Where have the Stars gone - Michelle C. Paige - E-Book
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Where have the Stars gone E-Book

Michelle C. Paige

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Beschreibung

Berührende Slowburn-Romance mit Rockstar und endlosen Sommertagen im traumhaften Island. Für Fans von Kira Mohn und Kathinka Engel »Tyler stimmt die nächste Melodie an, summt dabei ein paar Töne. Ich schließe die Augen, lege mich auf den Rücken und höre einfach nur zu. Irgendwann höre ich ihn die ersten Worte wispern.« Nachdem die junge Musikerin Saga mit ihrem Duett-Partner Ingvi den wichtigsten Menschen ihres Lebens verloren hat, flieht sie für den Sommer in die wilden isländischen Highlands, um abzuschalten und alles hinter sich zu lassen. Dort trifft sie auf den amerikanischen Rockstar Tyler, der Inspiration für das neue Album seiner Band sucht. Die beiden haben einiges gemeinsam und zum ersten Mal seit Ingvis Tod hat Saga das Gefühl, wieder atmen zu können. Doch ist das genug? Der Sommer zieht vorbei, und damit auch ihre Zeit in den Bergen. Und Tyler geht bald mit seiner Band auf Welttournee …

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© Piper Verlag GmbH, München 2023

Sprachredaktion: Uwe Raum-Deinzer

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Emily Bähr, www.emilybaehr.de

Covermotiv: Shutterstock (Aun Photographer, rawpixel.com, Anna_Kim, Ivan Kovbaskniuk, Bokeh Blur Background); Freepik

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Playlist

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Epilog

Danksagung

Nachwort

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Für alle, die nach den Sternen greifen wollen, und nicht genau wissen, wo sie anfangen sollen.

Og fyrir alla Laugavegsverði og sjálfboðaliða SAR.

Playlist

Brother – Kodaline

Forever Yours – Grayscale

THE LONELIEST – Måneskin

My Addiction – Adam French

Oblivion – Palaye Royale

F Major – Hania Rani

The Lament of Eustace – The Oh Hellos

North – Sleeping At Last

Eden – Hania Rani

Runaway – AURORA

Overture – Sleeping At Last

If I’m There – Bad Omens

Preludium es-dur – Hania Rani

play this when I’m gone – Machine Gun Kelly

Alone – I prevail

How a Storm Break – Astyria

Afterlife – Haile Steinfeld

Daydreamer – AURORA

Chasing Stars – Fleurie

Prolog

Glücklich soll ich mich schätzen.

Meine Beine geben nicht nach, auch wenn ich mir sicher bin, dass sie das längst tun müssten. Das Handy presse ich weiter fest an mein Ohr, auch wenn der Teamleiter bereits aufgehört hat zu sprechen und jetzt nur noch schwer atmet. Der Schock, es ist der Schock, deshalb bringt er nicht mehr über die Lippen.

Glücklich soll ich mich schätzen.

Weil wir uns doch unser Leben lang hatten, weil ich so einen wunderbaren Menschen immer an meiner Seite hatte. Nicht jeder hat so wertvolle Freundschaften, sagen sie mir. Ich soll mich nur an die guten Zeiten erinnern, soll nicht daran denken, wie er sich in den letzten Momenten seines Lebens gefühlt hat, auch wenn ich nichts mehr verstehen möchte als ebendiese Momente. Aber es würde nichts bringen, darüber nachzudenken, denn was für mich zählt, ist sein Leben, nicht sein Tod.

Glücklich soll ich mich schätzen.

Ich setze mich ins nasse Gras, schlinge die Arme um meine Beine. Meine Hände sind kalt, mein ganzer Körper ist kalt, weil der eisige Regen nicht aufhören will und die Tropfen immer größer werden. Alle anderen sind vernünftigerweise schon vor einer Weile gegangen, haben halbherzig versucht, auch mich zum Gehen zu bewegen.

Aber wie könnte ich?

Ich starre seinen Grabstein an, der viel zu karg ist. Ganz klassisch, keinerlei Verzierungen, obwohl er sich die sicher gewünscht hätte. Kein witziger Spruch, der ein Muss gewesen wäre, weil er das Leben nie so verdammt ernst genommen hat, wie es ihm dieses klägliche Stück Granit unterstellt:

Ingvi Ragnarsson

Gelebt und gestorben als Retter in der Not. Search & Rescue Team für immer.

Geliebter Sohn, Bruder und Freund.

Um nicht aufzuschreien vor Wut, beiße ich mir auf die Zunge. Verdammt, er war doch noch so viel mehr! Ein unverbesserlicher Witzbold, ein fabelhafter Sänger und außerdem der warmherzigste Mensch, den ich je gekannt habe. Mein bester Freund auf der Welt, nein, im ganzen Universum. Und mein Partner in Crime, mit dem ich mein restliches Leben verbringen wollte. Scheiß auf romantische Beziehungen. Was wir hatten, war so viel wertvoller.

Glücklich soll ich mich schätzen.

Die ganze Insel betrauert seinen Tod. Jeder Isländer weiß, dass Ingvi sein Leben gegeben hat, um das Leben eines jungen Mädchens zu retten, auf das die Eltern nicht richtig aufgepasst hatten. Tagelang hatte jeder seinen Namen im Mund. Als Held sei er gestorben. Als verdammter Held, der in die verdammte Geschichte eingehen wird.

