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Die City Heroes sind geschlagen – zumindest glaubt das Computer-Ass Hector, der den zerstörerischsten Virus aller Zeiten gestohlen hat. Aber um Jack und sein Team auszuschalten, muss sich der Bösewicht schon mehr einfallen lassen, als einfach nur über den Atlantik zu verschwinden. Natürlich sind ihm die City Heroes dicht auf den Fersen. In den USA wollen sie Hector endgültig zur Strecke bringen. Doch jetzt ist höchste Konzentration und schnelles Handeln gefragt, denn wenn Hector den Virus als Hacking-Tool nutzt, wird das die ganze Welt erschüttern! Ob es ihnen auch diesmal gelingt, einen genialen Coup zu landen?
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Seitenzahl: 253
Veröffentlichungsjahr: 2016
Peter Jay Black
Band 3
Aus dem Englischenvon Tanja Ohlsen
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1. Auflage 2016 © 2015 Peter Jay BlackDie Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel»Urban Outlaws – Lockdown« bei Bloomsbury, UKThis translation of »Urban Outlaws« is published by cbt Kinder- und Jugendbuchverlag by arrangement with Bloomsbury Publishing Plc.© 2016 für die deutschsprachige Ausgabe cbt Kinder- und Jugendbuchverlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenAlle deutschsprachigen Rechte vorbehalten Aus dem Englischen von Tanja OhlsenLektorat: Christina RiemannUmschlaggestaltung: Geviert Grafik & Typografie, unter Verwendung eines Bilds von © shutterstock/LeynTP ∙ Herstellung: weiSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN: 978-3-641-14777-8V001www.cbt-buecher.de
Jack Fenton sah Charlie über die Schulter, als sie mit ihrem Spezialwerkzeug das Schloss der Metalltür aufbrach. Der Zug schaukelte hin und her, und er konnte nur hoffen, dass sie ihre Bewegungen dem Geschlinger anpasste.
Nach ein paar angstvollen Sekunden sah er durch die andere Tür hinter sich in den Passagierwaggon.
Dort war alles ruhig. Die Fahrgäste lasen in ihren Zeitungen oder hörten Musik auf ihren iPods und achteten nicht auf ihre Umgebung.
Hoffentlich blieb das auch so.
Sein Blick streifte zum hinteren Teil des Waggons, wo Wren auf einem Gangplatz saß. Ihr langes, blondes Haar war mit einer rosa Schleife zusammengebunden, sodass sie aussah wie eine normale, harmlose Zwölfjährige.
Was für ein Irrtum.
Jack sah ihr in die Augen und flüsterte in das Mikrofon seines Headsets: »Alles klar bei dir?«
Wren sah sich um, lächelte und nickte leicht.
Jack verhielt sich so still wie möglich, Er wandte sich zum Fenster des Abteils, an dem Bäume und Häuser vorbeihuschten, und ging im Geist schnell den Rest der Mission durch, um mögliche Probleme in letzter Minute zu prüfen.
Die Tür, an der Charlie arbeitete, hatte ein spezielles Sicherheitsschloss. Hinter dieser Tür lag ein gepanzerter Waggon und in diesem Waggon befand sich ein silberner Aktenkoffer.
Jack hatte keine Ahnung, was sich in dem Koffer befand, und in diesem Moment war es ihm auch egal. Alles, was zählte, war, dass ein Mann, der sich »Der Hirte« nannte, ihn an sich nehmen wollte. Und als Gegenleistung für den Koffer wollte er die City Heroes von London nach New York bringen.
Beim Gedanken an Hector ballte Jack die Fäuste.
Hector war ihr neuer Feind. Er hatte es geschafft, den gefährlichsten Virus der Welt zu kopieren, und nahm ihn nun auseinander, um zu sehen, wie er funktionierte. Mit seiner Hilfe wollte er selbst zum größten Hacker der Welt werden.
