sich um eine schauspielerische Leistung, nachdem sie dort drinnen – warum auch immer – eigentlich überhaupt gar keine Angst gehabt hatte. »Es war schrecklich.«

»Oh, Schatz.« Ihre Mutter zog sie in eine Umarmung. »Nein, mir tut es leid, dass wir nicht gleich gemerkt haben, dass du ...« Auf einmal konnte Louisa sie schniefen hören – Gott, was hatte sie getan? Für den »Tochter-des-Jahres«-Award hatte sie sich jetzt definitiv disqualifiziert.

Ihre Mutter holte tief Luft, betrachtete ihr Gesicht mit Tränen in den Augen und strich ihr mit einem traurigen Lächeln eine Haarsträhne von der Stirn.

»Wir sind nur so froh, dass es dir gut geht.« Wieder drückte sie sie fest an sich, und ihr Vater umarmte sie ebenfalls von der Seite.

Jep. Es stand fest: Ihre Eltern durften auf keinen Fall erfahren, warum sie wirklich auf das Feuer zugegangen war.

Erst einmal musste Louisa sich aber selbst beweisen, dass sie nicht halluziniert hatte, denn die Zweifel an ihrem eigenen Geisteszustand waren für den Moment berechtigt.

Das Internet war dabei leider nicht besonders hilfreich. Zwar gab es bereits Dutzende Artikel zum Feuer – Theorien zur Brandursache und erste Spekulationen zu potenziellen Brandstiftern –, von Feuerdämonen sprach allerdings niemand. Selbst in den Untiefen der düstersten Verschwörungs-Foren wurde darüber nicht diskutiert.

Nach einer Weile starrte sie nur noch auf den Bildschirm, der so spät nachts die einzige Lichtquelle in dem Chaos war, das sie wagte, »Zimmer« zu nennen. Vermutlich sollte sie einfach schlafen gehen und vergessen, was sie gesehen hatte, denn das war, was logisch denkende Menschen taten, richtig? Abhaken und wegpacken. Es gab keinen Grund, sich darüber zu lange den Kopf zu zerbrechen. Sie atmete tief ein, starrte aus dem Fenster, wo in zwei, drei Stunden die Sonne wieder aufgehen würde.

Dann warf sie alles über Bord, was logisch war.Wer brauchte schon Schlaf?

Bevor sie sich selbst davon abhalten konnte, begann sie, das Internet nach generellen Begegnungen mit Dämonen, Feuermonstern und Geistern zu durchforsten. Damit startete sie eine mehrstündige Recherche, durch die sie in die tiefsten Abgründe der Menschheit blicken konnte. Sie konnte sich davon gar nicht mehr lösen. Von Erscheinungen düsterer »Schattenwesen« auf Friedhöfen, Hunderten von Geistergeschichten bis zu brennenden Kirchen – doch nichts davon schien Hand und Fuß zu haben.

Irgendwann rieb Louisa sich die müden Augen und ließ sich in ihr Kissen zurücksinken. Sie fand keine Ausreden mehr. Das war's. Was sie da gesehen hatte, musste eine Halluzination gewesen sein.

Louisa schluckte, denn das bedeutete, sie hatte womöglich mehr Probleme, als sie sich hatte eingestehen wollen. Dabei sollte dieser letzte Sommer in Deutschland doch eigentlich die Zeit sein, in der sie sich noch einmal in vollen Zügen amüsierte und gehen ließ, bevor die Uni in den Staaten im Herbst beginnen würde.

Bedrückt schloss sie die Augen. Diese Zeit wollte sie auf keinen Fall in einer Klinik verbringen. Nicht, nachdem sie so hart an sich gearbeitet hatte. Dann wiederum hatte sie gerade mehrere Stunden obsessiv das Internet durchforstet und all ihre körperlichen Bedürfnisse ignoriert. Alte Muster und so ... Wieso konnte sie sich selbst nicht aufhalten, wenn ihr doch bewusst war, was sie da gerade tat?

Seufzend zog sie die Beine an, beobachtete die aufgegangene Sonne, die bereits warm durchs Fenster hineinschien, und versuchte, sich daran zu erinnern, was genau sie am Vorabend gesehen und gefühlt hatte. Gefühle kamen doch meistens von außen, von anderen, nicht aus ihr selbst heraus, jedenfalls nicht, wenn sie es verhindern konnte. Also, welche Option war besser: die der selbst gebackenen Halluzination oder die einer waschechten übernatürlichen Erscheinung?

Louisa war auf einmal unendlich müde, aber nicht, weil ihr Schlaf fehlte, sondern weil ihr Leben sich von jetzt auf gleich wieder unglaublich schwer anfühlte.

Doch ehe sie den Laptop zuklappen konnte, wurde sie von einer Benachrichtigung aufgeschreckt. Sie runzelte die Stirn und rief ihr Postfach auf, erwartete um diese Uhrzeit irgendeine Spam-Mail, doch sie stockte, als sie den Betreff las. Louisa hielt den Atem an, bevor sie die Mail öffnete.

Betreff: Was du im Feuer letzte Nacht gesehen hast

Louisa,

du fragst dich bestimmt, was das war, was du in der Elbphilharmonie gesehen hast, oder? Keine Angst, du hast es dir nicht eingebildet. Was du da gesehen hast, war real. Und du bist nicht allein. Wenn du willst, kann ich dir mehr dazu erzählen und dir zeigen, wie du dich in Zukunft davor schützen kannst.

Treffpunkt: Montag, 20 Uhr, Café Morgengrau.

Bis dahin,

Noah

Kapitel 2 – Niklas

Niklas kämpfte damit, den Schlüssel ins Türschloss zu bekommen, was irgendwann so lächerlich war, dass er sich selbst dabei leise auslachte. Er konnte sowieso kaum gerade stehen, weil er so dicht war, dass sich alles vor seinen Augen drehte. Vielleicht war es besser so, vielleicht war es angenehmer, hier draußen zu schlafen als drinnen, wo er manchmal das Gefühl hatte, kaum atmen zu können.

Sobald er die Tür aufbekam, war das aber wieder vergessen, denn das Einzige, woran er denken konnte, war eine fettige Tiefkühlpizza, die er sich zielstrebig – nach mehreren Öffnungsanläufen der Tür – aus dem Gefrierschrank holte und in den Ofen steckte. Das Licht ließ er aus, wenn auch nur aus Gewohnheit, denn seine Mutter war schon seit Tagen nicht mehr zu Hause gewesen und würde sich kaum darüber beschweren. Aber diese Dinge, die man sich in seiner Kindheit angewöhnt hatte, wurde man schwer wieder los.

