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Commedia - Die preisgekrönte Neuübersetzung von Kurt Flasch jetzt im Taschenbuch Dantes ›Commedia‹ ist wie der Dom, der zu seiner Zeit in Florenz entstand: Zahllose Ein- und Ausgänge führen unter eine große Kuppel, in der die Geschichten und Figuren, die Biographien und das Wissen ihrer Zeit unendlich nachhallen. Seine ›Commedia‹ durchmisst den gesamten metaphysischen Kosmos der damaligen Zeit - Hölle, Fegefeuer und Paradies - und durcheilt gleichzeitig die dunklen Gassen und verschwiegenen Hintertreppen seiner Zeit. Das Buch war Vision wie Skandal. Mit seiner umfangreich kommentierten Prosaübertragung legt Kurt Flasch das Ergebnis seiner lebenslangen Dante-Beschäftigung vor. Seine elegante Sprache, seine Kunst zur plastischen Darstellung und sein enzyklopädisches Wissen greifen ineinander und erschließen dem Leser Dantes Kosmos neu.
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Seitenzahl: 726
Veröffentlichungsjahr: 2011
Dante Alighieri
In deutscher Prosa von Kurt Flasch
Für Ruth
Diese Übersetzung folgt dem [...]
Inferno
Canto 1
Canto 2
Canto 3
Canto 4
Canto 5
Canto 6
Canto 7
Canto 8
Canto 9
Canto 10
Canto 11
Canto 12
Canto 13
Canto 14
Canto 15
Canto 16
Canto 17
Canto 18
Canto 19
Canto 20
Canto 21
Canto 22
Canto 23
Canto 24
Canto 25
Canto 26
Canto 27
Canto 28
Canto 29
Canto 30
Canto 31
Canto 32
Canto 33
Canto 34
Purgatorio
Canto 1
Canto 2
Canto 3
Canto 4
Canto 5
Canto 6
Canto 7
Canto 8
Canto 9
Canto 10
Canto 11
Canto 12
Canto 13
Canto 14
Canto 15
Canto 16
Canto 17
Canto 18
Canto 19
Canto 20
Canto 21
Canto 22
Canto 23
Canto 24
Canto 25
Canto 26
Canto 27
Canto 28
Canto 29
Canto 30
Canto 31
Canto 32
Canto 33
Paradiso
Canto 1
Canto 2
Canto 3
Canto 4
Canto 5
Canto 6
Canto 7
Canto 8
Canto 9
Canto 10
Canto 11
Canto 12
Canto 13
Canto 14
Canto 15
Canto 16
Canto 17
Canto 18
Canto 19
Canto 20
Canto 21
Canto 22
Canto 23
Canto 24
Canto 25
Canto 26
Canto 27
Canto 28
Canto 29
Canto 30
Canto 31
Canto 32
Canto 33
Für Ruth
Diese Übersetzung folgt dem Text von Federico Sanguineti, Dantis Alagherii Comedia, Florenz 2001, abgekürzt: Sanguineti; in einigen Fällen auch Giorgio Petrocchi, Dante Alighieri, La Commedia secondo l’antica vulgata, 4 Bände, Florenz 32003, abgekürzt: Petrocchi; ausschließlich für das Inferno: Giorgio Inglese, Dante Alighieri, Commedia. Inferno, Rom 2007, abgekürzt: Inglese.
Neuere Kommentare zur Commedia: Hermann Gmelin, Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie, Stuttgart 1949–1957, auch im Deutschen Taschenbuchverlag in 6 Bänden, abgekürzt: Gmelin; Natalino Sapegno, Dante Alighieri, La Divina Commedia, 3 Bände, Florenz 151982, abgekürzt: S; Tommaso Casini – Silvio Adrasto Barbi – Attilio Momigliano, Dante Alighieri, La Divina Commedia, ed. Francesco Mazzoni, Florenz 1979 (nur zu Inferno und Purgatorio), abgekürzt: M; Anna Maria Chiavacci Leonardi, Dante Alighieri, La Divina Commedia, 3 Bände, Mailand 1991–1997, abgekürzt: C; Georges Güntert – Michelangelo Picone (Hg.), Lectura Dantis Turicensis, 3 Bände, Florenz 2000ff.
Wichtige Übersetzungen mit Erklärungen: Georg Peter Landmann, Dante Alighieri, Die Divina Commedia in deutsche Prosa übersetzt und erläutert, Würzburg 1997, abgekürzt: L; Walter Naumann, Dante Alighieri, Die göttliche Komödie in Prosa übersetzt, Darmstadt 2003, abgekürzt: Naumann.
Zum Inferno: Robert M. Durling, Oxford 1996, abgekürzt: D; Giorgio Inglese, Rom 2007, zitiert als: Inglese; Hartmut Köhler, Dante Alighieri, La Commedia / Die göttliche Komödie, Inferno/Hölle, Stuttgart 2010, abgekürzt: K.
Dante findet sich zur Mitte des menschlichen Lebens in einer Krise. Er erwacht aus Umnachtung in einem wilden Wald. Er sieht einen erleuchteten Hügel und will ihn besteigen. Drei wilde Tiere stellen sich ihm in den Weg. Vergil tritt auf, ihm zu helfen. Er wird mit ihm eine andere Reise antreten.[1]
Vers 1 In der Mitte unseres Lebenswegs kam ich zu mir in einem dunklen Wald. Der rechte Weg war da verfehlt.[2]
4 Ach, wie schwer ist es, davon zu sprechen, wie er war, dieser Wald, so wild, so rauh und dicht! Wenn ich nur daran denke, kommt mir wieder die Angst. Bitter war er, fast wie der Tod. Aber um vom Guten zu sprechen, das ich da fand, rede ich von den anderen Dingen, die ich dort sah.
10 Ich kann nicht recht sagen, wie ich dort hineingeriet, so schlaftrunken war ich, als ich den wahren Weg verließ. Aber ich kam dann an den Fuß eines Hügels, wo das Tal endete, das mein Herz mit Angst durchbohrt hatte; ich blickte in die Höhe und sah den Bergrücken schon bekleidet mit den Strahlen des Planeten, der Menschen auf allen ihren Wegen richtig führt.[3] Schon war die Furcht, die im See meines Herzens geherrscht hatte – in der Nacht, die ich mit so viel Angst verbrachte –, ein wenig beruhigt. Und wie jemand, der mit keuchendem Atem dem Meer ans Ufer entronnen ist, sich zurückwendet auf das gefährliche Wasser und es anstarrt, so wandte sich mein Geist, immer noch auf der Flucht, zurück, die Enge zu betrachten, die noch kein Mensch lebend verließ. Dann, nachdem ich den müden Leib ein wenig ausgeruht hatte, nahm ich den Weg wieder auf über den verlassenen Abhang, wobei der ruhende Fuß stets der untere war.[4]
31 Da kam plötzlich fast am Fuß des Hangs ein Gepard mit geflecktem Fell, sehr schnell und wendig. Er wich nicht aus meinem Gesichtskreis, sondern verlegte mir den Weg; mehrmals war ich dabei umzukehren. Es war früh am Morgen, die Sonne ging auf mit jenen Sternen, die bei ihr waren, als die göttliche Liebe erstmals diese schönen Wesen bewegte.[5] Tagesstunde und Frühjahrsglanz gaben mir Zuversicht gegen das wilde Tier mit dem gefleckten Fell. Aber da sah ich einen Löwen kommen, und es erfaßte mich neue Angst. Er lief auf mich zu, mit erhobenem Haupt und wildem Hunger; es war, als zittere selbst die Luft vor ihm. Und dann kam eine Wölfin, mager, aber sichtlich voll Gier; schon vielen Menschen hat sie elendes Leben gebracht. Ihr Anblick versetzte mich in schwerste Angst, ich gab die Hoffnung auf, die Höhe zu erreichen. Wie einem Mann, der gern Gewinne macht, der aber jammert bei jedem Gedanken, wenn die Zeit der Verluste kommt und er in Trauer versinkt – so ging es mir, als das wilde, unersättliche Tier mir entgegenkam. Stück für Stück drängte es mich dorthin zurück, wo die Sonne schweigt.[6]
61 Ich stürzte nach unten ab, da tauchte vor meinen Augen ein Mann auf. Es war, als habe er durch langes Schweigen seine Stimme verloren. Als ich ihn erblickte in dieser großen Wüste, rief ich ihm zu: »Erbarme dich meiner, wer du auch seist, Schatten oder wirklicher Mensch!«[7] Er antwortete mir: »Kein Mensch! Mensch war ich einst. Meine Eltern waren Lombarden, beide stammten aus Mantua. Geboren wurde ich unter Julius, wenn auch spät. Und ich lebte in Rom unter dem gerechten Augustus, zur Zeit der falschen und lügnerischen Götter. Ich war Dichter, und ich sang von dem gerechten Sohn des Anchises, der aus Troja kam, damals, als das stolze Ilion niedergebrannt war. Aber du, warum kehrst du um zu so großer Qual? Warum steigst du nicht auf zu dem glückbringenden Berg, dem Ursprung und Grund jeder Freude?« »Dann bist du also Vergil und bist die Quelle, aus der ein so breiter Strom der Rede fließt?«[8] fragte ich zurück mit beschämter Stirn.
