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Eines Tages machte der Landwirtssohn Felix Winkler beim Pflügen eines Ackers einen seltsamen Fund: ein in einer steinernen Truhe abgelegtes Buch. Kaum hatte er das alte Schriftstück in Händen, begannen sich unerklärliche und unheimliche Bilder und Visionen in seine Gedanken zu drängen. Als er seinem besten Freund Harald davon erzählte, tat er die Vorkommnisse als Resultat von Überarbeitung und Stress ab. Dieser ließ sich jedoch nicht überzeugen und riet Felix, sich in psychiatrische Behandlung zu begeben. Doch Felix war der festen Überzeugung, dass sich die Dinge von alleine wieder einpendeln würden und blieb bei seiner Meinung. Die Visionen wurden jedoch immer intensiver und schließlich sogar gefährlich für Felix, so dass er beschloss, Haralds Rat doch noch zu folgen und einen Termin bei einem Psychologen zu vereinbaren. In der Zwischenzeit geschahen in Felix' Heimatdorf einige äußerst ungewöhnliche Vorfälle. Mehrere Personen verschwanden scheinbar spurlos oder starben auf grausame Art und Weise. Erst als Felix mit Hilfe der Psychologin Dr. Lara Lehmbach immer tiefer in die Geschichte vordrang, die ihm die Visionen zu erzählen schienen, realisierten sie, dass das Buch, welches der Landwirtssohn beim Ackern fand, eine ungeheure Gefahr darstellte. Und zwar nicht nur für ihn selbst, sondern für die gesamte Menschheit. Die Psychologin war anfangs skeptisch und zweifelte insgeheim am Verstand ihres Patienten, doch je mehr sie sich mit ihm und seinem Problem beschäftigte, desto mehr mochte sie Felix und ein Gefühl sagte ihr, dass es ihm ähnlich ging. Zusammen beschlossen sie, sich der Herausforderung zu stellen und das Buch - den Codex Sanguinis - vor Susanna, einer jahrhundertealten Vampirin zu schützen. Während ihre Gefühle füreinander immer stärker wurden, schmiedeten sie einen Plan und stellten sich dem Bösen. Dabei gelang es der Vampirin Lara mit dem Vampirvirus zu infizieren. Verständlich also, dass Felix alles daran setzt, Susannas Plan zu vereiteln...
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Seitenzahl: 475
Veröffentlichungsjahr: 2016
www.tredition.de
Wolfgang Oberkofler
Codex Sanguinis
Das Buch des Blutes
www.tredition.de
© 2016 Wolfgang Oberkofler
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
ISBN
Paperback:
978-3-7345-0698-7
Hardcover:
978-3-7345-0699-4
e-Book:
978-3-7345-0700-7
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„Eine Zeit wird kommen, da man die Farben nicht mehr unterscheiden kann, denn sie alle werden schwarz geworden sein.“
(Des Nachts, wenn es dunkel wird.)
Leonardo da Vinci
Italien, 16. Jhd.
Erste Schatten
I.
Die kleine Nora erwachte um ungefähr 21.00 Uhr in ihrem Bettchen, weil sie von einem Geräusch geweckt wurde. Ihr kleines Hündchen saß vor der Balkontür, winselte hin und wieder leise und kratzte dabei am Rahmen der Tür. Nora setzte sich auf, rieb sich die Augen und sah zu ihrem Hund, der mit schräg gehaltenem Kopf auf den Balkon hinaus starrte.
„Was ist denn los, Schnuffi?“, fragte sie ihr Haustier, was ihr aber lediglich einen flüchtigen Blick einbrachte, den er sofort wieder nach draußen richtete. Schnuffi – diesen Namen bekam der Hund, als Nora ihn vor einem Jahr zum Geburtstag bekommen hatte – schien sie geradezu einladen zu wollen, mit ihm hinaus auf den Balkon zu schauen. Und Nora folgte dieser Einladung. Sie stand auf und ging verschlafen hinüber zur Tür. Dort hockte sie sich neben Schnuffi und streichelte über dessen Kopf. Der Hund kratzte erneut an der Türe, was Noras Aufmerksamkeit endlich auf den Balkon lenkte. Die Rollläden der Fenster ihres Zimmers waren ganz geschlossen, jene der Balkontüre nur zur Hälfte. So konnte Nora den Balkon überblicken, und sah links, dicht neben der Tür eine Frau, die mit freundlichem Gesichtsausdruck genau in Noras Augen sah und dann die linke Hand zu einem Gruß erhob. Auch Nora lächelte und winkte der Fremden zu. Schnuffi hingegen schien äußerst nervös zu sein, denn er kratzte wieder an der Tür und winselte leise. Nun begann die Fremde zu sprechen.
„Hallo Nora.“, sagte sie sanft und leise. „Weißt du, mir ist ziemlich kalt hier draußen, die Nacht ist kühl. Sogar viel zu sehr für diese Jahreszeit. Findest du nicht?“
„Weiß nicht.“, erwiderte die Kleine schüchtern und sah die fremde Frau weiterhin unvermittelt an. Sie gefiel ihr. Sie hatte langes, wallendes, strohblondes Haar, das ein freundliches, doch ungewöhnlich bleiches Gesicht umrandete und von großen, blitzenden, schwarzen Augen beherrscht wurde. Außerdem trug sie ein wunderschönes weißes Kleid, das sich leicht im Wind bewegte.
Das kleine Mädchen fragte sich nicht, wie es möglich war, dass sie die Stimme der Frau so deutlich hörte, als ob sie neben ihr im Zimmer hocken würde, obwohl die Balkontüre fest verschlossen war. Dazu war sie viel zu fasziniert von der Schönheit der Fremden und deren freundlichen Augen.
„Nora, könntest du mir die Tür aufmachen? Dann kann ich mich etwas wärmen. Was sagst du dazu?“, fragte die Fremde und machte einen bettelnden und Mitleid erregenden Gesichtsausdruck.
„Ja, das kann ich machen. Aber du musst leise sein, ja? Mammi mag nicht, wenn ich so spät noch wach bin. Es ist ja schon ganz dunkel. Und mit Fremden zu reden hat sie mir auch verboten.“, erwiderte Nora.
„Du bist wirklich ein braves Mädchen. Das gefällt mir.“, lobte die Fremde. „Du hast eine schlaue Mammi. Sie kann stolz auf dich sein.“
Nora lächelte. Sie mochte es, wenn sie gelobt wurde. Langsam bewegte sie ihre Hand zum Knauf der Balkontüre und ignorierte dabei ihr Hündchen, das nun anstatt zu winseln leise knurrte. Das Knurren hörte jedoch sofort auf, als die weiß gekleidete Frau ihren Blick kurz von dem Mädchen abwandte und den Hund direkt in die Augen blickte. Dann war die Türe offen und Nora streckte die Hand ins Freie.
„Mammi hat auch gesagt, dass man unhöflich ist, wenn man sich nicht vorstellt. Also: ich bin die Nora. Und ich bin schon fünf.“
Das Mädchen stand in der Türe mit ausgestrecktem Arm und hielt den Kopf etwas schief. Die Fremde ergriff die Hand des niedlichen, blond gelockten Mädchens und ihr Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht.
Nora bemerkte, wie die Hand der Fremden sich fest um ihre eigene schloss. Zu fest für einen normalen Händedruck. Die Augen der Frau veränderten sich. Sie wurden mit einem Mal gelb mit fast katzenartigen Pupillen. Mehr Zeit darüber nachzudenken hatte die Kleine nicht. Die Fremde zerrte Nora mit unglaublicher Kraft zu sich auf den Balkon. Dabei stieß die Kleine so stark mit der Stirn gegen den halb offenen Rollladen, dass sie augenblicklich das Bewusstsein verlor. So spürte sie nicht, wie sie über das Geländer des Balkons aus dem zweiten Stock gehoben wurde und mit der Fremden in die Tiefe stürzte. Auch das Winseln des Hundes hörte sie nicht mehr.
Doch bevor die verzweifelten Schreie von Noras Mutter die Nacht durchschnitten, möchte ich die Geschichte von Anfang an zu erzählen beginnen.
Soweit mir bekannt ist, hatten all die auf diesen und den folgenden Seiten beschriebenen Vorkommnisse ihren Ursprung einige Tage vor der Begegnung Noras mit der weiß gekleideten Frau. Und dort, an einem feuchten und regnerischen Tag, möchte ich die Geschichte noch einmal beginnen lassen:
II.
Er hörte hinter sich ein dumpfes von metallischem Ächzen begleitetes Geräusch und wandte sich nach hinten, um zu sehen was passiert war. Er wusste zwar was das Geräusch verursachte, trotzdem vergewisserte er sich vorsorglich des Zustandes der Maschine. Dazu öffnete Felix die Heckscheibe des Traktors - während Chris LeDoux sein „I’m country“ aus den Lautsprechern nuschelte - und warf einen prüfenden Blick auf den Pflug, den er hinter sich herzog. „Ein Stein…“, dachte Felix und stellte nicht unerwartet fest, dass der Pflug unversehrt war und weiter normal seine Arbeit verrichten konnte. Felix schloss die Scheibe wieder. Er fühlte sich nicht besonders, kämpfte gegen Müdigkeit, eine (wie er befürchtete) aufkommende Grippe und gegen eine gehörige Portion Frust.
