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Marcus und Ian bleibt weiterhin keine Zeit, um durchzuschnaufen, um gefallene Verbündete zu trauern oder sich darüber klar zu werden, was das da zwischen ihnen geschieht. Der neue Feind wartet schon und er rückt in Blitzgeschwindigkeit näher … Ca. 67.000 Wörter Das Glossar umfasst etwa 7.800 Wörter Im normalen Taschenbuchformat hätte diese Geschichte knapp 335 Seiten.
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Veröffentlichungsjahr: 2021
Dies ist der 5. Teil der fortlaufenden Serie „Code 0-37“.
Teil 1 trägt den Titel „Auf Eis gelegt“, Teil 2 „Aus Feuer geboren“, Teil 3 „Fest verwurzelt in der Erde“, Teil 4 „In Stein gemeißelt“.
Auch wenn jeder Teil in sich geschlossen sein wird, ist es zum besseren Verständnis sinnvoll, die Bücher der Reihe nach zu lesen.
Der 5. Teil der Reihe!
Das London von heute – in einer parallelen Welt
Marcus und Ian bleibt weiterhin keine Zeit, um durchzuschnaufen, um gefallene Verbündete zu trauern oder sich darüber klar zu werden, was das da zwischen ihnen geschieht. Der neue Feind wartet schon und er rückt in Blitzgeschwindigkeit näher …
Ca. 67.000 Wörter
Das Glossar umfasst etwa 7.800 Wörter
Im normalen Taschenbuchformat hätte diese Geschichte knapp 335 Seiten.
von
Sonja Amatis
„Was wird das, wenn es fertig ist?“
Marcus blickte sich verwirrt um. Sie hatten gerade Ians Haus betreten, nachdem sie einen langwierigen Arbeitstag hinter sich gebracht hatten. Unter anderem hatten sie eine Banshee wegen Ruhestörung verhaften müssen. Das Warlington-Abkommen untersagte den Todesfeen, Menschen heimzusuchen und ihnen die Nachricht vom bevorstehenden Tod eines Geliebten, von Freunden oder Familienmitgliedern zu verkünden. Diese Kreaturen waren an für sich harmlos, auch wenn sie sich vom Leid ernährten, das sie mit ihren Todesschreien auslösten. Sie konnten allerdings Panik, Selbstmorde und lebenslange Psychosen verursachen, darum war es verboten und das LPSC musste auf entsprechende Anzeigen reagieren. Man konnte Banshees niemals bösen Willen nachweisen, sie folgten ihrer Bestimmung wie Roboter und besaßen zumeist nicht die notwendige Intelligenz, um ihren Fehler zu begreifen. Solche Verhaftungen führten aber dazu, dass die helleren Köpfe unter ihnen die anderen aufzuhalten versuchten, wenn diese losziehen wollten.
Neben Bansheeklagen musste ein neuer Kollege eingearbeitet werden. Das war in erster Linie Lindas Job, die wieder an den Schreibtisch zurückkehren wollte – ihr Partner Corwyn konnte den Neuen nicht übernehmen, da man für ihn noch einen Übersetzer dazustellen müsste. Ian und Marcus hatten wenig genug mit dem jungen Mann zu tun, doch er brachte viel Unruhe ins Departement. Er war sehr diensteifrig, sehr begeisterungsfähig für alles und jeden, sehr laut und geschwätzig und geradezu lächerlich jung.
Hatten Einundzwanzigjährige eigentlich schon immer wie süße kleine Schuljungen ausgesehen? Barney – so hieß das Frischfleisch – wirkte jedenfalls auf Marcus, als müsse er morgens erst einmal seinen Teddy von sich werfen, bevor er in Anzug und Krawatte steigen konnte. Noch ein Küsschen von Mama auf die goldblonden Locken und dann auf zum Dämonenkampf. Ernsthaft, solche Babys gehörten mit Eiscreme und Spielzeugautos in den Laufstall, pünktlich um sechs Uhr abends ins Bett und wenn das mit der Sauberkeit noch nicht klappte, nun, dafür gab es schließlich Windeln.
Hoffentlich überlebte der Kleine. Mindestens bis zu seinem fünfundzwanzigsten Geburtstag. Vielleicht gab er auch vorher die schwachsinnige Idee vom heldenhaften Kampf gegen die Übernatürlichen auf.
Zuletzt waren da noch die Fragen gewesen, die den Arbeitsalltag anstrengend gestalteten. Alle Kollegen hatten mitbekommen, dass Rebecca und Pater Eusebius gestorben waren. Die Trauer, die auf ihn und Ian lastete, ließ sich nicht verbergen, zumal Ananvi sämtliche Emotionen verstärkte, die Marcus ausstrahlte. Dann die ganzen Beerdigungen, die sie besuchen mussten … Eine davon war für Cliff Godwin gewesen. Dem zwangsneurotischen Jungen, der seine eigene Seele vernichtet hatte, um die Gorgone zu töten. Ian hatte einen Hauch seiner eigenen Seele spenden müssen, damit Cliff in den Himmel aufsteigen konnte.
Niemand wagte direkt zu fragen, was genau geschehen war. Außer Hector wusste kein Mensch etwas von der Prophezeiung und so sollte es tunlichst auch bleiben. Was nutzte es schließlich, Panik zu verbreiten, wenn es nichts gab, womit die Menschen sich schützen konnten? Selbst Flucht auf einen anderen Kontinent würde nicht helfen, sollte der Dämon der Magie freigesetzt werden. Nicht einmal ein Flug zum Mond. Darum blieben die Kollegen im Ungewissen. Dennoch ahnte jeder, dass etwas Großes im Gang sein musste. Ian und Marcus bekamen ständig Essen angeboten. Anteilnahme drückte sich aus irgendeinem Grund bevorzugt in Kuchen, Plätzchen und hausgemachtem Allerlei aus. Hectors Frau versuchte sie zum Abendessen einzuladen. Don wollte mit ihnen am Wochenende rausgehen, was noch nie ein Thema gewesen war. Fragen nach ihrem Wohlbefinden, ob sie bei einem Fachgebiet helfen konnten, ob sie bei irgendetwas Hilfe benötigten … Sie standen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Nichts, womit sie glücklich waren, alle beide nicht. Eigentlich hatten sie auf einen ruhigen Abend gehofft, zumal morgen Samstag war und sie frei hatten. Marcus plante für heute Essen und Schlaf mit ein, was er sich im Schnitt zwei Mal pro Woche gönnen durfte und dann auch als kleines Fest zelebrierte. Eben hatten sie noch bei seinem eigenen Haus angehalten, um kurz nach dem Rechten zu schauen, jetzt sollte das Entspannungsprogramm beginnen. Ruhe und Frieden, bis sich das nächste erzdämonische Balg enthüllte, um Mord und Todschlag über Londons hilflose Bevölkerung zu bringen und zu beweisen, dass man cool war. Vielleicht würde es eine Verräterseele wie Rovhar sein, die sich erst einmal freundlich und hilfsbereit gab. Oder ein aggressiver, extrovertierter Spieler wie Karm. Ein hinterhältiges, hochintelligentes Miststück wie die Gorgone wollten sie nicht noch einmal erleben. Letztendlich hatten sie keinen Einfluss darauf und musste mit den Katastrophen umgehen, wie sie kamen.
Normalerweise waren sie in Ians Haus sicher vor Katastrophen, seit Taubrin den Clanschutzzauber darübergelegt hatte. Im Moment wusste Marcus allerdings nicht einzuschätzen, was genau hier geschehen sein mochte, denn im Wohnzimmer waren sämtliche Möbel verschwunden und durch ein Meer aus Kissen und Decken ersetzt worden.
„Bieten wir Flüchtlingen Unterkunft?“, fragte Ian verwirrt. „War da eine Naturkatastrophe, die wir irgendwie versäumt haben?“
„Nein, nichts dergleichen.“ Ananvi, der gemeinsam mit Taubrin auf einem der Kissenberge thronte, kicherte ausgelassen.