Dann könnte Hector tun und lassen, was er wollte. Wie sein Vater konnte er Geheimnisse stehlen und sie an den Höchstbietenden verkaufen. Damit konnte er überall Chaos und Leid verbreiten. Jack drehte sich der Magen um, als er daran dachte, dass Hector, wenn er genügend Zeit bekam, auch den Bunker der City Heroes ausfindig machen konnte.
Mit einem von Jack geschriebenen Programm hatten sie Hector in Amerika aufspüren können. Deshalb mussten sie nach New York, und das möglichst schnell.
Wieder sah Jack zu der Sicherheitstür.
Alles der Reihe nach, sagte er sich. Sie brauchten zuerst mal diesen Koffer.
»In sechzehn Minuten seid ihr am Bahnhof«, sagte eine Stimme in ihren Ohren. Sie gehörte Obi, der zu Hause im Bunker saß und über Überwachungskameras darauf achtete, ob irgendwo die bösen Buben oder die Polizei auftauchte.
Charlie arbeitete immer noch an dem Schloss. Schweißperlen liefen ihr über die Stirn und das Gesicht, doch das schien sie gar nicht zu bemerken, so konzentriert arbeitete sie.
Jack unterbrach sie nicht gerne, aber sechzehn Minuten bedeutete, dass ihnen die Zeit davonlief. Sie hätte mit dem Schloss schon fertig sein müssen.
»Wie läuft es?«
»Nicht gut!«, zischte Charlie zurück. »Das ist schwieriger, als ich dachte.«
Im Bunker hatte sie an einem ähnlichen Schloss so lange geübt, bis sie es blind konnte, doch das hier schien ein neueres Modell zu sein.
Updates, dachte Jack genervt, mehr braucht es gar nicht.
Er riss sich zusammen.
»Wie lange noch?«
Charlie schob sich eine Haarsträhne aus den Augen.
»Ich mache ja, so schnell ich kann.« Ihre Stimme klang zwar gepresst, doch wie immer schien sie alles unter Kontrolle zu haben.
Jack richtete sich auf und hielt die Hand über sein Mikro.
»Slink?« Das Dröhnen des Dubsteps ließ ihm fast die Trommelfelle platzen, sodass er zusammenzuckte. »Slink! Echt jetzt!«
Gleich darauf erstarb die Musik.
»Was ist?«
»Musst du das eigentlich jedes Mal machen?«
»Ja, eigentlich schon«, gab Slink zurück. »Na und?«
Obi kicherte.
»He, Leute, ich versuche hier zu arbeiten!«, mahnte Charlie kopfschüttelnd und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Schloss zu.
Jack trat zurück und flüsterte in sein Mikro: »Slink, sag mir einfach, wo du bist.«
»Hey, alles easy. Der Kerl ist endlich weg und ich gehe auf Position. In ein paar Minuten ist alles bereit.«
Auch er war wohl aufgehalten worden.
Wren räusperte sich.
Was war denn nun schon wieder? Jack drehte sich zur Tür, die zum Personenwagen führte. Durch das Fenster sah er einen Kontrolleur durch den Gang gehen und die Fahrkarten prüfen.
»Charlie?«, fragte Jack, ohne den Mann aus den Augen zu lassen. »Ich will ja nicht drängeln, aber wir brauchen eine ungefähre Zeitangabe …«
»Noch ein paar Minuten.«
Minuten?
Jack schätzte, dass sie noch ungefähr sechzig Sekunden Zeit hatten, bevor der Kontrolleur bei ihnen war.
»So viel Zeit haben wir nicht.«
»Wenn ich jetzt aufhöre«, sagte Charlie und sah ihn an, »dann muss ich nachher wieder ganz von vorne anfangen. Und das würde mindestens weitere fünfzehn Minuten dauern.«
»Auf keinen Fall, Leute«, warnte Obi über die Kopfhörer. »Der Bahnhof ist noch vierzehn Minuten entfernt.«
Wenn der Zug am nächsten Bahnhof anhielt, würde der gepanzerte Waggon entladen werden. Dann hatten sie keine Chance mehr, an den Koffer zu kommen.