Niklas ließ sich neben den Ofen sinken, weil es ihm zu anstrengend wurde, sich auf den Beinen zu halten. Er schloss die Augen, dachte grinsend an die Party und die lustigsten Momente zurück, grunzte, als er sich daran erinnerte, wie sich einer seiner alten Kumpels auf einen anderen übergeben hatte. Eine gute Zeit, eine richtig gute Zeit – besonders da er sich selbst für mehrere Stunden hatte vergessen können.

Weil es auch ein paar Minuten später noch immer nicht nach der Pizza roch, nach der es ihn so sehr verlangte, drehte er sich zum Ofen um und runzelte die Stirn.

»Fuck«, murmelte er. Er hatte den verdammten Backofen gar nicht eingeschaltet. Schwerfällig stand er wieder auf, um genau das zu tun, als er eine Gestalt im Augenwinkel wahrnahm.

Niklas blieb wie versteinert stehen und hielt die Luft an, erwartete die ausfallende, laute Stimme seiner Mutter, die sich dazu entschieden haben musste, sich ausgerechnet heute Nacht mal wieder blicken zu lassen. Sie würde sofort riechen, dass er betrunken war, und auch wenn sie es war, die in kaum einem Moment ihres Lebens nüchtern war, würde ihr das mal wieder beweisen, was für ein Versager ihr Sohn doch war.

Aber ihre Stimme blieb aus. Stattdessen war es einfach nur merkwürdig still. Er ballte die zitternden Hände zu Fäusten und tat ein paar tiefe Atemzüge, war auf einmal beinahe nüchtern und lehnte sich mit gesenktem Kopf erschöpft an die Küchentheke.

Als er wieder aufsah, gefror ihm das Blut in den Adern. Im dunklen Wohnzimmer-Fenster, gegenüber der offenen Küche, stand ein Schatten. Erschrocken fuhr Niklas zusammen und beobachtete die regungslose, schlaksige Gestalt mit geweiteten Augen.

»Mama?«

Keine Reaktion.

Er wusste ganz genau, dass das nicht seine Mutter war.

Gänsehaut krabbelte Niklas' Wirbelsäule hinauf, während die Gestalt ihn wortlos anstarrte. Zumindest vermutete er das. Er konnte ihr Gesicht nicht richtig erkennen, konnte sich aber auch nicht abwenden. Niklas bekam schlagartig das ungute Gefühl, dass er wegrennen sollte, sofort! Doch sein Körper gehorchte ihm nicht.

Und nur einen Moment später wurde ihm bewusst, dass er dem Wesen keinesfalls in die Augen gesehen hatte. Denn erst jetzt öffnete es diese, starrte ihm mit stechend roten Augäpfeln entgegen, die die Dunkelheit durchbrachen, die das unmenschlich geformte Gesicht zur Geltung brachten und offenbarten, dass es keinen Mund besaß.

Niklas unterdrückte einen geschockten Aufschrei.

Was zur Hölle war das?

Er riss die Augen weiter auf, vergaß kurz, wie man atmete, hatte seinen Körper immer noch nicht unter Kontrolle.

Einbildung! Plötzlich fiel Niklas wieder ein, dass er sturzbesoffen war. Fuck. Aber so einen schlimmen Trip hatte er noch nie gehabt. Und wann hatte sein ganzer verdammter Körper angefangen zu zittern? Schnell kniff er die Augen fest zusammen, suchte nach seiner Vernunft, tief begraben irgendwo in seinem alkoholisierten Schädel. Es war nach wie vor so still, dass Niklas aufschrak, als er ein schwerfälliges Schlurfen hörte. Sofort riss er die Augen wieder auf. Das Ding war immer noch da! Und kam auf ihn zu!

»Fuck!«, fluchte er abermals, plötzlich panisch, während diese Gestalt aus Schatten und Dunkelheit sich langsam und leicht zuckend auf ihn zubewegte. Niklas' Herz hämmerte gegen seinen Brustkorb. Hektisch griff er nach einem der Messer neben dem Herd und hielt es zitternd der Gestalt entgegen.

»Hau ab!«, schrie er, mittlerweile sicher, dass das nichts anderes als ein verflucht widerlicher Einbrecher sein konnte. Weil der Schatten nicht reagierte, tastete Niklas nach seinem Handy, wusste aber um Himmels willen nicht mehr, wo er es hingesteckt hatte. »Ich ruf die Bullen an!«, drohte er.

Keine Reaktion. Der Eindringling schlurfte weiter zielstrebig auf ihn zu, die Augen immer noch rot brennend, sodass Niklas sich kaum davon abwenden konnte. Er wollte mutig sein, den ersten Angriff wagen, er wollte so sehr mutig sein! Nicht hilflos, nie wieder hilflos. Aber stattdessen drohten seine Knie einzuknicken. Seine Augen brannten heiß, sein Körper war kurz davor, dem Druck der Furcht nachzugeben. Mit jedem Schritt, den dieses Ding tat, breitete sich ein immer intensiver werdender Geruch von vermoderter Erde aus, der Niklas Übelkeit in den Hals steigen ließ.

Und dann, ruckartig, machte die Gestalt einen Satz, stand direkt vor ihm. Ihre Augen bohrten sich tief in Niklas', der das Messer fallen ließ, der aufschreien wollte, aber keinen Ton herausbekam. Das Gesicht des Eindringlings schien eine pure pechschwarze, zähflüssige Masse zu sein, die zerfloss und auf seinen Körper tropfte, der aus nichts als erdfarbenen Knochen und Muskeln bestand. Seine glühenden Augen lähmten ihn und strahlten Hitze aus, die auf Niklas' Haut brannte.

Eine Hand schloss sich um seinen Hals, so schnell und so fest, dass er hier und jetzt wusste: Er würde sterben.

O Gott, er würde sterben! Aber er kämpfte, griff nach der Hand, die drohte, ihn zu ersticken, packte dabei eine glitschige Masse, die er nicht wegschieben konnte, so sehr er sich auch bemühte. Die Augen des Monsters glühten auf, als ergötzte es sich an seiner Panik.

Niklas röchelte verzweifelt, während immer größer werdende schwarze Punkte vor seinen Augen tanzten. Bis sich der Druck um seinen Hals unerwartet löste und er sich im nächsten Moment am Boden wiederfand. Er kämpfte darum, die Augen offen zu halten, wand sich schwerfällig und entdeckte schließlich verschwommen eine andere, dunkle Gestalt im Flur, die er nicht zuordnen konnte. Wie durch Watte drang Gemurmel an seine Ohren. Kurz wurde es ganz hell, und dann wurde alles dunkel.