Müde war er, weil er seit 04.00 Uhr früh wach war, da in dieser Woche um 05.00 Uhr Schichtbeginn auf seiner Arbeitsstelle war.
Eine Erkältung kündigte sich an, weil er wider besseren Wissens an den letzten paar Tagen ohne Jacke ins Freie ging. Das war um diese Jahreszeit (früher Frühling) zwar verlockend, doch in Anbetracht der eher kühlen und feuchten Witterung doch etwas leichtsinnig.
Und da seine Freundin ihm vor dreieinhalb Wochen den Laufpass gegeben hatte – und das auch noch via SMS – war es nur selbstverständlich, dass er schlecht gelaunt und deprimiert war.
Zum Glück hatte ihn sein Vater mit dem Pflügen der Äcker beauftragt, denn so war er abgelenkt und hatte weniger Zeit zum Grübeln. Felix arbeitete gerne auf den Feldern und sein Vater war froh, wenn ihm etwas Arbeit abgenommen wurde.
Er hatte gerade den Traktor gewendet, den Pflug in den Boden eingesetzt und die nächsten Furchen begonnen, als das Lied von Chris LeDoux endete und als nächstes Brad Paisley mit seinem „Working man Blues“ den Innenraum des Fahrerhauses beschallte. Das war eines von Felix’ Lieblingsliedern, so dass er die Lautstärke etwas nach oben regelte und leise mit summte. Gerade als das Gitarrensolo begann, erzitterte erneut der ganze Traktor. Es gab auch einen ordentlichen Knall dazu, der jedoch aufgrund der zugegebenermaßen etwas übertriebenen Lautstärke der Musik nicht an Felix’ Ohren drang. Der hielt sofort an und blickte nach hinten zum Pflug. Er befürchtete schon Bruch, doch auch diesmal hatte das Bodenbearbeitungsgerät den Kontakt mit dem Stein ausgehalten. Die Maschine wurde lediglich aus dem Boden gehoben und lag jetzt auf der Oberfläche des Ackers; bereit wieder in die Erde einzutauchen und ihre Arbeit weiter zu verrichten, sobald der Traktor wieder anzog.
Felix fuhr vorsichtig an, kontrollierte die korrekte Arbeit des Pfluges und korrigierte schließlich die Arbeitstiefe um etwas mehr als einen Zentimeter nach oben.
„Das wird am Arbeitsbild nichts ausmachen, doch für das Gewissen ist es besser, wenn man weiß, etwas gegen solche ‚Feindkontakte‘ getan zu haben!“, dachte sich Felix und beschloss erst den Acker fertig zu pflügen und erst die nächsten Tage mal die vom Pflug nach oben gezogenen Steine aufzusammeln und weg zu bringen. So setzte er seine Arbeit fort, verlangsamte die Geschwindigkeit noch etwas und konzentrierte sich wieder auf die Musik und die zu verrichtende Arbeit. Nach einiger Zeit beschloss er dennoch für heute Schluss machen, denn morgen würde er wieder um 04.00 Uhr aufstehen müssen, außerdem war er hungrig.
Plötzlich hörte er das leise Summen des Vibrationsalarms seines Mobiltelefons. Bevor er den Anruf annahm, las er mit einiger Überraschung den Namen seines Vorgesetzten auf dem Display.
„Was will der denn?“, fragte sich Felix, während er rasch die Lautstärke des Radios zurückdrehte und den Traktor anhielt. Den Motor ließ er laufen und meldete sich mit einem kurzen, etwas müde klingenden „Hey“ bei seinem Anrufer. Sein Chef erklärte ihm, dass er den Rest der Woche zuhause bleiben könnte, da in der Firma eine Maschine – natürlich die wichtigste der gesamten Abteilung – kaputt gegangen war und die Reparatur voraussichtlich die ganze restliche Woche inklusive der beiden Wochenendtage in Anspruch nehmen würde.
Felix nahm die Nachricht nicht unerfreut zur Kenntnis und entgegnete: „Ok! Das passt mir eh gut ins Konzept. Ich hab genug zu tun hier. So kann ich die Äcker fertig herrichten und muss die Arbeit nicht ständig unterbrechen.“
Sein Boss meinte lachend: „Ja, so etwas hab ich mir schon gedacht. Deshalb hab ich dich auch sofort angerufen, als ich von der Werkstatt Bescheid gekriegt hab.“
Dann quatschten sie noch kurz über belangloses Zeug und verabschiedeten sich schließlich.
Felix’ Laune besserte sich während und nach diesem Telefonat merklich. Nun konnte er seine Arbeit in Ruhe beenden und abends ein Bierchen zischen gehen. Er hoffte, dass ihm seine Gesundheit nicht noch einen Strich durch die Rechnung machte, doch mehr wie abwarten konnte er da sowieso nicht. Er fuhr also beschwingt weiter, legte eine Furche neben die andere und schließlich hatte er den Acker ohne jeden weiteren Zwischenfall fertig gepflügt. Der Treibstoffvorrat im Tank hatte gerade noch so ausgereicht. Bevor er sich jedoch auf den Heimweg machte, begutachtete er noch einmal seine Arbeit und war zufrieden mit sich. Zurück auf dem Hof betankte er noch schnell den Traktor und reinigte die Maschinen vom gröbsten Schmutz. Dies hatte er sich angewöhnt, denn er hasste nichts mehr, als voller Tatendrang auf eine Maschine zu steigen und nicht sofort loslegen zu können. Dann marschierte er in seine Wohnung wo er schnell unter die Dusche sprang, um sich den wenigen Staub vom Acker abzuwaschen und die Müdigkeit aus den Knochen zu spülen. Er schrieb eine Mitteilung an seinen besten Kumpel Harald in der er fragte, ob er Lust hätte etwas trinken zu gehen. Ohne eine Antwort abzuwarten, zog er sich etwas Sauberes an und fuhr zu seiner Stammkneipe. Harald war schon da, er setzte sich zu ihm hin und sie verbrachten einen netten Abend. Gegen Mitternacht machten sie sich auf den Heimweg, doch kaum hatte Felix seine Wohnung betreten, beschlich ihn wieder dieses Gefühl. Er vermisste seine Freundin. Er hatte schon seit längerem den Verdacht, dass in der Beziehung etwas nicht stimmte, doch er hatte nicht gewagt, sie darauf anzusprechen. Er hoffte, dass es nur eine Phase wäre, doch als er sie zu einem gemeinsamen, romantischen Essen einladen wollte, machte sie stattdessen mit ihm Schluss. Seit diesem Tag hatten sie sich weder gesprochen, noch geschrieben, sie waren sich lediglich ab und zu auf der Straße begegnet, was jedes Mal seine Laune – die ohnehin nur knapp über dem Boden schwebte - so sehr drückte, dass sie fast schon unterirdisch war. Einerseits war er froh, nichts mehr von ihr zu hören, andererseits war er sich sicher, dass ein klärendes Gespräch ihm geholfen hätte, mit der Situation etwas besser klarzukommen. Aber wenn sie nicht wollte, würde er auch nicht versuchen sie dazu zu überreden. Das wäre jämmerlich. Betteln. Das wollte er nun auch wieder nicht. Dennoch: Felix fühlte sich „etwas“ ungerecht behandelt. Zum Glück hatte er seine Freunde, die ihm zurzeit sehr halfen, über seine Exfreundin hinweg zu kommen. Die halfen ihm zurzeit sehr viel. Sie verstanden ihn, einige mehr, andere weniger. Vielleicht hätte er noch etwas länger in der Kneipe bleiben sollen… obwohl, dann hätte ihn dieses Tief halt einige Zeit später getroffen. Nun versuchte er sich abzulenken. Fernsehen. Das half immer. So begann ein eher ungeduldiges und gelangweiltes Zappen durch die verschiedensten Kanäle seines neuen Fernsehers. Verdammt…, er hatte sich so sehr darauf gefreut mit seiner Freundin gemütliche Fernsehabende zu verbringen – auch sie mochte Filme (sie hatten sogar denselben Geschmack was das betraf) – und seine Laune besserte sich keinen Deut. Also wählte er schließlich die Aufzeichnung eines Nascar – Rennens an, die er sich bestimmt bereits 5mal angesehen hatte, und sofort fesselte ihn der Kampf um den Sieg der beiden Führenden. Wie jedes Mal entschied der „Rainbow Warrior“ Jeff Gordon mit seinem Chevrolet mit der gelben Nummer 24, nach einem extrem packenden Finish das Rennen vor Jimmie „Mr. Five-time“ Johnson mit der Startnummer 48 für sich. Tatsächlich schaffte es Felix sich damit wieder etwas aufzubauen und langsam seine Gedanken wieder in eine angenehmere Richtung zu lenken. Das klappte sogar so gut, dass er langsam müde wurde. Er wählte eine weitere Nascar – Aufzeichnung an und während die Autos ihre Runden zogen, wurde er schläfrig. Langsam verdrängte er die Gedanken an seine Ex und begann sich auf den morgigen Tag zu freuen. Bald schlief er ein. Sein Schlaf war unruhig und er erwachte recht früh am nächsten Morgen.