Na toll.
Jack knirschte mit den Zähnen. Der Kontrolleur musste nur noch sechs Fahrkarten überprüfen, bevor er durch die Abteiltür kam und sie entdeckte.
»Charlie?«, fragte Jack aus dem Mundwinkel.
»Warte!«
Vier Tickets.
Jack sah Wren an – sie rang die Hände und blickte starr zurück.
Zwei Tickets.
»Die Zeit ist um«, flüsterte Jack in sein Mikro. »Wren, Operation Ablenkung!«
Als der Kontrolleur nach der Tür griff, sprang Wren plötzlich auf und begann zu kreischen. Der Kontrolleur drehte sich um und riss vor Schreck den Mund weit auf. Auch mehrere andere Fahrgäste drehten sich nach ihr um und starrten sie an. Wren sah mit angstgeweiteten Augen panisch um sich. Der Kontrolleur riss sich wieder zusammen und ging auf sie zu, streckte die Hand aus und sagte etwas, was Jack nicht verstehen konnte. Das sollte ihnen genügend Zeit verschaffen.
»Gut gemacht, Wren«, sagte Jack und wandte sich wieder an Charlie, die sich zu seiner Überraschung aufrichtete und von der Tür zurücktrat. »Bist du fertig?«
»Ja, aber …« Charlie stieß enttäuscht die Luft aus und blickte weg.
Jack bekam ein ungutes Gefühl und ließ seinen Blick zwischen Charlie und der Tür hin- und herwandern.
»Aber was?«
»Es tut mir leid, Jack, das konnte ich nicht wissen.«
»Was konntest du nicht wissen?«, fragte er stirnrunzelnd. »Wovon redest du?«
Charlie sah ihn an und erklärte: »Ich habe zwar die Tür entriegelt, aber sie geht nicht auf. Es muss noch ein Bolzen auf der Innenseite sein oder so.«
Jack gefror das Blut in den Adern, als er an die Konsequenzen dachte.
»Soll das etwa heißen, dass jemand da drin ist?«
Charlie schüttelte den Kopf.
»Das glaube ich nicht. Wenn jemand da wäre, hätte er sicher gehört, wie ich mich an der Tür zu schaffen mache, und hätte nachgesehen.«
Da hatte sie recht.
»Und wie kommen die dann rein …? Oh, nein!«
Jack verzog das Gesicht, als ihm klar wurde – an der Seite des gepanzerten Waggons befand sich eine weitere Tür, durch die er am Bahnhof be- und entladen wurde. Und wenn die Tür zu den anderen Waggons verschlossen war, war diese Seitentür der einzige Zu- und Ausgang.
»Zwölf Minuten, Leute«, sagte Obi über den Kopfhörer.
»Tut mir echt leid.«
»Ist doch nicht deine Schuld, Charlie.«
Charlie seufzte und fragte kleinlaut: »Was sollen wir denn jetzt machen? An der nächsten Station aussteigen?«
»Es muss doch noch einen anderen Weg geben«, überlegte Jack.
Er sah in den Fahrgastraum, wo Wren mittlerweile am Boden lag und sich wie besessen herumwälzte, während der Kontrolleur entgeistert zusah.
»Warte mal«, meinte er und deutete auf die Außentür des Waggons. »Die kannst du doch aufbekommen, ohne dass es der Fahrer oder der Kontrolleur merken, oder?«
Diese Tür hatten sie als Fluchtweg benutzen wollen. Normalerweise konnte man sie nicht öffnen, bevor der Zug stand, doch Charlie konnte das umgehen.
»Ja«, antwortete sie stirnrunzelnd.
»Und das Gerät zum Blockieren der Telefon- und Funksignale hast du dabei?«
»Ja, warum?«
Jack setzte seinen gepolsterten Rucksack ab und nahm zwei übergroße Saugnäpfe mit Griffen heraus. Jeder der Griffe hatte einen kleinen Motor, der über Schläuche mit den Saugnäpfen verbunden war.