Niklas hasste es, morgens in seinem Bett aufzuwachen, hasste die Tatsache, dass er zurück in der Realität war, in der er nicht sein wollte. Dennoch beruhigte ihn heute das Tageslicht, und er konnte endlich aus der erstickenden Starre seines Albtraums auftauchen. Automatisch griff er sich an den Hals, der leicht schmerzte, vermutlich eine Verspannung, die er in seinen Traum eingebaut hatte.

Behutsam holte er tief Luft und starrte an die Decke. Sein Kopf pochte unangenehm; der Kater war schlimmer als sonst, weil er nichts mehr gegessen hatte. Er runzelte die Stirn, konnte sich nach der kalten Pizza nicht erinnern, ins Bett gegangen zu sein. War er nicht in der Küche eingepennt?

Seufzend drehte er sich auf die Seite. Spielte mit dem Gedanken, die Augen wieder zu schließen, sich die Decke über den Kopf zu ziehen und den ganzen Tag zu verschlafen, wie er es in letzter Zeit so oft machte. Wenn er bis in den Abend schlief und dann direkt zur nächsten Party gehen konnte, musste er sich nicht mit seinem eigenen Leben beschäftigen.

Aber heute war ihm zu mulmig zumute, um die Augen noch mal zuzumachen. Stattdessen sollte er vielleicht wirklich mal etwas essen und den Tag mit Videospielen vergeuden, bevor er sich am Abend wieder abschießen würde.

Er schälte sich aus seiner Decke und schlenderte in die Küche, die ihm immer noch ein ungutes Gefühl bereitete, das er jedoch schnell wegschob, weil er nicht die Art Person war, die sich vor Monstern aus Albträumen fürchtete. Niklas wusste genau, dass die realen Monster, die einen mit Worten allein über Jahre hinweg langsam und qualvoll leiden ließen, meistens Menschen waren.

Missmutig stellte er fest, dass die ungebackene Pizza immer noch im Ofen lag. Nach der warmen Nacht und längst viel zu weit aufgetaut, würde er die aber nicht mehr anfassen. Den Fehler hatte er einmal und nie wieder gemacht.

Er durchforstete Gefrierschrank und Regale nach anderen Überbleibseln von Vorräten, die seine Mutter seit Wochen nicht aufgefüllt hatte. Sie hatte schon so oft angedroht, nicht mehr wiederzukommen, vielleicht setzte sie das diesmal wirklich in die Tat um. Seufzend begnügte er sich mit ein paar Löffeln Erdnussbutter und einer alten Tüte Chips, die bereits fahl schmeckten.

Niklas lehnte sich dabei an die Theke und sah sich nach dem Wohnzimmerfenster um, das in seinem Traum so düster und undurchdringlich gewesen war. Es überkam ihn wieder Gänsehaut beim Gedanken an dieses eklige Ding.

Unbewusst griff er sich erneut an den Hals, versuchte, dieses unangenehme Gefühl abzuschütteln, das sich viel zu real angefühlt hatte, und dehnte den Nacken. Dabei fiel sein Blick auf ein Messer am Boden, das da nichts zu suchen hatte, ihm im Traum aber genau dort aus der Hand gefallen war. Schnell kämpfte er die Erinnerung an die Panik nieder, an dieses Gefühl zu wissen, dass er sterben würde, das so echt gewesen war.

Er schüttelte den Kopf, nahm das Messer und steckte es zurück in den Block, in den es gehörte. Dann atmete er tief durch. Die Chips konnte er auch in seinem Zimmer verputzen. Er wollte gerade dorthin verschwinden, als ihm die verwelkten Pflanzen auf der Fensterbank auffielen.

Allesamt schienen ausgedörrt zu sein.

Niklas' Herz setzte einen Schlag aus, weil er sich vollkommen sicher war, dass sie am Vortag noch grün gesprossen hatten, auch wenn er sich nur halbherzig darum bemühte, sie am Leben zu halten.

Sie konnten in so kurzer Zeit doch nicht völlig eingehen? Weil dieser Gedanke an ihm nagte, huschte er ins Wohnzimmer, wo die große Zimmerpflanze schon seit Jahren neben dem Sofa stand. Das war die eine Pflanze, von der er wusste, dass sie nicht besonders viel Pflege brauchte, um zu überleben – so wie er. Sein ganzer Körper wurde kalt, als er sie näher in Augenschein nahm. Braun und verwelkt, tot, wie die in der Küche.

»Was zur ...« Seine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern, während der Albtraum zu ihm zurückkam. Bilder dieses Monsters, dessen Fratze sich in seine Gedanken eingebrannt hatte.

Für eine Sekunde war Niklas erstarrt in der Erkenntnis, dass das vielleicht kein Traum, keine Halluzination gewesen war. Aber das konnte nicht sein. Er fasste sich wieder an den Hals, der jetzt noch mehr zu schmerzen schien als vorher. Das war völlig absurd.

Der Benachrichtigungston seines Handys in der Hosentasche seiner Jogginghose ließ ihn zusammenfahren.

»Fuck!«, fluchte er, zog es mit zitternden Fingern hervor. Da war eine neue Mail im Postfach, die er beinahe ignorierte, bis er den Betreff las, den Screen anstarrte, bevor er, fast reglos, drauftippte:

Betreff: Was letzte Nacht passiert ist

Niklas,

du fragst dich bestimmt, was das war, was dich vergangene Nacht in deiner Wohnung angegriffen hat. Es tut mir leid, dass ich erst so spät da war, um dir zu helfen. Aber ich kann dir mehr dazu erzählen und dir zeigen, wie du dich in Zukunft selbst davor schützen kannst.

Treffpunkt: Montag, 20 Uhr, Café Morgengrau.

Bis dahin,

Noah

Kapitel 3 – Louisa

Auf keinen Fall konnte Louisa der supermysteriösen E-Mail-Einladung eines Fremden nachkommen. Das wäre total unvorsichtig. Das konnte sonst wer sein, der sonst was plante. Vielleicht hatte er sie beim Brand beobachtet, sie als Opfer auserkoren, ihre Kontaktdaten herausgefunden.

Die Mail hatte sie nach Eintreffen sicher etwa zehn Minuten angestarrt und mit sich gerungen, ob sie nun etwas darauf antworten sollte oder nicht. Nur, was hätte sie schreiben sollen? Klar, bin dabei?