Wieso zur Hölle soll ich mich glücklich schätzen? Was bringt ihm das, ein Held gewesen zu sein, wenn er jetzt tot ist? Und was bringt es mir, dass ich es nicht habe mitansehen müssen? Jede Minute davon hätte ich mit ihm verbringen wollen, seine letzten Atemzüge hätte ich mit ihm teilen wollen. Seine Hand hätte ich dabei halten sollen, wie er meine immer gehalten hat, wenn ich Angst hatte, wenn ich nicht wusste, wie es weitergehen soll.

Und jetzt ist er weg. Einfach nur weg. Aber ich bin noch da. Ganz allein, ohne meinen Nordstern, der mir die Richtung weist.

»Ganz toll gemacht, du bescheuerter Vollidiot«, flüstere ich.

Kapitel 1

»Du?« Margrét lacht auf. »Du sträubst dich doch davor, auch nur eine einzige Nacht in einem Zelt zu schlafen. Und jetzt willst du den ganzen Sommer in die Berge? Dir ist schon klar, dass Weglaufen dich nicht weiterbringen wird, oder?« Sie steht auf, reißt ihre Augen besonders groß auf. »Es gibt dort nicht mal Strom.«

Na klar, wird mich Weglaufen weiterbringen, was weiß Margrét schon? Ich bin nicht so wie sie. Jeder Tag, den ich in dieser Wohnung verbringe, erstickt mich langsam und qualvoll. Das werde ich ihr aber kaum ins Gesicht sagen.

Stattdessen weiche ich ihr aus, während ich verzweifelt versuche, meinen Schlafsack in den viel zu kleinen Packsack zu quetschen. »Das ist nicht up to date«, entgegne ich. »Die Hütten haben mittlerweile Solarzellen. Sogar W-LAN. Das ist nicht wie im Zelt zu schlafen. Außerdem sind Hildur und Einar auch noch da. Die haben gesagt, es macht total viel Spaß, den Sommer in den Bergen zu verbringen.« Genervt lehne ich mich an den Schlafsack und zerre an dem Band, um den Packsack zu verschließen.

»Saga …« Ein Wort. Mit ihrer Stimme kann sie so viel mehr als nur meinen Namen ausdrücken. Sie spricht ihn so vorsichtig aus, als wäre ich zerbrechlich, dabei bin ich verdammt noch mal das Gegenteil von zerbrechlich. Alles ist bereits kaputt. Ich habe nichts mehr zu verlieren. Ich war nie so frei.

Deshalb atme ich tief ein und bemühe mich angestrengt um ein Lächeln.

»Ich laufe nicht weg, Margrét. Ich nehme mir eine Auszeit«, lüge ich.

Margrét zieht eine Augenbraue ungläubig nach oben. Natürlich hat sie mich längst durchschaut. Natürlich laufe ich davon. Ich habe ihr direkt ins Gesicht gelogen, und sie ist nicht doof. Aber es kann wohl kaum jemand von mir erwarten, dass ich einfach so in den Alltag zurückkehre. Ich wüsste ja nicht einmal mehr, wo ich anfangen sollte.

Mein Magen zieht sich unangenehm zusammen.

Wie soll mein Alltag ohne ihn überhaupt funktionieren?

Selbst das Umschauen in dieser Wohnung, in unserer WG, ist ein Kraftakt, zu dem ich mich tagtäglich überwinden muss und zu dem ich mich nicht mehr länger überwinden will. Tränen kommen keine, aber manchmal kann ich förmlich spüren, wie mein Körper einfach nur in sich zusammensinken möchte. Jeder Zentimeter des Apartments erinnert mich an ihn, sein Geruch hängt noch in der Luft, und wenn ich die verschlossene Tür zu seinem Zimmer ansehe, wird mir schwindlig.

Am Anfang war ich mir sicher, dass es nur ein Traum war, aus dem ich jede Sekunde aufwachen würde, weil es unmöglich real sein konnte, dass er einfach weg war. Immerhin haben wir fast jede Sekunde unseres Lebens miteinander verbracht. Er war ein Teil von mir und ich ein Teil von ihm. Aber ich bin niemals aufgewacht, und jetzt fehlt ein ganz essenzielles Stück von mir. Für immer und ewig herausgebrochen. Das tiefe Loch, das sich hinter »immer und ewig« versteckt, ist zu schrecklich, um sich ihm zu stellen.

»Auszeit, richtig.« Margrét seufzt und bindet sich ungeduldig ihre knallrot gefärbten Haare zusammen. Sie nimmt mir den gepackten Schlafsack ab, an dem ich mich unbewusst festgekrallt habe, und stopft ihn in meinen vollgepackten Trekkingrucksack, den sie mir ausgeliehen hat. Sie sieht zu mir auf und lächelt zuversichtlich. »Auszeit klingt gut. Ein bisschen den Kopf freibekommen und danach in das erstbeste Abenteuer stürzen, das dir über den Weg läuft, richtig?«

Richtig.

Ich schlucke, bekomme den Kloß in meinem Hals jedoch nicht herunter und kann es nicht aussprechen.

»Willst du denn Ende des Jahres trotzdem noch nach Amerika gehen?«, fragt sie weiter, als wäre auch das nicht offensichtlich. Aber natürlich nicht für sie. Margrét ist die personifizierte Hoffnung, die Sonne, die jeden Tag aufgeht, in einer Welt, in der es keine Sonnenfinsternis gibt. Ich war doch eigentlich auch mal so, deshalb haben wir ja so gut zusammengepasst.

Ich senke den Kopf, schaffe es nicht einmal mehr, ihr in die Augen zu sehen.