Diese Geräte hatten sie eigentlich am Ende der Mission anwenden wollen, kurz bevor sie den Bahnhof erreichten, doch Jack sah keine Möglichkeit, ihre Aufgabe in der noch verbleibenden Zeit anders zu erfüllen. Er hielt die Saugnäpfe hoch.
»Meinst du, sie halten?«
Charlie riss die Augen auf, als sie verstand, was er vorhatte.
»Ich habe sie so gebaut, dass sie bei fünfzig oder sechzig Stundenkilometern halten.« Sie sah aus dem Fenster des Zuges, der weiter dahinraste. »Wir fahren bestimmt hundertfünfzig.«
»Elf Minuten«, meldete sich Obi.
Jack schob die Hände in die Schlaufen.
»Uns bleibt nichts anderes übrig.«
Charlie nahm den Signalblockierer aus ihrer Hüfttasche. Er sah aus wie ein vier mal zehn Zentimeter großes schwarzes Kästchen mit einer Antenne und einem kleinen Display.
Sie schaltete ihn ein, klebte ihn an die Wand und sagte: »Obi?«
»Hier!«
Gut. Sie konnte noch mit den anderen sprechen, denn sie hatte das Gerät so eingestellt, dass es alle Telefon- und Funkfrequenzen blockierte außer denen, die sie selbst benutzten.
»Bist du sicher, dass du das machen willst?«, fragte sie Jack.
Jack nickte. »Los!«
Charlie ging zur Waggontür, neben der sich ein Schaltkasten befand, den sie aufklappte und eine Abdeckung im Inneren abnahm, hinter der eine Schalttafel zum Vorschein kam, die sie zuvor ein wenig modifiziert hatte.
Als sie auf einen Knopf drückte, leuchtete eine Lampe auf.
»Okay, fertig.«
Jack zögerte und warf einen Blick auf die Tür zum Waggoninneren.
»Kannst du dafür sorgen, dass diese Tür geschlossen bleibt?«
Das war zuvor kein Thema gewesen – wenn der Kontrolleur bei ihrem ursprünglichen Plan gesehen hätte, wie sie den Zug verließen, wäre es zu spät gewesen, etwas zu unternehmen, besonders, wenn die Telefonsignale unterdrückt waren.
»Ich kann die Stromversorgung zu allen Türen unterbrechen«, erklärte Charlie, »aber der Kontrolleur hat einen Schlüssel, damit er sie von Hand aufschließen kann.«
»Was ist mit der Notbremse?«
»Auch da kann ich die Stromversorgung unterbrechen. Der Fahrer wird wohl nicht mitbekommen, was passiert, und die Fahrgäste sitzen im Waggon fest und haben keine Möglichkeit, die Polizei zu rufen.«
Wieder sah Jack in den Waggon.
»Stimmt.«
Wren lag noch auf dem Boden, hatte die Augen verdreht und zuckte.
Jack musste unwillkürlich lächeln. Sie war eine gute Schauspielerin.
Einige Fahrgäste hielten ihre Telefone in die Luft und versuchten, ein Signal zu bekommen.
»Wren, hör zu«, flüsterte Jack in sein Mikrofon. »Der Kontrolleur hat einen Schlüssel in der Tasche, den wir brauchen.«
Wren riss ganz plötzlich die Augen auf und sprang hoch.
Der Kontrolleur wich überrascht zurück, als Wren auf ihn zurannte. Er griff nach ihr, und einen Augenblick lang hielt er sie fest, doch dann duckte sich Wren unter seinem Arm durch und schlüpfte an ihm vorbei.
Jack drückte auf den Knopf an der Tür. Als sie aufglitt, rannte Wren hindurch. Nachdem die Tür sich wieder geschlossen hatte, schaltete Charlie den Strom aus.
Der Kontrolleur drückte ebenfalls auf den Knopf, doch es tat sich nichts mehr. Verwundert suchte er in seiner Tasche.
Wren hielt den Schlüssel hoch und grinste Jack an.