82 »O du, Ehre und Licht aller Dichter! Jetzt komme mir das lange Bemühen und die große Liebe zugute, mit denen ich dein Buch durchforschte. Du bist mein Meister und mein geistiger Vater! Du allein gabst mir den schönen Stil, der mir Ehre einbrachte. Da siehst du das Untier, wegen dem ich umkehrte. Du bist für Weisheit berühmt: Hilf mir vor ihm, denn es macht mir alle Adern erzittern.« Er sah mich weinen und antwortete: »Du solltest einen anderen Weg einschlagen, wenn du dieser Wildnis entkommen willst. Denn diese Bestie, wegen der du aufschreist, läßt niemanden auf seinem Weg passieren, sondern hindert, ja tötet ihn. Sie ist von schlimmer, böser Art; ihre Gier kommt nie zur Ruhe; nach dem Fressen hat sie mehr Hunger als zuvor. Viele Tiere gibt es, mit denen sie sich paart. In Zukunft werden es noch mehr sein – bis der Jagdhund kommt, der ihr den qualvollen Tod bringt. Er frißt weder Land noch Geld, sondern lebt von Weisheit, Liebe und Tugend; seine Herkunft liegt zwischen Filz und Filz.[9] Er bringt das Heil dem erniedrigten Italien, für das die Jungfrau Camilla, auch Euryalus, Turnus und Nisus starben. Er jagt das Untier von Stadt zu Stadt, bis er es in die Hölle zurückgeschafft hat, von wo der Satansneid es einst losließ.
112 Für dich ist es, denke ich, das beste, wenn du mir folgst; ich werde dein Führer sein. Ich bringe dich von hier fort – zuerst zu dem unzerstörbaren Ort, wo du Verzweiflungsschreie hörst und die endlosen Leiden der Geister siehst, wo jeder den zweiten Tod herausschreit. Aber danach siehst du auch die, die zuversichtlich sind im Feuer, weil sie hoffen, irgendwann zu den Seligen zu kommen. Willst du dann zu diesen aufsteigen, dann kommt eine Seele, die würdiger ist als ich. Ihr überlasse ich dich, wenn ich gehe. Denn der Kaiser, der dort oben herrscht, will nicht, daß jemand durch mich in seine Stadt komme, kannte ich doch nicht sein Gesetz. Überall herrscht er, aber dort residiert er; dort ist seine Stadt und sein hoher Thron – o glückselig, wen er dorthin erwählt!« Und ich zu ihm: »Dichter, ich flehe dich an bei dem Gott, den du nicht kanntest, führe du mich dorthin, wovon du eben sprachst, damit ich diesem Übel hier – und dem, was schlimmer ist – entkomme, daß ich das Tor des heiligen Petrus[10] schaue und die, die du als so traurig schilderst.«
Dann brach er auf, und ich hielt mich hinter ihm.
[1]
Diese Zusammenfassungen zu Beginn jedes Gesangs stammen nicht von Dante. Allerdings bringen schon alte Handschriften eine ähnliche Kurzfassung des stofflichen Inhalts des einzelnen canto.
[2]
Dante liebt Zeitangaben. Sie scheinen aber nicht immer im modernen Sinn exakt. Daher ist es umstritten, ob Dante die Jenseitsreise am Karfreitag, dem 25. März des Jahres 1300, angetreten hat. Dazu Inglese 51. – Wenn nach Psalm 89, 10 das Leben des Menschen siebzig Jahre währt, liegen Wegmitte und Dantes Lebenskrise in seinem 35. Lebensjahr. Das ergibt sich aber nicht aus dem Psalm, der von siebzig bis achtzig Jahren spricht, sondern aus Convivio 4, 24, 3.
Che in Vers 3 – ältere Ausgaben haben: ché, was die Handschriften nicht unterscheiden – hat die Bedeutung von: in cui, Inglese 39 mit Verweis auf Gerhard Rohlfs, Historische Grammatik der italienischen Sprache, Band 2, Bern 21972, S. 231 Nr. 484.
[3]
Der »Planet« ist die Sonne, ptolemäisch gedacht. – Das altrui in Vers 18 hat unbestimmten Sinn: Die Sonne leitet nicht ›andere‹, sondern alle Menschen, Inglese 40.
[4]
Der feststehende Fuß war immer der untere, das heißt: Es ging steil bergauf. Dazu und zum Übermaß an Allegorie vgl. Kurt Flasch, Philosophie hat Geschichte, Frankfurt/M. 2003, S. 148–150.
[5]
Die Sterne stehen günstig. Es ist ein Frühlingsmorgen. Die Sonne steht wie bei der Erschaffung der Sterne im Sternbild des Widders.
[6]
Es gibt übertriebenes, pedantisches Allegorisieren der Deuter (dazu Anm. 4), aber es gibt in der Commedia, besonders in deren erstem canto, von Dante intendierte Allegorien: der dunkle Wald, der sonnenbestrahlte Hügel, die drei wilden Tiere, die dem Verirrten den Aufstieg verwehren, der Weg – das sind Metaphern des falschen Lebens und der Schwierigkeit, zum richtigen Ziel zu finden. Der schnelle Gepard, sagen die alten Erklärer, sei die Wollust, der Löwe der Stolz und der Wolf die Habgier. Boccaccio schreibt, das sagten alle; er selbst teilte diese Deutung, Esposizioni zu canto 1, 2, vgl. Giovanni Boccaccio, Esposizioni sopra la Comedia di Dante, hg. Giorgio Padoan, Mailand 1965, S. 72–87, resümiert 87. Nachdem Napoleon nicht nur behauptet, sondern vorgeführt hat, daß die Politik das Schicksal ist, hat Foscolo die drei Tiere politisch gedeutet: Florenz als Gepard, der König von Frankreich als stolzer Löwe, die Kurie als gierige Wölfin. Die beiden Deutungen sind untereinander und mit dem Text Dantes vereinbar: Es geht in der Commedia um den richtigen persönlichen Weg Dantes und um die soziale und politische Erneuerung Italiens, des Reichs, der Kirche und der Menschheit. Etwas anders: C37–38.
[7]
Ombra, lat. umbra, Schatten, ist in der Aeneis des Vergil das Wort für die Seele des Verstorbenen. Vergil (70 bis 19 vor Christus) ist bei Dante ein konkreter Mensch, identifiziert nach Zeit (später als Caesar, 100 bis 44 vor Christus, und Zeitgenosse des Augustus), Geburtsort (Mantua) und Hauptwerk (Aeneis), zugleich ist er Einsicht, Poesie, Güte. Er hat alle Tugenden eines Heiden. Dazu hier Fußnote 8.
Was sind ›Schatten‹? Dazu meine Einladung, S. 118.
[8]
Vergil zieht die Erkennungsszene hin und umschreibt sein Werk indirekt: Der Sohn des Anchises ist Aeneas, von dem die Aeneis erzählt, daß er aus Troja entkam und Rom gründete.
Vergil ist nicht nur der für Dante wichtigste Dichter, sondern er ist Weiser, Lebensführer, die Stimme der Vernunft, die Dante durch Inferno und Purgatorio führt, dem aber der christliche Glaube fehlt. Er galt als Prophet, der ein neues Geschlecht kommen sah. Dante sah ihn als politischen Dichter, der von einem »gerechten« Herrscher singt. Vergil bringt konkreten politisch-ethischen Bezug in diesen canto; nach den traumhaft-visionären Versen, die vorausgingen, kommt die Gründung des Römischen Reichs in den Blick. Er nennt die Heroen der römischen Geschichte. Er sagt von dem Berg, den Dante besteigen soll, er sei die Glückseligkeit, Prinzip und Ursache aller Freude. Daß die Ethik zur Glückseligkeit führt, war Konsens der antiken Philosophen; Dantes Vergil folgt Aristoteles, vor allem dem ersten und zehnten Buch der Nikomachischen Ethik. Dante stellt in der Monarchia 3, 15 klar: Das irdische Paradies ist ein allegorischer Ausdruck für diese Seligkeit des Menschen als Menschen.
[9]
Absichtlich dunkle prophetische Stelle, die eine umfassend ethisch-politische Neuordnung verheißt. Vergil ist Prophet; er sagt einen Retter, einen Kaiser (?) voraus, der in Italien Gerechtigkeit und Frieden schafft. – Heinrich VII. wurde am 27. 11. 1308 gewählt. Die Hoffnung auf einen Friedenskaiser ist in der Commedia ein durchgängiges Motiv, es kehrt wieder z.B. Purg. 20, 10–15; Purg. 30, 40; Par. 27, 142–148.
105: »Zwischen Filz (feltro) und Filz (feltro)«: Vielleicht eine Anspielung auf das Land zwischen Feltre am Piave und Montefeltro in der Romagna. Ist der Herrscher dieses Gebiets, Cangrande, der »große Hund« von Verona, gemeint? Als Beauftragter eines neuen Kaisers?