»Mal schauen«, erwidere ich, als wäre auch das keine offensichtliche Lüge. Natürlich ist der Plan mit ihm gestorben. Ich würde auf keinen Fall die Dinge allein tun, die wir zusammen machen wollten. Dafür brauche ich ihn zu sehr, auch wenn mir das vorher gar nicht so bewusst war. Auf einmal ist da eine Lücke, die mir aufzeigt, wie miteinander verschlungen unsere Leben waren. Jetzt habe ich keinen verdammten Schimmer mehr, was aus meinem Leben werden soll. Margrét weiß nicht, dass ich seit seinem Tod keine einzige Melodie zusammenbekommen habe. Dass mein Hals sich zusammenschnürt, wenn ich auch nur an eines unserer Lieder denke. Dass sich meine Finger auf der immer mehr verstaubenden Gitarre wie taub anfühlen und es nicht wagen, auch nur eine Saite anzuschlagen. Das habe ich weder ihr noch sonst jemandem erzählt. Es ist, als wäre die Musik in meinem Kopf verpufft. Als wäre sie nie da gewesen. Dabei hätte meine Stimme Berge versetzen können und mit Ingvi zusammen einen Plattenvertrag in New York absahnen sollen.

Weg. Von jetzt auf gleich. Ohne jede Vorwarnung.

Ich atme tief ein, schließe einen Moment die Augen und atme wieder aus, versuche, den Strom an Gedanken wegzudrücken und zurück ins Hier und Jetzt zu kommen. Aber hier und jetzt gibt es auch keine Lösung. Hier und jetzt muss ich einfach nur weg.

Weil Margrét nichts mehr sagt, sehe ich endlich wieder zu ihr auf und begegne ihrem mich musternden Blick. Für einen Moment halte ich die Luft an, denn ich bin mir ziemlich sicher, dass sie mir alles, was mir gerade durch den Kopf ging, an meinem »Mal schauen« angesehen hat. Sie kennt mich zu gut, wir wohnen schon zu lange zusammen, kennen uns fast so lange, wie ich Ingvi kenne. Kannte – ein Wort wie ein Stich in den Bauch.

Schnell sehe ich wieder zu Boden. Sein Tod muss sie genauso getroffen haben wie mich, also wie macht sie das nur? Wie schafft sie es, nicht auseinanderzubrechen und in tausend kleine Teile zu zerfallen? Ich würde sie so gern danach fragen, aber ich traue mich nicht. Was, wenn ich das, was sie kann, nicht kann?

Bevor ich reagieren oder sie gar aufhalten kann, nimmt Margrét mich in den Arm und schmunzelt, weil ich mich sofort versteife. Sie ist größer als ich, oder ich bin einfach nur klein, und sie legt ihr Kinn auf meinem Kopf ab, atmet tief ein.

»Egal was kommt, Saga, ich bin mir sicher, dass du die Welt erobern wirst, du ganz allein. Das hast du lange genug geübt.« Ihre Stimme ist so sanft, ihre Worte so sicher, dass ich eine Gänsehaut bekomme. Was sie noch sagen will, weiß ich auch: dass ich Ingvi dafür nicht brauche. Aber wie könnte sie das jemals aussprechen? Und wie zur Hölle kann ich so etwas überhaupt denken?

Sie drückt mich noch ein wenig fester, lässt mir keine Chance, mich herauszuwinden, und will mir damit vermutlich sagen: Ich hab dich lieb, Saga. Und als ich die Umarmung erwidere, fühlt sie hoffentlich dieselben Worte an sich gerichtet.

»Ruf mich an, okay?« Endlich löst sie sich ein wenig von mir. »Du weißt ja, da draußen ist die wahre Natur, und du bist mittendrin. Also ruf mich einfach an, wenn du keinen Bock mehr hast. Ich schicke dann ein Search & Rescue-Rettungsteam.« Sie zwinkert.

»Ich bitte dich.« Statt des langen Seufzers, der mir in der Kehle liegt, erkämpfe ich mir ein schiefes Grinsen. »Das Rettungsteam hat doch keine Ahnung, wenn ich sie nicht anleite.«

Margrét verdreht die Augen.

»Richtig. Ich vergaß. Natürlich, Eure Search & Rescue-Hoheit.« Sie neigt den Kopf und stupst mich an der Schulter, weil ich meine Lippen fest zusammenpresse, statt weiterhin zu grinsen. »Die kommen auch ohne dich klar.«

»Ja«, sage ich, ohne es zu meinen, weil fake it til you make it und so. Und immerhin lasse ich nicht nur Margrét allein in unserer WG zurück, ich habe mich auch bei den Search & Rescue Volunteers abgemeldet. Ich kann nicht mehr dahin zurück. Die Morgenschichten in der Autovermietung und die Abendschichten im Pub, die mir das Studium finanziert haben, habe ich auch abgesagt, weil ich mir ein Urlaubssemester genommen habe. Aber seien wir mal ehrlich, auch das Musikstudium werde ich ohne Ingvi nicht fortsetzen. Wie könnte ich auch? Sein leerer Stuhl in den Vorlesungen neben meinem wäre unerträglich. Und somit begrabe ich alles, was Musik ist, mit ihm. Denn auch wenn Musik immer alles für mich war, ist Musik ohne ihn nicht mehr als ein unerträglicher Lärm. Und deshalb lebe ich jetzt in eiskalter Stille.

Ich atme tief durch, dränge zurück, was sich wie eine verlorene Zukunft anfühlt.