»Gute Arbeit.«
»Zehn Minuten«, sagte Obi.
Jack wandte sich ab. Die Zeit lief ihnen davon.
»Mach auf«, verlangte er von Charlie.
Sie reichte ihm einen Satz Dietriche.
»Bist du dir ganz sicher?«
»Nein«, erwiderte Jack und steckte die Schlüssel in die Tasche, »aber wenn wir diese Mission nicht durchführen …« Er stöhnte, als er daran dachte, was geschehen würde, wenn sie Hector nicht aufhielten. »Ich weiß sonst auch nichts«, sagte er resignierend. »Das ist unsere einzige Chance.«
Da Charlie offensichtlich erkannte, dass sie auch keine bessere Idee hatte, sagte sie nur: »Viel Glück«, und drückte auf einen Schalter an der Schalttafel.
Die Tür nach außen ging auf und der hereindringende Fahrtwind riss sie fast von den Füßen. Der Kontrolleur schlug an die Scheibe, und sie hörten ihn gedämpft schreien: »Was zum Teufel macht ihr denn da?«
Jack ignorierte ihn und hielt sich an dem gelben Griff neben der Tür fest. Er holte drei Mal tief Luft, zog sich das Bandana und die Kapuze hoch und lehnte sich hinaus. Fast sofort drohte ihn der Fahrtwind wegzureißen, doch Jack schaffte es, den ersten Saugnapf an die glatt lackierte Außenwand des Zuges zu heften. Mit dem Daumen drückte er auf einen Knopf, mit dem der Motor in Betrieb gesetzt wurde, der die Luft aus dem Saugnapf pumpte.
Jack zog an dem Griff, um sich zu vergewissern, dass er fest saß, holte noch ein paar Mal tief Luft und schwang sich nach draußen.
Einen Augenblick lang blieb er hängen und brauchte alle Kraft, um nicht weggerissen zu werden.
Er versuchte, nicht allzu viel nachzudenken, verlagerte sein Gewicht, streckte den zweiten Griff so weit wie möglich nach oben und zog sich mit größter Anstrengung an der Außenseite des Waggons hoch.
Jetzt befand sich sein Kopf knapp unterhalb der Wölbung des Daches. In seinem Ohr vernahm er schwach Obis Stimme, doch wegen des Windes und des heftigen Hämmerns in seiner Brust konnte er kaum hören, was er sagte.
Es klang wie: »Acht Minuten.«
Jack überlegte, ob er aufgeben und sich durch die Tür wieder zurückziehen sollte, doch dann erinnerte er sich daran, was vom Ausgang ihrer Mission abhing.
Kein silberner Aktenkoffer, keine Tickets nach Amerika, kein Aufhalten von Hector.
Der Zug raste so dicht an einem Baum vorbei, dass die Zweige seine Jacke streiften.
»Okay, okay, ich geh ja schon«, seufzte er, löste den unteren Griff und legte ihn oben auf die Wölbung des Wagendaches.
An einem flachen Teil des Daches setzte er den Saugnapf an und drückte auf den Knopf. Erst als er spürte, wie er sich festzog, löste er den anderen Griff und zog sich hinauf, legte sich flach hin und presste das Gesicht an das kalte Metall.
Der Wind riss an seinen Kleidern, und er hatte das Gefühl, als zerrten tausend Hände an ihm und versuchten, ihn vom Dach zu pflücken.
Mit aller Entschlossenheit hob er den Kopf und blinzelte in den Wind. Er würde den halben Waggon entlangkriechen müssen, ein Weg, der plötzlich endlos erschien.
Mit tränenden Augen streckte Jack den Arm aus, heftete den zweiten Greifer auf das Dach, zog die Knie an und schob sich weiter.
Plötzlich knackte es in seinen Ohren, als der Zug in einen Tunnel raste.
In der plötzlichen Dunkelheit verlor er fast die Orientierung. Der Wind riss an jedem Zentimeter seines Körpers, und er wünschte sich sehnsüchtig, im warmen Bunker sitzen zu können.