Feltro, Filz könnte auch ein Wort sein für die dichte, kompakte Materie der Himmelsschalen. Dann würde es bedeuten: Bei einer günstigen Konstellation der Sterne kommt der ethisch-politische Erneuerer. Die Diskussion ist nicht abgeschlossen. Feltro könnte auch die Filzkappe bedeuten, vielleicht die der Zwillingssöhne Jupiters, Castor und Pollux, so schon in Richard Lansing, The Dante Encyclopedia, New York 2000, S. 374, dazu K 20–21, ferner ED 2, 833–835 a; C30 zu 105 und 39 und Inglese 47.
[10]
Der Eingang zum Purgatorium.
Dante zögert. Er zweifelt, ob er für die Jenseitswanderung geeignet ist. Vergil erklärt ihm Grund und Zweck der Reise. Drei heilige Frauen haben ihn gebeten, Dante zu führen. Dante faßt Mut.
1 Der Tag ging dahin, und die dunkle Nacht nahm alles, was auf Erden lebt, aus seinen Mühen. Nur ich, ich ganz allein, rüstete mich zu dem Kampf mit dem Weg und der Angst,[1] den meine Erinnerung nun treu darstellt.
7 O ihr Musen, o hoher Geist, jetzt helft mir![2] O Erinnerung, die aufschrieb, was ich sah, hier zeigt sich dein vornehmes Wesen!
10 Ich begann: »Dichter, du führst mich, doch prüfe meine Kraft, ob sie stark genug ist, eh du mir den schweren Weg zutraust. Du erzählst, daß der Vater des Silvius, noch im vergänglichen Leib, die unsterbliche Welt betrat und sich dort leibhaftig aufhielt. Der Feind alles Schlechten war ihm gnädig und dachte an die hohe Wirkung, die von ihm ausgehen sollte und um wen und was es ging. Das war angemessen und leuchtet jedem einsichtigen Menschen ein, schließlich war er im höchsten Himmel ausersehen zum Vater der heiligen Roma und ihres Reichs. Die Wahrheit zu sagen – seine Bestimmung war das römische Reich, dieser heilige Ort, an dem der Nachfolger des großen Petrus seinen Sitz hat.[3] Bei diesem Gang, für den du ihn rühmst, hörte er Dinge, die der Grund wurden für seinen Sieg und den Kaisermantel des Papstes.[4]
28 Später ging dorthin auch das Gefäß der Erwählung, um den Glauben zu stärken, mit dem der Weg der Erlösung beginnt. Aber ich, was soll ich dort? Oh, wer hat es erlaubt? Ich bin nicht Aeneas, ich bin nicht Paulus. Weder ich noch sonst jemand glaubt, ich sei dessen würdig. Ließe ich mich auf diesen Gang ein, wäre es eine verrückt-gewagte Fahrt. Du bist weise, du verstehst es besser, als ich es sage.« Und wie einer, der verzichtet auf das, was er wollte, und der aus neuen Gründen seinen Plan ändert und damit gar nicht erst anfängt, so tat ich an diesem nächtigen Abhang: Ich wurde nachdenklich und gab das ganze Unternehmen auf, zu dem ich anfangs schnell bereit war.
43 »Wenn ich dein Wort recht verstanden habe«, antwortete der Schatten des großgesinnten Mannes, »so hat Kleinmut dein Herz befallen. Oft versperrt er dem Menschen den Weg und bringt ihn ab von einem ehrenvollen Vorsatz. So scheut ein Tier, wenn ein Schatten es täuscht. Damit du diese Angst abstreifst, will ich dir sagen, warum ich gekommen bin und was ich erfuhr im ersten Augenblick, als du mir leid tatst. Ich gehöre zu denen, die im Zwischenzustand sind, dort sprach mich eine Frau an, so selig und schön, daß ich sie bat, mir zu befehlen. Ihre Augen leuchteten mehr als ein Stern, und sie sagte mir mit Engelsstimme süß und klar in ihrer Sprache:[5] ›O liebenswürdige mantuanische Seele, deren Ruhm in der Welt anhält und so lange bestehen wird wie die Welt – ein Mann, der mein Freund, aber kein Freund der Fortuna ist,[6] wird am einsamen Hang auf seinem Weg so sehr bedrängt, daß er aus Furcht umgekehrt ist. Nach dem, was ich im Himmel über ihn gehört habe, hat er sich schon so verirrt, daß ich fürchte, ich habe mich zu spät zu seiner Hilfe erhoben. Jetzt geh und hilf ihm mit deiner schönen Sprache und mit allem, was er zum Weiterkommen braucht, so daß ich darüber beruhigt sein kann. Ich bin Beatrice, die dich bittet zu gehen. Ich komme von dort, wohin ich zurückkehren will. Liebe ist es, die mich bewegt hat und mich reden macht.[7] Wenn ich wieder vor meinem Herrn sein werde, will ich dich gern und oft vor ihm loben.‹[8]
75 Dann schwieg sie, und ich begann: ›O Frau, du hast all die Tugend, durch die allein das Menschengeschlecht alles überragt, was unter dem kleinsten Himmelskreis vorkommt, mir ist dein Wunsch so willkommen, daß es mir zu langsam ginge, selbst wenn ich schon dabei wäre, ihn zu erfüllen. Mehr zu sagen ist nicht nötig. Aber sag mir den Grund, warum du nicht davor zurückscheust, in diese Enge herabzukommen aus dem weiten Raum, in den zurückzugehen du brennst?‹ ›Da du es so genau wissen willst‹, antwortete sie mir, ›will ich dir kurz sagen, warum ich keine Angst habe, hier hereinzukommen. Fürchten muß man nur, was mächtig genug ist, einem zu schaden. Alles andere nicht, weil es keine Angst einjagen kann. Gott – ihm sei Dank – hat mich in einen Zustand gesetzt, in dem euer Elend mich nicht angreift; die Flamme dieses Brands springt mich nicht an. Aber im Himmel ist eine edle Frau, ihr mißfällt die Verhinderung, zu der ich dich schicke, so sehr, daß sie das harte Himmelsurteil darüber bricht.[9] Diese Frau bat Lucia zu sich und sagte: ›Jetzt hat dein Verehrer dich nötig, ich empfehle ihn in deine Hände.‹ Lucia, allem Schrecklichen feind, brach auf zu dem Ort, wo ich neben der alttestamentlichen Rachel saß. Sie sagte: ›Beatrice, du wahrer Lobpreis Gottes, warum eilst du nicht dem Mann zu Hilfe, der dich so liebte, daß er durch dich über das gewöhnliche Volk hinauswuchs? Hörst du denn nicht sein verängstigtes Weinen, siehst du nicht, wie der Tod ihn angreift an dem Fluß, dessen kein Meer Herr wird?‹[10]
109 Niemand in der Welt hat je so schnell einen Vorteil wahrgenommen oder Schaden abgewendet, wie ich hier herunterkam von meinem seligen Sitz. Ich kam, kaum hatte ich diese Worte gehört, im Vertrauen auf dein würdiges Reden, das dich selbst ehrt und die, die es hörten.‹ Nachdem sie mir das gesagt hatte, wandte sie ihre strahlenden Augen weinend ab. Das bewegte mich, noch schneller zu kommen. Und ich kam zu dir, wie sie es wollte; ich befreite dich von dem Untier, das dir den kurzen Weg zum schönen Berg versperrte. Also: Was ist nun? Warum, warum nur stehst du still? Warum behältst du so viel Feigheit im Herzen? Warum fehlt dir Wagemut und Freiheit, wenn drei so gesegnete Frauen sich am himmlischen Hof um dich kümmern und meine Rede dir ein so hohes Gut verspricht?«
127 Wie kleine Blumen, die der Nachtfrost beugt und verschließt, sich alle sogleich geöffnet aufrichten auf ihrem Stengel, wenn die Sonne sie anstrahlt, so geschah mir mit meiner matten Kraft, so viel guter Mut strömte mir ins Herz, daß ich wie ein freier Mensch anfing: »Oh, wie voller Mitleid ist die Frau, die mir zu Hilfe kam! Und wie edel bist du, daß du so schnell den wahren Worten gehorcht hast, die sie dir bot! Mit deinen Worten hast du so sehr mein Herz mit dem Willen zum Aufbruch erfüllt, daß ich zurückkomme auf meinen ersten Entschluß. Geh nun los, jetzt ist ein einziger Wille in uns beiden: Du kennst den Weg, du bist der Herr, und du der Meister.« So sagte ich ihm; er brach auf, und ich betrat den steilen, wilden Weg.
[1]
Pietate in Vers 5 heißt: Angst, dazu Rohlfs Band 2, 342 b und Inglese 52.
[2]
Vers 7: O Muse, o alto ingegno, or m’aiutate. – ingegno ist nicht Dantes eigene Begabung, sondern der ›hohe Geist‹, ein anderes Wort für die Musen, die Dante als selbständige Geistwesen denkt, in der Art der kosmologischen Intelligenzen, ähnlich wie Fortuna.
[3]
Ich übersetze den Text nach Inglese 53.