„Ihr habt fürchterliche Zeiten durchlitten, Master Berkley, Herr. Schlimme Verluste, Verletzungen, Todesangst. Bis jetzt gibt es kein Anzeichen, dass der neue Feind bereits London betreten hat. Wir Kobolde halten das magische Gleichgewicht über der Stadt sehr genau im Blick und wollen auf die geringfügigste Änderung sofort anspringen. Der Tod der Steinelementarkinder hat sich drastisch bemerkbar gemacht.“ Taubrin kam mit unterwürfiger Miene auf sie zu.
„Ja, die Zeiten waren schlimm und sie werden wieder schlimm werden. Hast du deshalb spontan beschlossen, dass wir eine neue Einrichtung brauchen?“, fragte Ian lächelnd.
„Nein, nein! Die Möbel kommen morgen früh wieder an Ort und Stelle zurück. Wir, also Ananvi und ich, wir haben gedacht … also …“
„Seit wann bist du prüde, Kumpel?“ Ananvi grinste breit und übernahm die Erklärung. „Wir haben uns überlegt, warum ihr zwei so wenig Sex habt und sind zu der Erkenntnis gekommen: Wir stören euch. Immerhin sind wir rund um die Uhr da. Da im Moment alles friedlich ist, geben wir euch heute sturmfrei. Fingertaugliches Essen und Getränke kommen gleich, die Spielwiese ist bereitet. Falls ihr den Kamin angefeuert haben wollt, kümmert sich Taubrin noch darum und dort in der Ecke steht noch die Musikanlage für romantische Untermalung. Wir versprechen hoch und heilig, erst bei Sonnenaufgang zurückzukehren und sollte es aus irgendwelchen Notfallgründen vorher notwendig werden, melden wir uns per Handy oder klingeln, falls ihr auf das Telefon nicht reagieren solltet. Haben wir irgendetwas vergessen?“
„Öh …“ Ian warf ihm einen amüsiert-hilflosen Blick zu. Genauso fühlte Marcus sich gerade ebenfalls, amüsiert und überrumpelt.
„Dann ist ja alles klar. Macht uns keine Schande, Kinder! Ich will morgen früh schamkrebsrot werden! Also nix mit: Spielen wir halt eine Runde Schach, während Dauerdepressions-Chopin im Hintergrund plärrt, und noch vor Mitternacht wird in die Heia gegangen. Klar soweit?“
„Ay Ay, Sir!“ Marcus salutierte zackig. Fünf Minuten später waren sie allein. Ein Riesentablett mit Schüsseln voller Häppchen, die man sich bequem gegenseitig füttern konnte, stand auf einer kissenfreien Fläche nahe beim Kamin, den Taubrin tatsächlich noch angefeuert hatte. Es war nicht kühl, eigentlich wäre das Feuer nicht notwendig. Gemütlich war es dennoch. Ein wenig ratlos standen sie nun beide im Raum herum. Es war tatsächlich ungemein entspannend, mal ohne ihre Freunde unter sich zu sein, auch wenn Marcus nicht der Meinung war, dass Ananvi und Taubrin für sich genommen ein Problem waren. Dafür gehörten sie zu eng zu ihnen. Trotzdem … es war schön.
„Lass uns essen“, sagte Ian und setzte sich hin. Er hatte recht. Natürlich hatte er recht! Sie waren beide hungrig und es war bequem, im dämmrigen Kaminfeuerlicht auf den vielen Kissen zu versinken. Es sprach auch überhaupt nichts dagegen, sich aneinanderzukuscheln und gegenseitig mit leckeren Häppchen zu verwöhnen. Oder die Kleidung abzunehmen, damit man nichts bekleckerte. Wenn Krümel, Mayonnaise oder Sahne danebengingen, konnte man sich das bequem gegenseitig vom Körper schlecken. Was Ian gerade hingebungsvoll bei ihm zelebrierte. Küsse schmeckten doppelt süß, wenn man vorher Erdbeeren genascht hatte …
Ian betrat die Dusche. Marcus hatte sich dort bereits ausgebreitet, während er selbst erst einmal einem Bedürfnis hatte nachgehen müssen – was reinkam, musste auf natürlichem Weg auch wieder hinaus. Wortlos umarmte er seinen Gefährten von hinten, presste sich eng an ihn, ließ sich das heiße Wasser über den Körper rinnen. Marcus drehte sich in seinen Armen, strich ihm das nasse Haar aus der Stirn und zog ihn wieder zu sich heran.
Eine Weile blieben sie so stehen, wuschen sich gegenseitig Schweiß und die Spuren ihres Liebesspiels von der Haut. Ian war auf wohlige Weise müde und das gelegentliche Seufzen, das an sein Ohr drang, klang sehr danach, als würde es Marcus genauso ergehen. Sie hatten tatsächlich für einige Minuten die bittere Realität ihres Lebens vergessen können. Satt, auf jeder erdenklichen Ebene befriedigt, frei von Schmerzen, keiner akuten Bedrohung ausgesetzt – ja, diese kleine Auszeit war kostbar gewesen. Es ließ einen daran glauben, dass irgendwann, irgendwie alles gut werden könnte. Vielleicht hielt dieser Glauben nicht länger stand als die sprichwörtliche Schneeflocke in der Hölle. Doch selbst die wenigen Augenblicke halfen, weitermachen zu können. Sie würden vorsichtiger sein müssen. Nicht mehr blind jedem vertrauen, der sich hilfsbereit zeigte. Nicht mehr jeden Mensch in ihr Herz einlassen, der liebenswert war. Solange die Erzdämonenkinder darauf lauerten, sie umzubringen, mussten sie sehr zurückhaltend bei der Wahl ihrer Verbündeten sein, denn jeder von ihnen konnte ein Verräter sein – oder ein Schwachpunkt, über den die Feinde angriffen.
Trotzdem waren sie nicht allein. Sie hatten Taubrin, Ananvi, Hector. Und sie hatten sich. Solange sie einander treu bis in den Tod blieben, würden sie dem Sturm standhalten, der dort in nicht allzu weiter Ferne lauerte …
Seufzend wühlte er mit einer Hand durch Marcus’ Haar und küsste ihm über das nasse, stoppelbärtige Kinn.
„Willst du etwa noch mehr?“, brummte sein Gefährte. „Man sollte meinen, drei Orgasmen in vier Stunden reichen.“
„Im Gegensatz zu dir bin ich noch jung und knackig und voll im Saft“, erwiderte Ian, drehte ihn ohne nennenswerten Widerstand in Richtung Wand und fuhr mit der rechten Hand zwischen Marcus’ Beine. Ja, da regte sich bereits wieder etwas. Zwar war sein Partner sechzehn volle Jahre älter als er, aber Ananvi hielt ihn jünger und fitter als die meisten Männer von rund dreißig Jahren. Ian biss ihm ins Ohrläppchen, begann daran zu saugen und intensivierte zugleich seine Bemühungen, bis Marcus laut zu stöhnen begann und seine Hüften nach vorne stieß. Mühelos drängte Ian erst einen, dann zwei Finger in Marcus’ Inneres. Heiß, eng, glatt und seidig. Es gelang ihm rasch, den entscheidenden Punkt zu finden. Marcus bäumte sich keuchend auf, sodass Ian ihm den freien Arm um die Brust schlingen musste. Er reizte ihn noch einige Momente weiter, bevor er seine Finger entzog und durch seine Erektion ersetzte. Mit dem einen Arm hielt er ihn weiter fest, mit der anderen Hand umschloss er erneut das prall erregte Glied. Noch ein bisschen vergessen. Noch einmal über allen Dingen schweben … Wenn es doch ewig anhalten könnte!
