Circle
Prolog
Elina Wörmann
Impressum © 2025 Elina Wörmann
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Kapitel 1
Ich konnte nicht anders. Ich wusste nicht, wie viel Zeit ihm noch blieb.
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»Bist du da?«
Das war das Erste, was er hörte. Noch bevor die Finsternis sich legte, bahnten diese Worte sich ihren Weg in sein Bewusstsein und ließen ihn erschrocken zurückweichen.
Doch weit kam er nicht.
Eine unsichtbare Wand hielt ihn davon ab, vor der Stimme zu fliehen, die aus der Dunkelheit hinter dem Schein von fünf weißen Kerzen zu ihm sprach. Halb heruntergebrannt standen sie auf den Spitzen eines fünfzackigen, aus weißem Pulver gestreuten Sterns, der sich in einem ebenfalls gestreuten Kreis befand.
Ein Kreis, der ihn einsperrte.
»Gib mir ein Zeichen, wenn du hier bist.«
Sein Blick huschte in Richtung der Stimme und erfasste das Brett, das ihm gegenüber lag. Zwei Buchstabenreihen waren in dessen Mitte eingraviert. Ein Stück darunter die Zahlen von Null bis Neun. Worte standen in den Ecken, aber sein Hirn nahm sie nicht auf. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, zu atmen. Die Luft, die stoßweise aus seiner Lunge drang, schien immer dünner zu werden.
Die Kerzen. Ihr Licht raubte ihm den Sauerstoff und verbrannte seine Haut, obwohl er sie nicht berührte. Im Gegenteil, er bemühte sich, so weit wie möglich von ihnen fernzubleiben, während er sich gegen die unsichtbare Barriere presste.
»Antworte ihr.«
Sein Blick schnellte nach rechts. Dorthin, wo eine zweite Stimme sprach. Sie war näher als die erste, dadurch lauter, und eben diese Lautstärke jagte ihm eine Gänsehaut über den Körper.
Er zog seine Beine an, schlang die Arme darum und duckte sich, als wollte er sich hinter seinen Knien verstecken.
Ein Seufzen ließ ihn zusammenfahren. Er rechnete mit Schmerzen, die nicht kamen, und wünschte sich, zu wissen, wo er sich befand oder wie er hergekommen war, denn seine Erinnerungen waren keine Hilfe. Sein Kopf beherbergte keinerlei Gedanken. Nur Angst. Sein ganzer Körper bebte, und all seine Sinne schrien ihn an, zu fliehen.
Erfolglos.
Selbst ohne die Wand wäre er nicht in der Lage, sich auch nur einen Zentimeter zu rühren. Sein Körper war taub, seine schnelle Atmung das Betäubungsmittel.
Er kniff die Augen zusammen, als gleißendes Licht den Raum erhellte. Blinzelte, um sich schnellstmöglich an die plötzliche Helligkeit zu gewöhnen und endlich zu sehen, wo er war.
Doch der Ort, ein einfaches Wohnzimmer, kam ihm nur bedingt bekannt vor. Er konnte nicht behaupten, je hier gewesen zu sein, und fragte sich unweigerlich, ob es damit zusammenhing, dass er überhaupt noch nie irgendwo gewesen war.
Es war ein eigenartiges Gefühl. Zwar konnte er jedes Möbelstück benennen, fand aber keine Erklärung darüber, woher dieses Wissen stammte.
»Alles gut?«
Abermals zuckte er vor der Stimme zurück, stieß erneut gegen die Wand und erinnerte sich schmerzlich daran, wie begrenzt sein Platz war. Dafür konnte er sie jetzt sehen: die Quelle der Stimme. Das Gesicht eines jungen Mannes, der neben dem Pentagram hockte und ihn amüsiert musterte.
»Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.«
»W-wo bin ich?«
»In ihrer Wohnung.« Der Fremde nickte in Richtung der Frau, die gerade aus dem Wohnzimmer ging. »Ich bin Malik, und du?«
»W-wie …?« Er schaffte es nicht, seinen Satz zu Ende zu bringen. Zu wirr waren seine Gedanken, zu schwer seine Stimme.
»Sie hat dich beschworen. Aber mach dir keine Sorgen, gleich kommst du hier raus.« Malik klopfte gegen die Barriere. »Sie hat noch nicht herausgefunden, dass sie uns auch wieder zurückschicken muss, wenn sie fertig ist.«
»Zurück?«
Allmählich beruhigten sich seine Nerven.