Im Dunkeln kroch er weiter – einen Greifer vor den anderen setzend –, bis der Tunnel endlich vorüber war und er wieder ans Licht kam. Durch die Tränen, die aus seinen Augen flossen, konnte er einen Meter vor sich das obere Ende der Seitentür erkennen.
Schnell schob er sich hinüber und sah über den Rand. Die Tür unter ihm war in zwei Hälften geteilt und mit einem schweren Vorhängeschloss gesichert.
Jack griff nach unten, befestigte einen Greifer an der Tür und ließ den anderen los. Nur an einer Hand hängend suchte er in seiner Tasche nach den Dietrichen und ließ zwei davon aus der Hülle gleiten.
Erst da fiel ihm auf, dass er, um das Schloss zu knacken, beide Hände brauchen würde – eine für den Haken und die andere, um die Ratsche zu betätigen. Er fluchte.
»Fünf Minuten«, erklang Obis Stimme so schwach, als wären sie noch im Tunnel.
Wieder fluchte Jack und sah zu dem Greifer zurück, der noch am Dachrand klebte. Er hatte eine Idee.
Eine blöde Idee zwar, aber er war verzweifelt. Er drehte sich so, dass er mit einem Fuß nach oben angeln und ihn durch die Schlaufe des Greifers schieben konnte. Ein paar Mal zerrte er daran, um sicher zu sein, dass er fest saß, dann ließ er beide Hände los und blieb kopfüber hängen.
Das war ja wohl das Blödeste, was er je getan hatte.
Er machte sich daran, das Schloss zu knacken.
Es dauerte zu lange – normalerweise tat Charlie so etwas, oder auch Slink. Jack hatte seit seiner Zeit im Kinderheim kein Schloss mehr geknackt.
Allerdings wollte er gerne mal sehen, wie die beiden das in dieser Lage gemacht hätten – wie eine Fledermaus im Windtunnel hängend.
Ratternd fuhr der Zug über eine Weiche.
Ein scharfer Schmerz fuhr ihm durch das Bein, sodass er zusammenzuckte, doch er schaffte es, weiterzumachen und das Schloss zu bearbeiten.
Wie durch ein Wunder öffnete sich plötzlich der Bügel des Vorhängeschlosses.
Er nahm es ab, schob eine der Türen auf und hielt sich an ihrem Rand fest. Dann löste er den Fuß aus der Schlinge, ließ sich so weit wie möglich hinunter, schwang sich ins Waggoninnere und landete auf dem Boden.
Die Erleichterung war unglaublich.
Ein paar Sekunden lang blieb er schwer atmend liegen und war nur froh, noch am Leben zu sein.
»Jack?«, erklang Obis Stimme besorgt. »Ihr habt noch vier Minuten bis zum Bahnhof.«
Vier Minuten, mehr nicht?, dachte Jack.
Er sprang auf und öffnete die Tür am Ende des Waggons, hinter der ihn Charlie und Wren erleichtert ansahen.
»Wo ist der Koffer?«, fragte Charlie.
»Was?«
Sie drängte sich an ihm vorbei und sah in die Regale.
»Da!«, rief sie und nahm einen silbernen Aktenkoffer heraus. Jack war so erleichtert gewesen, es in den Waggon geschafft zu haben, dass er ihn ganz vergessen hatte.
»Können wir ihn aufmachen?«, fragte Wren.
»Dazu haben wir keine Zeit«, drängte Jack. »Wir sind gleich am Bahnhof.«
Jack und Charlie eilten zur Seitentür und halfen Wren, an den Greifer zu kommen, der noch am Dach klebte. Der Fahrtwind wurde langsam schwächer, daher kamen sie leichter voran. Nach ein paar beunruhigenden Momenten verschwanden Wrens Füße.
»Jack!«, Charlie deutete nach vorne.
Ein paar Hundert Meter weiter konnten sie ihr Ziel sehen, die Ripley Bridge.
»Los, los, los!«, schrie Jack.
ENDE DER LESEPROBE