Marcus blinzelte, als er Stimmen aus der Küche hörte. Es war fünf Uhr morgens. Montagmorgen. Ian und er hatten sich das gesamte Wochenende hindurch gegenseitig wundgevögelt. Wobei er freiwillig den Hauptpart an Passivität übernommen hatte, weil er tagsüber von Ananvi innerhalb vom Minuten geheilt wurde, während sein Partner sich mit Heilsalbe behelfen musste. Es war ein wundervoller Rausch gewesen. Natürlich hatten sie auch andere Dinge getan. Reines Silber zu Kugeln geschmolzen und mit dem Prägeeisen, das der Engel ihnen überlassen hatte, Runen hineingepresst. Den Samstag mit Kampfsport und Schießtraining zugebracht. Schweigend beieinander gesessen und an all die Dinge gedacht, über die sie dringend reden müssten – er konnte es an Ians Blick ablesen, dass ihn in solchen Momenten ähnliche Gedanken umgetrieben hatten wie ihn selbst. Es musste genügen, denn keiner von ihnen hatte einen Anfang gemacht, um tatsächlich Worte zu suchen. Und sobald es dunkel wurde und Ananvi sich mit Taubrin verzogen hatte, waren sie übereinander hergefallen und hatten Vergessen in Ekstase gefunden.
Nun war es allmählich Zeit, wieder in der wahren Welt aufzutauchen. Taubrin hatte gestern Nachmittag bereits angedeutet, dass man ein Schwanken in den magischen Strömungen wahrgenommen hatte. Sämtliche Kobold- und Gargoyleclans in und um London herum hatten sich zusammengeschlossen, um diese Strömungen messen zu können – etwas, was seit Dämonengedenken noch niemals zuvor geschehen war. Es zeigte, wie ernst die Lage wirklich war. Rovhars Verrat hatte deutlich gemacht, was tatsächlich aus dem Spiel stand. Sie durften sich nicht noch einmal davon überraschen lassen, ob und wann der nächste Feind in ihre Stadt kam. Schwankungen im Gleichgewicht bedeuteten laut Taubrin noch nicht, dass der Gegner bereits angekommen war. Weit entfernt konnte er allerdings wohl nicht mehr sein … Ian und er würden sich heute wieder zur Arbeit begeben. Der arme Kerl würde vermutlich halbtot dort erscheinen, nachdem er seit Freitag nur ein Minimum an Schlaf hatte genießen dürfen.
Marcus befreite sich von Ians Gliedmaßen, der sich mehr oder weniger um ihn geknotet hatte. Das hatte erschöpftes Protestgemurre zur Folge, was sofort wieder verstummte, als Marcus ihm sanft über die Stirn strich. An diesem Wochenende hatte er einige erstaunliche Entdeckungen über seinen Partner gemacht – Ian war vermutlich der einzige nicht-schwangere Mensch dieser Welt, der saure Gürkchen mit absolut allem, von Ketchup bis Marmelade zu Senf und Ingwercreme, kombinieren und es köstlich finden konnte; er konnte jeden Beatlessong mitsingen und klang dabei sogar einigermaßen gut; er sah zum Niederknien anbetungswürdig aus, wenn er kam; und es genügte eine Berührung an der Stirn, wenn er einen seiner zahllosen Albträume durchlitt, um augenblicklich zurück in tiefen, ruhigen Schlaf zu versinken.
Marcus tastete sich im Dunkeln aus dem Wohnzimmer, das noch immer eine gewaltige Spielwiese war. Damit war nachher Schluss. Dass er diesen Gedanken zum Heulen fand, bewies, wie verloren er tatsächlich war. Sollte irgendeines dieser erzdämonischen Mistviecher diesem Mann etwas antun, würde er Amok laufen, so viel stand fest. Ian gehörte ihm. Amen.
Nachdem er sich wieder soweit hergerichtet hatte, dass er sich in der Öffentlichkeit blicken lassen konnte, gesellte er sich zu Taubrin und Ananvi.
„Guten Morgen!“ Ananvi grinste breit, während Taubrin ihn anstrahlte, als wäre seine bloße Anwesenheit ein besonderes Geschenk. „Eine weitere wilde Nacht überstanden?“
„Der Gentleman genießt und schweigt“, brummte Marcus. „Ein Kaffee wäre großartig“, fuhr er an Taubrin gewandt fort. „Und eine Ansage über den neuesten Stand der Dinge.“
„Sofort, Master Berkley.“ Taubrin nahm die Bitte wörtlich. Nachdem er Marcus eine Tasse dampfendes pechschwarzes Koffein serviert hatte, verschwand er magisch, offenkundig, um sich bei den Kobolden die Werte zu erfragen.
„Die Schwankungen haben sich zu einer gleichbleibenden Welle von großer Stärke ausgeweitet“, verkündete er bei seiner Rückkehr mit ernster Stimme. „Der Feind hat London anvisiert. Er ist noch nicht körperlich anwesend, anscheinend befindet er sich in der Hölle und wird erscheinen, sobald er die Auserwählten der Prophezeiung gefunden hat.“
„Gibt es eine Möglichkeit zu erkennen, welchem magischen Element er angehört?“, fragte Marcus.
„Nun …“ Taubrin zögerte und blickte hilfesuchend zu Ananvi hinüber.
„Was der Kleine mit diesem Laut sagen will: Kobolde und Gargoyles können selbst im Superverbund nur bedingt solche Leistungen vollbringen, die einfach nicht zu unserem typischen magischen Spektrum gehören“, sagte Ananvi. „Bekannterweise wird derjenige, der es mit Leichtigkeit beantworten könnte, nicht tun. Groshphank ist superknuffig, aber ich meine, er ruht sich ein bisschen sehr darauf aus, dass Wissen eine gefährliche Angelegenheit ist … Egal. Hm – Es gibt eine Möglichkeit. Du wirst sie hassen. Ian auch. Und ja, sie ist hassenwert. Im besten Fall würdet ihr die Antwort bekommen, die ihr haben wollt.“
„Und im schlimmsten Fall?“ Marcus trank von seinem Kaffee. Großartiges Gesöff. Ein wahres Lebenselixir und dabei kein bisschen magisch. Es half ihm, ruhig zu bleiben.
„Im schlimmsten Fall wird euch der Kopf abgebissen“, entgegnete Ananvi und hielt ihm einen Teller mit frisch gebackenen Pfannkuchen hin. „Probieren? Die sind toll …“
„Danke. Reden wir hier von einem Dschinn?“ Er bemühte sich sehr, nicht zu wild mit den Augen zu rollen.
„Neiiiin! Niemand redet von einem Dschinn, das wäre ja lächerlich … Wirklich kein Pfannkuchen?“
„Wirklich nicht. Also?“
„Nun …“ Jetzt war es Ananvi, der kleinlaut herumdruckste. Diesmal wurde er von Taubrin gerettet: „Ein Drache, Master Berkley. Es gibt einen Drachen, der unterhalb von London schläft beziehungsweise geschlafen hat, bis die Dryade ihn weckte. Er könnte Euch und meinem Herrn sagen, welcher Feind die Stadt betreten hat.“
„Ein Drache. Ja, seid ihr des Wahnsinns? Man kann nicht mit Drachen reden! Wenn ich Selbstmord begehen will, schieße ich mir eine verdammte Kugel in den Kopf, statt Drachen zu füttern.“ Marcus schlug mit der Faust auf den Tisch, dass das Geschirr klirrte und sein Kaffee überschwappte. Bevor er reagieren konnte, hatte Taubrin das Malheur fortgewischt und ihm die Tasse neu gefüllt.
„Alles in Ordnung hier?“ Ian kam sichtlich schlaftrunken in die Küche geschwankt. Er war bereits geduscht und rasiert und sich in einen Bademantel gehüllt. Dennoch konnte er kaum die Augen offenhalten, unter denen Ringe in Grabestiefe prangten. Er war bleich, griff zwei Mal daneben, als Taubrin ihm ebenfalls Kaffee anreichte und wirkte sehr erleichtert, als Marcus ihn auf einen Stuhl zog. Himmel hilf! Er hätte den armen Kerl schonen sollen. Aber dafür war es viel zu schön gewesen, als dass er ein einziges Mal Sex hätte missen wollen und er wusste, dass Ian genauso erging.