[4]
Dante, einsam nachdenkend in der Nacht, legt Vergil seine Zweifel vor, ob er der Jenseitsreise würdig sei. Die berühmten anderen Fälle einer Jenseitswanderung können seine Bedenken nicht zerstreuen; ihre Lage war anders. – Dante erwähnt nicht die volkstümlichen Legenden, sondern den bei Vergil, Aen. 6, beschriebenen Abstieg des Aeneas, des Vaters von Silvius, in die Unterwelt, bei dem ihm seine Sendung zur Gründung Roms erklärt wird, und die Entrückung des Apostels Paulus (das »Gefäß der Erwählung«, nach Apg. 9, 15) in den dritten Himmel (2 Kor. 12, 2–4). – Dante spielt auf die legendäre Schenkung Konstantins an. Dort war geregelt, daß der Papst die kaiserlichen Gewänder tragen darf. Dazu gehören rote Stiefel aus Kalbsleder, wie sie Papst Benedikt XVI. noch trug.
[5]
Boccaccio interpretierte Vers 57, in sua favella, als florentinischen Dialekt. Dagegen argumentlos C57 zu 57, als dürfe ein Himmelswesen nicht Dialekt sprechen.
[6]
Vers 61: amico mio, e non de la ventura übersetze ich: »kein Freund der Fortuna«, im Blick auf die bei C57 und Inglese 55 belegten Texte.
[7]
Beatrice, hier als mächtige himmlische Erscheinung der Geliebten, hat für Dante den Weg vom Himmel zur Hölle gemacht, um Vergil zu bewegen.
[8]
Von diesem Lob im Himmel hat Vergil nichts; er bleibt im Inferno. Liebenswürdige Inkonsequenz der Himmelsbewohnerin, die es – neben anderem – ausschließt, Beatrice mit der Theologie zu identifizieren, was manche Ausleger getan haben.
[9]
Daß Marias Mitleid die göttlichen Beschlüsse bricht, ist eine schöne, theologisch kaum korrekte Vorstellung Dantes, die er in Par. 20, 94 dahin abmildert, daß die göttliche Gerechtigkeit besiegt werden will. Ganz gegen die harte Rechtsmetaphysik, die Hugo Friedrich 1942 bei Dante zu finden glaubte. Die Szene ist in Sprache und Inhalt eine Transformation der Liebeskonzeption des Dolce Stil Novo, z.B. daß Maria gentile heißt, daß Beatrice als ›Herrin‹ befiehlt, die Stilhöhe, in der Vergil unterwürfig-rhetorisch antwortet, und daß mehrere Damen um Dante bemüht sind, der ihr fedele ist.
[10]
Vielleicht Anspielung an den Jordan, der in kein Meer mündet. Aber sollen wir uns Dante am Jordan vorstellen? Dazu Inglese 58. Das Textproblem von Vers 108 verschwindet nicht, wenn wir mit Sanguineti 14 und Inglese 58 onde lesen, wo Petrocchi ove schrieb.
Das Höllentor. Die Vorhölle der Gleichgültigen. Die Wanderer kommen ans Ufer des Acheron, wo sich die Sünder versammeln, die der Dämon Charon über den Fluß bringt.
1 »Durch mich geht es zur Stadt der Leiden,
Durch mich geht es zum ewigen Schmerz,
Durch mich geht es zu verlorenen Menschen.
Gerechtigkeit bewog meinen hohen Schöpfer;
göttliche Macht erschuf mich,
höchste Weisheit und erste Liebe.
Vor mir wurde nur Ewig-Dauerndes erschaffen,
auch ich daure ewig.
Die ihr hereinkommt: Laßt alle Hoffnung fahren!«[1]
10 Diese Worte sah ich über dem Tor geschrieben in schwarzer Farbe. Deshalb sagte ich: »Meister, ihr Sinn ist mir hart.« Und er zu mir, wie einer, der begriffen hat: »Hier gilt kein Bedenken. Jeden Kleinmut mußt du ertöten. Wir sind dort angekommen, wovon ich dir sagte, du wirst Leute leiden sehen, die das Gut des Intellekts verloren haben.«[2] Dann legte er heiteren Gesichts seine Hand auf meine, ich schöpfte Zuversicht, und er führte mich hinein zu den unterirdisch-geheimen Dingen. Hier ertönten Seufzer, Weinen und laute Schreie durch die sternenlose Luft; ich fing an zu weinen. Verschiedene Sprachen, schreckliche Laute, Schmerzensschreie, Wutausbrüche, schrille und erstickte Rufe und dazu das Aufklatschen schlagender Hände machten Lärm, der in der zeitlos finstern Luft wie Sand im Wirbelsturm ständig kreiste.
31 Und ich, den Kopf benommen vom Zweifel,[3] fragte: »Meister, was ist das, was ich höre? Und was sind das für Leute, die der Schmerz so überwältigt?« Darauf er zu mir: »So elend geht es den schlechten Seelen derer, die ohne Schande lebten und ohne Lob.[4] Unter sie mischt sich der schlechte Chor von Engeln, die gegen Gott weder aufsässig waren noch treu, sondern abseits standen. Die Himmel werfen sie hinaus, denn sie wären sonst weniger schön; und der Höllenschlund nimmt sie nicht auf, sonst könnten die Schuldigen sich das noch zur Ehre anrechnen.« Und ich: »Was ist so hart für sie, daß sie so laut jammern?« Er antwortete: »Ich will es dir ganz kurz erklären: Sie können nicht einmal auf den Tod hoffen, und ihr blindes Leben ist so niedrig, daß sie jedes andre Los beneiden. Die Welt gönnt ihnen keinen Nachruhm, von Mitleid und Gerechtigkeit sind sie verschmäht. Reden wir nicht von ihnen. Schau nur und geh weiter.«
52 Ich schaute hin und sah eine Fahne, die so rasch im Kreis lief, daß ihr sichtlich kein Halten gegönnt war. Hinter ihr kam ein so langer Zug von Leuten – nie hätte ich geglaubt, daß der Tod schon so viele hingerafft hätte. Ich erkannte den einen und den anderen darunter; da sah und erkannte ich den Schatten des Mannes, der aus Kleinmut den großen Verzicht tat.[5] Sofort verstand ich und war gewiß: Das war die Gruppe der Schlechten, die sowohl Gott mißfallen wie seinen Feinden. Diese Jammerfiguren haben nie gelebt; sie waren nackt und ganz zerstochen von Mücken und Wespen, die ihnen folgten. Ihr Gesicht war überströmt von Blut, vermischt mit Tränen. Es ernährte an ihren Füßen ekelhaftes Gewürm.
70 Dann blickte ich mich weiter um und sah Leute am Ufer eines großen Flusses. Daher sagte ich: »Meister, darf ich wissen, welche Leute das sind? Und was ist mit ihnen los, daß sie es mit dem Übersetzen offenbar arg eilig haben, wie ich bei dem fahlen Licht erkenne?« Und er zu mir: »Diese Dinge durchschaust du, wenn wir unsere Schritte anhalten am düsteren Fluß Acheron.« Da senkte ich verschämt die Augen. Ich fürchtete, mein Reden könnte ihm lästig werden, und bis zum Fluß hielt ich mich mit Sprechen zurück.
82 Doch da kam uns auf einem Schiff ein Greis mit schlohweißem Haar entgegen und schrie: »Weh euch, ihr verkommenen Seelen! Hofft nicht, je den Himmel zu sehen. Ich komme, um euch ans andere Ufer zu bringen, in die ewige Finsternis, in Feuer und Eis. Und du dort drüben, lebende Seele, heb dich weg von diesen hier, die tot sind.« Aber dann, als er sah, daß ich nicht wegging, rief er: »Du kommst auf einem andren Weg, aus anderen Häfen zum Ufer, nicht hier. Ein leichteres Boot soll dich tragen.« Und mein Führer zu ihm: »Charon, quäl dich nicht. Es wird dort so gewollt, wo man kann, was man will, und frage nicht weiter.«[6] Darauf kamen die behaarten Wangen des Fährmanns, der um die Augen Feuerringe hatte, auf dem trüben Gewässer zur Ruhe. Aber die anderen Seelen, die matt und nackt da warteten, erbleichten und klapperten mit den Zähnen, kaum hatten sie die rohen Worte gehört. Sie verfluchten Gott und ihre Eltern, das Menschengeschlecht, den Ort und die Zeit, den Samen ihrer Erzeugung und ihre Geburt. Dann zogen sie sich alle laut weinend zurück an das böse Ufer, das jeden erwartet, der Gott nicht fürchtet. Charon, der Dämon mit glühenden Augen, treibt sie mit Gesten ins Boot und schlägt mit dem Ruder nach jedem, der sich’s bequem macht.[7]
112 Wie im Herbst sich die Blätter lösen, eins nach dem andern, bis der Zweig sein ganzes Kleid dem Boden zurückgibt,[8] so stürzt die böse Brut Adams sich vom Ufer, einer nach dem andern – auf bloßen Wink hin wie ein Jagdvogel beim Rückruf. Dann gleiten sie hinüber auf der dunklen Flut, und bevor sie drüben ausgestiegen sind, sammelt sich diesseits eine neue Schar. »Mein Sohn«, sagte der freundliche Meister, »alle, die im Zorn Gottes sterben, kommen hier aus allen Ländern zusammen. Sie zeigen Eifer, den Fluß zu überqueren, denn die göttliche Gerechtigkeit spornt sie an, so daß ihre Angst sich wandelt zu Begierde.[9] Hier setzt nie eine gute Seele über; wenn also Charon sich über dich beschwert, dann verstehst du jetzt, was seine Rede meint.«
130 Kaum hatte er zu Ende geredet, da erbebte die dunkle Landschaft so stark, daß mein Geist sich heute noch vor Schreck in Schweiß badet. Die tränennasse Erde entfachte Sturm; blutrotes Licht blitzte auf und raubte mir das Bewußtsein. Ich stürzte hin wie ein Mensch, den der Schlaf packt.