Lassen Sie mich in Ruhe, Sie Creep?

Fehler: Diese E-Mail-Adresse existiert nicht mehr?

Dennoch konnte sie nicht aufhören, daran zu denken.

Louisa schluckte, hatte sich das erwähnte Café bereits in ihrer Maps-App herausgesucht und kaute an ihrem Daumennagel herum. Der Inhaber war tatsächlich ein Noah Dubois, und die E-Mail hatte er auch von der Café-Adresse geschickt. War das Teil des Tagesgeschäfts? Leuten mögliche übernatürliche Ereignisse zu erklären?

Immer wieder tippte sie aus der App raus und wieder rein, raus und wieder rein. Im Internet hatte sie weiterhin nichts finden können, und es nagte an ihr, dass sie nicht herausfinden konnte, ob irgendwer sonst gesehen hatte, was sie gesehen hatte. Wenn dieser Typ, dieser Noah, irgendetwas wusste, dann war das eine Option, weil das bedeuten konnte, dass sie keinen Nervenzusammenbruch hatte. Dass sie nicht wieder in die Klinik musste.

Seufzend ließ sie den Kopf auf den Schreibtisch neben einen Stapel Bücher sinken, die sie eigentlich alle diesen Sommer wälzen wollte, um einen guten Start in die Uni zu haben. Nur fehlte ihr heute dafür jegliche Konzentration. Sie sehnte sich nach ihren zwei besten Freunden, die sie vor ein paar Wochen zu ihren Work-and-Travel-Abenteuern verabschiedet hatte, wusste aber, dass die Zeitverschiebung zu groß war, um sie jetzt zu belästigen.

Manchmal fragte Louisa sich, ob die beiden es nicht direkt richtig gemacht hatten. Erst mal die Welt sehen, bevor sie sich in die nächste Phase ihres Lebens stürzten.

Aber immerhin würde Louisa für ihr Studium in den Staaten leben und dort einiges zu sehen bekommen, auch wenn der Gedanke, dass sie vielleicht einen gigantischen Fehler gemacht hatte, allgegenwärtig war. Sie würde am Institut mit den besten wissenschaftlichen Methoden studieren, die es heutzutage in der Astrophysik gab, und danach vielleicht sogar dort arbeiten.

Ihr Vater scherzte gerne, dass sie dann doch bitte ein schwarzes Loch nach ihm benennen sollte, weil er die total »badass« fand. Louisa erfüllte sich also exakt das, was sie immer gewollt hatte. Wieso fühlte es sich trotzdem so schwierig an, das Realität werden zu lassen? Wieso fokussierte sie sich stattdessen so sehr auf ein Ereignis, das vermutlich nichts als ein Hirngespinst war? War das die perfekte Ausrede, um in Deutschland zu bleiben? Weil es ihr doch wieder schlechter ging?

Kopfschüttelnd und genervt von sich selbst fuhr Louisa hoch. Der Hochsommer war kurz davor anzurauschen, also war es an der Zeit, ihn so lange zu genießen, bis er unerträglich heiß wurde. Sie nahm nur ihr Handy und ein paar Kopfhörer mit, nichts weiter, und verdrückte sich nach draußen.

Ihre Beine trugen sie von ganz allein an die Elbe, wo sie normalerweise an so einem Sommertag mit ihren Freunden herumspazieren würde, weshalb es sich irgendwie einsam anfühlte ohne sie. Sie schlenderte stattdessen durch die von viel zu vielen Menschen gefüllten Straßen und blieb unschlüssig vor einem Kino stehen – eine weitere Sache, die sie üblicherweise nicht allein machte. Deshalb zog sie weiter. Bis sie sich, ohne wirklich darüber nachzudenken, vor einem Absperrband der ausgebrannten Elbphilharmonie wiederfand.

Sie starrte den intakten Eingang an, die roten Backsteine, die schwarz vom Ruß verfärbt waren. Ihr Blick wanderte nach oben zu den zersplitterten Fenstern, die normalerweise faszinierend in der Sonne glänzten. Es war erstaunlich, dass die Mauer von außen so gut erhalten und nur ein Teil der oberen Glasfassaden zerstört worden war, obwohl innen all die schönen Holzverkleidungen und Treppen komplett heruntergebrannt sein mussten.

Louisa spürte auf einmal die stechenden Brandwunden unter den Bandagen an ihren Armen etwas stärker, und fragte sich kurz, was passiert wäre, wenn der Feuerwehrmann sie nicht rausgelotst hätte. Wäre sie womöglich dort drinnen verbrannt? Wegen dieses ... wegen dieses Wesens?

An so einem sonnig-warmen Tag erschien ihr die Möglichkeit, dass das real gewesen sein sollte, total lächerlich. Aber dieses Gefühl, das sie empfunden hatte, als sie darauf zugegangen war, wie es sie so völlig in seinen Bann gezogen hatte ... Das hatte sich so real angefühlt. Louisa presste die Lippen fest zusammen. Wenn sie nur mehr herausfinden könnte ...

Neugierig sah sie sich nach links und rechts um, konnte an diesem Sonntag keine Einsatzkräfte in der unmittelbaren Umgebung entdecken. Vielleicht ...

Sie hielt die Luft an und tat es einfach, statt darüber nachzudenken. Unter dem Absperrband duckte sie sich hindurch und hastete im langen Schatten des Gebäudes zum Eingang hinüber. Das Wissen, dass sie jeden Moment erwischt werden konnte, ließ sie zwar mehrfach über die Schultern schauen, doch es hielt sie nicht davon ab, es dennoch zu tun.

Vorsichtig näherte sie sich dem Haupteingang. Wenn sie Pech hatte, würde dort drinnen noch irgendetwas von oben auf sie herabstürzen. Aber wenn sie nur einen kleinen Hinweis finden konnte, wenn sie einen Beweis finden konnte, dass das, was sie gesehen hatte, echt war, würde sie sich beruhigen können.

Natürlich war das, was sie da gerade tat, total obsessiv. Sie machte es, obwohl sie gelernt hatte, dass sie ihren obsessiven Impulsen nicht nachgeben sollte, war sich dessen also vollends bewusst, was wiederum die perfekte Ausrede war, es dennoch zu tun.

Logischerweise war sie vorsichtig, setzte schleichend den ersten Schritt ins Innere des Gebäudes, wo sie allein der stechende Geruch der Asche zum Husten brachte. Sie drückte sich ihr Handgelenk auf die Nase und besah sich das Chaos.