Jetzt, da er sah, wer mit ihm sprach, war seine Situation gleich weniger beängstigend. Was mitunter an Maliks tiefer Stimme lag, die sich wie eine gewichtete Decke über ihn legte.
»Ins Afterlife.« Malik grinste. »Keine Ahnung, was es wirklich ist. Bin hier genauso aufgewacht wie du.«
»A-afterlife? W-wir sind tot?«
»Mausetot. Jetzt sag, wie heißt du?«
»Nico.«
»Freut mich sehr.« Malik stützte die Hände auf dem Boden ab und winkelte seine Beine zum Schneidersitz an. »Ich hatte schon Angst, dass sie mich für immer alleine lässt. Bin gestorben vor Langeweile.«
Er lachte über seinen eigenen Witz, und irgendetwas an diesem Lachen erlaubte Nico, seine Muskeln etwas mehr zu entspannen.
Es klang … vertraut.
Ebenso wie sich seine Angst vertraut anfühlte.
Zwei kleine Beweise dafür, dass er tatsächlich einst gelebt hatte, auch wenn er sich nicht an diese Zeit erinnerte.
»Dann sieht sie uns nicht?«, traute er sich zu fragen und deutete mit einer zögernden Geste in Richtung der Tür.
Malik schüttelte den Kopf. »Sieht uns nicht, hört uns nicht, spürt uns nicht …«
Nico nickte zögernd.
Von niemandem gesehen und von niemandem gehört – es klang wie ein wahrgewordener Traum, von dem er nicht wusste, ihn je geträumt zu haben. Tot zu sein war auf einmal nichts mehr, wovor er sich fürchtete.
Hatte er das überhaupt getan?
Die Neuigkeit hatte ihn überrascht, aber nicht verunsichert. Als wäre es ihm bereits klar gewesen, ohne wirklich darüber nachgedacht zu haben.
»Oh!« Unter Maliks plötzlichem Ausruf riss Nico den Kopf herum. »Deine Rettung naht.«
Er folgte Maliks Blick und tatsächlich kehrte die Frau zu ihnen zurück. Sie kam geradewegs auf ihn zu und weckte erneut sein Bedürfnis, zurückzuweichen.
Er unterdrückte es. Weit käme er ohnehin nicht, und sollte die Frau ihn wirklich nicht sehen können, machte es keinen Unterschied.
Malik schien recht zu haben.
Sie interessierte sich kein Stück für ihn, als sie auf die Knie ging und die Kerzen auspustete. Vorsichtig, um das geschmolzene Wachs nicht auf dem Parkettboden zu verteilen.
Kaum war die erste Kerze erloschen, fiel Nico rücklings aus dem Salzkreis. Er hatte gar nicht bemerkt, wie fest er sich gegen die Wand gepresst hatte, und schaffte es gerade noch, seinen Sturz abzufangen.
»Herzlichen Glückwunsch! Du bist frei.« Malik stand auf. So abrupt, dass Nico ein weiteres Mal zusammenzuckte, wofür er einen skeptischen Blick erntete.
»Entspann dich. Ich tue dir schon nichts.«
Malik durchquerte den Raum und ließ sich aufs Sofa fallen. Der Stoff gab nicht unter ihm nach. Er hätte sich genauso gut auf ein Brett setzen können.
»Wie funktioniert das hier?« Ein wenig unbeholfen zwang Nico sich zum Aufstehen. Vor Aufregung waren seine Knie weich und als er endlich festen Halt unter seinen Füßen fand, behagte es ihm nicht ansatzweise, inmitten des Wohnzimmers zu stehen. Er kam sich vor wie auf einem Präsentierteller und Maliks neugierige Blicke machten die Situation nicht besser.
»Keine Ahnung. Ein paar Sachen konnte ich mir zusammenreimen, aber im Großen und Ganzen«, er sah sich in dem Raum um, »bin ich genauso unwissend wie du.«
»Wie lange bist du schon hier?«
»Erst vier Tage, zum Glück. Wobei ich etwas Schiss bekommen habe, als sie vorhin das Brett wieder ausgepackt hat. Dachte schon, sie holt mir einen Vollidioten ins Haus.« Malik grinste.