[1]
Wuchtiger Prolog am Höllentor. Eindrucksvoll durch die gleichen Satzanfänge der ersten drei Verse. – Dante mildert kaum das Erschrecken, indem er die Hölle das Werk nicht nur der Allmacht, sondern der höchsten Weisheit und Liebe nennt, also der Trinität.
Die Hölle gehört zum ersten Schöpfungsplan; sie ist ewig in dem Sinn, daß sie nach ihrer Erschaffung immer dauern wird. Vor ihr wurde nur Immerdauerndes erschaffen: Die Engel, die Sternschalen und die Urmaterie, materia prima. So lehrten die Scholastiker seit Petrus Lombardus. Zur Lehre von den quatuor coaeva in Sentenzenkommentaren vgl. Thomas von Aquino, in 2 sent. 12, 1, 5.
[2]
Das Gut des Intellekts: was der Intellekt als sein Gutes erkennt, die Glückseligkeit, aristotelische Lehre.
[3]
Vers 31 bietet Textprobleme: Ist es orror oder error, der den Kopf einschnürt? C 83 zu 31 wählt orror, L 11: Grausen; Naumann 20: von Grausen umwunden … Sanguineti 17 hat error, ebenso Inglese 63. Ich folge ihnen.
[4]
Dante/Vergil spricht über die Neutralen eher verächtlich als mitleidend, Sapegno bei C 84 zu 35. Sie sind keines Blickes wert.
[5]
Berühmt gewordene Formel in Vers 60: il gran rifiuto. Dante nennt keinen Namen. Mittelalterliche und neue Erklärer vermuten, er habe an Papst Coelestin V. gedacht, der, statt die Christenheit zu reformieren, sich nur um sein Seelenheil kümmerte und sich nach fünf Monaten zurückzog, was die Politik der Anjou begünstigte und den schlimmen Bonifaz VIII. an die Macht brachte. Dazu C 99 und Inglese 65.
[6]
Der Ausspruch Vergils in Vers 95/96 ist in Italien zum Sprichwort geworden, oft in ironischer Verwendung gegen den Übermut der Ämter: vuolsi così colà dove si puote
ciò che si vuole, e più non dimandare.
[7]
Das qualunque s’adagia in Vers 111 ist verschieden ausgelegt worden. Die meisten Erklärer verstehen es in dem Sinne von ›wer zögert‹ oder ›wer säumt‹, doch anders C 95 und Inglese 67 zur Stelle, denen ich folge.
[8]
In Vers 114 lese ich mit Inglese 68 rende, nicht mit Petrocchi und C 95 vede.
[9]
Wollen die Sünder ihre Bestrafung? Hat die göttliche Allmacht ihren Willen ganz ausgelöscht, wie Inglese 68 meint? Dann würde Gott das Beste, was er im Menschen erschaffen hat, vernichten, nämlich den freien Willen. Farinata im 10. canto beweist, daß Verdammte ihre Strafe für gleichgültig erklären können. In den Versen 103 bis 105 zeigen sie sich gar nicht willenlos. Sie sind nicht Marionetten der Weltregierung, sondern verfluchen Gott und die Welt. Sie protestieren gegen den Richtspruch Gottes. Nach Vers 26 hört Dante auch Wutausbrüche. Es geht in Vers 126 um Affekte (von Angst zu Begierde), nicht um den Willen. Würden sie ihres Willens beraubt, wären die Höllenbewohner keine Seelen mehr. Ferner: canto 3 handelt von den Unentschiedenen, die von ihrer Intelligenz und ihrem Willen keinen Gebrauch gemacht haben.
Dante erwacht im Limbus, dem ersten Kreis der Hölle für ungetaufte Kinder und ungetaufte Gerechte. Sie treffen die großen Dichter, sie betreten die vornehme Burg der antiken und der arabischen Großen.
1 Ein laut krachender Donnerschlag zerriß den tiefen Schlaf in meinem Kopf; ich fuhr auf wie ein Mensch, der mit Gewalt geweckt wird. Als meine Augen entspannt waren, blickte ich umher, richtete mich auf und sah genau hin, um den Ort zu erkennen, wo ich wäre. Wahr ist: Ich fand mich am Rand des Abgrunds zum Tal der Leiden, das widerhallt von endlosem Schmerzensschrei. Dunkel war es, tief und neblig. Sosehr ich mit dem Blick zum Boden durchdringen wollte, ich konnte dort nichts unterscheiden. »Laß uns jetzt hier hinabsteigen in die blinde Welt«, sagte der Dichter leichenblaß, »ich als erster, du als zweiter.« Und ich, dem seine Gesichtsfarbe aufgefallen war, sagte: »Wie soll ich gehen, wenn du schauderst, du stärkst mich doch sonst immer, wenn ich Angst habe?« Und er zu mir: »Das Leiden der Leute dort unten malt sich in meinem Gesicht als Mitleid, und du nimmst das als Furcht wahr. Gehen wir! Der lange Weg drängt uns.«
23 So brach er auf und ließ mich eintreten in den ersten Kreis, der den Abgrund umrundet.[1] Hier ertönte – soweit etwas zu hören war – keine Klage, nur Seufzer, von denen die ewige Luft erzitterte. Das kam von dem Leid ohne Torturen, das die Scharen dort ertrugen; es waren große Scharen von Kindern, Frauen und Männern. Der gute Meister zu mir: »Du fragst nicht, was das für Geister sind, die du siehst? Nun möchte ich aber, daß du, bevor du weitergehst, weißt, daß sie nicht sündigten. Sie haben Verdienste, aber das reicht nicht aus, denn sie haben nicht die Taufe empfangen, die das Tor zu dem Glauben ist, den du glaubst. Sie haben gelebt, bevor das Christentum kam, daher haben sie Gott nicht richtig angebetet. Und zu diesen Leuten gehöre auch ich. Durch Mängel dieser Art, nicht durch andere Schuld sind wir verloren. Uns quält nur dies: Wir leben ohne Hoffnung, aber immer in Sehnsucht.« Großer Schmerz erfaßte mein Herz, als ich das verstand, denn ich erkannte Menschen von hohem Wert, die in diesem Vorhof wie auf einer Waage im Gleichgewicht schwebten. »Sag mir, mein Meister, sag mir, Herr«, begann ich, weil ich Gewißheit haben wollte über den Glauben, der jedem Irrtum überlegen ist: »Kam hier je einer heraus, durch eigenes Verdienst oder das eines anderen? Und wurde er dann selig?«
51 Und der Mann, der meine verdeckte Rede verstand, antwortete: »Ich war neu hier in diesem Zustand, als ich einen Mächtigen kommen sah, gekrönt mit dem Siegeszeichen. Er zog hier den Schatten unseres ersten Vaters heraus, dann den Schatten Abels, seines Sohnes, und den von Noah und von Moses, des Gesetzgebers, des Gehorsamen, dann den Patriarchen Abraham und den König David, Jakob mit seinem Vater Isaak, mit seinen Kindern und mit Rachel, für die er so viel getan hatte, und viele andere, und er machte sie selig. Und ich möchte, daß du weißt: Vor ihnen ist kein menschlicher Geist gerettet worden.«
64 Während er sprach, hörten wir nicht auf zu gehen, sondern durchschritten immer weiter diesen Wald, ich meine den Wald von dichtgedrängten Geistern. Wir waren seit meinem Schlaf noch nicht weit gegangen, da sah ich ein Feuer, das als Halbkugel über die Finsternis siegte. Wir waren noch ein Stück weit entfernt, aber schon konnte ich einigermaßen erkennen, daß es ehrwürdige Menschen waren, die diesen Ort einnahmen. »O du, du ehrst doch Wissenschaft wie die Kunst – wer sind die, die solche Ehre genießen, die sie abhebt von den anderen?« Und er zu mir: »Die Ehre, mit der ihr Name oben in deinem Leben genannt wird, erwirbt ihnen die Gnade im Himmel, und der hebt sie so heraus.« Inzwischen drang eine Stimme an mein Ohr: »Ehrt den größten Dichter! Sein Schatten, der fortgegangen war, kommt zurück.« Die Stimme war verhallt, und Stille trat ein, da sah ich vier große Schatten auf uns zukommen; ihr Gesichtsausdruck war weder traurig noch heiter. Der gute Meister begann zu erklären: »Sieh den dort mit dem Schwert in der Hand, der den dreien vorangeht als ihr Fürst – das ist Homer, der erhabene Dichter. Der zweite, der kommt, ist der Satiriker Horaz, Ovid ist der dritte und der letzte Lukan. Weil jeder von ihnen mit mir den Titel ›Dichter‹ teilt, den soeben die einzelne Stimme verlauten ließ, erweisen sie mir Ehre, und damit tun sie recht.«
94 So sah ich vereint die schöne Schule jenes Herrn des höchsten Gesangs, der wie ein Adler über den anderen fliegt. Nachdem sie eine Weile miteinander gesprochen hatten, wandten sie sich zu mir mit Gesten der Begrüßung; schon darüber lächelte mein Meister. Aber sie erwiesen mir noch mehr Ehre, indem sie mich in ihre Schar aufnahmen, so daß ich der sechste wurde unter solchen Weisen. Dann gingen wir dahin bis zu dem Lichtkegel – unter Gesprächen, über die das Schweigen ebenso schön ist, wie das Sprechen war, als es stattfand. Wir kamen an den Fuß einer vornehmen Burg. Sie war siebenfach umringt von hohen Mauern, und ringsum beschützte sie ein schöner kleiner Fluß. Diesen überschritten wir wie feste Erde; durch sieben Tore trat ich ein mit diesen Weisen; wir erreichten eine Wiese mit frischem Grün.[2] Menschen blickten dort mit langsamen und ernsten Augen, von großer Würde in ihrer äußeren Erscheinung; sie sprachen wenig, mit sanfter Stimme.