Ein großer Teil der Stockwerke musste irgendwann nach unten auf die Rolltreppen beim Eingang gekracht sein. Betonbalken lagen zerbrochen am Boden zwischen den schwarz von Ruß gefärbten Holzelementen von oben.

Louisas Blick wanderte hoch in das Stockwerk, aus dem man sie herausgebracht hatte und das komplett zerstört war. Sie schluckte, konnte noch einmal die Gänsehaut des Vorabends spüren, erinnerte sich an alle Gefühle in diesem Moment. Dieser intensive Schmerz des Wesens war so tief in sie eingedrungen. Das Atmen war ihr so furchtbar schwergefallen.

»Hey! Hey, Sie da! Was machen Sie da? Das ist gefährlich!«

Wieder wurde Louisa grob am Arm gepackt und die paar Schritte nach draußen gezerrt, die sie sich in das Gebäude hineingewagt hatte. Erschrocken drehte sie sich um, blickte einer Polizistin in die Augen, die sie tadelnd musterte und den Kopf schüttelte.

»Entschuldigung«, entfuhr es Louisa atemlos, und ihr Herz raste sofort los. »Ich ... Ich ...« Sie schluckte, sortierte hastig ihre Gedanken. »Ich war gestern hier. Ich habe ...« Eine Ausrede, sie brauchte eine Ausrede! »Ich habe was verloren. Ein wichtiges -«

»Das ist mir egal!« Der Gesichtsausdruck der Polizistin verdüsterte sich. Dann deutete sie auf die Absperrung. »Sie haben eine Polizeiabsperrung ignoriert. Wissen Sie, was Ihnen blüht, wenn ich Sie jetzt direkt mit aufs Revier nehme?« Herausfordernd zog die junge Frau eine Augenbraue nach oben, musterte sie abwartend.

Mist, okay. Wenn sie einem Gang zur Polizei entgehen wollte, musste sie einen auf unschuldiges Mädchen machen. Louisa hielt die Luft an, begegnete dem verurteilenden Blick der Polizistin mit schuldbewusster Miene, ließ ihre Lippen leicht beben. »Es tut mir wirklich -«

»Geh!« Jetzt senkte die Frau die Stimme, wandte sich seufzend von Louisa ab. »Geh, bevor ich es mir anders überlege.«

Hatte das gerade tatsächlich funktioniert? Kurz blinzelte Louisa irritiert. Dann nickte sie dankbar, nahm ihre Beine in die Hand und verließ den Vorplatz des Konzerthauses schnellen Schrittes, dabei die ganze Zeit nur einen Gedanken im Kopf: Der Typ, der sie morgen im Café erwartete, hielt hoffentlich, was er ihr versprochen hatte, und hatte Antworten für sie.

Louisa zwang sich am nächsten Abend, nicht pünktlich am genannten Treffpunkt zu sein. Sie wollte den Fremden nicht wissen lassen, wie verzweifelt sie wirklich war. Wie sehr sie die Antworten brauchte, mit denen er sie angelockt hatte.

Auch als sie endlich wagte, in die Straße mit dem Café einzubiegen, zögerte sie, ließ den Blick über die restlichen Gäste schweifen, die sich unterhielten, bevor das Café laut Website in der nächsten halben Stunde schließen würde. Noch war sie also keinesfalls allein, was sie genug beruhigte, um sich dem Treffpunkt zu nähern.

Fast alle Gäste saßen draußen, genossen die langsam untergehende Sonne. Von einer Bedienung, die dieser Unbekannte durchaus sein konnte, fehlte aber jede Spur. Drinnen war ein einzelner Tisch, hinter der Glasscheibe mit der Aufschrift Café Morgengrau und zahlreichen Pflanzen, an dem drei junge Leute saßen, die sich aufgeregt miteinander unterhielten. Und Louisas Bauchgefühl vermittelte ihr, dass das genau der Tisch war, an dem auch sie sitzen sollte.

Sie runzelte die Stirn. Ob diese Jugendlichen ebenfalls bei dem Brand dabei gewesen waren? Vielleicht war sie doch nicht die Einzige, die dieses Wesen gesehen hatte, und sie waren alle deshalb hier. Um sich gegenseitig zu versichern, dass sie nicht durchgedreht waren. Oder es war eine kleine Gruppe von Freunden, die sie gleich verurteilen und auslachen würden, wenn sie sie etwas so Absurdes fragte.

Unsicher öffnete sie die Tür in den sonst leeren Innenraum des Cafés und wappnete sich für die peinliche Situation, die ihr bevorstand. Eigentlich wollte sie sich unauffällig verhalten und kurz in deren Gespräch reinhören, bevor sie etwas von sich preisgab, doch das sanfte Klingeln der Tür durchkreuzte diesen Plan. Die drei jungen Leute am Tisch drehten sich neugierig zu ihr um, musterten sie interessiert.

Ein junger Mann, Sonnenbrille in den Haaren, Hände voller Ringe, Style eines Bilderbuch-Secondhand-Shoppers, grinste sie breit an. »Einladung von einem Noah?«, wollte er wissen.

Louisa atmete auf, spürte eine schwere Last von ihren Schultern fallen. Gut, sie war nicht die Einzige. »Genau«, entgegnete sie dennoch überrascht, betrachtete ihn und die beiden Mädchen gespannt. »Ihr auch?«

»Oh ja.« Das Mädchen mit den langen dunklen Haaren, das völlig ungeschminkt war, eine Naturschönheit, verdrehte die Augen. »Eigentlich schlimm, dass wir alle auf die E-Mail eines Typen reagieren, den wir nicht kennen.« Seufzend schüttelte sie den Kopf, schenkte Louisa dann aber ein ermutigendes Lächeln und rutschte auf der Bank zur Seite, damit sie sich neben sie setzen konnte. »Wenn er denn überhaupt noch auftaucht.«

»Die Neugier war zu groß«, erwiderte der Junge amüsiert, schüttelte sich dann aber, als hätte er an etwas Gruseliges gedacht. »Die Dinge, die wir gesehen haben ... ugh!«

»Und ich würde ihn nie allein gehen lassen«, kommentierte das andere Mädchen, das dem Jungen so ähnlich sah, sogar mit der gleichen Sonnenbrille im Afro, dass sie vermutlich seine Schwester sein musste.