Der begann regnerisch. Trotzdem wollte er mindestens den einen Acker, den er gestern umgepflügt hatte, fertig für die Aussaat vorbereiten. Während Felix zum Traktor ging, verständigte er telefonisch seinen Vater, da er bemerkte, dass dessen Auto nicht in der Garage war. Der befand sich nämlich auf dem Weg in die nächste Stadt, da er einen Termin wahrzunehmen hatte. Sein Vater freute sich über die Ankündigung seines Sohnes, nun zwei Tage Zeit zu haben, um ihm etwas Arbeit abzunehmen, denn er war seit dem vorletzten Frühjahr etwas empfindlich am Rücken, da er damals einen zweifachen Bandscheibenvorfall erlitten hatte. Zum Glück konnte ihm ein Sportmediziner mit einem halben (die sich jedoch anfühlten wie ein ganzes) Dutzend Spritzen und viel Geduld wieder soweit in Ordnung bringen, so dass er seine Arbeit normal – wenn auch etwas vorsichtiger und vorausschauender – machen konnte. Ansonsten hätte ihn eine Operation erwartet, die ihn sicher für längere Zeit außer Gefecht gesetzt hätte. Dazu kam noch, dass er ziemliche Angst vor Operationen hat – übrigens eine Eigenschaft, die er erstens nie zugeben würde und zweitens an Felix vererbt hatte. Der war inzwischen bei der Garage angekommen und hatte den Motor gestartet. Dann erst fiel ihm ein, dass er wahrscheinlich Werkzeug benötigen würde, um den Stein auf dem Acker vollends aus dem Boden zu holen und in die Schaufel zu bugsieren. Die noch halb im Erdreich steckenden Findlinge ließen sich, wenn überhaupt, nur äußerst umständlich mit der Traktorschaufel allein herausholen und laden. Bald fand er die lange Eisenstange, die ihm dabei in den vergangenen Jahren bereits gute Dienste geleistet hatte, und fuhr damit zum Acker.
Dort angekommen, bewegte er seine Maschine zum ersten Stein, den er tags zuvor mit dem Pflug getroffen hatte, stieg ab und sah sich die ganze Sache genauer an. Wie vermutet war der Stein noch zur Hälfte im Boden und war darüber hinaus noch ziemlich fest im Erdreich verankert.
„Na, dann werd ich mal versuchen dich da raus zu kitzeln.“; sagte Felix laut zum Stein und erklomm wieder die Stufen zum Cockpit des Traktors. Er legte den passenden Gang ein, fuhr langsam und vorsichtig vorwärts, bis die Schürfkante der Traktorschaufel den Stein berührte. Nun begann er mit behutsamen Druck und gleichzeitigen leichten Auf- und Abbewegungen des Ladegerätes den Findling langsam an die Oberfläche zu hebeln. Zweimal rutschte er ab, doch schließlich lag der Brocken auf der Oberfläche des Ackerbodens und hinterließ ein Loch von grob geschätzten 60 cm Tiefe. Überaus zufrieden mit sich und seiner Leistung stieg er vom Traktor und ging zum Stein. Felix schätzte ihn auf mindestens 90 – 100 kg Gewicht.
„Das Loch muss ich irgendwie auffüllen, so kann ich es unmöglich lassen. Da werd ich ’ne ganz schöne Menge Erde reinkippen müssen.“
Dann nahm er die Eisenstange und ging dorthin, wo es beim Pflügen zum zweiten Mal geknallt hatte. Der Übeltäter war bald gefunden und Felix erkannte sofort, dass er diesmal einer schwierigeren Aufgabe gegenüberstand. Die wenigen Spuren, die an der Oberfläche zu sehen waren, ließen ihn sofort vermuten, dass er hier keinen normalen Stein getroffen hatte, sondern eine Art Platte, die flach unter der Erde lag. Diese Steinplatte wurde – so vermutete er zumindest – mit der Zeit vom immer wieder gefrierenden und wieder auftauenden Boden langsam Richtung Oberfläche befördert, bis der Pflug sie schließlich erfassen konnte. Felix’ Vermutungen bewahrheiteten sich, als er mit der Eisenstange die Größe des Findlings austestete. Dazu rammte er sie in Abständen von ungefähr 15 cm in die vom Pflug aufgelockerte Erde und stellte auf diese Weise fest, dass die Platte mindestens 1 m breit und 1,5 m lang sein musste. Auf der Seite, die aufgrund der Kollision etwas aus der Erde ragte, hatte sie zudem eine Dicke von nicht weniger als 35 cm.
„Tja, das wird jetzt anstrengend mein Lieber.“, sagte er zum Traktor, als ob er ihn vorwarnen wollte, denn er schätzte die Platte auf mindestens 1.300 kg Gewicht. Dann stieg er auf und beschloss erst einmal zu probieren, ob er überhaupt irgendetwas ausrichten konnte, oder ob es sinnlos sein würde, sich mit solchen Gewichten herumzuschlagen. Zu seiner Überraschung ließ sich die Platte ziemlich leicht anheben und er beschloss, sie zum Überkippen zu bringen. So würde es dann einfacher sein sie als Ganzes aufzuheben und davon zu tragen.
Der Plan schien aufzugehen, doch als sie fast senkrecht stand, glaubte Felix seinen Augen nicht. Unter der Platte war ein Hohlraum.
„Wie jetzt?“, fragte er sich. „Das sieht ja fast so aus wie ein ägyptischer Pharaonensarg!“
Felix, der sich viel mit dem Alten Ägypten beschäftigte, hatte Recht. Naja… fast.
Es waren keine altägyptischen Zeichen eingemeißelt, doch schien es tatsächlich eine große steinerne Truhe zu sein, vor allem eine äußerst stabile. Die Seitenwände waren ungefähr 30 cm breit und mindestens 50 cm tief. Als er näher kam, bemerkte er, dass genau in der Mitte der Platte ein Kreuz eingemeißelt war. Er ging um den Fund herum und konnte nun auch auf der gegenüberliegenden Seite dasselbe Kreuz erkennen. Nun lehnte er die Eisenstange an den Hubarm des Traktors und hockte sich neben die Öffnung im Boden. Zu seiner Überraschung bemerkte er, dass sich etwas im Inneren der Truhe befand. Er tastete etwas herum und nachdem er einige Hände voll Staub und Dreck durchgeknetet hatte, fühlte er plötzlich etwas.
„Was zur Hölle ist das hier?“, fragte sich Felix und griff etwas beherzter zu. Es fühlte sich an wie ein Buch. Ohne lange zu überlegen holte er den Fund aus dem Steinsarg hervor und hielt nun tatsächlich ein Buch in der Hand. Es musste uralt sein, so wie es aussah. Das Buch war in dickes Leder eingeschlagen, das vermutlich einst straff und schön anzuschauen war, heute jedoch ziemlich verwittert und verbraucht wirkte. Auf der Vorderseite prangten in verzierten, goldenen Lettern die Worte „Codex Sanguinis“. Die Seiten konnte Felix nicht begutachten, denn ein Siegel war rund um das Buch angebracht. Da es am Himmel ziemlich finster war und er den Fund lieber im Trockenen in seiner Wohnung begutachten wollte, ließ er das Siegel intakt.
Plötzlich fühlte er sich seltsam. Ihm war als würde ihm schwindlig, seine Knie drohten unter ihm wegzuknicken, doch er zwang sich trotzdem auf den Traktor zu steigen. Wenn ihm übel werden sollte, würde er so wenigstens nicht dem Wetter ausgesetzt sein. Sein Zustand besserte sich auch nicht, als er sich matt in den Sitz fallen ließ. Ihm war, als ob er sich übergeben müsste, doch stattdessen sah er plötzlich deutlich und gestochen scharf vor sich eine Hand und das Buch, welches er soeben geborgen hatte. Für einen kurzen Moment lang zweifelte er an seinem Verstand. War das real? Das musste es sein, so echt, wie er die Bilder vor sich sah… Die Hand hielt das Buch fest. Fast genau so, wie er selber es getan hatte, als er es aus seinem steinernen „Grab“ befreite. Er bemerkte erst jetzt, dass das Buch anders aussah. Sein Umschlag war rötlich braun, es leuchtete fast, so neu sah es aus. Naja, neuer jedenfalls als gerade eben, als er das Buch selbst betrachtet hatte. Dann bewegte sich die Hand. Sie schien das Buch wieder dort hin zurücklegen zu wollen, wo er es eben gefunden hatte.