Um sicherzugehen, dass ich nichts vergessen habe, laufe ich noch einmal durch mein Zimmer, schaue in die Schränke und unters Bett. Es sind nur ein paar Monate, und trotzdem will ich darauf vorbereitet sein, zur Not für immer in den Bergen bleiben zu können. Nur für den Fall, dass ich nicht mehr in die Wohnung zurückwill, nachdem ich sie einmal so richtig verlassen habe.

Mein Blick wandert schließlich auf die Uhr, die mir zuschreit, dass ich mich beeilen sollte, wenn ich nicht zum Bus rennen will. Ich schultere den Trekkingrucksack, der fast halb so groß wie ich ist, und trage einen kleinen Tagesrucksack in der Hand.

»Und du bist dir sicher, dass ich dich nicht wenigstens bis Hella mitnehmen soll? Ist echt nur ein paar Minuten von Hvolsvöllur, und meine Eltern würden sich so freuen, dich noch mal zu sehen. Du könntest doch den späteren Bus nehmen, außerdem müsstest du dich dann nicht zwischen die ganzen Touristen aus Reykjavík quetschen, die auf die verrückte Idee gekommen sind, wandern zu gehen.« Erwartungsvoll wackelt Margrét mit den Augenbrauen, hofft vielleicht darauf, dass ich kalte Füße bekomme, doch ich schüttle entschieden den Kopf.

»Nein, alles gut. Einar und Hildur erwarten ja, dass ich mit diesem Bus komme. Das passt schon so. Aber danke.« Ich atme tief ein, stecke den Wohnungstürschlüssel in meine Hosentasche, bevor ich mit einem mulmigen Gefühl nach draußen gehe. Nur noch ein einziges Mal wage ich es, mich umzudrehen, spüre meinen Herzschlag schneller werden, als mein Blick über Ingvis Tür gleitet und ich den Atem anhalte. Und ich halte ihn für ein paar Augenblicke an, spüre irgendwann den Schwindel, der über mich zu kommen droht, bevor ich endlich wieder einatme und Margrét mit einem Lächeln zunicke. »Grüß Lilja von mir, okay? Ich freue mich drauf, dass ihr mich besuchen kommt.« Mahnend halte ich den Zeigefinger in die Luft. »Mein Zimmer bleibt tabu für euch beide. Verstanden?«

Margrét lacht auf.

»Ja, ja, versprochen. Wir haben damals wirklich nicht …« Sie schüttelt schmunzelnd den Kopf, wird dabei leicht rot, wie sie es immer wird, wenn sie über Lilja nachdenkt. »Schreib mir einfach, wenn du die Hütte wechselst, damit wir dich am richtigen Ort antreffen.«

Ich halte einen Daumen in die Höhe und ziehe die Wohnungstür hinter mir zu. Dann schließe ich die Augen noch einmal und atme tief ein. Ich löse meine verkrampfte Hand vom Tagesrucksack und ziehe mein Handy aus der Hosentasche. Ohne zweimal darüber nachzudenken, tippe ich auf Ingvis Kontakt und wähle die Nummer an. Sofort drücke ich das Gerät fest an mein Ohr.

Jo! Jeder sollte wissen, dass ich aus Prinzip eh nicht ans Telefon gehe. Schreibt mir einfach ’ne Nachricht. Die Mailbox höre ich nie ab. Vielleicht rufe ich ja zurück, wenn ich Bock habe. Bis dann!

Seine Stimme überzieht mich mit einer Gänsehaut. Mein Puls wird mit jedem Wort ruhiger, das Atmen fällt mir so viel einfacher als noch vor ein paar Minuten. Das ist das letzte Mal, dass ich mir die Mailbox-Nachricht anhöre. Das verspreche ich mir selbst. Wenn ich mit meinem Leben weitermachen will, dann muss ich ihn loslassen. Zumindest klingt das logisch, oder?

Trotzdem höre ich sie mir noch mal, noch ein einziges Mal an. Wirklich, das ist jetzt das allerletzte Mal.

Danach befreie ich mich endlich davon.

Versprochen.

Kapitel 2

Sobald ich auf meinem Platz im Bus sitze, starre ich für eine lange Zeit einfach nur in den blauen Himmel Reykjavíks, der für Wochen grau war und heute zum ersten Mal so richtig aufklart. Das Thema Wetter scheint in den meisten Kulturen zu den langweiligen Themen zu gehören, über die eigentlich niemand so richtig sprechen möchte. Hier ist das anders. Bei uns geht man mit dem Wetterbericht beinahe religiös um. Er kann auslösen, dass sich fast alle Isländer am Wochenende auf eine Fahrt in die Highlands begeben, oder dafür sorgen, dass niemand sein Haus verlässt.

Heute ist einer dieser sonnigen Tage, und laut Vorhersage soll es die nächsten Tage genauso schön bleiben. So sonnig sogar, dass der Bus komplett voll und jeder Platz besetzt ist. Touristen und Einheimische gemischt. Was ziemlich ätzend ist, aber gut, ich habe es mir so ausgesucht, und ich würde es trotz allem nicht anders wollen.

Ich muss das jetzt allein machen. Ich kann mich nicht noch zehnmal von meinen Freunden am Busterminal verabschieden. Am Ende würde mich noch jemand zu einem Rückzieher bewegen, und das wäre exakt das, was ich nicht will. Ich mache das jetzt einfach, ich ziehe das durch, egal was kommt. Und hoffentlich habe ich danach eine Ahnung, wie es für mich weitergeht. Aber dafür brauche ich erst Abstand von allem und von jedem, der mir normalerweise so über den Weg läuft. Einen Neuanfang vielleicht. Und wo bekomme ich den, wenn nicht da draußen? Fernab von allem, was ich kenne.