115 Wir zogen dann aus der Ecke zu einer offenen, lichtreichen und erhöhten Stelle, so daß man alle zusammen sehen konnte. Dort, gerade gegenüber auf dem leuchtendsten Grün, wurden mir die großen Geister gezeigt, die gesehen zu haben mich heute selbst erhebt. Ich sah Elektra mit vielen Begleitern, darunter Hektor und Aeneas, dann Caesar in Waffen mit seinen Falkenaugen. Ich sah Camilla und Penthesileia. Auf der anderen Seite sah ich den König Latinus, der bei seiner Tochter Lavinia saß. Ich sah jenen Brutus, der Tarquinius verjagte, Lukrezia, Julia, Marzia und Cornelia, und allein, abseits, sah ich Saladin.
130 Als ich dann die Brauen ein wenig hob, sah ich den Meister derer, die wissen, in der Familie der Philosophen sitzen.[3] Alle bewundern ihn, alle erweisen ihm Ehre. Hier sah ich Sokrates und Platon, die ihm näherstehen als die andren, Demokrit, der die Welt auf Zufall setzt, Diogenes, Anaxagoras und Thales, Empedokles, Heraklit und Zenon; ich sah den tüchtigen Erforscher der Heilpflanzen, ich meine Dioskorides,[4] und ich sah Orpheus, Cicero, Linus und den Moralphilosophen Seneca, den Geometer Euklid und Ptolemäus, Hippokrates, Avicenna und Galen, Averroes, der den großen Kommentar schuf.[5] Ich kann nicht von allen in Fülle berichten, denn mein großes Thema jagt mich so sehr voran, daß das Sagen oft zurückbleibt hinter der Sache.
148 Von der Sechsergruppe entfernen sich zwei: Mein weiser Führer leitet mich auf einen anderen Weg, heraus aus der Ruhe, hinein in die Luft, die zittert. Ich komme dorthin, wo es nichts gibt, das leuchtet.
[1]
Dante betritt den ersten Kreis der Hölle, den sog. Limbus, den Kreis ohne Glück und ohne Qualen, aber in Gottesferne. Augustin hätte das nach 397 nie mehr zugelassen, während er 395 noch großzügiger zu ungetauften Kindern war. Das Konzil von Karthago 418 hat es ausdrücklich verworfen; die Vorstellung des Limbus, wenigstens für die ungetauften Kinder (längst nicht für alle guten Nicht-Christen), war eine mittelalterliche Korrektur an Augustin, die Petrus Lombardus ermöglichte, 2 Sent 33, 2, und die Thomas von Aquino, De malo 5, 1–5, fixierte. Die Zulassung edler Heiden, gar eines Muslims wie Saladin, war ein radikaler weiterer Schritt.
Dante dachte die Hölle als einen Krater, der an der Erdoberfläche breit ist und sich zum Erdmittelpunkt verengt. An steilen Wänden führen rundum Terrassen, ähnlich wie in einem Theater die Ränge, zwischen denen für Vergil und Dante der Übergang möglich, wenn auch schwierig ist.
[2]
Die Vorstellung, Dante sei durch alle sieben Tore in die Burg gekommen, wirkt komisch, aber es überwiegt wohl die Idee, durch die sieben freien Künste betrete man die Burg der Weisheit. Von ihnen darf man keine auslassen.
[3]
Aristoteles, dessen Name nicht genannt wird, ist der Philosoph seit der Mitte des 13. Jahrhunderts. Dazu: Ferdinand van Steenberghen, Aristotle in the West, Louvain 21970; Kurt Flasch, Das philosophische Denken im Mittelalter, Stuttgart 22000.
[4]
Er hat im ersten Jahrhundert ein Pflanzenbuch verfaßt: De materia medica.
[5]
Vgl. Cesare Vasoli, s.v. ›Averroes‹ in ED 1, 473–481.
Am Eingang zum zweiten Kreis sitzt Minos, der Höllenrichter. Innen treibt der Sturmwind die Wollüstigen umher. Francesca da Rimini erzählt die Geschichte ihrer Liebe und ihres Todes.
1 So stieg ich vom ersten Kreis hinunter zum zweiten, der weniger Raum umfaßt und desto mehr Schmerz, der Wehgeschrei erzeugt. Grauenhaft steht da Minos und knurrt; er prüft die Sünden beim Eintritt, urteilt und weist den Platz zu, je nachdem, wie er sich ringelt. Damit will ich sagen: Tritt die mißratene Seele vor ihn, beichtet sie alles, und dieser Kenner der Sünden sieht, an welche Stelle der Hölle sie gehört. Er umschlingt sie so oft mit dem Schwanz, wie viele Stufen sie nach unten soll. Immer stehen viele vor ihm; sie treten der Reihe nach vor zum Gericht, sie gestehen, sie hören zu, und schon sind sie nach unten gestürzt.
16 »O du da, du kommst in dieses Haus der Schmerzen«, rief Minos mir zu, als er mich sah, und unterbrach sein hohes Amt: »Paß auf, wie du hereinkommst und wem du dich anvertraust; laß dich nicht täuschen, weil der Eingang so breit ist.« Und mein Führer zu ihm: »Warum brüllst du nur so? Hindere nicht seinen vorbestimmten Gang. Es wird dort so gewollt, wo man kann, was man will, und frage nicht weiter!«[1]
25 Jetzt dringen Schmerzenslaute an mein Ohr; jetzt bin ich da, wo großes Weinen mich erschüttert. Ich kam an den Ort, wo alles Licht verstummt, wo es dumpf brüllt wie das Meer, das widerstreitende Stürme zerreißen. Der höllische Orkan, der nie zur Ruhe kommt, reißt die Geister gewaltsam mit; er wirbelt sie herum, stößt sie voran und quält sie. Kommen sie an bei dem Felssturz, dann beginnen Geschrei, Geheul und Gejammer; hier verfluchen sie die göttliche Macht.[2] Ich begriff: Zu dieser Marter sind die fleischlichen Sünder verdammt, die ihre Vernunft der Gier unterwerfen.[3] Wie Stare in der kalten Jahreszeit, dahingetragen von ihren Flügeln in breitem, dichtem Zug, so treibt der Sturm die schlechten Seelen hierhin, dorthin, nach unten, nach oben; keinerlei Hoffnung gibt Trost, keine Hoffnung auf Ruhe, nicht einmal auf gemilderte Strafe. Wie Kraniche dahinziehen, in der Luft eine lange Reihe bilden und ihr Klagelied singen – so sah ich Schatten herankommen, die ihr Elend beweinten, von der Sturmgewalt getragen. Darum fragte ich: »Meister, wer sind die Leute, die der schwarze Sturm so quält?« Darauf antwortete er mir: »Die erste, von denen du mehr wissen willst, war Kaiserin über Völker verschiedener Sprachen. Dem Laster der Wollust war sie so zügellos ergeben, daß sie in ihrem Gesetz alles erlaubte, was beliebte, um den Tadel zu beenden, der ihr galt. Es ist Semiramis, von der man liest, daß sie Ninos nachfolgte, dessen Frau sie vorher war. Ihr gehörte das Land, das der Sultan regiert.[4]
61 Die nächste ist die Frau, die sich aus Liebe umbrachte und die der Asche des Sichaeus die Treue brach.[5] Dann kommt die lüsterne Kleopatra. Du siehst Helena, wegen der so böse Zeiten kamen, und du siehst den großen Achill, der am Ende aus Liebe kämpfte und verlor. Du siehst Paris, Tristan.« Und mehr als tausend andere Schatten zeigte er mir, denen Liebe den Tod brachte; er wies mit dem Finger auf sie und nannte mir ihren Namen.