„Wache ich, oder träume ich das alles?“, fragte sich Felix. Er musste es träumen, denn die Hand, die er sah, war nicht die seine. Sie war vom Leben gezeichnet. Einige Narben waren zu erkennen, die Haut sah von der Sonne bearbeitet und zäh wie Leder aus. In ihren Falten hatte sich Schmutz angesammelt. Der Arm, der die Hand mit dem Buch führte, steckte in einem Ärmel aus altem Stoff. Der Anblick desselben erinnerte ihn an die alten Leinensäcke, wie sie früher verwendet wurden. Der Ärmel war nur aus unwesendlich feineren Fasern gewoben.
„Fast so, wie bei einer Mönchskutte – nur älter…“, dachte Felix, während die Vision weiterhin wie ein Film vor seinen Augen ablief.
Er sah, wie die Hand das Buch, vorsichtig, fast schon zärtlich, in die Truhe legte. Als die Hand erneut erschien, hatte sie eine einfache Schaufel ergriffen und begann den Deckel auf die steinerne Truhe zu hebeln, um danach das Ganze einzubuddeln.
Sie müssen sich das so vorstellen, werte/r LeserIn, wie wenn Sie durch die Augen eines fremden Körpers schauen würden. Auch da könnten Sie alles genau beobachten, hätten jedoch ebenso wie Felix keine Möglichkeit, auf das Gesehene Einfluss zu nehmen.
Nun aber wurden die Bilder immer blasser und farbloser. Zugleich schienen sich zwei verschiedene Bilder zu vermischen. Das, was er eben wie einen Traum vor sich sah, und das, was seine Augen wahrnahmen und an das Gehirn weiterleiteten. Letzteres wurde immer kräftiger, bekam immer mehr die Überhand, bis er schließlich nichts anderes, als die Realität wahrnahm. Doch das Gesehene blieb genauestens in Felix’ Erinnerung haften. Es war nicht wie bei einem Traum, dessen Eindrücke mit der Zeit immer mehr verblassten. Ihm war, als hätte er den fremdartigen Stoff des Ärmels gefühlt. Als er wieder bei sich war, schien ihm, als fühlte er immer noch das Kratzen der borstigen Fasern. Er griff sich selber an den nackten Unterarm und erst, als er sich etliche Male vergewissert hatte, dass da nichts war, verging das Gefühl langsam.
„Phantomschmerzen…“, schoss es Felix durch den Kopf und er startete den Motor des Traktors. Er war verwirrt und konnte sich nicht erklären, was soeben passiert war. Er wollte nur noch seine Arbeit beenden, so schnell wie möglich nach Hause und nicht mehr weiter über den seltsamen Vorfall nachdenken.
Die steinerne Abdeckung würde er zwar abtransportieren können, die gesamte, tiefer hinab reichende Truhe jedoch würde sich nur mit schwerem Gerät aus dem Boden holen lassen. Und das war den Aufwand nun wirklich nicht wert. Felix fand es besser, die Truhe wieder ordnungsgemäß zu verschließen und mit ausreichend Erde zu bedecken, sich den Platz zu merken und zu hoffen, dass er sich im nächsten Jahr, wenn das Pflügen anstand, tatsächlich noch daran erinnern könnte.
„Naja!“, dachte sich Felix. „Heuer hat der Pflug den unsanften Kontakt auch überlebt. Wieso sollte das nicht ’n andermal auch so sein?“
Währenddessen versuchte er mit der Schaufel des Traktors die Truhe so gut es ging zu verschließen und Erde darüber zu kippen. Er war unkonzentriert. Er fühlte sich krank und schwindlig und hatte ziemlich starke Kopfschmerzen. Er würde nur noch rasch hier fertig machen, den Traktor in die Garage bringen und dann eine Aspirin nehmen.
So geschah es dann auch. Zurück in seiner Wohnung legte er das Buch erstmal auf einer Kommode im Eingangsbereich ab. Für heute hatte er genug. Ihm fiel erst jetzt auf, dass es schon recht spät geworden war.
„Wie zur Hölle konnte ich den gesamten Nachmittag so verplempern?“, fluchte er, während er die Schmerztablette einwarf und sich dann auszog um Duschen zu gehen. Als das Wasser auf seinen Kopf prasselte und über seinen Körper rann, fühlte er sich bereits wieder etwas besser und dachte sogar daran, etwas trinken zu gehen.
„Heute ziehe ich mit den Kumpels los, denn zuhause herumliegen kann ich auch noch wenn ich krank werde. Das kann nicht mehr lange dauern…!“, dachte sich Felix und erinnerte sich dabei an seinen jämmerlichen, kränklichen Zustand vorhin auf dem Acker.
Dann zog er sich frische Kleidung an und machte sich bereit für den Abend in der Kneipe. Als er sich vor dem Schließen der Haustüre noch einmal umsah, fiel sein Blick kurz auf das alte Buch auf der Kommode. Im schwachen Licht der Außenbeleuchtung des Hauses sah es richtig unheimlich aus. Felix spürte, wie sein Kopf wieder zu Schmerzen begann und beschloss deshalb zu Fuß zu gehen.
„Frische Luft schadet nie. Und kalt ist es heute auch nicht.“
Tatsächlich war die Witterung wider Erwarten recht angenehm. Zwar hatte es bis vor kurzem noch geregnet, doch die Temperaturen hatten sich gut erholt.
„Wird auch Zeit, dass der Winter verschwindet!“, murmelte Felix und erinnerte sich an den langen, kalten, sich dem Frühling nicht beugen wollenden Winter. Denn als es endlich nicht mehr schneite, regnete es. So wie auch heute. Felix beeilte sich deshalb zur Kneipe zu kommen und bald schon stand er vor der Eingangstür. Er hörte schon das Gelächter von Innen, stellte zufrieden fest, dass er sich wieder besser fühlte und trat vergnügt ein.
III.
Es herrschte völlige Dunkelheit, als sie plötzlich die Augen aufriss. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie nun schon regungslos hier lag. Sie wusste nur noch wenig von den Geschehnissen, die sich zugetragen hatten, bevor sie sich hierher zurückzog. Nun hatte das Warten ein Ende. Sie wurde geweckt von dem – vermutlich uns allen wohlbekannten – Gefühl, etwas unbedingt besitzen zu wollen. Noch war es nicht an der Zeit, sich aus dem Lager zu erheben – aber es würde nicht mehr lange dauern. In der Zwischenzeit würde ihre Erinnerung vollständig wiederkehren und sie könnte beginnen erste Pläne für ihr Vorhaben zu ersinnen. Oh, wie freute sie sich darauf. Das so sehr von ihr Begehrte würde bald in ihren Händen sein. Zu lange schon hatte sie darauf verzichten müssen. Zu groß waren die Entbehrungen gewesen, die sie dafür in Kauf genommen hatte. Das alles würde bald vergessen sein. Nur noch kurz müsste sie sich gedulden, dann würde sie in Erscheinung treten. Ihre Kräfte reichten noch nicht wieder aus, um irgendwelche Pläne zu verwirklichen. Sanft lächelnd schloss sie wieder die Augen um zu warten bis die Stunde kam endlich ihr Lager zu verlassen. Diese Zeit wollte sie gut nutzen um nachzudenken, sowohl ihren Körper, als auch ihren Geist auf das Zukünftige vorzubereiten – so gut jedenfalls, wie es von hier aus möglich war. Sie war gespannt, was auf sie zukommen würde. Dieses Mal hatte sie ein gutes Gefühl. Dieses Mal würde sie klüger und überlegter vorgehen.
IV.
Wieder war Harald als erster da. Harry kannte Felix schon sein halbes Leben. Sie lernten sich aufgrund ähnlicher Interessen – Motorsport und Country Music – über gemeinsame Freunde kennen und wurden mit der Zeit dicke Kumpels. Er könnte niemals genau sagen, wie viele Abende sie zusammen gesessen, gezecht und geredet hatten. Es waren unzählige. Deshalb hatte es Harry auch so mitgenommen, als er von Felix’ Trennung von seiner Freundin erfahren hatte. Er stand ihm bei, so gut er konnte. Er wusste, dass Felix das zu schätzen wissen würde und es im Fall der Fälle auch für ihn täte. So war es eine Ehrensache für Harald, für seinen Freund da zu sein.