Ich nicke. Das ist exakt das, was ich brauche.

Den ersten Teil der Fahrt durch Reykjavík und auf der Hauptstraße Richtung Süden verschlafe ich fast vollkommen, werde aber aufgerüttelt, als der Bus auf die unbefestigte Bergstraße fährt. Nun ruckelt er heftig hin und her, während sich die großen Reifen über Stock und Stein kämpfen. Klar hätte Margrét mich sicher gern bis nach Landmannalaugar gefahren, aber spätestens hier hätte ihr kleines Stadtauto zu viele Kratzer abbekommen, über die sie sich später geärgert hätte. Es hat schon seinen Grund, warum selbst wir Einheimischen lieber den Bus nehmen und unsere Autos schonen.

Aber ich bin froh, dass ich jetzt wach bin, denn vor den Fensterscheiben eröffnet sich eine neue Welt, die mich glatt davon überzeugen könnte, dass ich nicht in die Highlands gefahren, sondern mit dem Bus auf einen anderen Planeten geflogen bin. In der Ferne tun sich die ersten Berge auf, während uns eine grau-schwarze Steinwüste umgibt, durch die sich die holprige Straße schlängelt. Irgendwo im Nirgendwo. Weiter könnte ich mich aus meinem Stadtleben vermutlich kaum entfernen. Der Bus lässt den Staub vom Boden in die Luft wirbeln, und sobald ein anderes Fahrzeug an uns vorbeifährt, sind wir kurz vollkommen darin eingehüllt.

Aber erst als wir das Camp von Landmannalaugar fast erreicht haben, bleibt mir völlig der Atem weg, denn die Hügel und Berge, die es umgeben, sind nicht einfach nur Hügel und Berge. Die Rhyolithberge sind abgeflacht, wie Sandhügel oder hohe Dünen, und bunt, in Braun, Beige, Grau, aber manchmal auch rötlich und einige grün gefärbt von den Mineralien der vulkanischen Aktivität. Sie sind so geschichtet und miteinander verschlungen, dass sie die Geschichte der letzten Jahrtausende erzählen – in Form eines erdfarbenen Regenbogens. Der übrig gebliebene Schnee des Winters verteilt sich immer noch über diese Hügel und wirkt wie gesprenkelter Zuckerguss, der in die Rillen gelaufen und dort getrocknet ist.

Sie wirken so surreal, und doch bin ich wirklich hier vor Ort. Klar, auf Bildern habe ich unsere Highlands schon oft gesehen, aber bisher habe ich es nie geschafft, sie mir selbst anzuschauen. So oft haben meine Freunde versucht, mich dazu zu überreden, hier mit ihnen wandern zu gehen, aber ich habe immer abgelehnt. Zu anstrengend, zu weit weg von der Zivilisation, zu weit draußen. Doch auf einmal kann ich mir nichts Schöneres vorstellen.

Vor mir entdecke ich eine Frau, die begeistert Fotos schießt, und sinke in meinen Sitz zurück, weil ich auf keinen Fall wie sie wirken will. Es soll bloß keiner denken, dass ich eine von den Touristen bin. Das wäre ein Etikett, mit dem ich aktuell nicht leben könnte. Nicht, nachdem es deren Schuld war, dass …

Ich schüttle den Kopf, um den Gedanken wegzubekommen, ihn nicht zu Ende zu denken.

Der Hochlandbus windet sich noch eine Weile über die holprige Straße, bevor er einen kleinen Fluss überquert, der uns zu den Hütten und dem Campingplatz von Landmannalaugar bringt. Hier braucht man unbedingt das richtige Auto, um unbeschadet durchzukommen, aber der speziell für die Berge hochgelegte Bus tut so, als wäre es das Einfachste der Welt.

Meine Augen weiten sich, als ich die Masse von Zelten auf dem großen Platz entdecke und all die Menschen, die sich um das Camp tummeln. Ich schlucke. Einar und Hildur haben erzählt, dass Anfang Juli die Hauptsaison bereits in vollem Gange ist, trotzdem bin ich überrascht, weil ich diese Ansammlungen nur von den üblichen Touristenattraktionen gewohnt bin und so weit im Inland nicht erwartet habe. Ich seufze. So viel weiter weg von der Zivilisation bin ich hier wohl doch nicht gelangt.

Ich warte, bis alle anderen den Bus verlassen haben, und schlendere mit Sack und Pack aufs Camp zu, mustere die braunen Hütten mit ihren grünen Dächern, bis ich ein großes »i« für Information auf einem von ihnen entdecke. Dort finde ich ein Mädchen, das zusammen mit Hildur und Einar Warden, also quasi Aufseher für die Hütten und den Campingplatz sowie Ansprechpartner für die Besucher, sein muss. Sie steht in einem kleinen Bereich mit einer Kasse und orangen Papier-Armbändern, die sie eben an ein paar Reisende verteilt hat. Hinter ihr sind Snacks und Getränke in einem Regal. Sie mustert mich mit gerunzelter Stirn.