»Komm schon, du hast es auch gesehen«, stöhnte der Junge. »Jetzt tu nicht so, als wärst du nicht neugierig gewesen.«

»Ich sage immer noch, ich weiß nicht, was das war.« Sie verschränkte die Arme. »Wir haben vorher getrunken.«

»Aber wir haben es beide gesehen, Josie!« Kopfschüttelnd wandte er sich an Louisa und hielt eine Hand an die Seite seines Mundes, als könnte Josie ihn dadurch nicht verstehen. »Sie ist sehr bodenständig.«

»Oh.« Irritiert setzte Louisa sich neben das andere Mädchen, lächelte zaghaft, versuchte, die aufgeladene Energie der drei anderen einzuordnen. Eigentlich war sie selbst gar nicht das unsichere Küken, als welches sie sich gerade gab, aber für den Moment wollte sie abtasten, was hier vor sich ging, und wählte ihre Worte mit Bedacht. »Also ihr habt auch ...«

»Wir haben etwas gesehen, ja«, bestätigte die vermeintliche Schwester, Josie. »Das muss nicht heißen, dass es etwas Übernatürliches war.«

Louisa runzelte die Stirn, musste fragen, was ihr auf der Zunge lag. »Also ... wart ihr auch in der Elbphilharmonie, als ...?« Sie stoppte, als sie die verwirrten Blicke der anderen bemerkte.

»Elbphilharmonie?« Das Mädchen neben ihr schaltete sich ein, betrachtete sie nachdenklich. »Beim Brand? Nein. Du etwa? Du hast dort etwas gesehen?«

Louisa fühlte sich augenblicklich fehl am Platz, als hätte sie zu viel gesagt. »Oh ...« Sie schluckte. »Vergesst es.«

»Keine Sorge.« Der Junge lachte auf, verknotete jedoch die Finger seiner Hände miteinander. »Jeder von uns hat etwas gesehen, was wir ... keine Ahnung ... ›Geister‹, ›Dämonen‹ oder so was nennen wollen. Und wir sind uns alle bewusst, dass das total absurd klingt. Also, wenn du da irgendwas in der Elbphilharmonie – möge sie in Frieden ruhen – gesehen hast, schieß los. Keiner wird dich dafür verurteilen.«

Louisa sah auf, blickte ihm fest in die Augen und entdeckte dort nichts als Wärme und Verständnis.

Aber war das echt? Seit damals, seit ihr Herz für ein paar Minuten nicht mehr geschlagen hatte, konnte sie die Emotionen anderer verdammt gut einschätzen. So gut, dass es schwierig war, ihre eigenen davon abzugrenzen. Doch seit dem Brand war sie sich nicht mehr sicher, wie sehr sie sich überhaupt darauf verlassen sollte.

»Wie wär's, wenn wir anfangen?«, erlöste sie das Mädchen neben ihr. »Mein Name Gizem.« Sie lächelte ermutigend.

Louisa atmete auf. »Louisa. Oder Lou. Wie ihr wollt«, erwiderte sie kleinlaut.

»Jason«, stellte der junge Mann sich vor, hielt ihr begeistert die Hand über den Tisch hin. »Und willkommen im Klub der Geisterjäger oder was auch immer.«

»Ernsthaft?« Josie stöhnte. Augenrollend schüttelte sie den Kopf, schenkte Louisa aber ein Lächeln. »Josie«, sagte sie. »Unglücklicherweise seine Zwillingsschwester.«

Gizem schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »So geht das schon die ganze Zeit«, flüsterte sie Louisa zu. »Was glaubst du, wie froh ich bin, dass du eben hier reinspaziert bist?« Sie lachte leise auf, wandte sich dann an die Zwillinge. »Also? Wer fängt an?«, wollte Gizem wissen und überließ den anderen den Vortritt.

Anscheinend waren Jason und Josie am Abend des Brandes nach einer Party unterwegs gewesen und hatten danach heimlich und verbotenerweise den Japanischen Garten besucht. Das hatten sie in der Vergangenheit wohl schon öfter gemacht, weil sie genossen, dass es dort spät an einem Samstagabend so ruhig war und sie für sich waren.

Jason, betrunken wie er war, kotzte sich über den Typen aus, der ihn seit Wochen an der Nase herumgeführt hatte. Er hatte ihm weisgemacht, dass er nur an ihm interessiert sei, nicht an anderen Jungs, und dann hatte Jason ihn doch mit einem rummachen sehen.

Josie hatte ihn vorgewarnt und trotzdem ein offenes Ohr für den Bruder, der ihr so sehr auf den Keks ging. Denn sie würde ihn mit allen Mitteln der Welt beschützen und versprach, ebenfalls betrunken, diesem Typen das nächste Mal eine Abreibung zu verpassen.

Jedenfalls stolperten sie weiter durch den Park, als ihnen für eine warme Sommernacht überraschend kalt wurde. Irritiert drehten sie sich dann zu einem der flachen Tümpel um, der unerklärlicherweise gefroren war. Und weil das so absurd war, näherten sie sich der Eisfläche zögerlich, aus der Sekunden später eine Kreatur aus Schatten herausbrach und sich auf sie stürzte.

Die Zwillinge rannten sofort los – sich uneinig, ob einer, sie beide oder keiner geschrien hatte –, doch Josie wurde am Fuß gepackt, sodass Jason sie verzweifelt festhielt.

Die Flucht war ihnen schließlich gelungen. Sie hatten nicht zurückgeschaut und sich danach geschworen, nie wieder so viel zu trinken. Aber das Ganze war wohl so real gewesen, dass sie sich eigentlich zu nüchtern gefühlt hatten, um es als Halluzination abzustempeln. Und ja, deshalb waren die beiden jetzt hier.

Gizem hingegen hatte Stimmen gehört, als sie nach einem Notrufeinsatz – sie war frischgebackene Notfallsanitäterin – vor einem leer stehenden Gebäude gestanden hatte. Weil die Stimmen nach Hilfe gerufen hatten, hatte sie ihre Kollegen gebeten, kurz auf sie zu warten. Sie verschaffte sich Eintritt durch die Tür und rief, aber niemand antwortete, und sie wunderte sich, ob sie es sich nur eingebildet hatte.

Doch gerade als sie sich umdrehen wollte, flackerte eine Lichtgestalt vor ihr, schrie laut und raste auf sie zu. Es war wohl, als wäre sie durch sie durchgelaufen, wie ein eiskalter Schatten, der ihr alles Gefühl von Glück genommen hatte.