Harry war bis vor einigen Monaten Angestellter in einer Möbeltischlerei gewesen, doch seine linke Schulter und Ellenbogen hielten der Belastung nicht stand und so ließ er sich zu einem technischen Zeichner und Innenraumplaner umschulen. Auf diese Weise konnte er chronischen Entzündungen von Sehnen und Gelenken aus dem Weg gehen und dennoch gutes Geld verdienen. Nun, da er ein „Schreibtischtäter“ – so nannte ihn Felix scherzhaft – geworden war, hatte er in Pausen und über Mittag Zeit, sich regelmäßig mit allen Neuigkeiten, die die Welt des Motorsportes betrafen, zu versorgen. Das wiederum bedeutete, dass immer genügend Gesprächsstoff vorhanden war. Denn so, wie Felix nun seit fast vier Wochen Single war, hatte Harry diesen Status bereits seit grob geschätzten zweieinhalb Jahren inne. So hatten sie jede Menge Zeitvertreib, was sie auch gut auszunutzen wussten. Genau so gut wusste Harald jetzt auch das umfangreiche Angebot an Getränken in der Bar auszunutzen: Er bestellte nach einer Weile als erster der beiden etwas Alkoholfreies – was auch schlauer war, da er schließlich am morgigen Tag arbeiten musste. Felix, der schon ziemlich mit den Auswirkungen der bereits genossenen Alkoholika zu kämpfen hatte, beschloss noch ein Bier „zu zischen und dann abzuzischen“. Denn Morgen wollte er nach Mittag die restliche Arbeit auf den Äckern machen. So erhoben sie ein neues Glas und prosteten sich zu. Als auch dieses geleert war, und die Sperrstunde sowieso in Sichtweite kam, verließen sie das Lokal. Harry bot Felix an, ihn ein Stück mit dem Rad mitzunehmen, da er ohnehin an Felix’ Wohnung vorbei musste. Der nahm dankend an.
Trotz der recht angenehmen Temperaturen froren die beiden Radler aufgrund des Fahrtwindes ziemlich. Noch dazu bekam Felix, der hinten saß, die meisten Spritzer vom Regenwasser ab, denn die Straße war, obwohl es seit Stunden nicht mehr geregnet hatte, eine einzige Pfütze. Sein nasser Rücken sollte Felix jedoch erst auffallen, als er sich zuhause auszog. Er stieg vom Rad und verabschiedete sich von Harry. Dabei ermahnte er ihn überaus ernst – was er mit seinem erhobenen rechten Zeigefinger zum Ausdruck brachte – auf dem weiteren Nachhauseweg vorsichtig zu sein, da er ja nicht mehr nüchtern sei. Harald bedankte sich artig und nach einem kurzen „bis dann“ gingen sie ihrer Wege. Nach wenigen Sekunden jedoch hielt Harry noch einmal an und rief Felix nach, ob er morgen Abend vorbei kommen könnte, um ihn abzuholen, denn im Kino liefe was Tolles und da sie beide nichts Besonderes vor hätten, würde sich das gut anbieten. Ohne sich umzuwenden – er befürchtete dabei den Verlust seines Gleichgewichtes – rief Felix zurück: „OK! Klingt gut! Bis morgen dann!“
„Jawoll, bis morgen!“, entgegnete auch Harry, der nun endgültig den Heimweg antrat.
V.
Während Felix nun langsam zur Haustüre schlich, kündigte sich allmählich wieder ein leichter Kopfschmerz an. Als er das Haus betreten und sich im Bad fertig für die Nacht gemacht hatte, wollte er sich noch etwas im Wohnzimmer auf die Couch lümmeln. Sein Kopf schmerzte nun höllisch. Darüber hinaus fror er. Sogar zusammengerollt unter einer Decke fröstelte es ihn.
„Wenn nur diese verdammten Schmerzen nicht wären…“
Er ging nochmals ins Bad, um sich eine Aspirin zu holen. Er hielt bereits die Packung in Händen, doch dann wagte er es nicht eine zu nehmen.
„Ist wahrscheinlich keine gute Idee nach dem ganzen Alkohol.“, überlegte er und schloss schließlich den Schrank wieder ohne eine Tablette genommen zu haben. „Aber wenigstens gegen die Kälte kann ich etwas tun. Das Knacken von brennendem Holz beruhigt mich sonst auch immer. Vielleicht hilft es ja gegen den Bohrer in meinem Kopf…“
Also holte er sich einige dicke Holzscheite vom Balkon und legte sie in den Ofen. Dann suchte er in der Küche nach etwas, das ihm helfen würde die Scheite zu entzünden und kehrte mit einigen Stücken eines Pizzakartons zurück.
„Ich glaub mein Schädel platzt gleich!“, fluchte Felix, kniete sich vor den Ofen und entzündete das Feuer. Während er zusah, wie sich die Flammen langsam immer weiter in das Holz fraßen, beschlich ihn ein merkwürdiges Gefühl. Ihm wurde schwindlig und das Bild vor seinen Augen verschwamm. Er sah plötzlich loderndes Feuer. Ihm war, als ob er sogar die Hitze davon spürte. Die Haut seines Gesichts wurde heiß und er wich etwas zurück. Es war unmöglich, ein so großes Feuer in seinem Ofen anzuzünden. Die Flammen, die Felix sah, schienen mehrere Meter hoch zu sein. Was hatte das alles zu bedeuten? Was passierte mit ihm?
Er wusste keine Antwort darauf und irgendwie faszinierte ihn das Bild, das er sah.
Doch bereits nach einigen Augenblicken wurden die Riesenflammen ganz langsam wieder undeutlicher und schließlich kam er wieder zu sich.
„Was zur Hölle… Was ist hier passiert?“, fragte sich Felix, als er in den schwarzen Ofen starrte. Das Holz, welches er entzündet hatte, war komplett abgebrannt. Nichts, rein gar nichts mehr war davon noch übrig.
„Mein Gott, wie lange bin ich weg gewesen? Bin ich eingeschlafen? Das muss es sein! Ich hab in meinem Rausch die halbe Nacht auf dem Fußboden vor meinem Ofen sitzend geschlafen…! Verdammt, Felix! Sauf weniger…“
Er erhob sich langsam und sein Rücken schmerzte.
Im Wohnzimmer schaute er auf die Uhr und sie zeigte halb fünf Uhr in der Früh an.
„Wow. Fast vier Stunden… Naja, arbeiten muss ich nicht und mein Kopf dröhnt auch nicht mehr so.“
Etwas ruhiger, doch immer noch verwirrt und ratlos, legte er sich wieder auf die Couch und machte den Fernseher an. Felix fror nun weniger als vorhin und bald war er eingeschlafen.
VI.
Gegen halb zehn Uhr vormittags erwachte er wieder. Der Schlaf war nicht besonders erholsam gewesen und so blickte er mürrisch auf sein Handy.
„Keine Anrufe. Das ist erstmal gut.“, dachte er und hievte sich hoch, um unter die Dusche zu springen. Das sollte nun genau das Richtige sein! Tatsächlich kamen seine Lebensgeister rasch wieder zurück.
„Na siehst du, Felix.“, sagte er laut zu sich selbst.
„Bisschen was tanken, Körper und Geist werden es dir danken!“ Er schmunzelte in sich hinein und insgeheim freute er sich schon wieder darauf mit dem Traktor zu arbeiten. Nachdem er sich angezogen hatte, schnappte er sich sein Mobiltelefon und sah, dass ihn während er duschte, sein Vater eine Textnachricht hinterlassen hatte. „Sind einkaufen. Kommen erst am späten Nachmittag zurück.“
„Gut! Dann bin ich heut also der Chef!“, dachte Felix und ging pfeifend zur Wohnungstüre. Dabei fiel sein Blick kurz auf das Buch, das immer noch auf der Kommode lag. Allerdings beachtete er es nicht weiter, weil er seinem Kumpel Harry kurz eine Nachricht schreiben wollte, um sich noch einmal bestätigen zu lassen, ob heut Abend mit dem Kinobesuch alles klar gehen würde. Ins Handy tippend verließ er seine Wohnung. Jetzt lenkte er seine Schritte zur Garage. Dabei begleitete ihn der Hofhund, der ihn wie immer freudig mit dem Schwanz wedelnd begrüßte.
„Morgen, alter Junge!“, grüsste Felix den Hund, wobei das „alter Junge“ eigentlich nicht stimmte, da der Hund erst etwas mehr als zwei Jahre alt war. Zufrieden trollte sich der Hund – ein wundenschöner Bernhardiner – und begab sich auf seinen Wachposten: neben der Bank, die vor der Scheune stand. Felix hingegen stieg in das Cockpit des Traktors, startete den Motor und legte los. Die Arbeit fiel ihm leicht, die Maschinen funktionierten einwandfrei und so war er schneller wie geplant fertig. So gefiel es ihm: Arbeit erledigt, niemand zu Haus, Rest vom Tag frei. Er hätte es wahrlich schlechter treffen können. Die Geschehnisse von gestern, die seltsamen Bilder, die er gesehen hatte, waren vergessen. Auch die Übelkeit und die Schwindelanfälle hatte er verdrängt. „Es ist in letzter Zeit halt viel zusammengekommen!“, redete er sich gut zu und dabei hatte er gar nicht so Unrecht. Als er den Traktor ordnungsgemäß wieder abgestellt hatte, ging er zu dem Hund, der immer noch auf demselben Platz lag wie vorhin, als Felix weggefahren war. Ohne etwas zu sagen hockte er sich neben ihm hin und tätschelte seinen Kopf, was der Hund mit einem dankbaren Schwanzwedeln quittierte. Felix sah in den Himmel und stellte fest, dass es wohl bald wieder Regen geben würde.