»Hast du einen Platz in der Hütte gemietet, oder willst du zelten?«, fragt sie unvermittelt auf Englisch, beäugt mein Gepäck, sodass ich sie kurz irritiert ansehe. »Oder bist du nur für den Tag da und willst die Toiletten nutzen?«

»Oh«, entfährt es mir. Ich wechsle direkt ins Isländische. »Ich sollte Einar und Hildur hier treffen.« Unsicher sehe ich mich um. »Ich bin neu im … Team?«

»Ach!« Sofort verwandelt sich die angespannte Miene des Mädchens in ein warmes Lächeln. »Dann musst du Saga sein, richtig?«

»Genau.« Ich schlucke, fühle mich ein wenig blöd und fehl am Platz mit dem ganzen Gepäck und entdecke Gäste, die sich hinter mir anstellen wollen, um tatsächlich ihre Camping- oder Hüttenplätze zu bezahlen.

»Schau mal um die Ecke«, bittet das Mädchen mich und lehnt sich nach vorn, um über die Theke zu deuten. »Die große Hütte dahinten ist unsere. Du kannst da deine Sachen ablegen, wenn du magst. Mach dir gern einen Kaffee oder so. Einar und Hildur sind grade am Saubermachen, sollten aber bald durch sein, wenn sie sich nicht wieder eine Schwammschlacht liefern.« Sie grinst. »Ich bin Íris. Willkommen im Team! Ich hoffe, du bist bereit, viele Toiletten zu schrubben.« Ein Zwinkern schenkt sie mir noch, bevor sie sich an die Campinggäste wendet, damit diese bezahlen können.

Ich laufe nervös zu der größeren Hütte, die den Wardens vorbehalten ist, und bin überrascht, sobald ich mich drinnen umschaue. Ich habe erwartet, dass wir uns alle einen Raum teilen müssen und vielleicht nur einen Gaskocher haben. Stattdessen stehe ich in einer kompletten Küche mit Kühlschrank, Herd mit Ofen, Tisch, Couch in einem Loungebereich und allem Drum und Dran. Eine ganz normale Studentenbude also, die ich nur wegen der Abgelegenheit der Berge als »Luxus« bezeichnen würde.

Meine Sachen lege ich auf die Couch, die sich im abgetrennten Bereich der offenen Küche befindet. Ein Lächeln schleicht sich auf meine Lippen. Hier lässt es sich leben. Das wird vielleicht alles gar nicht so schlecht, und auch meine Anspannung vergeht endlich. Neugierig sehe ich mich um und entdecke zu meiner Erleichterung auch noch ein kleines Bad mit Dusche, und wenn ich mich nicht täusche, gibt es sogar einzelne Schlafzimmer. Wow, das ist ganz und gar nicht wie Campen!

Ein wenig unbeholfen mache ich mir in der Küche eine viel zu starke Tasse Kaffee, die ich danach eine gefühlte Ewigkeit lang einfach nur anstarre, vertieft in all die Möglichkeiten, wie es hier für mich werden könnte. Vielleicht kann ich hier nicht nur meinem schmerzhaften Alltag entgehen, sondern sogar tatsächlich vergessen. All das, was mich zu Hause erdrückt hat.

Weil ich nichts Besseres zu tun habe, schlendere ich aus der Wardenhütte nach draußen und sehe mich ein wenig um. Dabei muss ich mir immer wieder die strubbeligen dunkelblonden Strähnen hinters Ohr streichen, die mir der aufkommende Wind ins Gesicht bläst. Zwar strahlt die Sonne auch hier über die Berge, aber die Windböen lassen mich etwas frösteln, sodass ich mir die hochgekrempelten Fließärmel bis über die Hände streife und diese darin vergrabe. Der Sommer ist zwar da, aber eben auch gerade erst angekommen.

Neben der Information und der Wardenhütte entdecke ich noch eine Hütte für Gäste und ein größeres Toilettenhäuschen. Außerdem gibt es einen langen Steg, der anscheinend zu einem natürlichen Wasserbecken inklusive heißer Quelle führt, die in der Ferne zwischen hohem Gras und darin herumspringenden Kindern dampft. Umgeben ist das Camp von zahlreichen bunten Hügeln und Bergen, auf denen ich in der Ferne kleine Menschen entdecke, die wie Ameisen wirken. Und mittendrin liegt wie eine Lichtung der offene Campingplatz auf flachem, brachem Land. Er ist nicht umsonst so beliebt. Landmannalaugar ist eins der Wanderparadiese Islands, und die Berge sind hier so besonders, dass man sich vorkommt wie in einer anderen Welt.

Oder in einem anderen Leben.

Zwar stehen auf dem Campingplatz mindestens hundert Zelte, doch von den meisten Besitzern fehlt jede Spur. Vermutlich sind sie unter den Ameisen auf den Wanderpfaden, denn warum sollte man seinen Tag im Zelt verschwenden, wenn man immer weiter und weiter laufen kann?

Ich seufze leise, gehe an den letzten Zelten vorbei und atme tief ein, während ich versuche, den Anblick in meinen Kopf einzubrennen. Wie alt sind die Berge hier? Tausende Jahre? Hunderttausende? So viel älter, als jeder Mensch jemals werden würde. Weil unsere Zeit eben begrenzt ist. Die dieser Berge vielleicht auch, aber sie haben so viel mehr davon.

Super, jetzt bin ich schon neidisch auf Berge.

Ich schlucke, spüre, wie das altbekannte Gefühl in meine Knochen zurückkommt, das Gefühl, dass mir alles zwischen den Fingern zerrinnt, und ganz automatisch wandert meine Hand zu meinem Handy, weil ich mich sofort nach Ingvis Stimme sehne. Frustriert schließe ich die Augen. Warum ist das so verdammt schwer?

Für ein paar Augenblicke starre ich auf das Display, tippe dann zu den Kontakten und fixiere seinen Namen.