Gizem hatte sich ein paar Momente später aus der Bewusstlosigkeit schreckend auf dem Boden wiedergefunden. Sie erzählte das Ganze weit weniger dramatisch als die anderen beiden vor ihr, schien gelassen zu sein, obwohl Louisa schon allein bei den Erzählungen Gänsehaut bekam. Trotz allem fiel ihr ein schwerer Stein vom Herzen, dass sie nicht mehr allein damit war. Dass diese Fremden ihre Erfahrung teilten.

Obwohl sie sich gleichzeitig fragte, ob sie echte Geistergeschichten nicht schlimmer finden sollte als Einbildungen.

»Also?« Jason wackelte mit den Augenbrauen. »Was hast du gesehen, Lou? Einen Feuerdämon in der Elbphilharmonie oder so was?« Begeistert warf er die Arme hoch. »Was für eine epische Story wäre das bitte?«

»Oder auch ...« Gizem schenkte Louisa ein mitfühlendes Lächeln, nachdem ihr Blick auf die Bandagen fiel. »Traumatisierend.«

»Ach.« Louisa winkte ab. »Alles gut«, entgegnete sie. »Der Feuerdämon war nicht so gruselig.«

Jason riss die Augen auf. »Also war es ein Feuerdämon?«

»Na ja ...« Louisa dachte kurz darüber nach. Wie sollte sie es sonst nennen? Sie öffnete gerade den Mund, um weiter auszuholen, als sie vom Tür-Glöckchen unterbrochen wurde und sich alle zu einem hochgeschossenen, blonden, sportlichen, aber erschöpft dreinblickenden Schönling umdrehten.

Kapitel 4 – Niklas

Niklas' erster Impuls war, die Mail als Bullshit zu verbuchen und zu löschen. Sein zweiter Impuls, sie aus dem Papierkorb zu holen und anzustarren, was ein unangenehmes Kribbeln in seinen Fingern verursachte. Kurz darauf löschte er sie wieder und warf das Handy auf die Couch. Abermals fasste er sich nervös an den Hals, ging ein paar Schritte rüber zum Spiegel im Flur und meinte, blasse dunkle Verfärbungen zu erkennen, die aber auch einfach nur Schatten sein konnten.

Nichts von dem »Erlebnis« letzte Nacht konnte real gewesen sein. Er schluckte. Aber warum waren diese blöden Pflanzen alle innerhalb einer Nacht verwelkt? So sehr er es sich zu erklären versuchte, er fand keine Antwort, und das machte ihn wahnsinnig. Er hatte das tiefe Bedürfnis, die Wohnung zu verlassen, fühlte sich beobachtet und hatte dieses mulmige Gefühl im Bauch, weil er ständig an den Traum zurückdachte. Normalerweise fühlte er sich hier einigermaßen wohl, solange seine Mutter nicht zu Hause war.

Wo sollte er denn sonst hingehen, wenn er jetzt nicht einmal mehr die Schule oder das Training hatte, um seine eigenen Gedanken zu übertönen? Seine Kumpels, die allesamt aus dem Fußballteam waren, konnte er, tagsüber und ohne betrunken zu sein, nicht ertragen.

Betrunken ...

Niklas atmete tief ein, hielt dann die Luft an, bevor er zögerlich die Tür zum leeren Schlafzimmer seiner Mutter öffnete. Allein die Tatsache, dass das ihr Ort war, dass er normalerweise keinen Fuß hineinsetzte und nun diese Grenze überschritt, schnürte ihm leicht den Brustkorb zusammen. Dann erinnerte er sich selbst daran, dass sie diese Macht über ihn gar nicht verdiente, und ballte seine schwitzigen Hände zu Fäusten, bevor er die Glasvitrine mit dem Alkohol seiner Mutter öffnete. Der Alkohol, für den immer Geld da war, selbst wenn das Essen knapp war.

Mittlerweile waren die meisten Flaschen darin leer, aber es gab eine Schnapsflasche, die noch halb voll war. Er nahm sie raus und setzte sich mit ihr auf die Couch.

Lange starrte er sie an. Niklas war nicht wie seine Mutter und wollte auf keinen Fall sein wie sie. Klar, er amüsierte sich auf Partys und genoss den Rausch, genoss es zu tanzen, als gäbe es kein Morgen, zu grölen, als gehörte ihm die Welt. Er genoss es, sich dort so frei zu fühlen, Spaß mit den anderen Anwesenden zu haben, nicht denken zu müssen für die Dauer des Abends. Niklas war niemand, der sich mitten am Tag und allein betrank. Nicht so wie sie.

Trotzdem starrte er die Flasche nun an. Er sehnte sich danach, sein Gedankenkarussell damit auszuschalten, bis er wieder schlafen konnte, bis er wieder einen Grund hatte rauszugehen, bis er all den Mist vergessen konnte, der in seinem Kopf herumgeisterte.

Mit geschlossenen Augen öffnete er den Deckel, kniff die Augen noch ein wenig fester zusammen, als er die Flasche an die Lippen setzte. Doch dann stieg ihm der Geruch des Gesöffs in die Nase, der Geruch aus dem Mund seiner Mutter, die nie die Hand gegen ihn erhoben hatte, ihn aber jedes Mal, wenn sie dicht war, mit Worten auspeitschte.

Ihm wurde auf einmal speiübel. Vor seinen geschlossenen Augen flimmerten die Frau, die kaum auf ihren eigenen Beinen stehen konnte, die ihn kleinlaut um Hilfe bat, um ins Bett zu kommen, nachdem sie ihn vorher schreiend beleidigt hatte.

O Gott! Er durfte auf keinen Fall wie sie werden.

Hastig warf er die Flasche zur Seite. Der Inhalt verteilte sich auf dem Wohnzimmerteppich. Scheiß drauf. Er musste raus hier, weg von hier, jetzt! Kurz schwankte er, nachdem er mit leerem Magen und wenig Schlaf viel zu schnell aufgestanden war. Aber auch das war egal.

Er rannte zur Wohnungstür, riss sie auf und schlug sie hinter sich wieder zu. Dann eilte er durchs Treppenhaus, die Treppen hinunter und nach draußen, wo ihm die feuchte, warme Sommerluft entgegenstieg, die hier bei dem Hochhauskomplex, wo die Mülltonnen stets überladen waren, widerlich stank.

Er rannte weiter, immer weiter. In den Park, an der Elbe entlang, durch die ganze verdammte Stadt, wenn es nur bedeutete, dass er nicht mehr denken musste, dass er nicht mehr in dem Haus sitzen musste, das ihn an sein verpatztes Leben erinnerte.