„Jetzt reicht es aber dann… Ich hätte wirklich nichts gegen einige Sonnentage! Wächst ja nix bei der Kälte.“, klagte der Landwirtssohn in ihm und als er noch einen verabschiedenden Blick zum Hund warf, sagte er zu ihm: „Dich interessiert das alles nicht. Hab ich Recht? Lass dich bloß nicht aus der Ruhe bringen!“
Der Hund schien zu verstehen und wedelte wieder kräftiger, als ob er Felix zustimmen wollte. Der wandte sich jedoch ab und ging langsam schlendernd nach Hause. Unterwegs überlegte er, ob er Harald anrufen sollte: „Bei dem Stress, den der Knabe hat, weiß man schließlich nie…“ Er hatte sein Mobiltelefon bereits in seiner rechten Hand, doch plötzlich sah er etwas vor seiner Haustür, was ihn den geplanten Anruf vergessen und seinen Atem für einige Augenblicke stocken ließ.
Rechts neben der Eingangstüre lag ein Reh.
Ungläubig starrte er auf das Tier. Wie kam es dort hin? Hatte es der Hund gejagt, gerissen und es wie eine Trophäe hierher gebracht, um es zu präsentieren? Das hatte er doch noch nie gemacht. Felix sah hinüber zum Hof und konnte ihn immer noch ruhig dösend vor dem Stall sehen. „Das kann nicht sein. Da würde er doch aufgeregter sein.“ Langsam näherte er sich dem Tier. Erst als er vor ihm stand und es fassungslos anstarrte, merkte er, dass es nicht mehr atmete. Wie aus dem Nichts waren nun auch die Kopfschmerzen wieder da, doch Felix beachtete sie nicht. Er musste das Vieh verschwinden lassen. Es würde wahrscheinlich bei den Förstern nicht gut ankommen, wenn sie das hier so sähen. „Würde nur unnötige Fragen aufwerfen. Vielleicht blöde, lästige Kontrollen mit sich bringen. Das kann ich nicht gebrauchen. Hmm… Erst mal dafür sorgen, dass der Hund nicht drankommt. Nicht, dass sie uns den wegnehmen. Er ist im Moment ja sozusagen der Hauptverdächtige. Obwohl… Kann nicht sein. Der wäre doch viel zu faul so was durchzuziehen.“
Felix’ Erschrockenheit hatte sich jetzt in Ärger und Frustration gewandelt. Die Gedanken in seinem Gehirn rasten. Er würde das Reh einfach in den Wald schleppen und dort irgendwie verstecken. Den Rest soll die Natur besorgen. Ja, so würde er vorgehen. Er wusste auch schon ein geeignetes Plätzchen um das Tier zu platzieren. Oben im Wald, da wo früher ein Bachbett war. Dort liegen haufenweise große Steine.
„Mir doch egal, ob es dann irgendwann mal gefunden wird – und von wem. Findet es ein Fuchs oder sonst was – gut. Findet es ein Förster – auch gut. Kann ich ja nix, wenn so ein Reh zwischen ein paar Steine reinfällt. Jedenfalls muss es von hier weg und zwar schnell. Und keine Spuren hinterlassen! Hoffentlich sieht mich niemand bei der Aktion!“, sinnierte Felix und stieß mit dem Fuß sachte gegen den Körper des Tieres, als ob er sich vergewissern wollte, dass es tot war. Es hatte keine Verletzung – zumindest so weit er das beurteilen konnte. Dann holte er seine Arbeitshandschuhe aus der Hosentasche und zog sie an. „Man kann ja nie wissen.“, dachte er. „Wer weiß, was so ein Ding für Krankheiten mit sich schleppt. Ich pass’ lieber auf. Nicht, dass ich mir was einfange oder auf unsere Tiere übertrage. Vorsicht ist besser als nachher was bereuen!“
Das Reh war nicht schwer. Er würde keine Probleme haben, es fort zu schleppen.
Er spürte den Kopf des Tieres bei jedem Schritt gegen seinen Oberschenkel stoßen. Nicht stark, aber doch genug um ihn zu nerven. Er vermutete, dass es ein gebrochenes Genick hatte. Sonst würde der Kopf nicht so locker hin und her pendeln. Damit hatte er Recht. Äußerlich war das Tier unversehrt – fast. Seine Schnauze war total zertrümmert, doch glücklicherweise war nirgends eine Wunde, wo Blut austreten konnte. Nicht einmal aus der Nase quoll es heraus. So „geschickt“ hatte das Reh die Hausmauer von Felix getroffen. Mehr wie ein dumpfer Schlag war nicht zu hören gewesen, als das Reh gegen die weiße, erst vor fünf Wochen neu gestrichene Wand prallte. Das Tier hatte keine Ahnung, was mit ihm geschah. Es äste ruhig im Wald, als es plötzlich den Kopf hob, etwas mit den Ohren wackelte und den unbändigen Wunsch verspürte loszulaufen. Es lief so schnell es konnte. So lief es von einer unsichtbaren und unheimlichen Macht getrieben immer weiter. Das Reh hatte Angst, so nah war es den Nestern der komisch riechenden zweibeinigen Wesen noch nie gekommen. Nicht einmal im tiefsten Winter wagte es sich so weit aus dem Wald heraus. Doch es konnte einfach nicht anders. Der Wald flog an ihm vorbei. Da, die letzten Bäume! Es beschleunigte noch mehr. Es lief geradewegs auf den ersten Bau zu. Der Bau kam immer näher. Das Reh wich nicht aus. So prallte das verängstigte, gehetzte Tier mit voller Geschwindigkeit gegen die Mauer des Hauses. Es war auf der Stelle tot.
„Genickbruch durch Kontakt mit der Hausmauer des vom Glück verfolgtem Felix, aufgrund nicht angepasster Geschwindigkeit… So würde wohl ein Gerichtsmediziner sagen.“, vermutete Felix, dessen Laune sich langsam wieder besserte, während er endlich in den Wald gelangte, der ihn vor allzu neugierigen Blicken schützen sollte.
Plötzlich merkte er, dass er nicht mehr alleine war. Er ging hinter zwei weiteren Männern her. „Verflucht… Förster…“, schoss es Felix durch den Kopf, bis ihm auffiel, dass die beiden vor ihm seltsam altertümlich gekleidet waren. Sie schienen in ähnlichen Stoff gehüllt zu sein, den er damals schon sah, als er zum ersten Mal so einen Tagtraum hatte. „Das ist es! Ein Tagtraum! Ich muss echt fertig sein in letzter Zeit“, dachte er besorgt und da er sowieso nichts dagegen tun konnte, ließ er geschehen, was eben geschehen musste. Die beiden vor ihm schienen etwas zu suchen. Sie schauten ständig zu Boden. Abwechselnd hoben sie ihre Köpfe und sahen sich besorgt um. Der ältere der Beiden ging als Erster und hatte ein Schwert in seiner Hand. Der Zweite – mindestens dreißig Jahre jünger und somit ungefähr in Felix’ Alter – hielt einen Speer in seiner Hand und an seiner Seite blitzte ein Schwert aus seinem Umhang hervor. Ihre Gewänder erinnerten Felix an Mönchskutten, was ihm ziemlich schräg vorkam. Mönche, die schwer bewaffnet im Wald umher schlichen? Das hatte sicher nichts Gutes zu bedeuten. Der Blick, dem er folgte, bzw. folgen musste, wandte sich nun nach hinten. Felix erkannte die Gegend wieder. Es war das Dorf in dem er wohnte, nur kleiner und irgendwie anders. Er konnte den Kirchturm inmitten einer kleinen Ansammlung von Häusern erkennen. Der schaute aus wie immer. Plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Es war Winter! Der Wald und das Dorf waren von einer dicken Schneedecke bedeckt. Das verwirrte ihn noch mehr, doch darüber konnte er nicht lange nachdenken, denn er wandte sich wieder den beiden anderen zu. Diese hatten nun angehalten und schienen auf ihn zu warten. Sie zeigten auf den Boden und er erblickte eine Blutspur. Jetzt wurde es immer abgedrehter. Die beiden sprachen davon, dass sie nun „das verheißene Zeichen, das uns führen wird“ gefunden hätten und sie sich „nun wappnen müssten, etwas Schrecklichem zu begegnen“.