Fuck! Ich bin doch hier, um genau das nicht mehr zu tun. Mein Zeigefinger schwebt über dem Gerät, während ich die Luft anhalte und seine Stimme bereits in meinem Kopf hören kann, bevor ich ihn anrufe. Doch als ich drauftippen will, holt mich eine Melodie in die Realität zurück. Der Klang einer Gitarre tönt durch die Luft, dazu eine leise Stimme, deren gesungene Worte ich nicht verstehen kann.

Ich sehe mich um, kann aber niemanden entdecken und frage mich, wer so verrückt sein würde, eine Gitarre mit hierher zu schleppen. Als die Musik genauso plötzlich wieder endet, wie sie angefangen hat, runzle ich die Stirn. Was war das denn? Eine Gesangsübung? Ich schlucke, weil ich die früher auch täglich gemacht habe. So viele Jahre lang. Wie viele Tage habe ich jetzt schon verpasst? Sind die neunzig bereits voll?

Von Neugier angetrieben, laufe ich über den Campingplatz, bis mir bewusst wird, dass in jedem dieser Zelte jemand mit seiner Gitarre sitzen könnte. Bevor ich mich an allen hundert oder mehr vorbeischleiche, stoppe ich und gehe zurück zur Wardenhütte. Die Melodie steckt aber in meinem Kopf fest. So traurig, dass ich mich davon verstanden fühle. Ich hätte gern noch viel länger gelauscht. Wenn ich schon selbst nicht mehr singe, will ich zumindest zuhören.

»Saga!«

Das Quietschen kommt mir allzu bekannt vor. Sobald ich mich umdrehe, entdecke ich Hildur, die auf mich zurennt. Sie hat ein breites Grinsen auf den Lippen und stürzt sich mit so einer dicken Umarmung auf mich, dass ich fast mit ihr zusammen zu Boden falle.

»Schön, dass du da bist!«, quietscht sie noch einmal, tritt einen Schritt zurück und mustert mich. »Gut siehst du aus.«

Ich blinzle überfordert. Hildurs dunkelbraune Haare sind nass und in einen unordentlichen Dutt zusammengesteckt. Ihre Arbeitsklamotten sind teilweise ebenfalls nass, aber trotzdem ist das Lächeln auf ihrem Gesicht augenscheinlich total aufrichtig. So schlimm kann die Arbeit hier also nicht sein, oder?

»Du auch«, erwidere ich endlich und entdecke auch Einar, als ich über ihre Schulter blicke, der ihr mit einem bedröppelten Lachen folgt und die Hand zur Begrüßung hebt.

»Saga!« Das Lächeln auf seinen Lippen ist ein wenig zurückhaltender als das von Hildur. Er fährt sich durch die halblangen blonden Haare, die ich so chaotisch gar nicht aus seinem ganz normalen Stadtleben kenne, und zieht mich wortlos in eine feste Umarmung. »Schön, dich hierzuhaben.« Die Worte sind so sanft, dass ich mich versteife. Klar, Einar war ebenfalls ein guter Freund von Ingvi, trotzdem hoffe ich, dass Ingvi kein Thema sein wird. Immerhin bin ich doch hier, um endlich nicht mehr ständig an ihn zu denken. Das Nicken jedoch, das Einar mir schenkt, scheint fast wie ein unausgesprochenes Einverständnis, und für ein Moment will ich ihn fragen, ob er aus demselben Grund hier ist wie ich, wage es aber doch nicht. Nicht auszudenken, wenn seine Antwort Ja wäre.

»Schön, euch zu sehen. Und danke noch mal, dass ihr es möglich gemacht habt, dass ich hier spontan mit euch Warden sein darf«, sage ich schnell, schaue dabei zwischen Hildur und Einar hin und her.

»Na klar«, sagt Hildur und betrachtet mich erwartungsvoll.

Erst da wird mir bewusst, dass sie das wahrscheinlich so nicht von mir kennt. Diese leise Stimme, diese Ruhe. Ich sollte ihr Löcher in den Bauch fragen oder mich über ihr Outfit lustig machen. Vielleicht den ein oder anderen Salto schlagen, weil ich so begeistert bin. Das erstbeste total banale Lied singen, das mir in den Sinn kommt, um diesen Tag zu beschreiben.

Ich schlucke, weil ich nicht weiß, ob ich diese Seite von mir verloren habe oder ob sie nur auf Eis liegt.

»Also …«, beginne ich vorsichtig, »… ich habe mich zwar schon ein wenig umgeschaut, aber wollt ihr mir noch die Insider-Tipps geben?«

Das lässt Hildur laut lachen, sodass sie mir auf die Schulter klopft.

»Lass mich dich in die Geheimnisse des Landmannalaugar-Lebens einführen.« Sie zwinkert. »Einar, kannst du Íris ablösen? Und dann trinken wir später alle zusammen einen Tee?«

Einar sieht aus, als wäre er kurz davor zu stöhnen, scheint es jedoch zu unterdrücken und nickt, bevor er davontrottet.

Hildur grinst zufrieden und klatscht in die Hände.

»Okay.« Sie stupst mich mit ihrer Schulter an. »Einmal Insider-Führung, los geht’s!«

Zuerst zeigt Hildur mir, dass es für den Zugang zum Toilettenhäuschen verschiedene Papier-Armbänder für die Gäste gibt – orange für Camper, blau für Hüttenbesucher, grün für Tagestouristen. Die Duschen und Toiletten sauber zu machen, ist eine tägliche Aufgabe, die einen Großteil des Jobs ausmacht, wie sie mir gesteht. Gut, nicht die schönste Tätigkeit, aber putzen sollte nicht so schwer sein.