Taubrin informierte ihn über das, was Marcus bereits erfahren hatte. An dem Punkt, dass sie mit einem Drachen einen Plausch führen sollten, wurde Ian plötzlich schlagartig munter. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er abwechselnd den Kobold und Ananvi an.
„Das ist doch ein blöder Witz, oder?“, fragte er in bettelndem Tonfall. Marcus verstand das gut, er wollte schließlich auch nicht, dass das ein realer Vorschlag sein könnte.
„Tief durchatmen, Jungs“, erwiderte Ananvi und rang mit den Händen, als würde er verzweifelt Argumente aus der Luft formen wollen. „Ja, Drache. Klingt natürlich nach Selbstmord. Aber es gibt immer solche und solche Kreaturen. Auch bei den Drachen. Derjenige, der unter London in einer schicken warmen Höhle haust, ist schon echt alt. So wie in urururalt. Ein Opa-Drache quasi. Der war dabei, als die britischen Inseln noch Anhängsel von Pangäa waren. Muss damals ein heißer Feger gewesen sein … Denn er ist ein Feuerdrache. Ich glaube allerdings, dass da nicht mehr allzu viel Feuer in ihm lodert. Trotzdem hat er noch seine sieben Sinne beisammen. Taubrin hat mal vorsichtig bei ihm vorbeigeschaut, auch um sicherzugehen, dass Opa-Drache nicht für Erdbeben oder sonstiges verantwortlich sein wird, jetzt, wo er nach Jahrhunderten zum ersten Mal wieder wach ist.“
„Er hat 1666 das große Feuer in London verursacht“, fuhr Taubrin eifrig dazwischen. „Das war eher ein Versehen. Er wollte mal schauen, wie es in der Menschenwelt so zugeht und hat dabei das Haus des königlichen Bäckers in Brand gesteckt. Dieser Drache hat seit Jahrtausenden keine Feuerstürme mehr verursacht und ernährt sich nur alle paar hundert Jahre mal von einem Schaf oder einer Kuh. Alte Drachen benötigen lediglich sehr wenig Nahrung.“
„Und sie möchten die auch nicht unbedingt jagen müssen“, sagte Ananvi. „Sprich, wenn ihr mit einem Kübel voll Frischfleisch anrückt, wird er sich über das Gastgeschenk sehr freuen und euch ansonsten in Ruhe lassen. Weitestgehend. Sozusagen.“
„Er ist wach und dennoch sehr träge. Er meinte zu mir, dass er zu alt ist, um sich über die Sache mit der Prophezeiung noch aufregen zu können.“ Taubrin nickte feierlich. „Ich würde euch natürlich begleiten und sofort in Sicherheit bringen, wenn der Alte irgendwie aggressiv werden sollte. Und Ananvi wäre dabei, um euch schlimmstenfalls vor Hitze, Rauch und Feuer abzuschirmen. Es kann gar nichts geschehen.“
„Welche Antworten soll uns ein solch zahnloser Tiger geben können, der sich ausschließlich in seiner bequemen Höhle verschanzt und nichts als seine Ruhe will?“, fragte Marcus. „Wozu das Risiko auf uns nehmen?“
„Er ist ein Feuerdrache, gleichgültig wie alt und zahnlos“, rief Ananvi. „Drachen besitzen großes Wissen und extrem scharfe Sinne. Es ist sehr wahrscheinlich, dass er uns etwas darüber sagen kann, wer der neue Feind ist.“
„Wann geht’s los?“, fragte Ian schicksalsergeben und stürzte den Kaffee in sich hinein.
„Direkt nach dem Frühstück, Herr.“ Taubrin strahlte, als wäre das alles ein wundervolles Spiel. Ian verschluckte sich und begann zu husten.
„Kaffee“, krächzte er mühsam, als die Attacke halbwegs vorbei war. „Ich brauche mehr Kaffee. Viel, viel mehr.“
Dem konnte Marcus nur zustimmen. Leider gab es wohl nicht genug Kaffee auf der Welt, um sich einen Besuch bei einem Feuerdrachen schön zu saufen …
Ian hielt nervös die Hand auf dem Griff seines Revolvers. Sämtlicher beruhigender Worte ihrer Gefährten zum Trotz hatten er wie auch Marcus darauf bestanden, sich angemessen bewaffnet in die Höhle des Drachen zu begeben. Einfach um sicherzugehen. Drachen, gleichgültig wie alt und träge, waren nun einmal Drachen. Die steckten auch schon mal aus Versehen eine Stadt in Brand, während sie durch ein Fenster lugten. Oder fraßen ein halbes Dutzend Menschen, ohne es recht zu bemerken, während sie sich eigentlich bloß strecken und auf die andere Seite zurechtknuddeln wollten, um weitere zweihundert Jahre friedlich zu schlafen. Es war ein Glück, dass es lediglich wenige von ihnen diesseits der Hölle gab. Wirklich und wahrhaftig glücklich schätzen würde er sich trotzdem erst, sobald Taubrin sie aus dieser Höhle zurück in ihr sicheres Haus gebracht hatte. Sie durchschritten gerade einen langgezogenen Tunnel, bis zum Drachen waren es noch rund hundert Meter. Laut Taubrin war das notwendig, damit der Drache sich an ihre Anwesenheit gewöhnen konnte, Zeit hatte zu analysieren, wer da zu ihm kam und sich freuen durfte, weil er das rohe Fleisch roch, das Ananvi in einem riesigen Sack hinter sich herschleifte. Sie hielten Laternen in den Händen, um den Weg mit seinen zahllosen Hindernissen besser erkennen zu können. Es waren größtenteils Felsen und Schutt, allerdings auch Knochen in mal größeren, mal kleineren Stapeln. Ian versuchte sie zu ignorieren und nicht darüber nachzudenken, welche Kreaturen hier unten wohl ihr Leben ausgehaucht hatten. Drachen waren nicht wählerisch …
Mittlerweile konnten sie das Biest atmen hören. Tiefe, lange Atemzüge, die durch den Widerhall im Tunnel nach einer Mischung aus Blasebalg und asthmatischer Dampflok klangen. Ian hatte bereits einmal einen Wasserdrachen in Action erlebt. Das genügte ihm eigentlich an Drachenkontakt. Fürs Leben. Leider gab es keine Möglichkeit mehr, aus dieser Nummer auszusteigen, gleichgültig, wie sehr er sich das wünschte …
„Du bist tatsächlich zurückgekehrt, Kobold?“, dröhnte mit einem Mal ein markerschütternder Bass durch den Tunnel. Die Stimme, die ein etwas altmodisches Koboldjia benutzte, war laut genug, um sie allesamt in die Knie zu zwingen. Selbst Ananvi, der normalerweise praktisch unverwüstlich war, presste sich die Klauen gegen die spitzen Ohren. Ian bemerkte dies lediglich am Rand seiner Wahrnehmung. Er lag auf kaltem Gestein und versuchte, den Kopf schützend in den Armen zu bergen, während die Schallwellen seinen Körper durchschüttelten. Ihm war schlecht und schwindelig und er fühlte sich schlagartig ertaubt.
„Verzeiht, Sterbliche“, dröhnte die Stimme über das Protestpfeifen in Ians Ohren hinweg – diesmal erheblich leiser. „Ich unterschätze immer, wie zerbrechlich ihr seid. Tretet näher, ich werde euch keinen Schaden zufügen, denn ihr bringt mir das Essen, das der Kobold mir versprochen hatte.“
„Kommt hoch, Herr“, rief Taubrin und zerrte an Ians Arm. „Der alte Draconignis wird Euch nicht verletzen, versprochen.“
Auf wackligen Beinen tastete Ian sich die Tunnelwand entlang. Seine Laterne war beim Sturz beschädigt worden, doch sie funktionierte noch, im Gegensatz zu der von Marcus. Seinem Gefährten erging es sichtlich kein bisschen besser als ihm, was Ian seltsam tröstlich empfand, auch wenn er sich nicht daran erfreute, Marcus bleich und zusammengekrümmt zu erblicken. Er hasste es, das Sorgenkind sein zu müssen, das nicht mit Stress und Belastungen klar kam – eine Rolle, der er viel zu oft nicht entfliehen konnte.