„Reichlich geschwollen, wie die hier reden…“, stellte Felix fest und bemerkte wie diejenige Person, aus dessen Sicht er das alles miterlebte, zustimmend zu nicken schien. Dann reichte der jüngere der beiden Mönche ihm den Speer, während er selber zu dem Schwert in seiner Kutte griff. Felix fühlte, wie er zögernd zu griff und dann gingen sie weiter. Sie folgten nur der Spur aus Blut, die gut sichtbar tiefer und tiefer in den dunklen Wald führte. Die Drei bewegten sich immer vorsichtiger und langsamer. Felix verfolgte gebannt das Geschehen. Bald schon hielten sie erneut und fanden etwas, was Felix wahrhaft schockierte. Ein Reh lag unter einem Baum, exakt in derselben Position liegend, wie jenes, welches er bei seinem Haus gefunden hatte. Mit einem Unterschied: Die Kehle war zerfetzt und im Umkreis eines halben Meters war der Schnee vom Blut des Tieres regelrecht getränkt. Wäre es Farbe und nicht Blut, das den Boden so malerisch färbte, würde Felix von einem „schönen Anblick“ sprechen. So jedoch war er nahe daran sich zu übergeben. Daher, und weil ihn der Anblick des toten und so schlimm zugerichteten Tieres seltsamerweise irgendwie faszinierte, versäumte er es den beiden Geistlichen bei ihrer Unterhaltung zu folgen. Lediglich „alsdann, so lasst uns gehen“ konnte er noch aufschnappen, bevor sie kehrt machten.
„Was suchen die beiden – und wohl auch ich?“, fragte sich Felix. „Sicher einen Wilderer. Oder irgendein Raubtier.“
Schließlich wurde er fortgerissen. Das Bild der Mönche vor ihm verschwamm und ein anderes erschien. Die Realität hatte ihn wieder! Harry war bei ihm. Er konnte seine Stimme hören: „Hey Alter! Felix, was ist passiert? Was ist los mit dir? Bist du verletzt?“
Felix brauchte noch einige Sekunden, bevor er wieder im Hier und Jetzt war, drehte sich um und starrte Harald ungläubig ins Gesicht.
„Hey Harry!“, stammelte er. „Was machst du denn hier? Wie hast du mich gefunden?“
Dabei blickte er sich um.
„Euer Hund hat mich hierher gelotst.“, antwortete Harry leicht genervt, als er merkte, dass Felix nichts fehlte. „Kannst du mir mal erklären, was du hier machst?“
„Naja, weißt du, das klingt jetzt blöd… Ich, äh, ich weiß, wie sich das jetzt anhört… Aber ich weiß es selbst nicht so genau.“
„Komm schon, verarsch mich nicht! Schau nur, wie du aussiehst…“, schimpfte Harald und machte damit Felix auf dessen derangierte Kleidung aufmerksam. Der begann sich daraufhin etwas abzuklopfen und gab Harry ein Zeichen mit zum Haus zu kommen. Dort wartete schon der Hund auf die beiden und wedelte stolz und erfreut mit dem Schwanz. Felix tätschelte dankbar seinen mächtigen Kopf, was der Hund mit einem, überhaupt nicht zu seiner doch recht imposanten Größe passenden, vergnügten Quietschen quittierte.
„Gut gemacht, haariges Kerlchen.“, lobte er ihn, bevor er Harry bat einzutreten. Felix ließ Harry auf dem Sofa Platz nehmen und bot ihm etwas zu trinken an. Der lehnte jedoch dankend ab und forderte ungeduldig eine Erklärung für Felix’ seltsames Verhalten.
Dieser startete einen unbeholfenen Erklärungsversuch: „Naja. Wie soll ich sagen? Ich hab in letzter Zeit relativ viel Stress gehabt. Ich bin sicher, dass all das nur damit zu tun hat. Ich habe mich etwas erkältet und… naja… ich krieg halt Schwindelanfälle und ab und zu sehe ich Sachen.“
„Wie meinst du das? Was für Sachen?“
„Sachen halt. Hör zu: ich kann’s ja auch nicht erklären. Manchmal ist mir so, als ob ich Dinge sehen würde, die anderen Menschen gerade geschehen. Ich weiß wie das klingt, aber es ist so.“
„Komm schon Felix, rück mit der Wahrheit raus, du hast mich gerade zu Tode erschreckt!“
„Harry, ich bitte dich… Ich hab dir ja gesagt, dass es mir zur Zeit nicht gut geht. Das mit meiner Ex, die Arbeit, dann die Arbeit auf dem Hof, die Erkältung… All das zusammen und die Schlaflosigkeit in letzter Zeit zeigen nun eben ihre Auswirkungen. Das wird schon vorüber gehen.“
„Du hast nie etwas von Schlaflosigkeit erzählt.“
„Weil ich niemanden beunruhigen oder als Waschlappen gelten wollte. Ich muss eben immer noch ziemlich viel an sie denken. Wenn ich das bloß abstellen könnte.“
„Oh Mann, Felix, darüber haben wir doch schon oft gesprochen. Mach dir keine Sorgen, das kommt schon von alleine. Zurzeit ist es eben noch viel zu frisch. Es ist ja noch nicht mal vier Wochen her.“
„Danke Kumpel!“, sagte Felix leise.
„Lass den Kopf nicht so hängen. Ich verstehe dich ja. Vielleicht erzählst du mir ja bei einem Bierchen alles genauer? Was hältst du davon?“
„Klingt nicht schlecht. Ich könnte schon einen Drink vertragen. Hab grad erst gemerkt, wie spät es bereits ist.“
Es war schon nach 18 Uhr, als sie die Wohnung verließen. Im Flur fiel Harrys Blick auf das Buch. „Was hast du denn hier Feines?“, fragte er neugierig und Felix gab kurz angebunden zur Antwort, dass er das später noch erzählen würde. Dann brachen sie auf. Wenige Minuten später saßen sie schon in ihrer Stammkneipe. Harald wollte nicht sofort wieder von Felix’ offensichtlichen Problemen anfangen und so unterhielten sie sich erst einmal über Motorsport. Doch da es nicht wirklich viel Neues zu berichten gab, und ihm darüber hinaus die Neugierde ins Gesicht geschrieben stand, fing Felix von sich aus an zu erzählen: „Also: Du weißt ja, dass ich die letzten Tage über die Äcker für die Aussaat vorbereitet habe. Beim Pflügen habe ich – was ja eigentlich nichts Ungewöhnliches ist – mehrere Findlinge mit dem Pflug aus dem Boden herausgezogen. Tja, und einer davon war kein normaler Stein, sondern eine steinerne Truhe. Darin hab ich das Buch, das du in meiner Wohnung gesehen hast, gefunden. Codex Sanguinis steht da drauf. Und seit dem, glaube ich, habe ich diese Probleme. Denn kaum hatte ich das Buch in den Händen, hätte ich es fast nicht mehr zurück auf den Traktor geschafft. Mir wurde total schwindlig. Da hab ich dann das erste Mal so einen Aussetzer gehabt. Tagtraum oder Vision, nenne es wie du willst. Ich weiß, wie sich das anhört, aber ich schwöre so war es. Später passierte noch einmal so was Ähnliches und beim insgesamt dritten Vorfall hast du mich gefunden. Da war ich auch am längsten weg. Na, wie hört sich das an?“
Felix machte einen großen Zug aus seinem Glas und stellte sich auf schallendes Gelächter oder eine ähnliche Reaktion seines Kumpels ein. Der sagte erst einmal gar nichts und trank ebenfalls einige Schlucke. Dann schien er kurz zu überlegen und sagte schließlich langsam, fast flüsternd zu Felix: „Das klingt nicht gut.“
„Was willst du damit sagen? Dass ich verrückt bin? Ich schwöre dir, dass es so war. Ich habe mehr so zusammenhangloses Zeug gesehen. Immer etwas, das mit dem zu tun hatte, was ich in dem Moment selber getan oder gesehen habe.“, entgegnete Felix leicht beleidigt.
„Na na, ich hab nichts vom Verrücktsein gesagt. Ich meine nur, dass dir vielleicht wirklich alles etwas zu viel wird. Wäre kein Wunder, wenn du mal zusammenklappst bei der ganzen Arbeit. Aber Visionen… Wahrscheinlich bildest du dir das alles nur ein.“
„Harald, ich schwöre dir: das, was ich sehe, ist absolut real. Ich kann sogar fühlen, wie sich die Sachen, die ich im Traum trage, anfühlen. Ich kann zwar noch nicht ganz verstehen, was in der Vision passiert, da ich immer nur kleine Ausschnitte sehe – wie in einem Film – doch es hat immer was damit zu tun, was ich gerade in der Realität getan oder gesehen habe. Zum Beispiel habe ich heute vor meinem Haus etwas gefunden. Ein totes Reh. Ich wollte es im Wald verschwinden lassen. Unterwegs hab ich dann die Vision bekommen und du hast mich gefunden. Und das Komische war, dass ich in der Vision dasselbe Reh gesehen habe, nur war es dort voller Blut.“
„Die Vision, wie du es nennst, wird mir jetzt auch klar. Dein Gehirn hat dir einen Streich gespielt. So einfach ist das. Was du gesehen hast, hat dein Unterbewusstsein in deinen Traum projiziert.“
„So einfach ist das nicht.“, widersprach Felix. „Das war absolut real.“
„Klar, dass dir das so vorkommt. Denk mal nach Felix. Du hast das Reh gefunden. Du warst noch müde vom Vortag und der Arbeit auf dem Feld. Und dass du ganz auf der Höhe warst, brauchst du gar nicht erst zu behaupten. Bei der Menge, die du gestern Abend ‚getankt’ hast.“
„Ja aber…“
„Niiichts aber…“, fuhr Harald Felix ins Wort. „Da greift ein Rad ins andere. Du warst übermüdet, gestresst, halb krank… Und bist es wahrscheinlich immer noch. Das schreit ja geradezu danach, die Erklärung für alles zu sein. Weißt du was ich denke?“
„Nein. Was?“, gab Felix kleinlaut nach.