Danach zeigt sie mir die heiße Quelle, die hauptsächlich von Touristen besetzt ist, und erklärt mir, dass die Leute sich nur mit den ausgeteilten Armbändern später in den Duschen abduschen können. Ansonsten kosten fünfminütige heiße Duschen extra. Gut für mich, dass ich kein Camper bin, sondern die Sonderbehandlung mit eigener Dusche in der Wardenhütte genießen darf.

In dem kleinen Shop an der Information verkaufen wir neben den Camping- und Hüttenplätzen außerdem Snacks und Getränke. Ein großer Teil der Touristen greift aber lieber auf die separaten Shops in alten, stillgelegten Bussen zurück, die außerhalb des Camps platziert sind – denn dort gibt es auch Bier.

Zuletzt führt sie mich zurück in die Wardenhütte.

»Manchmal kommen noch Tourgruppen vorbei, die sich einen Hüttenraum komplett gemietet haben, die Tourguides sind aber meistens ganz cool und Leute, die wir kennen oder die selbst mal Warden waren«, erklärt Hildur. Bevor wir reingehen, stoppt sie abrupt. »Und? Freust du dich, hier zu sein?« Sie mustert mich. »Wie geht’s dir denn?«

Wieder dieser erwartungsvolle Blick. Denkt sie, ich würde ihr jetzt all meine Gefühle ausschütten? Erwartet sie wirklich, dass ich ehrlich zu ihr bin?

Ich blicke schnell zu Boden.

»Ja, alles gut«, sage ich, sehe sie wieder an, hoffe, dass mein Lächeln nicht zu fake erscheint. »Ich freue mich, ein bisschen Abstand zu bekommen. Aber wie geht es denn Einar mit allem?« Warum auch immer ich erwarte, eine ehrlichere Antwort zu bekommen, wenn ich selbst keine geben will.

»Der blüht hier richtig bei der Arbeit auf«, erklärt sie. »So motiviert kenne ich ihn definitiv nicht.«

Verstehend nicke ich. Er macht es also tatsächlich so wie ich. Gut.

»Und?«, fragt Hildur. »Lust auf einen Tee und eine Runde Quatschlabern wie früher?«

Ich widerstehe dem Drang, meine Augen zu schließen, versuche stattdessen, Hildurs strahlendem Blick standzuhalten.

»Quatsch klingt immer gut«, antworte ich.

Quatsch ist besser als jedes echte Gespräch.

Kapitel 3

Die erste Nacht ist kürzer, als ich erwartet habe, denn obwohl ich mein eigenes Zimmer ohne andere Schnarchnasen habe, will der Schlaf nicht so recht kommen. Es ist ruhig, zu ruhig, ungewohnt und fremd. Wie vor so langer Zeit die erste Nacht in der WG. Damals habe ich stundenlang am Fenster gesessen und in den dunklen Himmel gestarrt, in dem ich die Sterne nicht mehr so gut sehen konnte wie zu Hause in Akureyri, weil es in Reykjavík plötzlich nachts viel mehr Licht gab. Traurig hat es mich aber nicht gemacht, denn ich habe mit Absicht meine kleine Heimatstadt im Norden hinter mir gelassen. Und wenn ich dafür auf sternenklare Nächte verzichten musste, dann sollte es wohl so sein.

Diesmal ist es anders. Auch wenn ich nicht allein in diesem Haus bin, fühle ich mich auf einmal unendlich einsam. Und statt am Fenster zu sitzen, stecke ich mir Kopfhörer in die Ohren, lasse die Musik auf der leisesten Stufe laufen und tue so, als würde ich dort mit Ingvi Karaoke singen, statt unserer eigenen Songs, weil er mich mal wieder dazu überredet hat. Unter Alkoholeinfluss versteht sich.

In einer Welt, in der alles gut ist.

Trotz allem gibt es mir ein wenig Frieden, am nächsten Morgen nicht in der gewohnten Wohnung aufzuwachen, und auch das Atmen fällt mir leichter als in den letzten Wochen. Ob das an der frischen Luft liegt oder an der neu gewonnenen Freiheit, sei mal dahingestellt. Es gibt mir aber Hoffnung, dass es der richtige Schritt war hierherzukommen.

 

Am Vormittag zeigen mir Íris und Hildur die Details meines Jobs: wie man die Kasse bedient, wie hoch die Preise sind und wie die Toiletten geputzt werden, obwohl sie dank Welpenschutz am ersten Tag noch nicht verlangen, dass ich mit anpacke. Stattdessen übernehme ich freiwillig am Vormittag eine Schicht an der Information, weil Ablenkung das ist, wofür ich hergekommen bin.

Anfangs kommen nur vereinzelte Touristen, die nach einer Karte der Umgebung fragen oder etwas Kleines kaufen wollen. Doch am Mittag wächst die Schlange, sodass ich mein Bestes gebe, die korrekten Armbänder gegen das richtige Geld herauszugeben, ohne dabei die Kasse zu zerstören. Ich kämpfe mit einem zuvorkommenden Lächeln auf den Lippen, bin aber bald überfragt, als eine junge Frau wissen will, ob der große viertägige Wanderweg Laugavegur denn zu dieser Zeit des Jahres sicher ist. Doch ehe ich die falsche Antwort zusammenstammeln kann, werde ich von Hildur erlöst, die sich ans zweite Infofenster stellt.