70 Mitleid überkam mich, als ich meinen Lehrer die Frauen des Altertums und die Ritter nennen hörte; ich geriet wie außer mir. Ich begann: »Dichter, gerne spräch’ ich mit den beiden, die dort zusammen kommen und dem Wind so leicht sind.« Und er zu mir: »Sieh zu, gleich sind sie näher bei uns. Dann bitte du sie bei der Liebe, die sie leitet. Und sie werden kommen.« Sobald der Wind sie zu uns trieb, hob ich die Stimme: »O ihr gequälten Seelen, kommt zu uns zu reden, wenn’s ein anderer nicht verbietet.«
82 Wie Tauben, von Sehnsucht gerufen, mit erhobenen Flügeln sanft zum süßen Nest gleiten, getragen vom eigenen Trieb, so lösten sie sich von der Schar der Dido und kamen auf uns zu durch die arge Luft, so stark war mein liebevoller Ruf. »O du, ein lebendiger Mensch, freundlich und gut. Du besuchst uns in dieser purpurschwarzen Luft, uns, die wir die Welt blutrot färbten – wäre der König des Universums unser Freund, wir bäten ihn für dich um Frieden, weil du Mitleid hast mit unsrer schweren Qual. Wovon ihr hören und sprechen wollt, davon möchten wir hören und reden mit euch, solange der Sturm, wie er’s jetzt tut, schweigt.
97 Die Stadt, in der ich geboren bin, liegt am Strand, wohin der Po sich senkt, um Frieden zu finden mit seinem Gefolge.
100 Amor, der leicht ein edles Herz erfaßt, ergriff den Mann hier zu dem schönen Leib, der mir geraubt ward – wie, das verletzt mich immer noch.
103 Amor, der keinem Geliebten das Lieben erläßt, ergriff mich zu seiner Schönheit so stark, daß er mich, wie du siehst, noch heute nicht verläßt.[6]
106 Amor führte uns zum gemeinsamen Tod. Der Höllenkreis Kains erwartet den, der unser Leben auslöschte.«[7]
108 Dies waren die Worte, die von ihnen zu uns drangen.[8]
109 Ich hörte diese tiefverletzten Seelen und senkte den Blick. Lange neigte ich den Kopf, bis der Dichter mich fragte: »Was grübelst du?« Als ich wieder Worte fand, begann ich: »O weh! Wieviel süße Gedanken, wieviel Sehnsucht führte die beiden zu diesem leidvollen Ende!« Dann wandte ich mich an sie und begann: »Francesca, deine Qualen machen mich traurig. Ich leide sie mit bis zum Weinen. Aber sag mir: Damals, zur Zeit der süßen Seufzer, woran und wie gewährte euch Amor, euer noch unsicheres Sehnen zu erkennen?«[9] Und sie zu mir: »Es gibt kein größeres Elend, als sich im Elend der glücklichen Zeit zu erinnern. Dein Lehrer weiß das. Aber wenn du mit solcher Leidenschaft die erste Wurzel unsrer Liebe wissen willst, erzähl ich’s dir, wie einer, der weint und doch redet.
127 Eines Tages lasen wir zum Vergnügen von Lancelot, wie Amor ihn bedrängte.[10] Allein waren wir und ohne jeden Argwohn. Mehrmals ließ, was wir da lasen, uns die Augen erheben; wir sahen uns ins bleiche Gesicht, aber dann kam eine einzige Stelle, die uns besiegte. Als wir lasen, wie der begehrte lachende Mund von einem solchen Liebhaber geküßt wurde, da küßte dieser Mann, der niemals von mir getrennt wird, mich auf den Mund, zitternd am ganzen Leib.
137 Den Kuppler Galehaut spielten das Buch und der es schrieb. An diesem Tag lasen wir nicht weiter.«
139 Während der eine Geist dies sagte, weinte der andre so heftig, daß vor Mitleid mir die Sinne schwanden, als ob ich stürbe.
142 Ich stürzte hin, wie ein toter Körper fällt.
[1]
Vergil wiederholt die Wendung, die er gegenüber Charon gebraucht hatte, Inf. 3, 95–96.
[2]
In Vers 34 ist das Wort ruina nicht eindeutig, bezieht sich aber wohl auf eine geographische Situation, vergleichbar Inf. 12, 31, dazu Inglese 84.
[3]
Hier wird außerehelicher Geschlechtsverkehr bestraft, nicht Homosexualität, die in canto 15 drankommt.
[4]
Dante faßt die Nachrichten über Semiramis, Königin der Assyrer im 14. Jahrhundert vor Christus, zusammen, die er bei Orosius las. Sein Wortspiel libito fé lecito steht bei Orosius, Hist. 1, 4. – Semiramis war für mittelalterliche Autoren das Urbild der Wollust; sie soll ihren Sohn Ninos geheiratet und nach dessen Tod seine Nachfolge angetreten haben. Sie soll ein Gesetz erlassen haben, das den Inzest erlaubte.
[5]
Es ist Dido, die Königin von Karthago, die sich tötete, weil ihr geliebter Aeneas sie verließ, um seine höhere Mission, die Gründung Roms, zu erfüllen. Sie habe ihrem Gatten Sichaeus versprochen, ihm über seinen Tod hinaus Treue zu wahren, las Dante bei Vergil, Aen. 4, 552.
[6]
Francesca sagt, daß die Liebe sie nicht verläßt. Subjekt des Satzes ist nicht Paolo, sondern Amor.
[7]
Francesca deutet an, daß es ein Verwandter war, der die beiden ermordet hat und der darum in der tiefsten Hölle endet.
[8]
Francesca erklärt in drei Terzinen, die mit dem Wort Amor beginnen, ihr Konzept der Liebe: Amor regiert; er ist der eigentlich Handelnde. Er ergreift besonders die edlen Herzen; er bestimmt einen Menschen zur Liebe. Diese gilt der körperlichen Schönheit; sie erzeugt Wechselseitigkeit; sie dauert. Sie führt die Liebenden zum Tod.
[9]
Boccaccio erklärt Vers 120: dubbiosi desiri heißt nicht, wie bei Stefan George zweifelhafte Begierden; Inglese 91 und C 161.
[10]
Lanzelot ist ein altfranzösischer Versroman aus dem Ende des 12. Jahrhunderts. Er erzählt vom Kreis um König Artus, dessen Frau, Ginevra, ihren Verehrer Lanzelot durch einen Kuß in leidenschaftliche Liebe versetzt.
Dante erwacht im dritten Kreis, den der Höllenhund Cerberus bewacht. Hier liegen unter eisigem Regen die Schwelger. Dante trifft den Florentiner Ciacco, der aufklärt über die Zustände in Florenz. – Vergil erklärt das Schicksal der Verdammten nach dem Jüngsten Tag.
1 Mein Bewußtsein war zusammengebrochen vor dem Leid der beiden Verwandten; die Trauer hatte mich betäubt. Als ich wieder zu mir komme, sehe ich rings um mich, wohin ich mich bewege, wohin ich mich wende, wohin ich ausschaue, neue Qualen und neue Gequälte. Ich bin im dritten Kreis, dem des ewigen, verfluchten, kalten, schweren Regens, dessen Rhythmus und Art sich nie ändert:[1] Dicker Hagel, dunkles Wasser und Schnee ergießen sich durch die finstere Luft. Die Erde, die das aufnimmt, stinkt.
13 Cerberus, das unsäglich grausame Untier,[2] bellt wie ein Hund aus drei Mäulern die Leute an, die dort versinken. Er hat rote Augen, einen ölig schwarzen Bart, einen breiten Bauch, Hände mit Krallen; er zerkratzt, er häutet, er zerreißt die Geister. Der Regen läßt sie heulen wie Hunde; mit einer ihrer Seiten wollen sie die andre schützen, und so rotieren sie ständig, diese Elenden, Unersättlichen.
22 Als Cerberus, der große Drache, uns wahrnahm, riß er die Mäuler auf und zeigte uns die Hauer; es war kein Glied an ihm, das ruhig blieb. Aber mein Führer öffnete die Hand, griff Erde und warf eine Handvoll mit aller Kraft in die unersättlichen Schlünde. Wie ein gierig bellender Hund sich beruhigt, wenn er in sein Fressen beißt – er hat nichts im Sinn, als es zu verschlingen, und darum allein kämpft er –, so machten es die schmutzigen Schnauzen des Dämons Cerberus, der den Seelen so in den Ohren dröhnt, daß sie wünschen, sie wären taub.
34 Wir schritten über die Schatten, die der schwere Regen niederhält, setzten die Sohlen auf ihr Nichts, das wie ein Körper aussieht. Sie lagen auf der Erde, außer einem, der zum Sitzen sich aufrichtete, kaum hatte er gesehen, daß wir an ihm vorbeigingen. »O du da, du wirst durch diese Hölle geführt«, rief er mir zu, »kannst du mich nicht wiedererkennen? Du warst doch schon gemacht, eh’ ich kaputtgemacht war.« Und ich zu ihm: »Vielleicht tilgt die Qual, die du hast, dich aus meinem Sinn, so daß ich nicht den Eindruck habe, ich hätte dich je gesehen. Aber sag du mir, wer du bist, warum du an diesen Leidensort verbannt bist und diese Strafe bekamst – eine andere kann schwerer sein, aber keine ist so widerlich.« Und er zu mir: »Im heiteren Leben beherbergte mich deine Heimatstadt, die so voll Neid ist, daß ihr Bauch bald platzt. Ihr Bürger nanntet mich Ciacco. Wegen der Freßsucht, die uns ruiniert, verkomme ich hier im Regen, wie du siehst. Ich elende Seele bin hier nicht allein, all die anderen da erleiden wegen der gleichen Sünde die gleiche Strafe.« Dann sagte er kein Wort mehr.