Draconignis … Das war doch hoffentlich ein Scherz und kein Name für einen würdigen, alten Feuerdrachen? Draconis war das lateinische Wort für Drache, ignis bedeutete Feuer. Da Latein im Vergleich zu diesem Drachen eine jugendliche Sprache war, stellte sich die Frage, wann jemand die Gelegenheit hatte, diesen Namen zu wählen. Vielleicht hatte der Alte den Klang lustig gefunden und war dabei geblieben? Andererseits waren Höllengeschöpfe allgemein und Drachen insbesondere nicht für ihren Humor berüchtigt …
Endlich mündete der Tunnel in eine Höhle von gewaltigen Ausmaßen. Sie befanden sich laut Taubrin etwa acht Kilometer unterhalb der Erdoberfläche. Nichts, worüber Ian im Moment nachdenken sollte, wollte er eine Panikattacke vermeiden. Ihm war bereits übel genug … Ja, es war tief, tief in der Erde. Weit entfernt von Sonne, frischer Luft und Hoffnung. Ja, es erinnerte elendig stark an das Strafgefangenenlager der Kobolde. Ja, er hasste die seltsame trockene Hitze, die metallisch-muffige Luft. Das Gefühl, hoffnungslos gefangen und ausgeliefert zu sein und jeden Moment loskotzen zu müssen, weil durch das Drachengebrüll mindestens ein Trommelfell kaputt war. Schlimmer als all das war tatsächlich nur noch dieses rot-schwarz geschuppte Biest, das ungefähr fünfzehn Meter über ihnen aufragte.
Drachen waren edle Geschöpfe von überwältigender Schönheit. Der stolze Schwung des gehörnten Schädels, die eleganten Schwingen, die mächtigen Muskeln, dieser metallisch-rotglühende Rücken … Zum Weinen schön. Es sollten bereits Menschen so sehr in andächtigem Staunen über den Anblick eines schlafenden Drachen versunken gewesen sein, dass sie darüber verdurstet waren. Vielleicht war dies bloß ein Gerücht, andererseits konnte Ian sich das gerade tatsächlich vorstellen – und es wäre nicht einmal die schlechteste Art zu sterben.
„Kniet nieder, Sterbliche“, befahl Draconignis. Sein heißer Atem streifte Ians Gesicht und brachte betäubende Ausdünstungen von Asche und Glut mit sich.
Ananvi übersetzte diese Worte für Marcus, der dringend Koboldjia lernen sollte und gemeinsam mit Ian dem Kommando Folge leistete.
„So ist es richtig. Auf diese Weise kann ich euch leichter heilen, ohne euch versehentlich zu zerquetschen. Dies ist nichts, was ich üblicherweise zu tun pflege.“ Eine gewaltige Pranke senkte sich auf Ian herab. Er verharrte in Schockstarre, unfähig zu schreien, zu fliehen oder auch nur zu atmen. Magie prickelte beinahe schmerzhaft über seine Haut und kochte heiß in seinen Adern, wo sie sich erst zu seinem Herzen durchfraß, um anschließend seinen gesamten Körper zu fluten. Die Hitze war kaum erträglich, Ian fuhr sich stöhnend mit den Händen über die Brust, bis es endlich langsam verebbte. Zusammen mit der Magie verschwanden das Rauschen und Fiepen in seinen schwer geschädigten Ohren, sowie Schwindel und Übelkeit und jegliche sonstigen körperlichen Unannehmlichkeiten.
„Ihr seid jung und gesund, dank sei der Gargoylemagie“, sagte Draconignis langsam. Alles, was er sagte und tat, geschah sehr verlangsamt, wurde Ian bewusst. Waren die Schuppen des Beins, das gerade vor seinem Gesicht emporragte, nicht ein wenig stumpf? Und die riesigen Reptilienaugen, die ihn kritisch musterten, wirkten leicht milchig. Nicht so, als würde diese Kreatur verwelken, also alt und gebrechlich werden. Nein, Draconignis schien müde zu sein. Ein gewaltiges Leben hatte er hinter sich gebracht und der Welt beim Wandeln zugeschaut. Mehr als hundertfünfzig Millionen Jahre, falls das mit Pangäa kein Witz gewesen sein sollte … Eine unvorstellbar lange Zeit!
„Der Kobold hat mir berichtet, was es mit euch beiden auf sich hat“, fuhr der Drache bedächtig fort, wobei er mühelos von Koboldjia ins Gälische wechselte. Möglicherweise, weil er diese Sprache lieber mochte. Für Marcus war es von Vorteil, er beherrschte Gälisch und benötigte darum keinen Dolmetscher. „Seid versichert, ihr Menschlein, dass ich normalerweise keinem Geschöpf gestatte, meine Wohnhöhle zu betreten und sie lebendig wieder zu verlassen. Die Ausnahme gilt ausschließlich für euch als Krieger der Prophezeiung und eure Beschützer.“
„Wir fühlen uns zutiefst geehrt, Erhabener“, brachte Ian leicht zittrig hervor.
„So ist es recht, Menschenkind … Nun, der Kobold sagte, seine Magie hätte ihn zu mir geführt. Was kann ein alter Drache tun, um der Prophezeiung zu dienen?“
Taubrin trat vor und verneigte sich, bis seine Stirn den Boden berührte. Er bebte von Kopf bis Fuß, doch seine Stimme war klar und fest.
„Erhabener, ich suchte nach Hilfe. Der neue Feind scheint die Stadt über unseren Köpfen betreten zu haben. Gibt es etwas, was Ihr uns über ihn sagen könnt? Es würde uns einen großen Vorteil geben, sein Element und möglicherweise auch seine natürliche Gestalt sowie seine Fähigkeiten zu kennen. Als Bezahlung für diesen Gefallen hat mein Gefährte das Fleisch eines frisch zerlegten Ochsen mitgebracht.“
„Ein kleiner Gefallen, fürwahr. Dennoch gibt es noch Verwendung für morsche Drachen, wie es scheint.“ Draconignis reckte seinen muskulösen Hals, blickte an die Höhlendecke und verharrte eine ganze Weile in dieser Stellung. Als er sich ihnen wieder zuwandte, nickte er langsam vor sich hin. Es wirkte, als würde er gegen Schläfrigkeit ankämpfen. Riesige, schwarzledrige Nickhäute schoben sich mehrfach über die Augen und Rauchwölkchen stiegen aus seinen Nüstern auf.
Nichts geschah. Niemand wagte, den müden Drachen beim Dösen zu stören, bis dieser leicht zusammenfuhr und auf sie herabblickte.
„Ja. Ja. Wo waren wir noch gleich?“, fragte er Taubrin.
„Der neue Feind der Prophezeiung, Erhabener“, erwiderte dieser piepsig.
„Richtig. Es ist das Kind des Metalls, das ich spüre. Ein zorniges Geschöpf. Seine Mutter war eine Gra’umphillim. Ihr Menschen nennt diese mit den Kobolden verwandte Rasse zumeist Zwerge.“
Zwerge! Die waren ebenso legendär und unbewiesen wie Elfen. Wenn Professor Bahir bei ihnen wäre, würde sie vermutlich vor Freude in Ohnmacht fallen.
„Die Gra’umphillim fühlen sich nicht wohl in eurer Welt, darum kommen sie selten genug her. Aggressive Wesen sind das. Krieg ist ihr liebster Zeitvertreib und alles, wofür sie leben wollen. Jenes Abkommen, das in Warlington geschmiedet wurde, sie hassen es – hindert es sie schließlich daran, Krieg in dieser Sphäre zu führen und Menschen als Übungsobjekte für ihre Waffen zu nutzen. Das Dämonenkind … Der Zorn der Erde und die Hitze des Erzelements, oder Metall, je nachdem, wen man fragt … Diese Kreatur beherrscht Blitz und Donner. Elektrizität und Metall gehörten zusammen wie das Drachenei zum Nest. Er kann ebenso schnell reisen wie der Kobold, er ist stark und wütend, weil er von der Prophezeiung aus der Hölle in diese Welt gezwungen wurde. Es gibt nur ihn, der Herrscher des Erzes hat keine weiteren Kinder gezeugt.“
„Der Vorhersehung sei Dank“, murmelte Marcus kaum hörbar.