Nach einer halben Stunde begann sein mittlerweile verheilter Fuß zu schmerzen, der nie wieder das können würde, was Niklas brauchte, um aus alldem rauszukommen. Sein Fuß schmerzte. Trotzdem rannte er weiter, konnte nicht anhalten, und der Schmerz erinnerte ihn zumindest daran, dass er am Leben war, dass er noch atmete, auch wenn es sich manchmal anfühlte, als wäre er an dem Tag gestorben, an dem mit seinen Knochen alle seine Träume zersplittert waren.

Am nächsten Tag, nach einer weiteren durchgefeierten Nacht und dem Bedürfnis, am Mittag abermals loszulaufen und nicht zu stoppen, kam er am folgenden Abend erschöpft, aber mit freiem Kopf zu Hause an. Er hatte sogar ein Lächeln auf den Lippen, hatte die Dunkelheit der letzten Tage von sich geworfen, auch wenn sein Fuß unangenehm pochte und bei jedem Schritt stechend schmerzte. Er fühlte sich frei.

Zumindest bis zu dem Moment, als er aufschloss und stockend stehen blieb. Etwas lag in der Luft. Ihr Parfüm.

Seine Mutter war zurück.

Im Eifer hatte er die Tür weit aufgestoßen, und nur einen Augenblick später raste sie auf ihn zu, als hätte sie die ganze Zeit auf ihn gewartet.

»Niklas! Was zur Hölle!«, brüllte sie, das Gesicht hochrot. »Weißt du, wie teuer der Teppich war?« Sie starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an, blieb nur Zentimeter vor ihm stehen.

Niklas hielt den Atem an, fühlte sich sofort wieder wie als kleines Kind, das leichte, freie Gefühl von eben ersetzt durch Furcht.

»Und wie zur Hölle bist du auf die Idee gekommen, dir den Schnaps aus meinem Zimmer zu klauen?« Beim Schreien spuckte sie ihn an, doch Niklas rührte sich nicht. »Was? Auf den Mund gefallen? Oder einfach nur dumm?« Ihr Blick bohrte sich in seinen.

Dumm. Das war er wohl. Er hätte nicht einfach so in ihr Zimmer gehen dürfen und ... Nein!

Nein, er durfte nicht zulassen, dass sie ihn wieder so behandelte. Früher war er nur ein Kind gewesen, war vielleicht dumm gewesen. Jetzt aber nicht mehr. Auch wenn ihm das Herz bis in den Hals pochte, holte er tief Luft.

»Du hast gesagt, du kommst nicht mehr zurück.« Er klang bestimmt, obwohl nicht so laut wie sie, doch bestimmt genug, dass sie die Stirn runzelte. Vermutlich, weil sie das nicht gewohnt war, auch wenn er ihr in den letzten zwei Jahren immer öfter die Stirn geboten hatte. »Kann ja nicht wissen, dass du noch irgendwas brauchst, wenn du dich einfach aus dem Staub machst.« Die Wut in ihm schwoll an, wurde heiß in seinem Bauch und feuerte seine Zunge an. »Am besten nimmst du das nächste Mal deine verdammten Sachen mit und lässt dich nicht mehr blicken!«

Es brannte. Auch wenn er meinte, was er sagte, weil er sich kein besseres Leben vorstellen konnte als eins ohne sie. Die Worte brannten in seinem Hals und tief in ihm drin, weil er noch so lange gehofft hatte, dass sie sich irgendwann ändern würde. Für ihn, für ihr Kind, die einzige Person auf der Welt, die sie bedingungslos lieben sollte.

Aber bevor das Brennen ihn in seinen Augen einholen und vor ihr bloßstellen konnte, machte er kehrt, schlug die Wohnungstür hinter sich zu und rannte wieder los.

Eigentlich war er zu erschöpft, und die Schmerzen in seinem Fuß wurden unerträglich. Er hatte kein Ziel, wusste nicht, wo er hingehen sollte. Kurz spielte er mit dem Gedanken, doch zum Sportplatz zu laufen, aber die Erinnerungen waren zu frisch, die verbaute Zukunft zu nahe.

Stattdessen trieb es ihn zu dem einzigen Ort, der ihm einfiel. Auch wenn er es immer noch für Schwachsinn hielt. Immerhin war er dorthin eingeladen worden, immerhin war es ein Ort, so fremd, der ihn alles andere vergessen lassen konnte.

Er war spät, viel zu spät. Die Tische vor dem Café waren leer, als er durch die Eingangstür trat. Ein kleines Glöckchen verriet ihn, und sofort richteten sich vier Augenpaare vom einzigen besetzten Tisch auf ihn, als hätte er sie unterbrochen. Dennoch war es nur ein Augenpaar, das er wirklich wahrnahm. Nur das eine, das er sofort erkannte. Leider erkannte. Er wünschte, es wäre anders. Das Augenpaar war im ersten Moment noch typisch neugierig, wollte wissen, wer der Neuankömmling war, aber sobald es ihn ebenfalls identifizierte, verdüsterte die Erkenntnis es. Und die Schuld, so viel Schuld.

Denn Jason musste selbst wissen: Er hatte Niklas' Leben zerstört.

Jason. Von allen Menschen dieser Stadt, die er hätte hier antreffen können, war ausgerechnet er an diesem Ort.

Niklas machte dicht, machte einen Schritt nach hinten und war drauf und dran, wieder abzuziehen, als jemand aus der Tür hinter dem Tresen hervortrat, was ihn stocken ließ.

Überrascht starrte er einen Mann von etwa Ende dreißig an, der Bart bereits leicht ergraut, der erst zum Tisch hinüberlächelte, dann Niklas musterte und zufrieden nickte.

»Jetzt, wo ihr alle hier seid, können wir ja anfangen.«

Kapitel 5 – Louisa

Die Stimmung im Raum war so aufgeladen, dass Louisa den Atem anhielt. Der Junge, wer auch immer er war, hatte nur einen Blick auf sie alle geworfen, und sein Gesichtsausdruck war innerhalb eines Wimpernschlags zerbröckelt. Jede Pore seines Körpers schien »Flucht« zu schreien. Aber auch wenn der Junge für den Bruchteil eines Moments überrascht zu sein schien, auch wenn er gewirkt hatte, als wäre sein ganzer Körper kurz davor zusammenzubrechen, richtete er sich jetzt wieder auf, hielt den Kopf hoch erhoben und schüttelte ihn.

»Ich bin raus«, zischte er den anderen Mann – höchstwahrscheinlich den sagenumwobenen Noah – an und drehte sich zur Tür um.