Ein Grinsen, das Nico mit einem verlegenen Lächeln quittierte. Er kannte Malik nicht, und der Blonde war größer, als ihm lieb war. Dennoch schätzte er sich glücklich, überhaupt jemanden hier zu haben. Andernfalls hätte er sicher den Verstand verloren.
Sofort.
Nicht erst nach vier Tagen.
»W-was hast du die ganze Zeit über gemacht?«
Malik hob die Schultern. »Gesessen. Nachgedacht. Wenn mir richtig langweilig war, gestanden. Glaub mir, ich kenne ihre Wohnung jetzt besser als sie selbst.«
»Können wir raus?«
»Nope. Unsichtbare Wände an allen Fenstern und der Tür. Für dich getestet.« Er zwinkerte Nico zu. »Bewegen können wir übrigens auch nichts.«
»Gar nichts?«
»Gar. Nichts. Also überleg dir gut, in welchem Zimmer du die Nacht verbringen möchtest. Einmal musste ich im Badezimmer auf dem Boden pennen, wobei«, er wiegte nachdenklich den Kopf von einer Seite zur anderen, »wir auch nicht schlafen können.«
»U-und durch Wände gehen?«
Wieder lachte Malik, doch dieses Mal beruhigte es Nico nicht. Stattdessen kam er sich bescheuert vor. So sehr, dass er am liebsten im Erdboden versunken wäre.
»Nein. Du kannst es aber gerne probieren, wenn du magst.«
Nico schüttelte den Kopf. Vielleicht würde er es tun, wenn Malik nicht hinschaute.
»Habe ich mir fast gedacht.« Der Fremde stand auf.
Erneut ohne Vorwarnung.
Erneut glaubte Nico, deswegen an einem Herzinfarkt zu sterben. Nur einen Moment lang, denn im nächsten realisierte er, dass sein Herz überhaupt nicht schlug. Weder jetzt noch in seiner Angst vorhin hatte es ein Lebenszeichen von sich gegeben. Um sicherzugehen, tastete Nico nach seinem Puls, was Malik ein drittes Mal zum Lachen brachte. »Du kannst mir ruhig glauben, wenn ich dir sage, dass wir tot sind.«
Beschämt ließ Nico die Hand sinken. »Aber wir können atmen.«
»Verrückt, oder? Komm, ich führe dich rum.« Malik steuerte die Tür an und Nico folgte ihm. Abwechslung war gut und solange Malik vor ihm herging, fühlte er sich sicher. Allerdings nur solange, bis er im Flur vor dem Spiegel stehen blieb. Zwei Meter hoch, mindestens einen halben Meter breit. Nico stand direkt davor und doch …
»Wir haben kein Spiegelbild.« Malik gesellte sich an seine Seite und verschränkte die Arme vor der Brust. Dabei starrte er in das Glas, das nichts zeigte außer die Wand und den Jackenhaken hinter ihnen. Eilig ging Nico weiter. Was immer hier geschah, es spielte mit seinem angeschlagenen Gemüt, weshalb er ziellos die nächstgelegene Tür ansteuerte. Sie stand nur halb offen, aber der Spalt reichte, um das dahinter liegende Zimmer mühelos zu betreten.
Ein Schlafzimmer, wie sich herausstellte.
Von der Einrichtung her hatte es einen ähnlichen Stil wie das Wohnzimmer, nur lagen hier überall Klamotten herum. Der Schreibtisch war vollgestellt mit allerlei Krempel und das Bett zerwühlt. Auf den ersten Blick entdeckte Nico Geschirr, leere Getränkeflaschen, Zettel, …
»Hier bin ich fast nie«, sagte Malik hinter ihm, und Nico wusste, dass auch er sich hier nicht oft aufhalten würde. Das Chaos jagte ihm einen Schauer über den Rücken und er hoffte inständig, dass es sich langfristig auf diesen Raum beschränkte, während er mit hochgezogenen Schultern den Rückzug antrat. Malik ging ihm voraus und führte ihn in das schräg gegenüberliegende Badezimmer.
Einen Schritt schaffte Nico hinein, dann trat er auch schon auf eine einzelne herumliegende Socke.
Wie das Sofa bei Malik, gab sie nicht nach. Konnte er wirklich so leicht sein, obwohl sein Körper sich doch so schwer anfühlte?