„Gibt es noch etwas, was Ihr uns sagen könnt, Erhabener?“, fragte Taubrin demütig, als Draconignis in seinen dämmrigen Zustand zurückkehrte.
„Nein. Nein, ich habe genug geredet und Geheimnisse ausgeplaudert, die ich selbst Kaisern und Königen verweigert habe.“
Übergangslos geschahen mehrere Dinge gleichzeitig:
Draconignis stieß urplötzlich auf Taubrin herab. Der floh magisch ans andere Ende der Höhle. Der Drache verfolgte ihn mit einem brüllenden Feuerstrahl, der die Höhle in einen kochenden Hochofen verwandelte. Ananvi warf sich über Ian und Marcus und schirmte sie mit seinem Körper und den gewaltigen Schwingen vor dem Flammenmeer ab.
Marcus schoss eine der geweihten Silberkugeln auf den Drachen, was einen empörten Zornesschrei und noch mehr Feuer zur Folge hatte – was beides erstarb, als sie im Kissenberg in ihrem vertrauten Wohnzimmer landeten. Kein Drache weit und breit zu sehen. Dafür Stille, bekömmlichere Luft, angenehme Temperaturen.
Zwei Eimer erschienen aus dem Nichts und überschütteten Taubrin und Ananvi mit Wasser. Sie waren beide angesengt, wirkten dafür allerdings geradezu grotesk entspannt.
„Dieser hinterhältige Betrüger!“, schrie Marcus. „Warum hat er uns angegriffen? Er hatte versprochen, uns nichts zu tun.“
„Ganz ruhig, Chef.“ Ananvi tätschelte ihm begütigend die Schulter und grinste, obwohl er von Kopf bis Fuß von Brandblasen überzogen und sogar sein schmaler Lendenschurz ein Opfer der Flammen geworden war. Dementsprechend stand der Gargoyle nackt im Raum, was ihn ebenfalls nicht weiter zu kümmern schien.
„Ehrlich, kein Grund zur Aufregung, Leute. Das ist ein Drache, was erwartest du? Wir haben gewusst, dass er es versuchen würde. Die Viecher können einfach nicht anders. Ihr beide wart für ihn tabu, was schon schlimm genug war, aber ein saftiges Koboldhäppchen ist viel zu verlockend. Da erwachen sogar in einem graubärtigen Stummelzahn, der einst mit den ersten Dinos Haschmisch gespielt hatte, beeindruckende Jagdinstinkte.“
„Ananvi wiederum war außen vor. Drachen mögen kein Gargoylefleisch“, erklärte Taubrin fröhlich. Er hatte leichte Verluste bei seiner schwarzen Haarpracht erlitten und sein struppiger Bart wurde angesengt. Ansonsten hatte er tatsächlich Glück gehabt beziehungsweise er war schnell genug gewesen, damit es nicht zum Schlimmeren kommen konnte.
„Gargoyles knirschen zwischen den Zähnen. Nicht einmal Trolle wollen uns wirklich gerne fressen.“ Ananvi kicherte, während Ian langsam ausatmete. Sie hatten überlebt. Himmelherrgott! Wenn die erzdämonischen Bastarde sie nicht umbrachten, erledigten ihre Freunde eben den Job, und das mit wachsender Begeisterung!
„Wird er Rache dafür suchen, dass ich auf ihn geschossen habe?“, fragte Marcus unbehaglich.
Automatisch hatte Ian das Bild dieses anbetungswürdig schönen Geschöpfes vor Augen, das über London dahinglitt und die Stadt in Schutt und Asche legte.
„Ach was.“ Ananvi winkte lässig ab. „Die alte Rotschuppe wird für den Rest ihrer Existenz ein Jucken im linken hinteren Bein haben. Wahrscheinlich hält der Drache das für normale Alterungsbeschwerden. Diese Spezies ist definitiv nicht schmerzempfindlich.“
„Nachtragend aber schon, wenn man den Legenden glauben will?“, hakte Ian nach.
„Wäre er zehntausend Jahre jünger, würde ich ja sagen“, entgegnete Ananvi. „So kannst du …“
Mitten im Satz verschwand der Gargoyle, während Marcus sich vor Schmerz krümmte. Sonnenaufgang! Dieses Tagesereignis hatte Ian schlichtweg verdrängt, was normalerweise ausgeschlossen sein sollte.
„Es ist alles gut, Herr“, sagte Taubrin leise. „Ich schwöre es Euch. Draconignis wird sich in diesem Moment über sein gut durchgeröstetes Ochsenfleisch hermachen und hat uns sicherlich schon halb vergessen. Ananvi wird bis heute Abend vollständig geheilt sein. Ich werde mich jetzt um das Chaos und die Überschwemmung kümmern. Ihr, Herr, Ihr fahrt mit Master Berkley zur Arbeit. Zwischendurch informiere ich meine Leute über das, was wir erfahren haben. Ich hoffe, Ihr werdet heute noch einen ruhigen Tag verbringen dürfen.“
Seufzend verzog sich Ian ins Schlafzimmer, um noch einmal zu duschen und sich umzuziehen. Er konnte nicht in einem Anzug auf dem Revier erscheinen, der nach Rauch und Flammen roch und mit Ascheflecken und kleinen Brandspuren übersät war. Er selbst hatte einige wenige oberflächliche Brandverletzungen erlitten. Nicht, worüber man sich weiter aufregen musste.
Hey, sie waren gerade einem Drachen durch die Klauen geschlüpft!
Eine Viertelstunde später fuhren er und Marcus zur Arbeit.
Langeweile. Wo im Universum war die Langeweile hin, wenn man sich verzweifelt nach ihr sehnte?
„Will ich wissen, warum ihr beide Brandblasen am Hals habt?“, fragte Hector seufzend, nachdem er sie beide lange und gründlich gemustert hatte. Abgesehen von Linda und Corwyn, die gerade in der Teeküche herumlungerten, war er der einzige von Ians und Marcus’ Kollegen, der einigermaßen pünktlich zum morgendlichen Dienst erschienen war.
„Nichts weiter Tragisches“, murmelte Marcus und fuhr sich über die bereits verheilenden Male, die er größtenteils unter einem seiner Kashmirschals versteckte. Bei seinem Partner würde es länger dauern, bis sie verschwunden waren, aber dank Taubrins wunderbarer magischer Heilsalbe, die er Ian mitgegeben hatte, bestand keine Gefahr von Entzündungen oder Narbenbildung.
Hector seufzte weiter, mit Blick auf Ian, dem man leider ansah, wie übermüdet er war; dann zuckte er mit den Schultern. Was sollte er sich auch weiter aufregen? Sie hatten genug mitgemacht, ein bisschen Erschöpfung und ein paar Brandblasen hatten da gar nichts zu bedeuten.
„Es war ruhig am Wochenende“, sagte er. „Keine interessanten Vorkommnisse, die auf neue … Besucher in unserer schönen Stadt schließen lassen.“
„Das wird sich ändern“, murmelte Ian. „Halte Ausschau nach Unfällen und Todesopfern, die im Zusammenhang mit Elektrizität stehen.“
Marcus übernahm es, ihren Vorgesetzten und wichtigen Verbündeten mit wenigen Worten über das zu informieren, was sie heute Morgen erfahren hatten. Linda und Corwyn warfen ihnen dabei neugierige Blicke zu, da sie wie die Verschwörer zusammenstanden. Natürlich wussten ihre Kollegen, dass bei ihnen merkwürdige Dinge geschahen. Die Ursache dafür sollte so lang wie irgendwie möglich geheimgehalten werden.