„Du bist knallhart dran am Burn-Out-Syndrom!“
„Glaubst du nicht, dass du vielleicht etwas übertreibst?“
„Da wett ich was drauf.“, bestand Harald auf seiner Meinung. „Bei uns in der Firma hatte das auch einer. Der machte eine Therapie bei einer Psychologin, die ihm dann sein Gehirn wieder zurechtgerückt hat. Wenn ich du wäre, würde ich das mal probieren.“
„Meinst du?“
„Klar. Ich rufe ihn morgen an und lass mir die Nummer geben.“
„Naja.“, zeigte sich Felix einsichtig. „Klingt ja alles ganz schlüssig. Vielleicht sollte ich wirklich mal einen Termin vereinbaren.“
Doch in Wirklichkeit wusste Felix, dass er diese Nummer bestimmt nie wählen würde.
„Das geht von allein vorbei.“, dachte er sich. Doch da ihn Harry sicherlich so lange nerven würde, bis er sich geschlagen gäbe, wäre es einfacher, einfach gleich nachzugeben.
„Übrigens, wie hast du gesagt heißt das Buch?“, fragte Harry nun etwas zufriedener.
„Codex Sanguinis. Wieso?“
„Nur so. Mal sehn was das heißt. Hab da so ein App auf meinem Handy…“
„Klar… App…“, äffte Felix. „Ich brauch da kein App. ‚Blutbuch’ heißt das. Oder zumindest so was Ähnliches. Ist nicht schwer, braucht nur etwas Allgemeinbildung. Aber ihr Computerfritzen…“, belehrte er Harald mit erhobenem Zeigefinger, bevor er hastig sein Glas leerte, denn die Kellnerin brachte bereits die nächste Runde.
„Ja, Herr Lehrer. Kompliment. Fast richtig.“, lobte Harry. „Es heißt nicht ‚Blutbuch’, aber du warst nahe dran. ‚Buch des Blutes’ wäre die korrekte Übersetzung aus dem Lateinischen.“
„Haarspalterei.“, meinte Felix trotzig. „Schau mal nach, ob du noch was drüber findest. Klingt irgendwie interessant, nicht?“
„Computerfritze schon dabei!“, brummte Harry zwischen zwei kräftigen Zügen. „Computerfritze manchmal nützlich…“
Doch dann – während Felix schmunzelte - musste er bedauernd feststellen, dass im Internet nichts Weiteres zu seiner Suchanfrage zu finden war. Lediglich einige weitere Übersetzungsvorschläge, die ihn jedoch nicht interessierten.
„Übrigens.“, fragte er dann Felix. „Was hast du denn mit dem Reh gemacht? Als ich dich gefunden habe, war nichts davon zu sehen? Hast du dir das etwa auch bloß eingebildet?“
„Da war ein Reh! Aber du hast Recht… Mir ist gar nicht aufgefallen, dass es nicht mehr da war. Keine Ahnung, wo es abgeblieben ist. Morgen werde ich es suchen gehen.“
„OK. Sag Bescheid was dabei herausgekommen ist.“
„Mach ich! Aber können wir nicht von was Anderem reden? Das ganze Zeug hier zieht mich irgendwie runter.“
„Jawoll, Felix, der Glückliche!“, antwortete Harry in Anspielung auf die lateinische Übersetzung seines Namens. Darauf mussten sie dann Anstoßen und langsam verlor sich das bisherige Thema in einer Diskussion über Nascar und Countrymusic. Dabei flog – wie üblich – der Abend nur so vorüber und es nahte schließlich die Sperrstunde. Als Harry Felix vor seinem Haus aus dem Auto aussteigen ließ, sagte er noch, dass er sich keine Sorgen machen und die Ohren steif halten sollte. Morgen würde er ihm die Nummer der Psychologin schicken, die ihm bestimmt helfen könnte. Dann musste ihm Felix versprechen, keine Dummheiten zu machen und ihn anzurufen, falls er was bräuchte. Felix antwortete dankbar: „Ten-four, Buddy!“
So wie sie es von Nascar - Aufzeichnungen kannten, wenn ein Crew-Chief oder ein anderer Fahrer einem Piloten einen Ratschlag oder Hinweis gab. Sie waren sich nicht bewusst, dass „Ten-Four“ ein amerikanischer Polizeicode war und in etwa „OK, hab verstanden“ bedeutete, aber es klang cool und das reichte den beiden Amerikafans. Dann verabschiedeten sie sich und Felix ging ins Haus.
VII.
Das Reh war allerdings nicht das einzige tote Tier, das Aufsehen erregte. Am frühen Morgen des folgenden Tages, als ein Jäger vom Beobachten des Wildbestandes zu Tal wanderte, sah er etwas Ungewöhnliches. Vor einem tiefen Loch im Fels, das vermutlich seit Urzeiten verschiedensten Tieren Unterschlupf bot, sah er eine Anhäufung von Kadavern. Hasen, Rehe, Murmeltiere, alles lag kreuz und quer durcheinander vor der Höhle. Der Weidmann näherte sich langsam und richtete dabei seine Schrotflinte auf den Einstieg. Ungewöhnlich war nicht nur die Vielzahl der toten Tiere – er zählte mehr als fünfzehn Kadaver – sondern auch der Umstand, dass sie vor der Höhle lagen. Er wusste von keinem Raubtier in diesen Breiten, das seine Beutetiere vor dem Bau liegen ließ. Genau so wenig kannte er ein Tier, das fleischliche Nahrung auf Vorrat fing und tötete. Normalerweise wurde geschlagene Beute sofort gefressen. Er überlegte sich kurz seine weitere Vorgehensweise und kam zum Schluss, dass er seine Entdeckung melden musste. Er würde auch einen Kadaver mitnehmen, um ihn untersuchen zu lassen, aber da er keinerlei Wunden oder sonstige Verletzungen feststellen konnte, ließ er davon ab. Er vermutete eine Seuche und fahrlässiger Weise hatte er keine Schutzhandschuhe dabei, so dass er nicht wagte, etwas anzufassen. Er blickte sich besorgt um, nicht dass er selbst vom Raubtier angefallen wurde, und machte sich rasch auf den Heimweg. Bald schon hatte er einen Berggasthof erreicht, dessen Wirtin um diese Zeit wie gewöhnlich das Lokal für den Tag herausputzte. Wie immer trat er nach viermaligem Klopfen ein und bemerkte dann erst, wie müde und verschwitzt er war. Die Wirtin begrüßte ihn freundlich und setzte ihm sogleich eine große Tasse Kaffee und etwas selbst gemachtes Brot mit Butter vor. All die Jahre, die sie sich schon kannten, hatte er stets Dasselbe geordert, wenn er vom Berg kam. Schmunzelnd begann er sich etwas Butter auf eine Scheibe Brot zu schmieren und sie unterhielten sich etwas. Er verschwieg jedoch seine Entdeckung, nahm sich aber vor, das alles baldmöglichst zu melden, damit Vorkehrungen getroffen werden konnten. Nach der kurzen Stärkung verließ er das Gasthaus, stapfte weiter zu seinem brandneuen schwarzen Chevrolet und fuhr talwärts.
VIII.
Die Nacht lag in ihren letzten Zügen. Sie hatte sich gerade wieder zurückgezogen und die Augen geschlossen, um zu rasten, als sie plötzlich etwas hörte. Erschrocken erhob sie sich, um nachzusehen, was das Geräusch verursachte. Vorsichtig und ständig darauf bedacht nicht entdeckt zu werden, beobachtete sie, was draußen vor sich ging. Zugleich bereute sie so unvorsichtig vorgegangen zu sein und die toten Tiere zurückgelassen zu haben. Ein Jäger, sie konnte ihn im Dunkel der Nacht gut erkennen. Er schien verängstigt zu sein und hatte die Büchse zum Schuss bereit auf den Eingang der Höhle gerichtet. Hatte er sie gesehen?
„Wie töricht von dir Susanna!“, schimpfte sie im Gedanken zu sich selber, als ob es nun noch etwas ändern würde. „Töricht und unüberlegt!“