Um sicherzugehen, stieß er das Kleidungsstück mit dem Fuß an, doch es rührte sich keinen Millimeter. Trotz des weichen Stoffs schien das Teil hart wie Stein.
»Habe ich doch gesagt.« Malik lehnte im Türrahmen und betrachtete ihn mit einer Mischung aus Belustigung und Mitgefühl.
»E-es ist seltsam.«
»Man gewöhnt sich dran.«
Hoffentlich. Das Dasein als Geist war vollkommen anders, als Nico sich vorgestellt hatte.
Vorgestellt? Wann?
Es war, als hätte er sich einst Gedanken darüber gemacht. Allgemein merkte er, dass er genau wusste, was er von dieser Welt erwarten konnte. Nur wurde keine einzige dieser Erwartungen erfüllt.
Er war ein Alien auf einem fremden Planeten.
Ein Mensch gefangen im falschen Körper.
Er schluckte Luft hinunter, denn Speichel schien er genauso wenig zu haben wie ein Herz, und drehte sich zu Malik um. »Wir haben gar keinen Körper, oder?«
»Nicht wirklich.« Malik seufzte. Er stieß sich vom Türrahmen ab und ging in den Flur zurück. »Aber auseinanderfallen tun wir auch nicht. Das ist doch schon mal etwas.«
Nico nickte, obwohl Malik es nicht sah. »Glaubst du, sie beschwört noch mehr Geister?«
»Falls ja, hoffe ich, dass sie bald lernt, uns zurückzuschicken. Könnte sonst eng werden.«
Es waren wenige Worte, die sich augenblicklich in Nicos Gedanken abzeichneten – in Form eines Bildes der vollkommen überfüllten Wohnung. Er im Zentrum. Gefangen in einer stetig wachsenden Menge aus Geistern. Allesamt unbekannt. Nicht alle so freundlich, wie Malik bisher war.
Er spürte ihre Körper.
Ihren Atem.
Ihre Berührungen.
Seine Klaustrophobie kroch seinen Nacken herauf und er fuhr zusammen, als Malik ihm aus dem Nichts heraus eine Hand auf die Schulter legte.
»Weißt du«, die Hand verschwand genauso schnell, wie sie gekommen war. »Im Zweifelsfall können wir einfach einen Geist bitten, ihr von unserem Problem zu erzählen.«
»Ja.« Nico schlang die Arme um sich. So weit hätte er denken können. »A-aber was, wenn sie niemanden mehr beschwört?«
»Dann bleiben wir hier.« Behutsam schob Malik ihn zurück ins Wohnzimmer. »Jetzt, wo wir zu zweit sind, gibt es Schlimmeres.«
»Ach ja?« Für Nico gab es kaum etwas Schlimmeres, als für immer eingesperrt in dieser Wohnung zu leben. Unfähig, etwas anzufassen und somit unfähig, sich zu beschäftigen.
»Wer weiß?« Malik ließ sich der Länge nach auf das Sofa fallen. Sein Körper – oder in welcher Hülle auch immer sie steckten – schlug hart auf den weichen Untergrund auf.
Malik störte sich nicht daran. Er musste die Bewegung in den letzten Tagen Hunderte Male ausgeführt haben.
Nico blickte zurück in den Flur. Um sich von der anbahnenden Grübeleien abzulenken, deutete er auf eine letzte Tür. Sie war geschlossen, und die Frau musste sich dahinter befinden, denn er hatte sie nicht mehr gesehen. »Was ist dort?«
»Küche.« Malik verschränkte die Arme hinter dem Kopf und winkelte ein Bein ein. »Geh da nicht rein, wenn du dich nicht quälen willst.«
»Wieso?«
»Weil unsere Nasen hervorragend funktionieren. Es ist Folter. Hör auf einen erfahrenen Geist und halte dich von dort fern.«
Kapitel 2
Doch als ich mich umdrehte und dich sah, deine Augen voller Angst …
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Es war keine Folter, wie Nico für sich herausfand. So ganz ohne Hungergefühl kam er gut damit zurecht, der Frau, die er insgeheim Lea getauft hatte, beim Essen zuzusehen.
Viel schlimmer war für ihn die Langeweile. Malik entpuppte sich zwar als ein angenehmer Zeitgenosse, aber mehr als Unterhaltungen zu führen, konnten sie nicht. Und die Serie, die Lea eingeschaltet hatte, war keine Hilfe.