„In Ordnung“, brummte Hector, als Marcus geendet hatte. „Setzt euch mit Scotland Yard in Verbindung. Bis es wieder rundgeht, könnt ihr euch um die Aufarbeitung der alten … sagen wir, Ereignisse kümmern. Das Krankenhaus, in dem ihr Rovhar getötet habt, läuft Amok, weil es eine komplette Station für die Sanierung der Schäden schließen muss. Die Versicherung zahlt zwar und die Werwölfe haben sich bereit erklärt, eine großzügige Spende zu tätigen, aber es braucht die Berichte und endlos viel Zeug. Ich hab euch alles zugemailt, was die Klinik von uns einfordert. Ausgedruckt würde das einen kompletten Wald an Behördenschriftkram ergeben.“
Ian und Marcus seufzten gemeinsam – die Begeisterung schlug Wellen. Da sehnte man sich fast nach unschöner Ablenkung … Nun gut, oder auch nicht. Noch mehr Tote waren überhaupt nicht notwendig.
Marcus berührte unwillkürlich die Silberkette, die er von Rebecca geerbt hatte. An ihr befand sich ein Triqueta-Anhänger, den Rebecca im Augenblick ihres Todes getragen hatte. Ihre Mutter hatte gesagt, dass Rebecca ausdrücklich wollte, dass die Kette an sie beide überging. Marcus hatte das nicht so unmittelbar nach der Beerdigung hinterfragen wollen, doch es trieb ihn durchaus um. Eigentlich hatte Rebecca nur bei einer Gelegenheit bestimmen können, was mit ihrem Besitz geschehen sollte – als sie zum letzten Mal mit ihren Eltern telefoniert hatte, Minuten vor ihrem Tod. Aber wer würde das machen?
„Mom, Dad, ich werde gleich sterben, tut mir leid. Bitte regt euch nicht zu sehr auf. Oh, meine Klamotten stiftet ihr bitte der Wohlfahrt, mein Konto räumt ihr leer und genehmigt euch einen Schnaps auf meine Kosten. Und meine Lieblingskette geht an die zwei Typen, von denen ich euch mal flüchtig erzählt habe.“
Hm – nein. Einfach nur nein.
Andererseits war Rebecca ein harter Knochen gewesen.
„Ich hole Kaffee, fahr du schon mal den Computer hoch“, brummte er Ian zu. Sie benutzten Marcus’ Schreibtisch stets gemeinsam, obwohl Ian selbstverständlich einen eigenen besaß und es für freundliche Lästerei bei ihren Kollegen sorgte.
Seltsam – von Anfang an hatten sie aufeinander gegluckt.
„Ihr gehört ja auch zusammen“, krähte Ananvi fröhlich. „Und wenn du nicht so dermaßen stur wärst, hättest du längst dein eigenes Haus eingemottet, die Post auf deine neue Heimatadresse umschreiben lassen und dir mit diesem Schritt eine Menge Mühe erspart.“
Ich will Ian keine falschen Signale schicken, dachte Marcus unbehaglich und füllte zwei Kaffeetassen. Linda war eine Magierin, sie konnte aus billigstem Filterkaffee, der bei jedem anderen wie der Bodensatz einer Aschetonne schmeckte, eine himmlische Koffeinoffenbarung zaubern.
„Falsche Signale? DU VOLLIDIOT! Du lebst in seinem Haus, schläfst in seinem Bett, benutzt sein Duschzeug, seinen Rasierapparat und tauschst mit ihm Krawatten, isst an seinem Tisch mit und ihr habt jede Menge Sex. Und da faselst du was von FALSCHEN SIGNALEN?“ Ananvi brach in brüllendes Gelächter aus. Das war sehr unangenehm, schließlich schepperte das laut in Marcus’ Schädel. Dank jahrelangem Training blieb er aufrecht und still.
Irgendwie hatte diese steinerne Missgeburt ja recht. Mal wieder. Er sollte es bei Gelegenheit mit Ian besprechen. Es würde tatsächlich kostbare Zeit sparen, die sinnvoller genutzt werden konnte, als sich um Post, Anrufbeantworter und die Pflege eines Hauses zu kümmern, das er niemals hatte leiden können. Er genoss es, mit Ian zusammen zu leben. Dort war er nicht allein, die Einrichtung war heller und wärmer und kein bisschen religiös – seine Eltern waren tiefgläubig gewesen. Es gab zu jeder Tages- und Nachtzeit freundliche Gesprächspartner, die Nachbarn waren weniger lästig und aufdringlich als bei Marcus …
„… und du hast abwechselnd einen willigen und anschmiegsamen oder aber ausdauernd-fordernden Liebhaber, der sich mit dir durch die Federn rollt. Das Paradies schlechthin, Kumpel!“, rief Ananvi. „Ehrlich jetzt. Falsches Signal. Pfff!“
Das lässt du mich wieder mindestens eine Woche lang büßen, hm?, dachte Marcus, während er zum Schreibtisch zurückkehrte und Ian den Kaffeebecher anreichte. Der war bereits hochkonzentriert damit beschäftigt, die E-Mail des Anwalts zu lesen, der das Krankenhaus vertrat, in dem Rovhar und Rebecca gestorben waren.
„Ich hasse diesen Behördensprech“, murmelte er.
„Was?“, fragte Marcus verblüfft.
„Behördensprech. Neusprech. Kennst du 1984 von Orwell nicht?“
„Ach … doch, kenn ich. Aber das würde ich offiziell nur unter Folter zugeben, klar?“ Er warf Ian einen warnenden Blick zu. Auch hier mussten sie vorsichtig sein, Auflösung der Internen Überwachung hin oder her. Es war bloß eine Frage der Zeit, bis der Vatikan eine neue Abteilung gegründet hatte, um ihnen auf die Finger zu schauen.
Orwells Meisterwerk stand auf dem Index. Seine dystopische Vision von einer Welt, in der es scheinbar weder Engel noch Dämonen und schon gar keine Magie gab und lediglich die Menschen sich gegenseitig tyrannisierten, überwachten und die Gedanken kontrollierten, indem sie die Sprache bewusst verarmten … Das war hartes Zeug. Die Botschaft dahinter war ebenfalls klar: In jedem Menschen steckte ein Dämon, der jederzeit erweckt werden konnte. Das bisschen Güte, das sie mit den Engeln gemeinsam hatten, war ein Funke, der allzu leicht erlosch. Kein Wunder, dass der Vatikan dieses Buch hasste und die Regierung es als jugendgefährdend ansah. Beinahe jeder Teenager schaffte es irgendwann im Laufe seiner Schulkarriere, eine zerfledderte, durch tausend Hände gewanderte Printausgabe zu ergattern und heimlich nachts unter der Bettdecke zu lesen. Angeblich sollten die Vampire diese Lektüre lieben und sie fleißig an die Jugend verteilen, als wäre es eine Droge. Daran glaubte Marcus allerdings nicht. Die Vampire fanden es überhaupt nicht berauschend, wenn Menschen zu viel nachdachten und hinterfragten.
„Okay. Ich hasse diesen Behördenkram“, murmelte Ian mit einem schiefen Grinsen.
„Besser du als ich. Mach du da mal schön weiter. Ich schreibe dann mal gemütlich den Tatortbericht.“ Marcus zückte seinen Lieblingsfüllfederhalter.
„Macho!“ Ian warf ihm gespielt böse Blicke zu.
„Weichei!“
„Despot!“
Bevor Marcus sich eine weitere Einwortbeleidigung auf Kindergartenniveau einfallen lassen konnte, kam Barney, ihr Neuerwerb, mit strahlendem Jungengesicht in den Raum gestürzt.
„Guten Morgen!“, schmetterte er. Das Glück, lebendig zu sein, tropfte ihm aus jeder Pore.