58 Ich antwortete ihm: »Ciacco, dein Leiden bedrückt mich so, daß ich weinen möchte. Aber sag mir, wenn du es weißt, wie soll es weitergehen mit den Bürgern dieser zerrissenen Stadt? Gibt es in ihr einen einzigen Gerechten? Und sag mir den Grund, warum so viel Zwietracht sie befallen hat.«[3] Und er zu mir: »Nach langen Spannungen wird Blut fließen. Und die Partei der Ungehobelten wird die andere verfolgen, zum großen Schaden.[4] Nach drei Jahren stürzt die eine, die andere steigt auf, durch den Einfluß eines Mannes, der jetzt noch unschlüssig tut.[5] Lange wird sie den Kopf hoch tragen und die andere Partei schwer belasten, wie sehr diese auch klagt oder sich empört.
73 Zwei Gerechte gibt es, aber man hört nicht auf sie. Hochmut, Neid und Habgier – diese drei Funken haben die Herzen in Brand gesetzt.«[6] Damit beendete er seine traurige Rede. Aber ich zu ihm: »Ich möchte, daß du mich weiter belehrst. Mach mir das Geschenk und rede weiter mit mir: Farinata und Tegghiaio, die so anständig waren, Iacopo Rusticucci, Arrigo und Mosca und die anderen, die ihr Herz daransetzten, das Rechte zu tun, sag mir, wo sie sind, und hilf mir, sie zu finden, denn großes Verlangen drängt mich zu erfahren, ob sie die Süße des Himmels schmecken oder die Bitternis der Hölle.« Und er: »Sie sind bei den schwärzeren Seelen. Andere Sünden drücken sie hinab in die Tiefe. Wenn du weiter hinuntersteigst, kannst du sie sehen. Aber wenn du wieder oben bist in der heiteren Welt, dann bitt’ ich dich: Rufe mich den andren in Erinnerung. Mehr sage ich nicht, und ich gebe dir auch keine Antwort mehr.« Dann verdrehte er die Augen, schaute mich einen Augenblick an, neigte den Kopf, schlug damit hin und lag da wie die anderen Blinden. Und mein Führer sagte mir: »Jetzt steht er nicht mehr auf, bis die Posaune des Engels ertönt, wenn die feindliche Macht kommen wird. Jeder findet dann sein elendes Grab, nimmt sein Fleisch und seine Gestalt wieder an und bekommt zu hören, was ihm ewig nachhallt.«
100 So durchschritten wir langsam das schmutzige Gemisch von Schatten und Regen. Dabei kamen wir ein wenig auf das künftige Leben zu sprechen, weshalb ich fragte: »Meister, diese Qualen – werden sie zunehmen nach dem großen Urteilsspruch, oder werden sie geringer, oder bleiben sie genauso hart?« Und er zu mir: »Wende dich an deine Wissenschaft.[7] Diese lehrt, je vollkommener ein Wesen sei, um so stärker fühle es das Gute und auch den Schmerz. Zwar wird dieses verdammte Volk die wirkliche Vollkommenheit niemals erreichen, und doch erwartet sie später mehr als jetzt.«
112 Wir folgten der Rundung dieser Straße bei längeren Gesprächen, die ich nicht wiederhole, und erreichten den Punkt, wo man absteigt. Hier trafen wir Pluto, den großen Feind.[8]
[1]
Der dritte Kreis beherbergt Schlemmer und Säufer. Die Abfolge der Hauptsünden nach Gregor dem Großen, Moralia 31, 45, bestimmt die Abfolge der Gesänge: Wollust, Schlemmerei, Habgier, Trägheit (acedia), Zorn, Neid, Hochmut. Im Purgatorio besteht die umgekehrte Reihenfolge; die Reinigung beginnt mit dem Hochmut und erreicht zuletzt die Wollüstigen. Doch zur Reihenfolge der Laster und zur Gliederung der Höllenkreise vgl. Inf. 11 mit dem Verweis auf die Ethik des Aristoteles als Gliederungsprinzip. Dort auch die Zeichnung der Struktur der Hölle.
[2]
Cerberus bewacht bei Vergil, Aen. 6, 417–423, und bei Ovid, Met. 4, 450, den Orkus. Bei Dante wird er ein Zwischenwesen zwischen Mensch und Hund. Mit seinen drei Mäulern ist er besonders gefräßig und paßt zu den Gefräßigen. – Zur Übersetzung der Wendung in Vers 13 crudele e diversa: Inglese 95.
[3]
Zusammenfassend zu innerstädtischen Parteien: C 191 zu 65 und 66, L 19f.
Die Partei der Wilden, der Ungehobelten, la parte selvagia, Vers 65: der Leute, die vom Land kamen, die Cerchi, im Gegensatz zu den alteingesessenen Donati.
Der Tod des Buondelmonte war der Anlaß der Aufspaltung in Guelfen und Ghibellinen, Purg. 28, 106–108 und Par. 16, 136–141. »Es wird Blut fließen«: Am 1. Mai 1300 kam es auf dem Platz Santa Trinità zu Straßenkämpfen zwischen den Cerchi und den Donati. Ricoverino di Cerchi wurde verwundet. Das führte zur Aufteilung der Guelfen in Schwarze und Weiße. Die Weißen (bianchi): die vom Land gekommen waren, die Cerchi, mehr Kaufleute; die Schwarzen (neri) waren eher agrarischer Adel, die Partei der Donati.
[4]
Hier als Prophezeiung ex eventu zu lesen. Dante hat sie niedergeschrieben, nachdem das Ereignis eingetreten war: Die Weißen vertrieben im Juni 1301 die Schwarzen, also die eher adlige Partei der Donati. Dante gehörte zu den Bianchi, kritisiert aber deren Exzeß.
[5]
Dante hat wohl an Bonifaz VIII. gedacht, der 1301 Karl von Valois nach Florenz geschickt hat, angeblich als Vermittler, aber in Wirklichkeit zur Unterstützung der Neri, die bald darauf die Bianchi verjagten. Diese Tatsache hat über das Leben Dantes entschieden; im canto mit Brunetto Latini, Inf. 15, 14–96, kommt er darauf zurück.
[6]
Man erkennt die drei Bestien des ersten canto, mit leichter Variation: Hochmut, Neid, Habgier.
[7]
Die aristotelische Philosophie. Je vollkommener ein Wesen ist, um so empfindlicher ist es für Freude und Schmerz. Die mit dem Leib wieder vereinigte Seele ist vollkommener als die leiblose, ›getrennte‹ und daher fähiger zu Freude und Schmerz. So Thomas von Aquino, Sth 1–2, 4, 5, aber auch schon Alexander von Hales und Bonaventura.
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»Der große Feind«: ein Titel Satans. Hier auf Pluto angewandt, den Reichtum, auch den Gott der Unterwelt. Im nächsten canto geht es um Geiz und Verschwendung.
Im vierten Kreis bewacht Pluto die Geizigen und die Verschwender. Ihr Streit regt die beiden Dichter an, über die Verteilung der Güter und das Wirken der Fortuna zu sprechen. – Sie erreichen den Sumpf Styx und den fünften Kreis mit den Zornigen und Träg-Verdrossenen, den Neidischen und Hochmütigen.
1 »Pape, Satan! pape Satan! aleppe! …«, schrie Pluto mit krächzender Stimme, und der weise Heide, der sich auf alles verstand, sagte, um mich zu stärken: »Laß die Angst nicht Herr über dich werden! Denn bei aller Macht, die er haben mag, er kann uns nicht hindern, diesen Fels hinabzusteigen.« Dann wandte er sich zu jenem aufgeblähten Maul und sagte: »Ruhe! Du verdammter Wolf! Friß dich selbst auf in deiner Wut! Es ist nicht ohne Grund, daß wir in die Tiefe gehen. Es wird oben gewollt, dort, wo Michael den stolzen Aufstand rächte!« Wie vom Wind geschwellte Segel zerknäult zusammenfallen, wenn der Mast splittert, so stürzte die grausame Bestie zu Boden.[1] Und wir stiegen hinab in den vierten Graben; wir drangen ein Stück vor in der Zisterne des Schreckens, die vollgestopft ist mit allem Übel der Welt. O weh, Gerechtigkeit Gottes! Wer anders könnte so viele überraschende Qualen und Strafen zusammenpacken, wie ich sie sah? Und warum zerstört unsere Schuld uns so?
22 Wie bei der Charybdis die Welle sich bricht an der anderen, die ihr entgegenprallt, so müssen die Menschen hier gegeneinander tanzen.[2] Hier sah ich mehr Volk als irgendwo sonst. Von beiden Seiten her wälzten sie unter lautem Geheul Lasten mit der Brust. Sie stießen aufeinander, jeder drehte auf der Stelle um, wälzte nun seine Last nach rückwärts und schrie: »Warum hältst du so fest?« Der andere: »Warum wirfst du weg?«[3] So liefen sie, einmal rechts herum, die anderen links im tiefschwarzen Kreis bis zur gegenüberliegenden Stelle, und schrieen sich dort wieder ihr Schmählied zu. Wer dort eintraf, kehrte sofort um durch seinen Halbkreis zum nächsten Turnier.
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