Er begriff nicht, worum es ging.
Sie waren irgendwo in Staffel drei, wodurch ihm der Zusammenhang fehlte, und Malik machte sich nicht die Mühe, ihn aufzuklären. Er saß neben Lea auf der Couch und schenkte ihrer Chipstüte mehr Aufmerksamkeit als dem Geschehen auf dem Bildschirm. Zumindest hing sein Blick jedes Mal, wenn Nico über die Schulter sah, auf den Leckereien.
Nico hingegen hatte es sich auf dem Boden am Fußende des L-förmigen Sofas gemütlich gemacht. Er bevorzugte es, alleine zu sitzen, auch wenn seine Wahl bedeutete, Lea und Malik den Rücken zuzukehren.
Sie sieht mich nicht, hatte er sich eingeredet. Und Malik ist gut.
Zumindest wirkte Malik bisher nicht daran interessiert, ihm etwas anzutun. Im Gegenteil. Es mochte an Nicos fehlenden Erinnerungen liegen oder an der Einsamkeit, die ihn ohne Malik übermannen würde, aber er war dankbar dafür, nicht alleine zu sein. Malik hatte etwas Beruhigendes an sich. Etwas, das Nico das Gefühl gab, in Sicherheit zu sein.
Gleichzeitig fragte er sich inzwischen, woher dieses Misstrauen stammte, das unentwegt an seinen Nerven zerrte. Draußen war es längst dunkel, trotzdem hatte er es bisher nicht geschafft, sich vollends zu entspannen. Sobald Lea sich bewegte, wurde er einen halben Zentimeter kleiner, wodurch er im Laufe des Abends mehr als einmal seine Haltung korrigieren musste, um nicht mit dem Teppich zu verschmelzen.
»Malik?«, fragte er nach einer halben Ewigkeit, die ihn nicht glauben ließ, noch irgendetwas von der Serie zu verstehen.
»Hmm?« Der Blonde klang glücklich darüber, sich endlich mit etwas anderem als den Chips beschäftigen zu können.
»Glaubst du, wir sind, wie wir waren, als wir noch gelebt haben?«
»Ich weiß nicht.« Maliks Stimme war auf einmal so nah, dass Nico zusammenfuhr. Geister machten keine Geräusche, das hatte er bereits gelernt. Nicht einmal ihre Kleidung raschelte. Umso dämlicher kam er sich dabei vor, die ganze Zeit auf seine Umgebung zu lauschen.
Ob er das früher schon gemacht hatte?
War das auch der Grund, wieso er es hasste, jemanden in seinem Rücken sitzen zu haben?
Die Angst. die ihn vereinnahmte, störte ihn. Schlimmer war nur, nicht zu wissen, woher sie kam. War sie berechtigt? Ein Trugschluss? Konnte er seinen Instinkten vertrauen oder war er nur ein verlorenes Wrack, ertrunken in den Tiefen der Gesellschaft?
Hatte er sich umgebracht?
Es war nicht das erste Mal, dass er sich diese Frage stellte.
»Aber ich habe auch schon darüber nachgedacht, und finde, das würde Sinn ergeben«, redete Malik weiter.
Nico drehte sich zu ihm um. Der Blonde hatte sich bäuchlings aufs Sofa gelegt, den Kopf in Nicos Richtung gewandt und das Kinn auf eine Hand gestützt.
Nachdenklich zog Nico die Knie an seine Brust und legte die Arme darauf ab. »Fragst du dich auch manchmal, was mit dir geschehen ist?«
»Oft genug.«
»Was glaubst du, wie lange wir schon tot sind?« Er musterte Malik. Jeans, ausgewaschener grauer Hoodie, auf dem noch die Überreste eines dunkelblauen Logos zu sehen waren, und eine Jacke.
Nico beneidete ihn dafür, dass er eine Jacke trug.
Tot zu sein, bedeutete, kalt zu sein. Man fror nicht, aber es war auch nicht angenehm, und Nico sehnte sich nach den Kerzen. Oder einer Heizung. Irgendetwas, das ihm Wärme spendete, denn Wärme bedeutete Geborgenheit.
Er sehnte sich nach Geborgenheit.