Wie konnte man nur so jung sein? So fröhlich und unbeschwert? So anbetungswürdig naiv? War er das selbst jemals gewesen? Und wann hatte er damit aufgehört? Am liebsten würde Marcus ihn in Watte gepolstert in eine Vitrine aus Sicherheitsglas setzen und an ein Museum für bedrohte Spezies schicken, damit Barney niemals damit aufhören würde. Dann konnte man ihn von außen bewundern und zugleich die böse Welt von ihm fernhalten.
„Sehen Sie zu Ihrer Linken ein besonders gut gewachsenes Exemplar der Gattung Twink. Diese Bezeichnung steht für hübsche junge Männer zwischen achtzehn und vierundzwanzig Jahren, tendenziell eher klein und schmal gebaut, die sich durch Naivität, häufig fröhliche bis schrille Persönlichkeit und einer Aura von Hilflosigkeit auszeichnen. Viele, nicht alle von ihnen sind homosexuell.“
Ja. In dem Stil könnte Marcus sich das lebhaft mit dem Museum vorstellen …
„Ich habe Mini-Windbeutel mitgebracht!“, rief Barney und setzte einen Weidenkorb auf seinem Schreibtisch ab. „Hab ich selbst nach dem Rezept meiner Omi gebacken!“
Neben entzückenden Grübchen erschien jetzt auch noch verlegene Röte auf den Milchbubi-Wangen. Marcus korrigierte den Punkt „keine Ahnung ob schwul“ seiner inneren Liste über Dinge, die er bereits von Barney wusste. Entweder war der Kleine eine wandelnde Klischeetucke oder ein sehr weicher Hetero. War das da etwa Eyeliner unter den babyblauen Augen? Vielleicht gehörte er aber auch der Generation Ich-brauche-keine-Schublade-ich-bin-wie-ich-bin an.
Auch recht. Solange niemand auf die Idee kam, das kleine Zuckerhäschen brauchte einen Trollschocker, mit dem es auf Monster von der Größe und Breite eines durchschnittlichen Linienjets feuern sollte.
Ein rascher Seitenblick zu Ian bewies, dass sein Partner sehr ähnliche Gedanken hegte. Was wollte dieses Baby bei der Dämonenjägerabteilung?
Marcus schüttelte den Kopf. Bloß nicht ablenken lassen! Die Pflicht rief.
„Marcus … Marcus … Marcus …“
Er schreckte vom Klang einer unirdischen Stimme hoch. Wo war er? Wohin waren alle anderen verschwunden? Nicht einmal Ananvi befand sich noch bei ihm. Der Raum, in dem Marcus auf einem einsamen Stuhl saß, war einerseits dunkel und leer, andererseits konnte er die weißen Wände und den dunklen Holzfußboden erkennen. Das Büro in seinem Department war nicht mit Holz ausgelegt, oder? Er wusste es gerade nicht mehr.
„Hallo?“ Er versuchte aufzustehen und die Person zu finden, die seinen Namen gerufen hatte, doch er konnte sich nicht bewegen. Gefesselt war er nicht, gelähmt auch nicht, trotzdem reagierte sein Körper nicht.
„Ich träume“, dachte er verwirrt. Das war seltsam, denn zum Träumen gehörte zwingend, dass er schlief – was er selten genug tat.
„Nicht aufregen, mein Freund.“ Er wusste sofort, wer dort hinter ihm stand und diese Worte sagte – Rebecca!
„In Lebensgröße. Und ja, ich kann deine Gedanken riechen, noch viel besser als früher.“ Sie schritt um ihn herum und hockte sich vor ihm auf dem Boden nieder. Alles an ihr war genauso wie in dem Moment, als sie gestorben. Ihr freches Lächeln, die schönen dunklen Locken, die feinen Narben in ihrem Gesicht, wo die Dryade sie erwischt hatte, sogar die schwarze Augenklappe war noch da. Es war vollkommen irreal und erdrückend schmerzhaft, sie scheinbar vor sich zu sehen. Zumal Marcus wusste, dass dies ein Traum war und er nach dem Erwachen wieder mit der Realität klar kommen musste. Eine Realität, in der sie sinnlos gestorben war und nie mehr zurückkommen würde.
„Es ist schön, vermisst und betrauert zu werden“, sagte sie leise und ergriff seine Hände. Ihre Finger waren angenehm kühl und fühlten sich lebendig an. Echt.
„Es war meine größte Angst als Teenager gewesen, irgendwann einsam und allein sterben zu müssen, und kein Mensch kommt zu meiner Beerdigung, um mir eine Träne nachzuweinen.“
„Warum träume ich von dir?“, fragte er, von Trauer erfüllt, die ihm die Luft abdrückte. Sie war eine Freundin gewesen, die er lediglich kurze Zeit gekannt hatte. Dennoch hatte sie praktisch alles über ihn gewusst und er hatte ihr vertraut – und es nicht geschafft, sie zu retten.
„Ich habe dich gerufen. Dein Körper sitzt nach wie vor am Schreibtisch, du hältst deinen Füller in der Hand und döst ein bisschen, was Ian und deine Kollegen recht niedlich finden. Nicht einmal Ananvi hat mich bemerkt, er glaubt, du bist müde. Das kann ja mal vorkommen, besonders, wenn die Nächte lang und wild waren.“
„Okay. Warum bin ich hier? Aus welchem Grund hast du mich gerufen?“
„Um zu erfahren, dass ich euch nicht verlassen habe. Halbwerwölfe der ersten Generation besitzen normalerweise keine mächtigen Hexenkräfte. Bei mir hingegen ist es so. Ich hatte gehofft, dass es ausreicht, mit dem Engel verhandeln zu können, der gekommen war, um meine Seele einzusammeln. Diese Hoffnung wurde erfüllt. Der Engel hat meiner Bitte entsprechend meine Seele nicht mitgenommen, sondern in die Kette gebannt, die ich um den Hals trug. Vor dem Tod habe ich meine Mutter inständig gebeten, euch die Kette zukommen zu lassen, ohne ihr zu erklären warum. Sie hätte die Kette sonst sicherlich für sich behalten. Ich bin bei euch, solange ihr den Triqueta-Anhänger nicht verliert.“
„Warum? Warum hast du dir die ewige Ruhe selbst verweigert?“, fragte Marcus erschüttert.
„Die Ewigkeit ist bloß aufgeschoben“, erwiderte sie lächelnd. „Ich darf bleiben, bis der Kampf um die Prophezeiung beendet ist. Gleichgültig, wie es ausgehen wird. Ich kann mit dir reden, sobald du schläfst, oder dich in Halbschlaf zwingen und zu mir rufen, sollte es dringend sein. Entscheidend ist: Ich habe meine Magie nicht verloren. Ich kann alles wittern und du dadurch auch, solange du über eine Nase verfügst und den Kettenanhänger umfasst.“
„Das ist nicht logisch. Meine Nase kann unmöglich die Grundbedingung für deine Magie sein, außerdem sind meine Riechfähigkeiten nicht übermäßig hoch. Selbst mit Ananvis Hilfe nicht“, entgegnete er stirnrunzelnd. Rebecca lachte, unbeschwert und offen, wie er es zu Lebzeiten nicht von ihr gehört hatte. Ein Jammer …
„Vergiss es, Magie braucht keine Logik, wie du weißt, lediglich Gesetze. Glaub mir, du wirst olfaktorische Wunderdinge vollbringen können. Das mag nicht viel sein und hält vermutlich auch immer nur sekundenweise an. Aber in manchen Zweifelsfällen mag diese Magie den entscheidenden Ausschlag über Sieg oder Niederlage geben.“
„Davon bin ich überzeugt. Wäre es aber nicht besser, ich würde Ian die Kette übergeben? Er leidet nicht am Gargoylefluch und schläft deshalb sehr viel mehr als ich. In dieser Zeit könntest du dich mit ihm unterhalten. Außerdem wird mein Riechvermögen von Ananvi verbessert, er muss mit einer minderwertigen normalmenschlichen Nase auskommen.“
„Nein. Nein, lass mich bei dir bleiben.“ Sie wurde plötzlich sehr ernst, ein Schatten legte sich über ihr Gesicht.