Oder nach einer Jacke, die ihm diese ein Stück weit geben konnte, denn er trug nichts als eine Jogginghose, einen Pulli und Socken. Ob das die Dinge waren, die er bei seinem Ableben getragen hatte?
»Ich weiß nicht.« Maliks Antwort kam nur zögernd über seine Lippen. »Ich gehe nicht davon aus, dass es allzu lange ist. Aber frag mich nicht, wieso.«
»Weil es sich nicht danach anfühlt?«, überlegte Nico laut und eher zu sich selbst, als zu dem anderen Geist. Es war wie mit dem anderen Wissen: Ein Instinkt, sich in Sachen sicher zu sein, obwohl man nie zuvor mit ihnen zu tun hatte. Gefühlsschnipsel ihrer vorherigen Leben.
»Ja … irgendwie so.« Malik ließ den Arm, mit dem er seinen Kopf gehalten hatte, der Länge nach auf das Sofa fallen. »Wenn ich ehrlich bin, ist es mir ziemlich egal, wie lange mein Tod her ist. Spannender fände ich die Frage nach dem Wie.«
Nico senkte den Blick. Ja, die Antwort darauf wüsste er auch gerne.
»Hast du mit ihr gesprochen?« Er deutete auf Lea, die sich eine Handvoll Chips in den Mund schob. Eilig wandte er sich wieder ab. Sie fühlte sich unbeobachtet, hier in ihren eigenen vier Wänden, und diese Privatsphäre wollte er ihr nicht nehmen.
»Ein wenig.« Malik seufzte. »Das Ding zu bewegen ist schwerer, als es aussieht. Sie dachte wohl, ich wäre wieder abgehauen und hat deswegen abgebrochen.«
Nico wandte sich vollends von dem Geist ab und betrachtete abermals die Menschen im Fernsehen.
Er hatte nicht mit Lea gesprochen.
Hätte er auch nicht, ganz egal, wie lange sie gewartet hätte. Die Angst hatte ihn gelähmt und das bedeutete … »Du hattest keine Angst, als du hergekommen bist.«
»Sagen wir, es hat sich in Grenzen gehalten.«
Nico nickte. Das war alles, was er wissen musste.
Ob ihr Charakter in Stein gemeißelt war? Oder entwickelten sie sich weiter, wenn sie länger hierblieben?
Nico hätte seine Frage gerne ausgesprochen, aber ihm war klar, dass Malik die Antwort nicht kannte. Er zog nur Schlüsse, genau wie Nico es versuchte. Zwar konnte sie Dinge ausprobieren, aber um diese Dinge auszuprobieren, musste noch viel Zeit vergehen.
Viel Zeit, in der sie nichts anderes tun konnten, als zu reden. Tagein, tagaus. Jede Sekunde ihres momentanen Daseins. Es konnte morgen vorbei sein oder sich Jahre hinziehen.
Endlos. Lange. Jahre.
Nico stand abrupt auf. »Das hier ist die Hölle.«
»Also, so schlimm ist meine Gesellschaft jetzt auch nicht.« Malik lachte.
»Wir können nichts tun.« Er ging zum Bücherregal. »Wir sind hier eingesperrt und können nichts tun.«
Mit beiden Händen suchte er das Regal ab. Er zog an jedem Buch, betastete jede Figur, jedes Bild, jede Dekoration. »Vielleicht ist es ein Test.«
»Nico, beruhige dich.«
»Nein.« Er musste etwas übersehen haben. Nichts bewegte sich, aber das war unmöglich, denn die Antwort war immer ein Bücherregal. Oder nicht? »Ich will nicht für immer hierbleiben.«
Er startete von vorne, arbeitete sich von links nach rechts, von oben nach unten. Er musste etwas übersehen haben; ein Buch vergessen; nicht stark genug an einer Schneekugel gedreht.
»Das bringt doch nichts, Nico. Wir sind beschworen worden. Wir können nichts anfassen.«
»Aber was«, Nico fuhr zu Malik herum, »wenn wir nicht beschworen worden sind? W-wenn wir nach unserem Tod automatisch hierhergekommen sind und … es eine Prüfung ist? Niemand sagt, dass das hier real ist. W-wir wissen doch nicht einmal, was genau das hier überhaupt ist.«
Seine Stimme zitterte. Nicht nur diese, sein ganzer Körper bebte. Hätte er ein Herz, würde es ihm aus der Brust springen und über den Boden flatschen wie ein Fisch auf dem Trockenen – auf der Suche nach Wasser.
Mit dem Unterschied, dass Nico nicht nach Wasser suchte, sondern nach einem Ausgang aus diesem Käfig, der sich Wohnung nannte.
Er hastete zur Tür, griff nach der Klinke. Er zog daran, zerrte. Hitze und Kälte überkamen ihn gleichermaßen, als er sich mit seinem ganzen Körper darauf stemmte und sie sich
nicht.
rührte.
Keinen Millimeter.
Er schlug gegen die Tür, aber kein Geräusch ertönte. Kein Klopfen. Kein Hämmern. Egal, wie kräftig er dagegen schlug und wie schmerzhaft seine Bemühungen sich in seine Handflächen brannten.
Schmerz. Kälte. Glätte.
Immer gleichbleibende Empfindungen. Die einzigen Reize, die ihn lebendig fühlen ließen. So lebendig, als hätte er einen Puls. Als hätte die Luft in seiner Lunge eine andere Funktion, als ihm das Sprechen zu ermöglichen. Er hatte getestet, wie lange er die Luft anhalten konnte. Ewig, lautete die Antwort.
Er war wirklich tot, aber das war nicht das Problem.
Es war in Ordnung, tot zu sein.
Nicht in Ordnung waren diese gottverdammten vier Wände, die mit jeder Sekunde näherzukommen schienen. Sie verzerrten sich. Schrumpften. Die Decke fiel herunter und die Enge raubte ihm den Atem. Er würde zerquetscht werden. Ersticken. Sein Blick huschte zum Fenster: seine einzige Fluchtmöglichkeit.
Doch gerade, als er darauf zustürmen wollte, bereit, sich in die Scheibe zu werfen, legten sich zwei Arme um ihn. »Nico.«
Malik. Er hatte ihn ganz vergessen.
»Es ist in Ordnung. Früher oder später kommen wir hier raus. Wir müssen nur abwarten.«
Nico schüttelte sich; schüttelte den Körper von sich, der ihn mit jedem Versuch fester in den Arm nahm, bis er geschlagen auf die Knie sank.
Ein trockenes Schluchzen drang aus seiner Kehle, als er auf dem Boden aufkam, und er vergrub das Gesicht in Maliks Schulter.
»Es ist in Ordnung«, wiederholte dieser. Immer wieder. Wie ein Mantra, das Nico nicht glauben konnte. Er hörte Maliks Worte, doch verstand die Sprache nicht. Er verstand nur das Zittern seines Körpers und das Zucken seiner Nerven – die Sprache der Angst, die er zu gut aus den Momenten kannte, in denen er mit sich alleine war.
Alleine mit seinen Gedanken.
Er würde den Verstand verlieren, wenn Malik ihn nicht halten würde. Malik, der kalt war.
»Geht’s?«
Nico schüttelte den Kopf. Er wollte weinen, um die Anspannung loszuwerden, aber seine Augen brachten keine Tränen hervor. Sie brannten nur.
Sie, Malik und er, waren Hüllen ohne Sinn, Zweck und Konzept. Leer. Feste Materie und gleichzeitig Luft.
Leichter als Luft.
Als Malik nicht hingesehen hatte, hatte Nico Lea ins Gesicht gepustet, doch die Frau hatte nicht einmal aufgesehen.
»Den nächsten Geist bitten wir, ihr zu sagen, dass wir noch hier sind. Dann kommen wir hier weg.«
»Und wenn nicht?« Nicos Stimme war ein Krächzen.
»Erstmal gehen wir davon aus, dass es funktioniert. Sie hat uns hergebracht, also kann sie uns auch zurückbringen. So funktionieren Beschwörungen.«
Nico schluckte ein Stück seiner Panik hinunter. »Erfahrung damit?«
»Nein. Aber mein Basiswissen über Ouija-Boards sagt mir, dass sie Geister eigentlich nicht festhalten.«
»Eigentlich sollten Geister auch spuken können.«
»Dann müssen wir uns anstrengen.« Das Schmunzeln in Maliks Stimme schenkte Nico Hoffnung. Nicht viel, aber genug, um sich aus der Umarmung zurückzuziehen.
---ENDE DER LESEPROBE---